Schulwesen Zweiges der Erziehung zielbewufit und weit ausgreifend in die Wege geleitet. Wenn früher das SpieBsche Schuiturnen und allenfalls das „schwedische" System Lings das Um und Auf der körperlichen Erziehung waren, so wurde innerhalb ganz kurzer Zeit die ganze Einstellung auf diesem Gebiete eine andere. Jedes System, heiBe es wie es wolle, wird von den österreichischen Reformern auf dem Gebiete des Schulturnens abgelehnt Die körperliche Erziehung ist Erziehung wie jede andere, daher kann wie und was mit dem Kinde zu turnen ist, überhaupt nicht durch ein System festgelegt werden, sondern wird bestimmt durch das Erziehungsziel. Und dieses ist: „Das wahre EbenmaB der Körperbildung durch Erziehung zu voller körperlicher Leistungsfahigkeit, die stets auf die nchtige Form bedacht ist und ihr Tun mit geistigem und seelischen Inhalt erfüllt." Für die Auswahl der Übung sind einesteils physiologische anderseits psychologische Gesichtspunkte maBgebend. Die Muskelausbildung ist nur eine von mehreren physiologischen Teilzielen, wie die Förderung des Gesamtstoffwechsels, Übung von Lunge und Herz, Stahlung der Nerven, Abhartung der Haut und StSrkungdes Knochengerüstes, wahrend von psychischen Faktoren insbesondere das Übungsbedürfnis, der Spieltrieb, Bewegungsdrang in Betracht kommen. Hiebei werden die natürlichen Übungen des Stehens, Gehens Laufens, Springens, Hebens, StoBens, Ringens, Schwimmens usw. als Hauptübungen der körperlichen Übungen angesehen; soweit künstliche Ubung wegen der Raum- und Lebensverhaitnisse angewendet werden müssen, dürfen sie stets nur Vorbereitungsübungen auf Naturformen sein, daB heiBt natürliche Menschenbewegung beinhalten und zu ihr zurückführen. Damit sind, wie man sieht, das Gerateturnen und die Ordnungsübungen von ihrer Alleinherrschaft abgesetzt, in welcher die Lehrer groB geworden waren. Es ist somit klar, daB hier nicht minder wie bei den anderen Unterrichtszweigen vor allem die Ausbildung der Lehrer eine Hauptrolle spielt. Der moderne Turnlehrer muB Physiologe und Psychologe und ein allgemein gebildeter Mensch sein. Daher wurde schon in der Monarchie getrachtet, akademisch gebildete Turnlehrer herantuziehen indem als Prüfungsgruppe Turnen in Verbindung mit einem wissen schaft ichen Fache zugelassen wurde, wahrend sonst zwei wissenschafthche Facher für Mittelschulen gefordert werden 261 Schulwesen die Unterbringungsmöglichkeit bietet, Ferialkurse statt Wichtig für die Verankerung obiger Pflichtschulen in der gewerbetreibenden Bevölkerung ist die in den meisten Bundeslandern erfolgte Abanderung der einschlSgigen Gesetze in der Richtung, daB in den Fortbildungsschulrat und den SchulausschuB auch Vertreter der Arbeiterkammer und der Gehilfenschaft, berufen werden. Von den Hochschulen wurde in diesem Zusammenhange nur nebenher gesprochen. Dies hat seinen Grund darin, daB die Organisation derselben diesen Aufsatz nur insofern berührt, als die Berufsausbildung an den Hochschulen in Betracht kommt, welche, ob mit Recht, mag hier dahingestellt bleiben, als entsprechend erkannt wird, weshalb von groBzügigen Reformen keine Rede ist. Auch gegenüber der Lehrerbildung, wie sie die Reformer verlangen, verhalt sich die Universitat sehr zurückhaltend. Zum groBen Teil mag dies auch darauf zurQckzuführen sein, daB die Hochschulen infolge der Kostspieligkeit des Apparates, am hartesten mehr als die übrigen Schulen betroffen von der Not der Zeit, kaum ihren wissenschaftlichen Betrieb aufrecht erhalten können und taglich vor dem Zusammenbruche stehen, oft nicht nur im bildlichen Sinne, sondern buchstablich! Konnte doch die Rektorsinauguration an der Universitat in Wien in diesem Studienjahre nicht im Festsaale stattfinden, da es hineinregnet und der Aufenthalt darin als lebensgefahrlich verboten werden muBte. Unter solchen Um standen ist an groBzügige Reformen nicht zu denken. Immerhin, die neue pharmazeutische Studiën- und PrUfungsordnung, die Erhebung der Exportakademie zum Range einer Hochschule, Obernahme der Tierarztlichen Hochschule in die Unterrichtsverwaltung, die Reform der medizinischen Studiën und des Prüfungswesens in der Richtung der praktischen Ausbildung, der juridischen nach der Seite des wissenschaftlichen Betriebes in Seminarien, Schaffung einer Lehrkanzel ffir Elektrotechnik in Graz, einer solchen ffir Soziologie und ffir Journalistik in Wien, Einführung des Doktorats der Staatswissenschaften, der HochschulausschuB als Vertretungskörper der Hörer und ahnliches mehr zeigen, daB auch hier im Rahmen des der lnstitution als solcher innewohnenden Konservativismus, trotz der Not der Zeit, mancher Schritt nach vorwarts getan wurde. Ein wichtiger Zweig des Schulwesens wurde noch nicht berührt, und zwar das höhere Madchenschulwesen. Mit gutem Grunde, es war in Altösterreich und es ist auch heute insoferne ein Kapitel ffir sich, als hier ganz im Gegensatz zu den übrigen Zweigen die Entwicklung gegenfiber den anderen Kulturstaaten weit zurfickgeblieben ist; die 267 Volksbildung Urania, der besonderen Anklang fand. So entstand die prachtige Einrichtung der Grazer Urania, die nicht nur in der Landeshauptstadt selbst, sondern in hohem MaBe auch in den kleineren Orten Steiermarks wirkt; so entstand die Wiener-Neustadter, die St Pöltener die Innsbrucker und schlieBlich die Salzburger Urania: sie alle — ebenso wie die Grazer Urania — in ihrem volksbildnerischen Schaffen keineswegs auf die Stadt beschrankt, sondern ebenso tatig in dem betreffenden Lande. Von besonderem Interesse ist wohl die — abseits aller bisher genannten Typen — aus dem Willen der Arbeiterschaft selbst erstandene neutrale „Freie Volkshochschule Wiener-Neustadt" (Niederösterreich) deren Hörerrat bei der anfanglichen Zielsetzung erklarte, die Arbeiterschaft wisse sehr wohl, daB sowohl das Bürgertum als auch das Bauerntum je seine jahrhundertealte Kultur besitze und eine derartige Uberlieferung der Arbeiterschaft fehle; es werde daher eine der Hauptaufgaben der „Freien Volkshochschule" sein, mitzuwirken an der Schaffung einer spezifischen Arbeiterkultur. Dem Typus des Volksheims sind die Volkshochschulen in Klagenfurt und Villach (Karnten) sowie die volkshochschulmaBig eingerichteten Kurse und Arbeitsgemeinschaften in Linz (Oberösterreich) nachgebildet. Neuerdings regte auBerdem das Volksbildungsamt noch die Schaffung von Mittelschulvolksbildungsstatten an: sowohl in Wien als auch in den Landern werden Gymnasien, Realschulen und Realgymnasien in den Abendstunden zu kleinen Volkshochschulen umgewandelt; die Vortragenden stellt meist derLehrkörper der betreffenden Anstalt, deren Lehrmittel ebenfalls für die Volksbildungszwecke beigestellt werden. Die Publikumswerbung wird teils durch die Elternvereimgungen, teils durch die Schüler betrieben. Eine weitere, speziell österreichische Form volksbildnerischen Vorgehens stellen die sowohl in Stadten, als auch in kleineren Orten eingeführten Musealarbeitsgemeinschaften dar. Wahrend sonst in den europaischen Staaten meist nur Musealführungen bestehen, wurde hier versucht, breite Volkskreise an die Musealschatze intensiver dadurch heranzuführen, daB an Hand der Sammlungsgegenstandeengerumgrenzte Kulturgebiete erarbeitet werden. Die Sammlungsgegenstande bilden hiebei naturgemaB nur den Ausgangspunkt, von dem aus der Bliek dann geweitet, von dem aus - etwa bei naturwissenschaftlichen archaologischen, architektonischen Fragen - eine Reihe von Exkursionen und andere gemeinsame Besprechungen erwachsen. Im vergangenen Sommersemester wurden in Wien allein 25 und in den 18 273 na ■ Tous droits de reproduction et de traduction réservés Copyright 1923 by S. L. van Looy, Amsterdam Alle Rechte vorbehalten Österrek&iiKhe Druck- und Verlagsg Trient; polit. Bez.Borgo, £ :a Cavalese, Cles, Mezzo- n ^ lombardo, Primiero, Ri.o g va, Rovereto, Tione, tu Trient 635.667 386.437 7.949 | 359.710 g Stadt m. e. St. Bozen; O polit. Bezirk Ampezzo, = Bozen und Meran . . 314.178 160.389 133.849 j 16.094 polit. Bez. Brixen ... 120.289 30.365 28.314 331 Gem. Brenner*) an Österreich 1.700 74 74 — Gem. Pfitsch*) an Öst. 7.600 50f) 50f) — 110.989 30.241 28.190 331 | o polit. Bez. Bruneck . . . 183.759 36.354 29.271 5.593 £ ,g Gem. Rain*)an Österreich 4.300 50f) 50f) — ^ ^ Gem. Prettau*) an Öster- •g g reich 100 — — — J! *■ Gem. Antholz*) an Öster- g £ reich 150 — — — f| 179.209 36.304 29.221 5.593 * | ■ | j polit. Bez. Schlanders . . 136.989 22.068 | 21.778 — i Gem. Schnals*) an Österreich 11.100 50t)| 50f) — 125.889 22.018 21.728 —■ polit. Bez. Lienz, und B zwar zur Ganze die Ge-0 meinden Innichberg, InS nichen, Sexten, Vierschach, Wahlen und Winnbach 17.252 4.130 4.040 16 polit. Bez. Landeck, und 2 "> zwar zur Ganze die Geg meinden Graun, Lang- | — taufers, Reschen und j g St. Valentin a. d. H. . 22.671 2.154 2.124 i 6 ^ ! tu vom polit. Bez. Innsbruck, E und zwar von der Gemeinde ° Gries am Brenner ... 200 20f) 20f) — im gesamten . . . 1,406.055 641.693 227.121 | 381.750 *) Zerschnittene Gemeinden. f) Scliatzungsweise. Der Friedensvertrag von Saint Germain gesamten Ausfuhrwertes Osterreichs. Die Ausfuhr industrielier Erzeugnisse betrug 421,000.000 Goldkronen, das sind 86% des Gesamtausfuhrwertes. 8. Die grundlegende Aufgabe jeder Volkswirtschaft ist die Ernahrung des Volkes. Neu-österreich mit rund 80 hm* und 7,000.000 Einwohnern wurde vorwiegend durch die jetzt auBerhalb dieses Staates liegenden Sukzessionsstaaten ernahrt; aus den eigenen Landesprodukten vermag es seine Bevölkerung etwa dret Monate im Jahre zu verpflegen. Ein Bliek auf die Landkarte zeigt dies. Sieht man von dem noch immer nicht endgiltig abgegrenzten Burgenland ab, so sind 4'5% Flachland, 3"2% maBiges HOgelland, 92*3% Berg- und Alpengebiet. Für intensive landwirtschaftliche Kultur kommen 356% in Betracht. Davon sind 229% Ackerland, H'2% Wien, 1% Garten, 0 5% Weingarten, 38"2% entfallen auf Waldungen, 15-9»/o auf Weiden und Almen, 0'3% auf Seen, Teiche und Sümpfe; 10% sind unproduktiv. Die Ernte des Jahres 1913 betrug auf diesem Gebiete: 8,900.000 q Brotgetreide, 15,100.000 q Kartoffeln, 0,160.000 q Hülsenfrüchte. Auf den Kopf der Bevölkerung entfielen damals an Brotgetreide.. 120 hg, um 100 hg weniger als der Jahresbedarf = 45*5%, Kartoffeln.... 38 hg, „ 38 hg „ „ „ =183%, Hülsenfrüchte 1% hg, „ l^Ukg „ „ „ „ =86-6%. Obwohl verzweifelte Anstrengungen gemacht werden, diesen Friedensstand wieder zu erreichen und mit der Zeit zu übertreffen, so ist infolge der wirtschaftlichen Absperrung, der valutarischen Not und der Schwierigkeit, künstliche Düngmittel sowie auslandisches Saatgut zu erhalten, die landwirtschaftliche Produktion seit dem Frieden wesentlich gesunken, bei Brotgetreide um 686%, bei Kartoffeln um 54-6%, bei Hülsenfrüchten um 437%. Immerhin zeigt sich eine gewisse Aufwartsbewegung bei dem wichtigsten Brotgetreide, dem Weizen, dessen Anbauflache von 152.870 ha im Jahre 1921 auf 153.814 ha im Jahre 1922 gestiegen ist. Trotzdem wird die Ernteschatzung des Weizens pro 1922 mit 1,657.9501 berechnet, im Gegensatze zum Ernteertrag von 1,777.1531, eine Folge abnormaler Witterung. Aber auch die sonstigen landwirtschaftlichen Produkte sind im Vergleich zur Vorkriegszeit wesentlich .zurückgegangen, und zwar Milch um 57'9%, Butter um 52i%, Eier um 75%, Fleisch um 62 5%, Fett um 64 5%, Zucker um 24%. Daher muBten im Jahre 1921 eingeführt werden aus Übersëe, Jugoslawien 25 Der Friedensvertrag von Saint Germain und Ungarn 334.700 t Weizen, 44.632 t Roggen, 16.940 t Gerste, 124.731 t Mais, 71.285 t Weizenmehl und 15.074 t Roggenmehl. Dieses Ernahrungsdefizit, welches in den Zeiten des groBen einheitlichen Wirtschaftsgebietes durch Leistungen in Industrien, Handel, Handwerk und Kunst vollkommen befriedigend für alle Teile ausgeglichen wurde, erzeugte durch die staatlichen Neugründungen des Friedensvertrages katastrophale Folgen. Um das buchstabliche Verhungern und die damit unvermeidliche Revolution abzuwenden* insbesondere aber auch, um dem bereits in Ungarn siegreich vorgedrungenen Bolschewismus einen Damm entgegenzusetzen, muBte die Regierung dem Volke Nahrung verschaffen, und zwar um jeden Preis. Wahrend aus entfernten Landern Liebesgaben in erfreulicher Weise, freilich nicht in ausreichender Fülle einliefen, sagten sich die unmittelbaren Nachbarn, die Sukzessionsstaaten, daB diese Notlage ihnen eine ungemein günstige politische Position gegen Neu-österreich gewahre. Also sperrten sie sich entweder überhaupt ab oder gewahrten Nahrungsmittel nur gegen staatliche Vorteile und gegen für österreich schwer erschwingliche Preise. Die österreichischen Regierungen zogen nun die finanziellen Opfer, welche eine künstliche Volksernahrung erforderte, der Gefahr vor, welche Anarchie und Bolschewismus über dieses Land und wohl auch über westlichere Teile Europas gebracht hatte. Tatsachlich hat zu einer Zeit, als die Flamme von RuBland auf Ungarn und von da bereits auf München übergesprungen war, Wien, so wie einst zu den Zeiten der Türkenbelagerung, diese östliche Gefahr zum Stehen gebracht. 9. Freilich war das nur möglich durch eine ungeheuerliche Vermehrung des Notenumlaufes; die Noteninflation setzte sich. lawinenartig fort, wie die folgende Tabelle zeigt: Notenumlauf in Deutschösterreich (in Kronen): Ende Oktober 1918 31.483,231.122 (für Gesamtösterreich) Ende 1920 30.645,658.690 ' Ende 1921 160.199,560.456 7. janner 1922 182.269,161.656 7. Mara 1922 265.815,423228 7. Juni 1922 407.661,856.670 fflf das neue 7. September 1922 1 „517.178,851.570 > österreich 7. Oktober 1922 2„453.968,531.539 15. Oktober 1922 2„590.414,336.394 21. Oktober 1922 ". 2„683.863,060.444 31. Oktober 1922 2„970.916,606.641 7. November 1922 2„979.322,998.991 . 26 Der Friedensvertrag von Saint Germain lm Gefolge dieser Notenvermehrung respektive Geldentwertung zeigte sich eine allgemeine Teuerung, welche sich für Wien aus folgender Tabelle ergibt: Mehl Pett Fleisch | Kartoffeln J Kohle Preise in Kronen pro Kilogramm 1913 ... 0-44 19 2-2 012 0'04 1921 . . . 500— 1.800— 1.250'- 50— 40- Oktober 32.700 — 26.000— DÖ&QQ ™. iooo • • 7.500- bis bis 900- 90O- 30.000 — 22.000-- Aufwand für eine Prozentnelle Ver- Verpflegseinheit Indexziffer*) anderung gegen- M o n at, Janr (erwachsener Mann) (Janner 1921 = 1) Aber dem Vor- in Kronen 'I monate [ I JSnner 1921 1.664— 1 janner 1922 19.008-- 11 + 21**) Februar 1922 23770 - 14 + 25 Marz 1922 24252'- 15 + 2 April 1922 26.934'- 16 + » Mai 1922 33.7451- 20 +25 Juni 1922 57.10O— 34 +69 Juli 1922 80.370 - 48 + 41 | August 1922 183.801 — 110 + 129 September 1922 334'306'— 201 + 82 Oktober 1922 308.958'— 186 — 8 10. Ebenso wie der Friedensvertrag der vorhandenen Landwirtschaft die Quellen ihrer Regeneration entzog und sie auf beinahe die Halfte ihrer bisherigen Leistungsfahigkeit herabsetzte, ebenso schadigte er auch die Industrie durch die Verhinderung der Rohstoffbezüge, insbesondere der Kohle. Der normale Jahresbedarf an Kohle würde in Neu-österreich 16,000.000 t betragen; seine Eigenerzeugung betrug *) Die Indexziffer gibt einen Vergleich der Verpflegskosten eines erwachsenen Mannes in einem bestimmten Zeitpunkte gegenüber den Kosten am 1. janner 1921. Der Staat entschloB sich im Juni 1922 die Besoldung seiner Angestellten nach der steigenden Indexziffer zu erhöhen; dies bedeutet monatlicb pro 1% Index eine Auslage von etwa fünf Milliarden Kronen. Im Oktober 1922 fiel der Index um 8%; hieraus diirfte sich eine Ersparnis bis zu 40 Milliarden Kronen im Monat ergeben. In ahnlicher Weise steigerten sich natürlich auch die Lohnforderungen der anderen Arbeitnehmer. Im November fiel er um weitere 6%. i **) Gegenüber Dezember 1921. 27 Der Friedensvertrag von Saint Germain 1919 2,000.0001, 1920 2,500.000 t und hat sich in den ersten Monaten des Jahres 1922 gegen das Vorjahr gesteigert. Von dem Defizit von 13,500.0001 erhielt es nur 42°/0 von seiten seiner früheren Staatsgenossen. Die verheerende Wirkung dieses Kohlenmangels drückte die Produktion von 1919 bis 1921 auf ein Viertel ihrer Erzeugungsfahigkeit; speziell die wichtige Papierindustrie arbeitete mit 20 %> die Textilindustrie mit 25 bis 30% ihrer Fahigkeit; die Elektrizitatsindustrie sank auf ein Drittel der Friedensmenge, die Roheisenerzeugung von 600000 auf 50.0001, also auf den zwölften Teil, obwohl Eisenerze in genügender Menge vorhanden waren. Dieser durch die Neuordnung der staatlichen Verhaitnisse künstlich herbeigefflhrte Zustand hinderte Osterreichs Industrie sehr bald, den durch die Valutaverhaltnisse sich ergebenden Vorteil der billigen Erzeugung zur Herstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichtes benützen zu können. Noch die Wiener Messe des Jahres 1921 bot ein erfreuliches Bild der industriellen Leistungsfahigkeit, aber die folgende Messe von 1922 zeigte bereits die Erschöpfungssymptome. Die stetig geringer werdende Zahlkraft Osterreichs zur Aufnahme ausiandischer Produkte verursachte natürlich böse Rückschlage bei den Nachbarn. Tschecho-Slowakei und Ungarn, welche in den Zeiten unserer gröBten Bedrangnis unmittelbar nach dem Umsturze mit ihren Vorraten an Kohle und Lebensmitteln aus Gründen politischer Kampfstellung zurückgehalten hatten, bedauern und betrauern jetzt den Verlust ihres natürlichsten Absatzgebietes. Industriestockungen und Absatzlosigkeit sind die dortigen Reflexerscheinungen und auf den böhmischen Kohlenhalden verwittern Millionenwerte an Kohlen, die wir nicht mehr kaufen können. 11. Diesem betrübenden Bilde der wirtschaftlichen Auswirkungen des Friedensvertrages seien Lichtseiten gegenübergestellt, die beweisen, daB es doch noch einige Dinge gibt, an welche selbst dieses Friedensinstrument nicht herankommen konnte und die deshalb unversehrt blieben. Es sind unsere geographische Lage, unsere Naturschönheiten, unser Waldreichtum und unsere Wasserkrafte. Diese Schatze hat die Natur vor direktem Zugriff einigermaBen geschützt und so bilden sie unsere Zukunftshoffnung. Wohl versuchte die Tschecho-Slowakei den europaischen Binnenverkehr von Wien nach Prag abzulenken; der bloBe Versuch hat allerdings beiderseitig empfindlichen Schaden bereitet; aber dieser Kampf gegen die Geographie war nicht erfolgreich. 28 Der Friedensvertrag von Saint Germain Wenn nicht eine auslandische Kontrolle unsere guten Forstgesetze aufhebt und die Alpenlander ahnlich verkarstet, wie Venedig einst Dalmatien und das Karstgebiet ausgeholzt hat, so bleiben uns Walder von insgesamt 30.246 km* erhalten, das sind 38"2% vom gesamten Gebiet und 42% unserer produktiven Anbauflache; darunter befinden sich 3709km* Schutz- und 388km* BannwSlder; 9V«% sind Hochwald, 6% Nieder- und Mittelwald. Ihre jahrliche Gesamtnutzung betragt fiber 8 Mill ionen Festmeter, davon 40% Brennholz, 60% Nutzholz. Unsere Naturschönheiten ffir eine richtige Fremdenindustrie auszunützen war insolange ein zweifelhaftes Geschaft, als die valutastarken Fremden in der Lage waren, das Land durch billige Einkaufe auszupowern und von den durch staatliche Ankaufe verbilligten Lebensmitteln mitzugenieBen. Auch hier hat der Friedensvertrag, von seinen Siegergedanken ausgehend, einen ffir beide Teile, Gaste und Einheimische, billigen und wfinschenswerten Ausgleich bisher verhindert. 12. Die ungünstige Kohlensituation lenkte Osterreichs Aufmerksamkeit auf seine Wasserkrafte. In den Alpen allein befinden sich ausbaufahige GroBwasserkrafte für 1,700.000 PS und insgesamt sind 3,000.000 PS aus Wasserkraftwerken zu gewinnen. Die Kohlenersparnis bei ihrem Ausbau würde etwa 8,000.000 t Kohle betragen, was etwa 90,000.000 Dollar an Verminderung der Brennstoffeinfuhr bedeutet. Bisher wurden kaum 10 bis 12% dieser Wasserkrafte ausgenützt, weil ja früher im einheitlichen Staatsgebiet Kohle und Petroleum vorhanden war und fiberdies sich die Militarverwaltung stets gegen den elektrischen Ausbau der Bahnen wehrte. Nunmehr ist geplant, in mindestens fünf Jahren die Bahnen in einem AusmaB von 652 km (das ist ein Siebentel der vom Staat betriebenen Bahnen) durch vier Wasserkraftwerke zu elektrifizieren. Von den 430 in Betrieb stehenden Elektrizitatsunternehmungen mit 460.000 PS werden derzeit 350 mit Wasser angetrieben, nehmen aber nur 300.000 PS, also ein Zehntel der vorhandenen Wasserkrafte, in Anspruch. Über 50 gröBere Wasserkraftanlagen mit 100.000 PS Gesamtleistung sind im Bau, zum Beispiel in Niederösterreich für Wien, wo in etwa drei Jahren aus den Donauwasserkraften mit 300.000 bis 400.000 PS 50% der Erzeugung der Elektrizitatswerke Wiens gespeist werden sollen, in Oberösterreich das Werk „Partenstein" mit 45.000 PS zur Stromversorgung ffir die in rascher Entwicklung begriffene oberösterreichische Industrie. In Salzburg und Steiermark werden 127.000, beziehungsweise 3800 PS ausgebaut. In Vorarlberg wird vom Land Vorarlberg 29 Der Friedensvertrag von Saint Germain der Lünersee mit 68.000 PS ausgebaut, ferner von Staats wegen zur Elektrifizierung der überaus wichtigen Arlbergbahnstrecke der Spullersee mit 48.000 PS, sowie in KSrnten 20.000 PS. In Tirol ist das Rützwerk im Ausbau. Zahlreiche andere ausbauwürdige Wasserkrafte werden dem Studium unterzogen, insbesondere auch die Ausnützung der Wasserkrafte des Achensees. Die Kosten der Elektrifizierung der erwahnten Bahnstrecke werden auf zirka 30,000.000 Goldkronen jahrlich geschatzt, das sind 390.000,000.000 Papierkronen. Die Elektrifizierung der Strecke Innsbruck—Bregenz soll schon im nachsten Halbjahr beendet sein. Nebst der Strecke Innsbruck—Bregenz—Reichsgrenze, einschlieBlich ihrer Nebenlinien, ist die Elektrifizierung folgender Bahnlinien beabsichtigt: Salzburg—Schwarzach-St. Veit und Schwarzach-St. Veit—Wörgl, die Tauernbahn Schwarzach-St. Veit— Spittal und Millstattersee und Salzkammergutbahn Steinach-Irdning bis Attnang-Puchheim. 13. Zum SchluB seien die für Wirtschaft und Kultur gleich wichtigen Bestrebungen auf sozialem Gebiete erwahnt: Der Umsturz im Jahre 1918 brachte die politische Führung des Staates in andere Hande. Eine Zeit lang führten nicht Bürger und Bauern, sondern Arbeitervertreter das Staatsruder. Wenn auch durch eine anerkennenswerte, von allen groBen politischen Parteien Neuösterreichs geübte MaBigung ein Bürgerkrieg vermieden wurde, so errangen naturgemaB die Sozialdemokraten Konzessionen in einem Umfange, welche die anderen Klassen stark belasteten. Die soziale Gesetzgebung schlug ein auBerordentlich rasches Tempo ein; der achtstündige Arbeitstag, die Jugendfürsorge mit Generalvormundschaft, Ziehkinderaufsicht, Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe, Fürsorgeerziehung, Berufsberatung, die Erweiterung der Gewerbeinspektion, Arbeiterurlaube, die Ausdehnung der Krankenversicherung auf Staatsangestellte und ihre Familien (400.000 Köpfe), die Errichtung von Arbeiterkammern, Arbeitslosenversicherung, Kündigungsbeschrankungen, Arbeitsvermittlungs- und Einigungs3mter, Kollektivvertrage, Arbeiterrate und Betriebsrate in den Unternehmungen, paritatische Tarifkommissionen, Heimarbeitergesetze usw., alles dies wurde in rascher Folge gesetzlich eingeführt oder neu geregelt, und so ist trotz des Zusammenbruches Neu-Oestérreich in die erste Reihe sozial denkender und wirkender Staaten eingerückt, wobei freilich die Kostenfrage dieser Errungenschaften Besorgnis erregt. Einen wesentlichen Programmpunkt der damals maBgebend gewordenen sozialdemokratischen Partei bildeten deren Soziali- 30 Der Friedensvertrag von Saint Germain sierungspiane, von welchen nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine vollstSndige kulturelle Umwalzung erwartet, respektive besorgt wurde. Bei aller Ablehnung rein bolschewikischer Tendenzen, konnten doch gewisse, aus RuBland kommende Anregungen nicht spurlos hier vorübergehen, und so wurden dem Sozialisierungsgedanken einige aus der Kriegswirtschaft Obrig gebliebene Etablissements gleichsam als Obungsraum überlassen, zumal sie ihrem vormaligen Zweck fremd geworden waren. Als Beispielseien angeführt das Wiener Arsenal, die WöllersdorferMunitionsfabriken, die vereinigten Schuh- und Lederfabriken (aus früherem Militarschuhbetriebe), die steirischen Fahrzeugwerke (aus Militarautodepot) und die Kraftfuhrwerke Blumau. Vom rein wirtschaftlichen Standpunkte haben sie keine herrschende Stellung erlangt, einige von ihnen wurden nach groBen finanziellen Opfern des Staates schlieBlich an die Privatindustrie verkauft (Wöllersdorf) und das Urteil Ober die Leistungsfahigkeit der übrigen ist noch nicht abgeschlossen. Aber vom sozialen und kulturellen Standpunkte ist es auBerst bedeutsam, daB der neue Staat eine in ihren Auswirkungen unberechenbare neue Idee nicht mit Gewalt bekampft hat, sondern ihr verschiedene Versuchsfelder einraumte. So also wurde eine elektrische Hochspannung, die zu furchtbaren Entladungen hatte führen können, gleichsam durch einen Transformator in nutzbringende oder doch unschadliche Leitungen übertragen. Hierin dürfte, trotz aller Not der Zeit, ein kulturelles Verdienst Neu-österreichs ebenso wie in den vorerwahnten sozialen MaBnahmen zu erblicken sein. VI. Kapitel: Zusammenwirken der kulturellen und wirtschaftlichen Folgen in Neu-Osterreidi Welche speziellen kulturellen Auswirkungen der Friede in Deutschösterreich hervorbrachte, sieht man am deutlichsten aus den Antragen der österreichischen Ersparungskommission und aus den Gesetzesvorlagen der Regierung, welche den Staat vor dem finanziellen Ruin retten wollen, indem sie alle nicht unbedingt nötigen Kulturaufgaben über Bord zu werfen gezwungen sind. Geht man diese Ersparungsvorschlage im einzelnen durch, so erhalt man einerseits ein Bild der bisher erworbenen Kulturhöhe Deutschösterreichs, anderseits sieht man mit Entsetzen, daB Kieinod um Kleinod aus einem Tempel 31 Der Friedensvertrag yon Saint Germain herausgebrochen werden muB, weil sie nicht langer erhalten werdén, können. Beispielsweise seien folgende, als Ergebnis der wirtschaftlichen Auswirkungen jenes Friedens notwendig gewordenen Kulturrückgange angeführt, welche in den — allerdings noch verschiedenen Milderungsund KompromiBversuchen unterliegenden Antrftgen der Ersparungskomission und im Sanierungsplane der Regierung zum Ausdruck gelangen. 1. Bildungswesen. Es ist unvermeidlich geworden, die Volksund Mittelschulreform, die bereits im Gange war, soweit sie Überhaupt Kosten verursacht, einzustellen, die den Schulinspektoren beigegebenen Hilfskrüfte einzuziehen und von der Beistellung von Schulbüchern und Lehrmitteln an mittellose Schulkinder abzusehen. Das aufblfihende Madchenstudium, soweit es auf staatlichen BeitrSgen beruhte, wird ohne diese Hilfe gelassen und ist daher, da die bisherige Privathilfe versagt, zum Absterben verurteilt; die Bildungsanstalten für Lehrerinnen sollen überhaupt aufgelassen werden. Die früheren MilitSrschulen für Kadetten und Offiziere waren in Erziehungsanstalten, ein Teil für besonders begabte Jugendliche umgewandelt worden, die bisher wunderbare Erfolge erzielt haften — sie sollen zur Auflassung verurteilt werden. Nach dem Muster der University-Extention waren in österreich zuerst von allen Landern des Festlandes volkstümliche Universitatskurse in allen Universitatsstadten gegründet worden; sie wurden erweitert zu allgemeinen Hochschulkursen und dehnten ihre Tatigkeit durch Exposituren auf das ganze Land aus; ihr Erfolg war überraschend und bewies den Bildungshunger aller Volksschichten. Jetzt soll das sie leitende Volksbildungsamt entfallen und sie selbst werden einer Aushungerungskur unterzogen. Den künstlerisch und volksbildnerisch erziehlichen Wanderbühnen, die nicht auf Erwerb, sondern auf Hebung des Volksgeschmackes gerichtet waren, wird die Subvention eingestellt; eine staatliche Kinostelle, welche an Stelle von Sensationsdramen Kulturfilms geboten hat, ebenso eine staatliche Lichtbildstelle, welche Kunst- und historische Schatze für die Allgemeinheit reproduzierte, steht auf dem Index des Abbaues aus Ersparungsrücksichten. Die verbilligten klassischen Theateraufführungen in den Bundestheatern werden gestrichen; die berühmte Musikakademie in Wien reduziert, das Archaologie-lnstitut aufgehoben, die Spezialschule für Medailleurkunst soll fallen, die österreichische Galerie — eine Sammlung heimischer Kunstwerke — soll mit anderen Museum, aus denen sie sich einst herausspezialisierte, wieder vereinigt werden. Überhaupt wird das Zusammenlegen und 32 ■ Südtirol in der Geschichte. Der Friedensvertrag von Saint Germain das Vereinigen halbwegs ahnlicher Kunstinstitute und Museen ein Auskunftsmittel, um die Bestande „verbilligt zu verwalten". Das gleiche Armeleuteprinzip soll nun auch die Hochschulen erf assen. Berufungen von Professoren aus dem Auslande sollen aufhören, zwanzig Lehrkanzeln an der Wiener Universitat aufgelassen werden; die Chemie, Physik und Nationalökonomie, die verschiedenartigen Bedürfnissen entsprechend an Universitat und Technik abgesondert gelehrt wurden, werden zusamrnengelegt, Studiënbibliotheken der verschiedensten Art vereinigt. Eine ganze Fakultat, die für Tirol und Salzburg, für Studierende wie für Bevölkerung gleich wichtige medizinische Fakultat in Innsbruck figuriert unter den Todeskandidaten; ebenso die theologische Fakultat in Salzburg und die kulturtechnische Abteilung der Hochschule für Bodenkultur, die noch eine für die Landwirtschaft vorbildliche Versuchswirtschaft verlieren soll. Dabei sind alle diese Institute sehr gut frequentiert, die Besucherzahl übersteigt jene der Vorkriegszeit — ein Beweis für den aufsteigenden Sinn und die Zuversicht der Bevölkerung. DaB an Neubauten nicht gedacht werden kann ist naheliegend; aber auch schon im Bau begriffene Erganzungen der Technik in Wien und Graz werden nicht ausgeführt, und es fehlen die Mittel zur Erhaltung des Prachtbaues der Wiener Universitat, deren Festsaal unbenützbar wurde! z$flu>'.>•> 2. Justiz. Gespart muB auch an der Rechtspflege werden; 40 von 254 Bezirksgerichtenr also ungefahr der sechste Teil, soll eingehen; dadurch wird besonders in den gebirgigen Landesteilen die Rechtspflege für die Bevölkerung auBerordentlich erschwert; anderseits werden die Gerichtsgebühren wesentlich erhöht und die Möglichkeit, Obere Gerichte anzurufen, sehr reduziert. Erschwerte Rechtshilfe, erhöhte Rechtsunsicherheit und vermehrte Auslagen für die Bevölkerung — das ist der unvermeidliche Dreiklang, den die ebenso unvermeidliche Ersparungspflicht hervorruft 3. Landwirtschaft. Die für die,H,ebung der Landwirtschaft so förderlichen höheren Lehr- und Versuchsanstalten sollen abgeba^ut oder verschmolzen werden. Speziell die Plane einer höheren Lehranstalt für Gartenbau, einer Anstalt für Arznei- und Nutzpflanzen, einer landwirtschaftlich-chemischen Versuchsanstalt, einer sqlchen für Molkereiwesen dürften rückgangig gemacht werden. Die Wiederbesiedlungsaktion, eine hoffnungsvolle Einrichtung der Nachkriegszeit, wird sq ziemlich eingestellt; der berühmten österreichischen Pferdezucht in Staatsgestüten und Fohlenhöfen drohen vernichtende; E|^- 3 33 Der Friedensvertrag von Saint Germain schrfinkungen. Kurz, in der gesamten Landwirtschaft haben die hoffnungsvollen Vereuche, die im Kriege geschlagenen Wunden zu heilen, geringe Aussicht auf die so notwendige staatliche Unterstützung. Zukertftskapital wird gefahrdet durch die Not der Gegenwart, obwohl ein tüchtiges und strebsames Menschenmaterial vorhanden ware, um Neuerungen auszuprobieren, die der Menschheit von Nutzen waren. Der ganze europaische Osten könnte von den Ergebnissen dieser Tatigkeit materielle Vorteile ziehen; aber die Tatigkeit selbst wird lahmgelegt. DaB die Pflege der ehemaligen wunderschönen HofgSrten (Belvedère, Schönbrunn, Burggarten) vereinfacht wird zum Schaden der Schönheit, ist begreiflich. 4. Handel und Gewerbe. Durch staatliche Mithilfe waren auf dem Gebiete des Handels und Gewerbes in Österreich eine Reihe eigentümlicher und sehr beachtenswerter Spezialinstitute entstanden, wie das österreichische Handelsmuseum, die Exportakademie (jetzt Hochschule für Welthandel), das Technische Museum (eine groBartige Ausgestaltung des analog in MOnchen verwirklichten Gedankens), das technische Versuchsamt, die Normaleichungskommission und ahnliches, die riun alle mehr oder weniger auf den Aussterbeetat gesetzt werden sollen, trotz des Protestes der Fachmanner, die zeigen, wie enormes hier mit verhaltnismaBig geringen Mitteln geleistet wurde. Auch am gewerblichen Bildungswesen, an Spezialschulen und Lehrwerkstatten muB gespart werden. So sollen Lehranstalten fürFlechttéchniken, für Holzbearbeitung, für Steinbearbeitung, für Schlosserei und überhaupt jene für spezielle Frauengewerbe tallen. Unser berühmtes einstiges Militargeographisches Institut, jetzt kartographische Anstalt, soll mit dem lithographischen vereinigt werden; Ersparungen, die keine Verbesserungen bedeuten. Dabei sind es, umgerechnet in alte Friedensvaluta wie Franken, lacherlich geringe Summen, die hier in Betracht kommen. 5. Soziale Fürsorge. Die junge Republik wollte sozial wirken; hoffnungsvolle Schaffensfreude setzte gerade auf diesem neuen Verwaltungsgebiete ein, das ein gesundes, lebensfrohes und lebenskraftiges Volkstum fördern wollte. Wie ein Reif in Frühlingsnacht failt hier der Antrag der Ersparungskommission ein: „daB bis auf weiteres unter keiner Bedingung irgendwelche nèue Fürsorgeaktion sozialer Natur, sofern sie mit einer Belastung der Bundesfinanzen verbunden ist, uriternommen werden dürfe". Die Existenzberechtigung eines sozialen Mfóisteriums wird überhaupt in Frage gezogen. Sogar die Fürsorge für Kriegsbeschadigte soll eingeschrankt, mehrere Heilanstalten der- 34 Der Friedensvertrag von Saint Germain selben eingezogen, Invalidenheime, Invalidenschulen und -kurse aufgelassen, die Invalidenamter, die diesen Leuten und ihren Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite stehen sollten, in die normale Verwaltang überleitet werden. Ebenso ist die gesamte anlaBlich des Krieges mühsam aufgebaute und heute doppelt nötige Jugendfürsorge gefahrdet, indem der Staat diese Einrichtungen aus den Handen geben und sie den Gemeinden überlassen muB. Die unter staatlicher Subvention in Angriff genommene WohnungSfürsorge durch Neubauten, um der Wohnungsnot entgegenzutreten, steht vor ihrem Abbau. 6. Sanitat. An sanitaren Einrichtungen sollen die GewerbeInspektionsarzte, eine wohltatige hygiënische Neuerung, entfallen; die hygiënische und chemisch-pharmazeutische Untersuchungsanstalt, das Serotherapeutische Institut, die Impfstoffgewinnungsanstalt, die Schutzimpfanstalt gegen Hundswut, die allgemeinen Untersuchungsanstalten für Lebensmittel, alle diese und zahlreiche ahnliche Institute sollen neuerlich auf ihre unbedingte Existenzberechtigung geprüft und wenn sie irgendwie als zu leicht befunden werden, aufgehoben werden. Die Budgetpost von 100,000.000 K zur Bekampfung der Trunksticht soll gestrichen, hingegen die tagliche Verpflegsgebühr in den Spitalern erhöht werden, damit die Kosten hereingebracht werden, so daB das charitative Moment der öffentlichen Spitaier entfallt; trotzdem mfissen verschiedene staatliche Krankenanstalten ganz aufgelassen werden. Dies sind einzelne Beispiele für den Kulturrückgang, welchen allen Anstrengungen zum Trotz die durch den Frieden geschaffene Situation herbeiführt. Fast scheint es, als ob Pferdehufe einen schonen Garten zerstampfen würden! Es ist eine Selbstverwüstung Europas, die einem Selbstmorde ahnlich sieht. VII. Kapitel: SchluBfolgerungen Nach dem Weltkriege der Weltfriede, dies war die weltgeschichtliche Aufgabe der Friedenskonferenz! Sie sollte die Ursachen beseitigen, ^Welche zum Kriege geführt hatten, sie sollte dessen Wunden heilen und ein friedliches Beisammenleben ermöglichen. Die Neuordnung eines zerfleischten Weltteiles nach groBer, einheitlicher Konzeption war die Mission der Friedensdelegierten. Selten ist eine schön«re Aufgabe in die Hande einer auserlesenen Versammhing gelegt m9IÈKÊfa&t&t v 35 Der Friedensvertrag von Saint Germain Haben sie ihre Mission erfüllt? Die Früchte ihrer Tatigkeit sind auch nach drei Jahren nicht genieBbar geworden; sie schmecken bitter für Sieger, Besiegte und Neutrale. Vor allem haben die für den Weltfrieden verantwortlichen Faktoren die groBe einheitliche Aufgabe, Europa zu sanieren, ihres einheitlichen Charakters entkleidet. Anstatt den Weltfrieden zu bringen, haben sie vier kleine Separatfrieden mit jedem einzelnen besiegten Staate geschlossen; ein Feind nach dem anderen wurde wie ein Verbrecher gefesselt und einzelnweise abgeurteilt; jeder der vier Gegner wurde, wie man es ira Altertume bei gefangenen Sklaven machte, zunachst demjenigen ausgeliefert, der an seiner Knechtung ein besonderes Interesse hatte. Dies ist das Wesen der Friedensschlüsse von Versailles, Saint Germain, Trianon und Sèvres. So zerbrach der groBe Weltfrieden in vereinzelte Friedens/e 2 Bischofswarth St-G. 895 ^^19 Ganze 152 3 Feldsberg. . . St-a 3415 ?402 bbauM/ra 3291 zur Ganze 4 Garschönthal . St.-G. 745 z Ganze 648 5 Katzelsdorf . . St-G. 1527 >/« 1012 " 6 Ober-Themenau St-G. 1593 ^ z. Ganze 216 7 Rabensburg . . St-G. 3514 fast «/. 8 Reinthal . . . St-G. 1768 |^ '/» 9 Schrattenberg . St-G. 2152 ^ »/, 10 Steinabrunn . . St-a 1733 QfL fast 713 11 Unter-Themenau St-a 1572 bi. auf 2 Aa 1059 zur Ganze II. Gerichtsbezirk Zistersdorf (Bezirkshauptmannschaft Ganserndorf) l| Hohenau ... I St-G. II3151 I I % Die Grenzen und ihre Bedeutung 3. Die Grenzbestimmung durch den Frieden von Saint Germain lm Frieden von Saint Germain ist von diesem dem freien Willen dèV deutschen Volkes in Österreich entsprechenden Staate nur ein treuriger Rest übrig geblieben. Die Sieger schnitten von Deutschtirol dks kerndeutsche, südlich des Hauptzuges der Zentralalpen gelegene Deutsch-Südtirol ab, ebenso das Überwiegend deutsche Kanaltal in Südwesfkarnten, das MieBtal in Südostkarnten, belieBen das ganze Drautal der Steiermark mit seinen zahlreichen deutschen Bewohnerh dem südslawischen Staate, gestanden Deutschösterreich'' zwar Deutschwestungarn zu, jedoch unter AusschluB der urdeutschen, erst iri der allerletzten Zeit magyarisierten Stüdte St. Gotthard und Güns, trennten auch einen Teil des deutschen Siedlungsgebietes des Wieselburger Komitates ab und es hat Deutschösterréich spater, dem ffaHenischen Drucke nachgebend, auch dulden müssen, daB Ödenburg unïfaönV gebung nach einer unter den ungünstigsten Verhaltnissen vorgenommenen Abstimmung verloren ging. Die Grenze gegen den tschechischen Staat schnitt die deutsche Stadt PreBburg mit ihrer deutschen Umgebung von Deutschwestungarn ab und überwies, indem sie im wesentlichen der alten mahrischen und böhmischen Kronlandgrenze folgte, das ganze Sudetendeutschtum der tschechischen Herrschaft, ja, sie griff ah zwei Stellen, bei Feldsberg und Gmünd, auch noch auf niederösterreichisches Gebiet über. Durch diese Grenzführüng ist der deutschöstérreichische Staat an seiner Bevölkerung, seiner Wirtschaft und seinèm Verkehrswesen aufs allerschwerste vérletzt. II. Die Verluste Deutschösterreichs durch die Grenzführüng 1. Bevölkerungsverluste Von den rund 10 Millionen Deutschen des alten Österreich sind rund 4 Millionen oder zwei Fünftel an fremde Staaten verloren ;gegangen. Von diesen siedeln geschlossen 3'1 Millionen auf einer Flache von 27.000 km* im tschechischen Staate, 250.000 auf einer Flache von 7000 km* in Deutschsüdtirol sowie viele Tausende im südslawischen Staate; dazu kommen von den früher ungarlandischen Deutschen noch die zurückbehaltenen Teile der westungarischen Deutschen in der Zahl von 54.000 auf einer Flache von 700 km* hinzu. '^méa^m Von den genannten Gebieten ist schon das sudetendeutsche ■allein zweimal so groB als jenes von ElsaB-Lothringen und besitzt 41' Die Grenzen und ihre Bedeutung eine ungefahr doppelt so zahlreiche Bevölkerung wie ElsaB-Lothringen im Jahre 1871. Erschwerend failt bei diesen Abtretungen ins Gewicht, daB es sich um Gebiete handelt, die in ihrem Fühlen die deutschesten und freiheitliebendsten in allen deutschen Landen sind. Das Volksgefühl der Sudetendeutschen ist in jahrzehntelangem Kampfe mit dem tschechischen Gegner gestahlt worden, der Freiheitsdrang der Tiroler Bergbewohner ist geradezu sprichwörtlich. Die Unterstellung dieser stolzen und zah an ihrem Volkstuin hangenden deutschen Bevölkerungsteile unter die Macht der Gegner bedeutet die gröBte Gefahr für den Weltfrieden.*) 2. Die wirtschaftlichen Verluste Ist durch die ZerreiBung des alten österreichischen Wirtschaftskörpers jeder einzelne der neu entstehenden Teile wirtschaftlich schwer geschadigt worden, so ist Deutschösterreich durch die oben beschriebene Verstümmelung geradezu seiner Lebensfahigkeit beraubt worden. Es ist als ein Gebietsrest vorwiegend gebirgigen Charakters stehen geblieben, dessen Landwirtschaft nicht ausreicht, um ein Viertel des Lebensbedarfes zu beschaffen, dessen Kohlenförderung kaum ein Sechstel des Bedarfes betragt und das auBerdem die notwendigen Rohstoffe und zahlreiche Industrieartikel einführen muB. In den sudetendeutschen Genieten sind Deutschösterreich die reichen Braunkohlenlager, ist ihm die Textil-, Glas-, Porzellan-, Zucker- und chemische Industrie entrissen worden. Mit den Badern der sudetendeutschen Gebiete und mit den Naturschönheiten Deutschsüdtirols sind Deutschösterreich wichtige Hilfsmittel zur Hereinlenkung fremden Geldes verloren gegangen. *) ln der „Neuen Freien Presse" vom 9. Dezember 1922 schreibt Lloyd George in einem Artikel .Der Pakt mit Frankreich": „Die deutschen Provinzen am linken Rheinufer sind durch und durch deutsch nach Abstammung, Sprache, Geschichte und Gesinnung. Es gibt 70 Millionen Deutsche in Europa. In der nachsten Generation werden es ihrer 100 Millionen sein. Sie werden nicht runen, so lange Millionen ihrer Landsleute am anderen Ufer des Rheins unter fremdem Joche sind, und es wird nur eine Frage der Zeit und der Gelegenheit sein, wann der unvermeidliche Befreiungskrieg beginnt" Es ist bedauerlich, daB Lloyd George die gleiche Erkenntnls nicht zur Zeit der Friedensverhandlungen besafi, als er int Rate der Vier ein gewichtiges Wort zu sprechen hatte. Er hatte sonst der Unterwerfung jener 4 Millionen Deutschen, die allerdings den Interessenkreis der englischen Politik nicht so nahe beiühren wie die rheinlandischen Deutschen, nicht zustimmen können. 42 Die Grenzen und ihre Bedeutung Den Industrien ist auch ihrerseits nichts Gutes mit der Abtretung erwiesen worden. Sie waren gestützt auf das reichentwickelte Wiener Bankwesen. Durch die Abtrennung haben sie diese Grundlage eingebüBt. Aufjerdem sind sie dadurch aufs auBerste gefahrdet, daB das tschechische Volk den Ehrgeiz besitzt, seine eigenen Industrien hoch zu bringen und dieses auf Kosten der deutschen Industrien tun will. Im einzelnen wiesen insbesondere Deutschsüdmahren und der Böhmerwaldgau wirtschaftlich nach dem SOden, nach Wien und Linz, und es bestand hier ein reger, wechselseitiger, wirtschaftlicher und kultureller Verkehr. Deutschsüdtirol stand mit Nordtirol über die Brennerstrasse in einem innigen Handelsverkehr, bei dem sich die beiden durch das Klima verschieden bedachten Teile in der glücklichsten Weise erganzten. Es fand ein gegenseitiger Austausch der Rohstoffe, von Kastanien, Mais, Obst, Wein, Milch und Fett statt Auch die überwiegend landwirtschaftliche Mittelsteiermark stand im innigsten wirtschaftlichen Verbande mit dem industriellen Norden dieses Landes und es bildeten innerhalb der Mittelsteiermark im kleinen wieder das Marburger und das Abstaller Becken organische, nach dem Norden weisende Einheiten. Weitere enge Zusammenhange bestanden zwischen PreBburg und Wien, welch ersteres mit Recht geradezu als eine Vorstadt Wiens bezeichnet wurde, und zwischen den österreich vorenthaltenen deutschen Teilen der Wieselburger Gespanschaft, die für die Nahrungsmittelversorgung Wiens wesentlich in Betracht kamen. Im ersten Entwurf der Friedensbedingungen war ferner die Bestimmung enthalten, die so sehr ausgesprochene wirtschaftliche Einheit Karntens zu zerteilen und den südlichen Teil, einschlieBlich der ganz deutschen Stadt Klagenfurt, dem südslawischen Staat zuzusprechen. Die Machthaber in Paris bedachten nicht, daB die von dieser Zerteilung betroffenen Südkarntner, in ihrem Rücken die über 2000 m hohen, unwegsamen Karawanken, durch diese staatsmannische Tat dem vollstandigen wirtschaftlichen Untergang preisgegeben waren. DaB diese Ungeheuerlichkeit unterblieb, indem Südkarnten über seine Zugehörigkeit abstimmen durfte, hat Deutschösterreich nur dem Eingreifen der dorthin entsendeten amerikanischen Studienkommission zu verdanken. Aber auch bei der Zuerkennung der Volksabstimmung, die in zwei Abstimmungsgebieten vor sich gehen sollte, bewahrte sich die vollstandige Unkenntnis der die Welt aufteilenden Sieger. Sie führten die Grenze der beiden Abstimmungsgebiete so nahe an der Stadt Klagenfurt vorüber, daB die Stadt in das eine, ihr Wasser- 43 Die Grenzen und ihré Bedeutung lihd Elektrizitatswerk in das andere Abstimmungsgebiet fièlen, so daB im Falie eines verschiedenen Ausfalles der Abstimmung in den beiden Gebieten eine Landeshauptstadt von 26.000 Einwohnern in ihrer Versorgung mit Wasser und Licht ernstlich bedroht war. Die gleiche wirtschaftliche Unkenntnis béwahrte sich bei der Zerteilung des Abstaller Beckens durch die Murgrenze. Dieses Becken, das nahezu ausschlieBlich deutsche Gemeinden umschlieBt, hatte ebenso wie das Marburger schon aus dem Grunde des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu Österreich gehört. Es sind aber durch seine Zerteilung auch wirtschaftliche Interessen schwer verletzt worden. Besonders kennzeichnend ist folgendes: Für die Kanalisatiort des überschwemmungsgefahrlichen Flusses sowie für die Ausbeutung seiner Krafte zur Gewinnung elektrischen Stromes, waren vor dem Weltkrïege von der österreichischen Regierung viele Millionen österreichische Friedenskronen aufgewendet worden. Durch die Zerteilung des Arbeitsgebietes an zwei sich unfreundlich gegenüberstehende Nachbarn sind diese Arbeiten unnütz geworden und dem Verfall preisgegeben. Gleichzeitig ist der Republik Deutschösterreich eine Wasserkraft entzogen worden, deren Wirkung sich bis nach Wien erstreckt hatte und die Österreich in seiner groBen Kohlennot eine recht wesentliche Hilfe geboten hatte. So ist auch hier wie überall auf Schritt und Tritt der gleiche Vorgang beachtet worden: Beschenkung der Günstlinge der Sieger, auch wenn der ihnen gebrachte Vorteil verschwindend klein war gegenüber dem beim Beraubten angerichteten Schaden. 3. Die Schadigung des Verkehrswesens Durch die Grenzführüng ist auch das Verkehrsnetz Deutschösterreichs in der grausamsten Weise verstümmelt worden. Von dem reichen Eisenbahnnetz Alt-österreichs ist bei Deutschösterreich ein Rest übriggeblieben, der von Wien aus strahlenförmig in meist geringfügiger Lange verlauft, in Wien aber groBe Kopfstationen mit erheblichen An lagen und Betriebskosten besitzl Nur zwei groBe Linien sind bei Deutschösterreich geblieben, die Linie Wien—Innsbruck— Feldkirch nach der Schweiz und die Linie Wien—Villach—Tarvis nach Italien. Aber auch von diesen Linien ist die erstere durch die Abtretung Deutschsüdtirols in ihrem Werte auBerordentlich beeintrachtigt worden. Sie verlauft heute in Tirol durch ein schmales Gebirgstal, dessen beiderseitige Bergkamme nicht im Besitz des deutschösterreichischen Staates sind, so daB der Betrieb nicht unter allen Umstanden gewahrleistet ist. Einen zweiten, noch schwereren Verlust hat Deutsch- 44 Die Grenzen und ihre Bedeutung österreich und der internationale Verkehr dadurch erlitten, daB die vom Etschtal aus über das Eisack- und Pustertal östlich verlaufende Linie zu einem groBen Teil durch Zuteilung an fremde Machte unterbrochen worden ist. Vor Ausbruch des Weltkrieges bestand der Plan, diese Linie nach Westen durch Führung über den OfenpaB den AnschluB an das Schweizer Eisenbahnnetz gewinnen zu lassen und dadurch die sehr wichtige Verbindung zwischen den Weststaaten und dem Balkan herzustellen. Abgesehen von dieser internationalen Bedeutung hatte diese Eisenbahnlinie auch schon in ihrer bisherigen Gestalt die wichtige Aufgabe, die Versórgung der wenig ergiebigen Alpenlander aus der ungarischen Kornkammer zu vermitteln. Diese Verbindung und der ganze Wert der Strecke ist dadurch verloren gegangen, daB ihr westlicher, in Deutschsüdtirol liegender Teil an Italien, ihr östlicher, in Südsteiermark gelegener Teil an Südslawien getallen ist. In diesem letzteren Teile wird durch den Verlust der genanhten. Eisenbahnstrecke dem bevölkerungsmaBigen und wirtschaftlichen Schaden; den Deutschösterreich durch den Verlust der Mittelsteiermark erleidet, noch ein weiterer hinzugefügt: das für Deutschösterreich auBerordentlich wichtige Verkehrsdreieck Villach—Bruck—Marburg wird dadurch auf einem kleinen, aber für die Lahmlegung vollstandig genügenden Teile unterbrochen. Es folgt aus der ganz rücksichtslosen Abtrennung dieses Teiles für die Bewohner Südkarntens und der Südsteiermark, die bisher durch die Eisenbahnlinie zu nachster Nachbarschaft verbunden waren, die Notwendigkeit, den groBen, zeitraubenden und kostspieligen Umweg über Bruck einzuschlagen, wenn, was bisher der Fall war, Südslawien Schwierigkeiten im Grenzverkehr macht. Eine Abhilfe durch Bau einer neuen Eisenhahnlinie ist wegen der dazwischen liegenden Gebirge gar nicht möglich. Die einzige Abhilfe bestünde in der auch sonst begründeten Rückgabe der Eisenbahnlinie und mit ihr notwendigerweise der Mittelsteiermark. In einem grotesken Gegensatz zu dieser Verletzung lebenswichtiger Verkehrsinteressen Deutschösterreichs steht die Art, wie auf Kosten Deutschösterreichs für die Verkehrsinteressen des tschechischen Staates gesorgt worden ist. Der Gmünder Streifen von Niederösterreich einschlieBlich des Gmünder Bahnhofes muBte an den tschechischen Staat abgetreten werden, damit dieser die Gabelstation Gmünd—Prag und Gmünd—Pilsen in der Hand behalte, zweier Strecken, die durch zahlreiche Zwischenlinien ohnedies verbunden sind. Desgleichen muBte das Feldsberger Gebiet Niederösterreichs abgetreten werden, 45- Die Grenzen und ihre Bedeutung um dem tschechischen Staate die von Grusbach über Nikolsburg zur Nordbahn herüberführende recht bedeutungslose Nebentteië zu erhalten. Noch hervorstechender wird die Beg'ünstigung des tschechischen Staates bei der Belassung der die deutschen Teile des Wieselburger Komltates überschreitenden Bahnstrecke PreBburg—Raüb bei Ungarn. Hier wurde ein Teil des geschlossenen deutschen Sprachgebietes dazu verurteilt, bei Ungarn zu bleiben, damit der tschechische Staat um eine Bahnverbindung mehr nach Südosten und Süden besitze. III. SchluBbetrachtung Wenn wir die im vorausgehenden kurz skizzierte Schadigung Deutschösterreichs durch die Grenzführüng noch einmal zusammenfassen und kritisch betrachten, so drSngt sich die Frage auf, nach welchen einheitlichen Grundsatzen die Sieger bei der Grenzführüng vorgegangen sein mögen. Das vielgepriesene Selbstbestimmungsreclvt der Völker ist es nicht gewesen, denn sonst hatte dem dringenden, unmittelbar an die Friedenskonferenz gerichteten Verlangen der deutschen Gebiete der Sudetenlander, Deutschsüdtirols und anderer deutscher und nichtdeutscher Grenzgebiete nach Vornahme einer Volksabstimmung entsprochen werden mussen. Das Selbstbestitnmungsrecht des tschechischen Volkes ist reichlich anerkannt worden: Nicht ein einziger Tscheche des geschlossenen tschechischen Gebietes ist unter fremder Herrschaft geblieben. Das italienische Selbstbestimmungsrecht ist anerkannt worden: Die nach dem AnschluB an Italien rufenden Italiener des Trentino haben Erhörung gefunden. Die slowenischen AbtrennungswOnsche sind mehr als berücksichtigt worden, indem namlich den zahlreichen slowenischen Volkszugehörigen in Mittelsteiermark, die in ahnücher Weise wie ihre Brüder in Südkarnten aus wirtschaftlichen und geschichtlichen Gründen ihren ZusammenschluB mit Deutschösterreich anstreben, die begehrte Volksabstimmung verweigert wurde. So ist unter der letzterwahnten Einschr3nkung das Selbstbestimmungsrecht der von den Siegern begünstigten Völker gewahrt worden. Dasjenige des deutschösterreichischen Volkes ist dagegen mit FüBen getreten worden. Auch der Grundsatz der gröBtmöglichsten Berücksichtigung wirtschaf tlicher Zusammenhange ist es nicht gewesen, der den Siegern die Grenzführüng nahelegte; denn sonst hatte es überhaupt nicht zu der fürchterlichen ZerreiBung des altgefügten österreichischen Wirtschaftsgebietes kommen können, deren 46 Die Grenzen und ihre Bedeutung Folgen sich sogar bei dem durch Zuteilung aller fremden Reichtümer begünstigten tschechischen Staate in einem Herabsinken des Geldwertes auf einen Bruchteil des Friedenswertes, bei den andern aber in einem noch viel schlimmeren Zusammenbruch der Wahrung geauBert haben. Ebenso hatten dann alle übrigen oben gezeigten ZerreiBungen wirtschaftlicher Zusammenhange unterbleiben müssen. DerGrundsatz der Wahrung bestmöglichster Verkehrsverhaltnisse zwischen den neuen Staaten und der Welt kann es auch nicht gewesen sein, der die Sieger zu dieser Art Grenzlegung bewog. Wohl sehen wir die anderen Nachfolgestaaten begunstigt, dem stehen aber die ganz katastrophalen Zerstörungen in dem deutschösterreichischen und internationalen Verkehrsnetze durch die Grenzführüng Deutschösterreichs entgegen. Als ein weiterer Grund für die gegebene Grenzführüng ist die Ges ch ich te ins Treffen geführt worden. Die Machthaber in Paris haben sich bewogen gesehen, dem tschechischen Staate die von ihm begehrten geschichtlichen Grenzen zuzuweisen. Sie haben sich im gleichen Augenblick nicht gescheut, die geschichtlichen Grenzen Niederösterreichs zugunsten des tschechischen Staates zu verletzen sowie die alten geschichtlichen Einheiten Tirols, Karntens und der Steiermark zu zerstören. Für die Abtretung Deutschsüdtirols und die Verlegung der italienischen Grenze bis zum Brenner ist der Gesichtspunkt der mi litarischen Verteidigung vorgebracht worden. Hiebei wurde nicht beachtet, daB die Deutschsüdtiroler Sprachgrenze gleichzeitig auch eine nach Norden steil abfallende strategische Grenze mit nur wenigen, schwer passierbaren Taldurchlassen ist und daB Deutschsüdtirol mit der hohen Gebirgskette im Rücken als Aufmarschraum nicht in Frage kommt. Darüber hinaus hat bekanntlich die deutschösterreichische Friedensdelegation, um jede auch unbegründete Befürchtungen Italiens zu zerstreuen, den Vorschlag gemacht, ganz Deutschtirol zu neutralisieren und es in jeder Richtung zu entmilitarisieren, das heiBt, das Militar, die Waffenlager, Waffenfabriken usw. zu beseitigen. Mit all dem ware die milltarische Sicherheit Italiens mehr als gewahrleistet gewesen. Aber es handelte sich Italien um etwas ganz anderes: nicht nur reichen Landgewinn einzuheimsen, sondern auch gunstige Angriff sgrenzen zu gewinnen. Das beweist der Umstand, daB es über den Londoner Vertrag hinaus mit seinen Ansprüchen in der Toblacher Gegend über die Wasserscheide gegangen ist, wie es auch in Südwestkarnten die Grenze viel weiter ins Gailtal vorgeschoben hat, 47 Die Grenzen und ihre Bedeutung als es für die bloBe Verteidigung notwepdig gewesen ware. Eine Viertelmillion kerndeutscher, freiheitsdurstiger Tiroler sind das Opfer dieser Eroberungspolitik geworden. - Gleichzeitig mit dieser „mihtarischen Sicherung" Italiens haben die Sieger die österreichische Grenze im Norden, Osten und Südosten von Wien so nahe an die für die Verteidigung des Landes unentbehrliche Landeshauptstadt herangerücM daB diese in die Reichwejte feindlicher Geschütze geraten ist. So ist also der Grundsatz der militarischen Sicherhe.it gehandhabt worden. Wenn wir nach diesen Betrachtungen den einheitlichen Grundgedanken in der Grenzführüng Deutschösterreichs suchen, so kann er nur darin gefunden werden: immer und überall, unter welchem Vorwande und um welchen Preis immer, die für Deutschösterreich ungünstigste Lösung zu finden. Diese einzige Folgerichtigkeit, dieses kpnsequent durchgeführte Übelwollen gegen Deutschösterreich ist, wie an mehreren Beispielen gezeigt wurde, von einer bemerkenswerten Unkenntnis der Sachlage begleitet gewesen. Es hat sich über die Grenzführüng hinaus in allen übrigen Teilen des Friedensvertrages, besonders in den wirtschaftlichen und finanziellen, fortgesetzt und ist mit die Ursache der heutigen erbarmungswürdigen Lage des Staates Deutschösterreich. Wenn sich derzeit die hervorragendsten Wirtschafts- und Finanzmanner der Welt den Kopf zerbrechen, wie sie dem unglücklichen, schwer miBhandelten Gebilde zum Leben verhelfen sollen, und wenn die zu einer Rettung Deutschösterreichs unternommenen Schntte bis hieher einen gewissen, Erfolg aufweisen, so darf nicht übersehen werden daB das ein Versuch ist, die ungeheure Friedensschuld, die die Sieger auf sich geladen, wieder gut zu machen. Über den voraussichtlichen Erfolg: dieser Bemühungen sind die Meinungen geteilt Die wirkliche und nachhaltige Rettung des deutschösterreichischen Staates kann nur dadurch erfolgen, daB die allen Gesetzen der Menschlichkeit widersprechenden Friedensbedingungen, besonders auch die die grenze betreffenden, aufgehoben werden. So nur kann es möglich sein, dieses alte, ruhmvolle Kulturgebiet im Herzen Europas, dieses Volk, das der Welt unsterbliche Kulturwerte geschenkt hat, vor dem Untergange zu bewahren. i. .■ :■< ■■ cgï ■•■ i-••'- "• -; 48 Bregenz, Rheintal Niederösterreichisches, an die Tschecho-Slowakei verloren gegangenes Gebiet (der Bezirkshauptmannschaft Gmünd in Niederösterreich) 1910 r19r? abgetret Ortsgemeinde f,a Bevlkg- Gebiet deutsch (ungefahr) I. Gerichtsbezirk Gmünd in Niederösterreich 1 Beinhöfen. . . St.-G. 1538 -jjl5- z. Ganze joo 2 Böhmzeil St.-G. ooS 616 ^ 5/e Josefschlag . „ óy$ 3 Erdweis St.-G. 1593 ll3! z> Ganze Sofienwald 1037 4 Naglitz ■ T" ■ . St-G. 613 242 z. Ganze 70c 5 Schwarzbach . St-G. 1059 J±L. z. Ganze 6 Tannenbruck St-G. 587 i^i z. Ganze Thiergarten . „ _ 315 7 Weifienbach . . St-G. 1164 364 z. Ganze 8 Wielands, Unter- St-G. 3240 Ober- „ 1284 2399 Vi Ehrendorf . . „ 505 /-*.. 9 Witschkoberg . St-G. 683 -_- z. Ganze 551_ " 10 Zuggers St-G. 1351 529 »/• Breilensee „ .., (Aiggers) II z4o II. Gerichtsbezirk Schrems 1 Brand St-G. 1379 ?036 ^ Nagelberg . „ 2025 2 Gundschachen . St-G. 122 313 z. Ganze ' 3 Rottenschachen St-G. 2346 ^ Vs I00U Ui. Gerichtsbezirk Weitra 1 Höhenberg St-G. 992 312 »/. Reinpolz ■ . 301 Hauptort Gmünd bleibt bei österreich Gmünd I.Teil.|St.Gj|1091|26O5-- Die zufolge Staatsvertrages von Saint Germain an den tschecho-slowaldschen Staat abgetretenen und von den Tschecho-Slowaken am 31. Juli 1920 besetzten Gebiete des staatlichen Verwaltungs- (politischen) Bezirkes Gmünd in Niederösterreich. Der Grenzzug Naglitz bis Rottenschachen einschliefllich ist vom zwischenstaatlichen Grenzregulierungsausschusse am 6. November 1920 festgesetzt worden. Zeichenerklarung: „_a------------ Grenze gegen (Alt-)Böhmen ■imhhihiiim Gemeindegrenzen jlimmiUUlllIjljlIJlIlL Grenze gegen den tschechc-slowakischen Staat St-G. Steuer-(Katastral-)Gemeinden P- , , „„ Verhaltnia der Ein- Eanwonner . . , nach der wohnerschatt nach Abgetretene Flache Volk.- 3fDZeSfrT910 /-« .1 111 na zanlung vom Gemeinden 3^ jfnner ; ; 1920 "n hievon gesamten deutsch zur Ganze . 8 7.359 4.008 4.259 3.595 -| 85 •/. zum Teil. . 6 4.460*) 4.650*) 5.000 4.200 zusammen. || 11.819*) 8.650*) 7.273 85% hiezu Feldsberg zusammen . 12.809*) 10.743*) 5.370 50°/. hinsichtlich des gesamten abgetretenen Gebietes von Niederösterr. 24.628*) 19.401*) 12.643*) Das Werden Neu-Osterreichs Heinz Steinrück Schwerer Novembernebel zieht von den Wienerwaldbergen langsam nach Osten. Wie in Schatten gehflllt liegt Schönbrunn, das kaiserHche, wo Franz Joseph seit sechs Tagen den letzten Schlaf schlaft. Mit dem herniedersinkenden Abend legt sich Schweigen über die Millionenstadt. Zehntausend, Hunderttausend stehen in dichten Reihen langs des Weges, den der Kaiser seit acht Dezennien ungezahlte Male zurückgelegt, und den er heute zum letztenmal geleitet werden soll. Stumm und starr steht an beiden Seiten des Weges die Soldatenreihe, unübersehbar von Schönbrunn bis in die Herzkammer der Stadt. Laternen leuchten mit trübrot mattem Licht, Dragonerhelme und blanke Rüstungsstücke blitzen fahl in ihrem Schein; schweigend steht die Menge. Vor dem Tor, hoch oben auf der Freitreppe, flimmern Windlichter auf: des Kaisers schwarzer Sarg wird aus dem Lust- und SchmerzenschloB getragen. Aus dem Tor quillt das Geleite, Leibgarde, Edelknaben, Geistlichkeit, Obersthofmeister, General- und Flügeladjutanten. Acht Rappen ziehen langsamen Schrittes den von zehn schwarzen Doppeladlern gekrönten Leichenwagen der habsburgischen Kaiser, zum letztenmal tritt in Schöqbrunn vor Franz Joseph die Wache ins Gewehr. Leichter Westwind fegt die Nebelmassen in die ungarische Ebene, Sterne blitzen am Nachthimmel auf. Stunden verrinnen. Vor Mitternacht fahrt der Leichenzug durch das Burgtor in den Schweizerhof. In machtigen, roten, sausenden Flammensaulen entströmt vor der Burg loderndes Gas umflorten Leuchtstandern. Vor der Burgpfarrkirche warten Oberstkammerer, Obersthofmarschall, Oberststabelmeister, Oberstjagermeister — wie war sie schön, die Gemsenjagd in den Tiroler Bergen! — Gardekapitane und die Geistlichkeit: nach dem seit Jahrhunderten unveranderten Hofbrauche Karls V., des spanischen Habsburgers. 4 49 Das Werden Neu-Osterreichs In der Hofburgpfarrkirche erwarten der junge Kaiser und seine Frau den Leichnam des GroBohms. Der Burgpfarrer segnet den Sarg, das Kaiserpaar betet. Ein sorgenvoller, unruhiger Zug grabt sich hiebei in des blutjungen Kaisers hübsches Gesicht: der letzte KaroHnger hieB Karl und wieder ein Karl, der VI., beschloB den Mannesstamm der Habsburger. Wird er der letzte Lothring-Kronentrager sein? Doch das blasse Antlitz der französisch-spanischem Geblüt entstammenden Kaiserin zeigt stolze Ruhe und ihr Bliek streift den neben ihr knienden Gemahl. * Rauschend, graugrün und machtig strömt die Donau ihren alten Weg nach Osten. Wie einst ins Heunenland. Das Hochstift reckt die glanzenden .Türme gegen die Wolken, die Dörfer und Weiier am Ufer schlafen vertraumt. Bechelaren und Ziselmüre — wo seid Ihr, Markgraf Rüdiger, Getreuer, wo Ihr, Hagen von Tronje und Volker von Afeéy? Auch sie fuhren gegen Ost und kehrten nie zurück, die erste Welle germanischer Volkskraft, der Ströme deutschen Herzblutes ein Jahrtausend lang folgten. Nach Osten und nach Süden und nach Südosten, wo vor unlangen Jahren Franz Ferdinand, ein wahrhaft erzener Herzog, unter Mörderhand verblutete. Auf der Südostbastion des Reiches: wie lange noch wird sie das sein? Ungeheuer ist die Übermacht des Feindes, unertraglich schwer der Kampf, der schon Hunderttausende von Menschenleben fraB. Wolkenlos ist der Himmel, kühl weht der Wind von Sonnenaufgang das Donautal hinauf. In hellem Sonnenlicht liegt Artstetten, Franz Ferdinands letzte Ruhestatte. Alle Glocken lauten vom Dome zu Wien: des toten Kaisers Majestat wird zu Sankt Stephan eingesegnet, seit vierhundert Jahren, seit Friedrichs III., des letzten Ritters kaiserlichen Vaters, Totenfeier das erstemal, daB ein Kaiser zu Sankt Stephan aufgebahrt liegt. Kopf an Kopf gedrangt, fast die Kirche sprengend, das Volk, schweigend, in tiefem Ernst. Frauen schluchzen. Was fflhlen die GroBen des Reiches, die dem Sarge zunachst in stattlicher Zahl, in Prunk und Ordensschmuck, höfisch schweigsam stehen? Wurden sie inne, daB in dem sechs FuB langen, schwarzen Sarg der Eckstein des Reiches liegt, der nun aus dem stolzen, kunstvollen Gebaude herausgebrochen, es dadurch dem Untergange weiht? Wohl gleiten flüchtige Blicke hinauf zur Betnische des Hofes, wo sich goldblond der Kopf des kronprinzlichen Knaben heil vom tiefschwarzen Hintergrunde abhebt. Seit zweihundert Jahren blühte Osterreichs Kronprinzen kein Glück: Josef 50 Das Werden Neu-Österreichs der Deutsche starb gebrochenen Herzens, Ferdinand umnachteten Geistes und der letzte Kronprinz — woran starb er? Wird je der blonde Knabenkopf des Reiches Krone tragen? Mit leisem Rauschen zieht drauBen, weit vor der Stadt, der machtige Donaustrom gegen Osten. Unberührt vom Blflhn und Verblühn der Geschlechter strömt er seit Jahrtausenden seinen Weg. * „... nunmehr muB ohne Saumnis der Neuaufbau des Vaterlandes auf seinen natürlichen und daher zuverlassigsten Grundlagen in Angriff genommen werden Österreich soll, dem Willen seiner Völker gemaB, zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet " Und der Wille der Völker Ungarns? „... diese Neugestaltung, durch die die Integritat der LSnder der ungarischen heiligen Krone in keiner Weise berührt wird, soll jedem nationalen Einzelstaate seine Selbstandigkeit gewahrleisten...." Armes Kaiser- und Königreich! „... an die Völker, auf deren Selbstbestimmung das neue Reich sich gründen wird, ergeht Mein Ruf, an dem groBen Werke durch Nationalrate mitzuwirken, die — gebildet aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation — die Interessen der Völker zueinander sowie im Verkehre mit Meiner Regierung zur Geltung bringen sollen." So ward der 16. Oktober 1918 der Geburtstag Neu-Österreichs. „... So möge unser Vaterland, gefestigt durch die Ein tracht der Nationen, die es umschlieBt, als Bund freier Völker aus den Stormen des Krieges hervorgehen. Der Segen des Allmachtigen sei Ober unserer Arbeit, damit das groBe Friedenswerk, das wir errichten, das GlQck aller Meiner Völker bedeuten." Zu spat, viel zu spat! Der groBe Juniangriff am Piave war nicht gelungen, unverrückt standen die italienischen, durch Englander und Franzosen gefestigten Linien. Und die Not im Reiche stieg. Menschen starben Hungers im Herzen von Europa, der Seebann des Feindes preBte die Pulsadern des Reiches zwar allmahlich nur, aber mit tödlicher Sicherheit zusammen. Wo war der Brotfriede geblieben, der nach dem Zusammenbruch RuBlands versprochen worden war? Und im Westen die feindliche Obermacht an Mann und Kriegszeug, war sie durch deutschen Ansturm niederzubrechen gewesen? Ein zweites Mal hatte der Siegeszug deutsche Stahlhelme Uber die Marne getragen. Zehntausende waren hüben und 4* 51 Das Werden Neu-Österreichs drüben verblutet Worum, wozu? Klangen die Worte von Frieden und Gerechtigkeit, die von der anderen Seite des Weltmeeres kamen, nicht Qberzeugend aufrichtig, menschlich und gOtig? „Warum noch Krieg?" Nicht die schlechtesten Köpfe und schlimmsten Herzen waren es, die an die VerheiBungen glaubten. Sollte das Hochziel ewigen Friedens zwischen freien Vólkern unmöglich sein? Wer wuBte denn, daB damals und schon seit Jahresfrist überseeische Heuchelei im Dienste des Feindbundes stand und auf tausend geheimen Wegen zu Ohr und Gemüt entbehrungsgeschwachter Hinterlandsmenschen drang? RiesengroB war die Beeinflussung und der deutsche Michel glaubte und vertraute: Baldur, der Holde, starb und Hödur erhob frech grinsend das blicklose Gesicht. Vor Monatsfrist war die bulgarische Front zusammengebrochen. Nun standen die Feindesheere wieder tief in Serbien, die Besetzung von Reichsgebiet war eine Frage von Tagen. Denn die Südostfront war zu schwach und zermflrbt, die Soldaten betlubt vom unvermuteten Erfolg des Feindes. Eilzüge mit deutschen Truppen sausten durch die ungarische Tiefebene, um das gahnende Loch zu stopten. Zu spat, viel zu spat! Wie sprach die ungarische Volksvertretung am Tage nach der Veröffentlichung des kaiserlichen Aufrufes? „Die Verteidigung kann auch durch vollkommen gesonderte Armeen durchgeführt werden!" — „Es wird keine Armeen geben, die Abrüstung muB kommen!" — „Das Aufhören des deutschen Bündnisses schlieBt durchaus keine Untreue an unserem deutschen Bundesgenossen in sich." Keine Untreue! Das sprach Graf Tisza, ohne schamrot zu werden. „Die Integritat des ungarischen Staates wird von den vierzehn Punkten Wilsons gar nicht angefochten, es ist eine der unwürdigsten Verleumdungen, diese Nation, die so viel Blut für die Freiheit vergossen hat, als einen Feind der auf ihrem Gebiete wohnenden Nationalitaten hinzustellen. Der sogenannte tschecho-slowakische Standpunkt ist absurd " Auch das sprach Tisza, der ungarische Graf: Nichts gelernt und alles vergessen. Zu spat, viel zu spat! „Ich werde in der Indemnitatsdebatte den urkundlichen Nachweis führen, daB Ungarn bis zum letzten Augenblicke die friedliche Lösung versuchte!" — lm Juli 1914 vielleicht — aber die vierzig langen Jahre vorher, Herr Graf? Wer schenkte dem „tapferen Serbenbezwinger" im Jahre 1876 den Ehrensabel? Die ungarische Nation, das heiBt der magyarische Adel! Wer lieferte im Entwerfen und Durchführen von Handelsver- 52 Das Werden Neu-Österreichs tragen und Handelsverboten, die Serbien an den Rand des Abgrundes brachten, das Meisterstück? Die ungarische Nation, das heiBt der magyarische Adel! Und wer versuchte in Kroatien ein magyarisches Gewaltregiment aufzurichten ? Wer wahlte mit Gendarmen und Militar? Wer unterdrückte die anderen Völker, deren Gesamtvolkszahl viel höher war als die der Magyaren? Die ungarische Nation, der magyarische Adel! — Zu spat, viel zu spat! Dreisesselberg und Blöckenstein haben Schneehauben aufgesetzt. Leise rauschend strömt die Mühl ins Tal, der Donau zu. Verschlafen und vertraumt liegt Oberösterreich. TrSumt es von einst, von dem groBen, jahrhundertelangem Kampf der Bauern um Glauben und Bodenrecht? Tausende freier Bauern starben auf freiem Feld, Dutzende wurden gehenkt, Hunderte eingetürmt. Und der Maitag zu Frankenburg auf dem Haushammerfeld, wo Stattbalter Graf Herberstorf siebzehn unter der blühenden Linde auf schwarzem Mantel mit Würfeln um ihr Leben spielen lieB und fünfzehn an den Kirchtürmen zu Frankenburg, Völkermarkt und Neukirchen henkte? Man konnte den neuen Glauben austilgen mit Feuer und Rad, aber die Habsburger brachen damit dem freien Mannesstolz das Rückgrat. Noch steht das Denkmal mit dem Bundschuhmann zu Ried, noch leben vereinzelt Bauern mit Freisassenstolz, aber das Land schlaft und traumt. In diesem vertrSumten Lande lebte und starb Osterreichs ureigenster Dichter: „Oft, wenn ich durch das wilde Gestrüpp plötzlich auf einen freien AbriB kam und mir die Abendröte entgegenschlug, weithin das Land in Duft und roten Rauch legend, setzte ich mich nieder, lieB das Feuerwerk vor mir verglimmen und es kamen allerlei Gefühle in mein Herz." Du hast wahrhaft Frieden gestiftet in der Menschen Herz. Unberührt und zeitlos wie deine Geschichten lebt das Volk in deinem Land. „Die Sonne ging auf und ging unter, die Heide wurde weiB und wurde grün, der Holunderbaum und der Apfelbaum blühten vielmal . . und der Heideknabe lebte in der Welt, weit und fern der Heimat. Aber nach vielen, vielen Jahren kam er zurück und beschloB sein Leben im Heidedorf. Das ist, Stifter, dein Land! „Die deutsche Nationalversammlung hat gestern das provisorische Grundgesetz des neuen deutschösterreichischen Staates beschlossen. 53 Das Werden Neu-Österreichs Auf der Grundlage dieses Gesetzes hat sie den Staatsrat gewahlt, der nunmehr die Regierungs- uud Vollzugsgewalt in Deutschösterreich übernimmt. Der Staatsrat wird unverzüglich die erste deutschösterreichische Regierung ernennen, die die Friedensverhandlungen führen, die Verwaltung der deutschen Gebiete Osterreichs und die Befehlsgewalt Ober die deutschen Truppen übernehmen wird.... Die Regierung Deutschösterreichs wird den nationalen Minderheiten im deutschen Gebiete ihren vollen Schutz gewahren. Sie erwartet, daB die nationalen Regierungen der anderen Völker gleichen Schutz auch den deutschen Minderheiten in den slawischen Gebieten gewahren werden...." Deutschösterreich hat sein Versprechen gehalten, seine Hoffnung auf die anderen Staaten aber wurde schmahlich getauscht. Die kaiserliche und königliche Regierung lag in den letzten Zügen. Der letzte habsburgische Ministerpresident Lammasch übergibt die Regierung der deutschen Gebiete dem Staatsrat. Die Nationalversammlung stellt den Antrag, den kaiserlichen und königlichen Minister des kaiserlichen und königlichen Hauses und des AuBern, Grafen Andrassy, als lastigen Auslander auszuweisen. Der Antrag wird mit dem treulosen, undeutschen Anbot des Sonderfriedens begründet, der ein jahrzehntelanges Bündnis löste, bei dem Österreich stets der empfangende Teil gewesen war. Der Kaiser verschenkt allzu groBherzig die Kriegsflotte an den Sfidslawenstaat, die deutschen Offiziere und Soldaten des Heeres werden vom Staatsrat in Pflicht genommen. Ein Tragbalken der Monarchie nach dem anderen stürzt krachend ein. In Prag verhaftet der NationalausschuB den kaiserlichen und königlichen Militarkommandanten und laBt des Kaisers Statthalter nicht ins Land. Triest verlangt Besetzung durch den Feind, in Ungarn aber zerbricht Volksleidenschaft jegliches MaB. Graf Tisza failt, von der Revolution gerichtet, Ministerpresident Graf Hadik wird gestürzt, der Phantast Graf Karolyi ergreift mit nervöser Hand die Zflgel des schaumenden Staatsgespannes, erklart Ungarn als neutral und sein Kriegsminister Linder löst die ungarischen Truppen an der Front aus Eid und Pflicht und befiehlt ihre sofortige Heimkehr. Die deutschen Reste österreichischer Truppen kampten noch durch Tage und Stunden mit unsagbarem Heldenmut gegen zehnfache Obermacht Verlassen und verraten durch tschechischen und madjarischen Treubruch wankt die Front und — stürzt ein. Das war der Zusammenbruch. 54 Das Werden Neu-Österreichs Am dritten November um drei Uhr morgens wurde derWaffenstillstand abgeschlossen. „In Deinem Lager war österreich!" Deutsche Gebiete wurden unter Verwahrung des deutschösterreichischen Staatsrates vom Feinde besetzt. In Kiel meuterten Kaiser Wilhelms Lieblinge. Dies war der Anfang. Weiter sprang der Funke, zündete da und dort. Drei Tage spater flammte es in Bayern auf, riesengroB. Kurt Eisner, unseligen Angedenkens, übernahm die Herrschaft der Raterepublik. Immer schwüler ward die Stimmung in österreich: entflohene Kriegsgefangene plünderten und raubten, vereinzelt tauchten rote Soldaten auf. Am elften November verlieB Karl Schönbrunn, nachdem er österreichs Völker ihrem Schicksal überlassen hatte, und zog sich nach Eckartsau zurück. Am gleichen Tage beschloB der Staatsrat die Ausrufung der Republik. Zwölfter November vormittags: Die letzte Sitzung des österreichischen Abgeordnetenhauses. Sie dauerte zehn Minuten. Wieder war ein Stfick Geschichte in die Vergangenheit hinabgerollt. Zwölfter November: Um drei Uhr nachmittags die erste Sitzung der deutschösterreichischen Nationalversammlung im Parlament. Dinghofer eröffnet, spricht den Nachruf für Dr. Adler. Staatskanzler Renner spricht über das Gesetz über die Staats- und Regierungsform Deutschösterreichs. Vollbesetzte Galerien, atemlose Spannung.... „Unser groBes Volk ist in Not und Unglück, das Volk, dessen Stolz es immer war, das Volk der Dichter und Denker zu heiBen, unser deutsches Volk, das Volk der Völkerliebe, es ist im Unglück und tief gebeugt! Aber gerade in dieser Stunde, wo es so leicht und bequem und vielleicht auch so verführerisch ware, seine Rechnung abgesondert zu stellen und vielleicht von der List der Feinde Vorteile zu erhaschen, in dieser Stunde will unser Volk in allen Gauen wissen: wir sind ein Stamm und eine Schicksalsgemeinschaft!* Es war um drei Uhr zweiundvierzig Minuten, als nach einem Beifall, wie er in diesem Saaie noch nie gehort war, das Gesetz über die Erklarung Österreichs zur Republik und über den AnschluB an Deutschland zum Beschlusse erhoben wurde. Wie war damals dem Lauschenden auf der Galerie? Es sang und rauschte in seinem Herzen, das vor übermachtigem Eindruck seinen Schlag auszusetzen drohte: „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, endlich — ... heim ins Vaterhaus!" Die Vorsitzenden des Staatsrates begeben sich vor das Parlament, um den BeschluB zu verkündigen. „Heil Deutschösterreich!" Doch 55 Das Werden Neu-Österreichs die rotweiBrote Fahne wird zerfetzt, ein roter Lappen geht am Flaggenmast hoch. Schüsse knallen, Tausende flüchten: die rote Gefahr erhebt zum erstenmal ihr Haupt. Die ersten Toten des freien Volksstaates sind im Bürgerkriege getallen. * Und unten in Tirol marschiert der Feind weiter. Gegen ein wehrloses Volk. Die Malser Heide sieht fremde Söldner, hört fremde Zunge. Seit der Völkerwanderung ist Südtirol deutsch, soll es nun welsch werden ? Ist Andreas Hofer vergeblich gestorben, sind umsonst Zehntausende Tapferster auf Gletschern, Graten und Zinnen verblutet ? Wilson hat die Trennung nach der Sprachengrenze zugesagt: aber warum dann die Besetzung so grofier deutscher Gebiete ? Die Gletscher Tirols traumen: „Adler, Tiroler Adler, warum bist du so rot?" Das Land liegt schweigend. Einmal muB Kaiser Rotbart wiederkommen. * Am 23. Marz hatte Kaiser Karl das Land verlassen und sich in die Schweiz begeben. In jenen Tagen vollzog sich der Umsturz in Ungarn, das als Raterepublik unter Bela Kuns FQhrung mit SowjetruBland ein Bündnis schloB. Dies war der Auftakt zu Ereignissen, die Ungarn an den Rand des Abgrundes brachten. Krieg gegen die Tschechen, Krieg gegen die Rumanen, Überwaltigung durch den übermachtigen Feind, der in das Herz des Landes vorstieB. Anfang August brach das Kartenhaus zusammen. Der weiBe Schrecken brach an und erforderte Opfer, die fast furchtbarer waren als alles seit den Novembertagen. Der Nachbarstaat im Westen hatte gleichfalls Bluttage hinter sich. Ende Februar war Kurt Eisner erschossen worden. Noch einmal erhob süddeutscher Bolschewismus — welcher Wahnsinn! — sein Haupt, bis er in den ersten Maitagen durch preuBische Geschütze und Flammenwerfer endgültig ausgebrannt wurde. österreich war ruhig. Nur vereinzelt flackerte Rotfeuer auf. Am Gründonnerstag wurden vor dem Parlamente einige Sicherheitsorgane Opfer ihrer PfHcht, dann verebbte die Erregung. Aber die madjarische Propaganda machte sich starker fühlbar. Gewissenlose Freibeuter, durch reiche, aus trflben, madjarischen Quellen flieBende Geldmittel unterstützt, wiegelten das Volk auf, die madjarische Gesandtschaft war der Herd dieser Seuche. Einige tausend Unbesonnene, verhetzt durch tönende Schlagworte aus dem 56 Das Werden Neu-Österreichs Munde von Leuten, die nie Not und Elend kennen gelernt hatten, rotteten sich an einem Junisonntag zusammen und zogen in die Stadt um ihre tagsvorher verhafteten Führer mit Gewalt zu befreien. Abermals krachten Schüsse durch die StraBen, sechzehn Tote und fast hundert Verletzte waren das Ergebnis einer Politik, die stets mit der StraBe und nie mit Beweisgründen arbeitete. Es war hoffentlich das letztemal, daB österreichisches Blut Wiener Boden rötete. * Der 3. Juni 1919 war der erste groBe Schmerzenstag Deutschösterreichs. Zu Saint Germain ward der Abordnung Österreichs der Vertrag mit den Friedensbedingungen übergeben. Ein wahrer WilsonFrieden! Willkürlich die Grenzen, zerrissen geschlossenes, deutsches Siedlungsgebiet! DeutschsüdmShren, der Böhmerwaldgau, Sudetenland, Deutschböhmen, Deutschsüdtirol und Südsteiermark von 10,000.000 Deutschen vier unter Fremdherrschaft! Ein Aufschrei der Empörung ging durch das Land: so war man betrogen worden! Monatelang kSmpfte z3h und unermüdlich die Abordnung. Nur wenig setzte sie durch, aber auch dafür sei ihr Dank. In der Heimat stockte unterdessen der Puls. Der feindliche Bann war aufrecht geblieben, sparliche Nahrungsmittelzuschüsse verhinderten allgemeine Hungersnot. Doch die, die nicht auf die StraBe ziehen, die Stillen, Geduldigen, die starben und verdarben. Und die Jugend wuchs auf, kaum gesattigt, Student und Studentin gingen mit hohlen Wangen und lernten brennenden Auges. War das noch Leben ? Die Grippe forderte Tausende von Opfern, stetig sank die Bevölkerungszahl. Verzweiflungsgrau war die Stimmung: der Bruch des WilsonWortes lastete schwer auf dem einst so vertrauensseligen Volke Jedwede Hoffnung versank für das lebende Geschlecht. Für das kommende gab und gibt niemand sie auf. In immer gleicher Schöne lag das Stadtbild von Wien Wer hoch vom Kahlenberg hinunterblickt auf die Stadt, der sah nicht den Verfall der Hauser, nicht die grauen, alten Kindergesichter. Der Frühhng grünte, die Baume schossen ins Laub und verloren die Biatter, Schnee lag auf den Abhangen des Wienerwaldes; Wien blieb immer Wien, der Schnittpunkt uralter StraBen von Sonnenaufgang gegen Sonnenuntergang langs des Donautates und vom Südmeer langs des Alpenhanges in die Ebenen Nordeuropas. Schüchtern begirmt sich unter sachkundigen Augen Fremder neues Leben zu regen mit 57 Das Werden Neu-Österreichs schrillen MiBtönen durchsetzt, unMhnlich dem alten, vornehmen Gehaben. Buntfarbige Söldner der Feindesstaaten stolzieren durch die StraBen, ein Heer geschaftiger Menschen fremder Sprache und fremden Brauches füllt die Gassen und Gaststatten der Stadt. Mit leiser Wehmut sieht der Ursasse dies Treiben und flüchtet sich in die beschauliche Welt des Wienerwaldes. Dort auf dem Hermannskogel, uraltem Wahrzeichen deutscher Besiedlung, oder auf dem Kobenzl und auf den Bergwegen oberhalb NuBdorf, denkt er der guten Geister der Stadt, der Meister der Musik, und wenn die letzten Sonnenstrahlen schmeichelnd den Adler auf Sankt Stephans Turm umkosen, vielleicht auch der Worte des schon lange toten Dichters über Wien: „ „Und von den Bergen steige ich hernieder, — Kastanien blüh'n und violetter Flieder, — zu meiner Linken breiten sich die Reben — die Erde sinkt, nun wird es mShlich eben — und zwischen Hauslein, grau und still versonnen — hat wilder Wein ein Schultertuch gesponnen, — wie es die Lini-Tant' getragen hat, — und vor mir liegt die groBe, laute Stadt — und flimmert auf in Dunst und Abendlicht. — Ich aber fühle nichts als eine Hand -— und höre eine Stimme lind' und leis', — die über mich, wie einst, ins Weite spricht: — „Lass' gut sein, Burscherl! Wer weiB, wer weiB ..." — ... Ich kann mich gar nicht wundern, daB sie sieht, — was tiefst in meinem Herzensgrund geschieht, — und daB sie da ist, die ich langst begraben. — Begraben wie die alte Wienerstadt, — und die wir alle doch lebendig haben — begraben wie den Lanner und den StrauB, — begraben wie Beethoven und die andern, — die alle tot sind und von Haus zu Haus — in altem Kleid und jungen Geistes wandern. — Begraben wie Radetzky und den Traum — vom alten Reich, das groB und eins gewesen. . . " Lass' gut sein, Burscherl! Wer weiB, wer weiB . . . * Nicht alles in österreich blieb tatenloser Traum. Karnten handelte. Schon im November des Umsturzjahres waren südslawische Truppen nach Karnten eingedrungen, dessen gröBten Teil der neue Südslawenstaat für sich beanspruchte. Im benachbarten Südsteiermark ward deutscher Widerstand mit Waffengewalt niedergeschlagen: Siebzehn Deutsche verbluteten in den StraBen von Marburg am 27. janner, als der amerikanische Oberst Miles zur Prüfung der Volksfrage die Stadt besuchte und die Deutschen, einen Abgesandten jenes Wilson vor sich zu sehen glaubend, der Frieden und Ruhe der Menschheit auf Erden versprochen hatte, ihrer Sehnsucht nach Vereinigung mit Deutsch- 58 Das Werden Neu-Österreichs österreich jubelnd Ausdruck gaben. Denn das Volk glaubte noch immer, daB man an einem Kaiserwort nicht drehen und deuteln dürfe und dachte sich Wilson machtiger als einen Kaiser. DaB westliche Sitte Wortbruch nicht ausschlieBe, das wuBte damals Österreich noch nicht. In Karaten wehrte sich tapfer das Volk. Die in Eile aufgestellte Heimwehr drangte den Feind zurück, und der Ende April unternommene Vormarsch slowenischer Truppen schloB mit deren vernichtenden Niederlage. Schon gab der slowenische Oberbefehlshaber den Befehl, das widerrechtlich besetzte Deutsch-Südsteiermark zu raumen, als eine Wilson vertrauende Regierung den tapferen Streitern in die Arme fiel. Und Ende Mai kam unvermutet südslawischer Vormarsch, der auch die Landeshauptstadt in die Gewalt des Feindes brachte. Alles schien verloren, aber bald ward man inne, daB gerade die zahe, todesmutige Tapferkeit des kleinen < Haufleins das Land gerettet hatte. Durch die Kampfe aufmerksam gemacht, entschied die groBe Konferenz, entgegen ursprünglicher Absicht, eine Volksabstimmung zuzulassen. Fast eineinhalb Jahre muBten noch verstreichen, ehe Karaten — soweit es nicht ohne Volksentscheid fremden Staaten zugeteilt wurde — seinem Wunsche Ausdruck geben konnte. Am 10. Oktober 1922 stimmte die Südzone mit groBer Mehrheit für österreich, trotzdem weit mehr als die Halfte der Bevölkerung nichtdeutschen Stammes ist. Erst dann raumte der Feind das Land. * Hoch im Norden von Karaten, an der Grenze der Steiermark, liegt im Metnitztale Friesach, die alteste Stadt des Landes. Seit Ludwig der Deutsche und Arnulf, der Bezwinger Swatopluks, vor mehr als einem Jahrtausend die ersten Lehen an der Metnitz vergaben, besteht die Siedlung. Sie hat schwere Tage erlebi Zehn Jahre lang war sie von ungarischen Horden besetzt, die Burgen Lavant und Geiersberg sind zerfallen, aber noch stehen Ringmauer und Wall und das Leben, deutsches Leben, pulst weiter in der uralten Stadt. Vor zweitausend Jahren sind unweit der die Stadt gegen Norden schützenden Berge römische Legionen zum erstenmal von deutschen Stammen vernichtet worden. Damals trat Deutschland mit wuchtigem Schlag ein in die Geschichte. Dasselbe Volk, das die Macht des gewaltigen Roms zerbrach, soll von nun an geschichtslos hindammern? „Thor stand am Mitternachtsende der Welt, die Streitaxt schwang er, die schwere: — ,So weit der sausende Hammer failt — sind mein das 59 Das Werden Neu-Österreichs Land und die Meere!' — Und es flog der Hammer aus seiner Hand, — flog über die ganze Erde, fiel nieder am fernsten Südensrand — daB alles sein eigen werde." — Seitdem ist's heilig Germanenrecht, mit dem Hammer Land zu erwerben !" Die verfassunggebende Nationalversammlung ging ihrem Ende entgegen. Unter dem Eindrucke des Zusammenbruches hatte ein groBer Teil des Volkes sozialistisch gewahlt, siebzig sozialistischen standen neunzig bürgerliche Abgeordnete gegenüber. Die Blockregierung hatte geleistet, was sie leisten konnte, nun aber ihre Sendung erfüllt. Aus den Neuwahlen im Oktober 1920 gingen hundertneun bürgerliche und sechsundsechzig sozialdemokratische Abgeordnete hervor. Dies war das Ende des Blockes. Seit damals regiert wieder das Bürgertum in österreich, allerdings nicht unbeeinfluBt von den GewerkschaftsverbSnden. * Am Ostersonntag des folgenden Jahres flatterten plötzlich abenteuerliche Gerüchte auf: Kaiser Karl sei durch Wien gereist und nun in Ungarn! Mit falschem PaB hatte sich der letzte Kaiser österreichs durch das Land geschlichen, um sich die Krone Ungarns wieder aufzusetzen. Kurz war dieser Traum: eine Woche spater muBte Karl das Land verlassen und die Fahrt durch österreich war kein Siegeszug. Das Volk schwieg. Nicht aus Angst vor republikanischer Staatsgewalt, die niemals schart und drohend war, es schwieg, einsehend, daB vergangene Zeiten nie mehr wiederkehren, wissend, daB die „groBe Zeit" ein sehr kleines Herrschergeschlecht gefunden hatte. Es war das letztemal, daB ein habsburgischer Kaiser österreichs Boden betrat, der Nachfahre eines Geschlechtes, das von den Babenbergern ein stolzes Erbe übernommen und es nicht immer kaiserlich verwaltet hatte. Nur wenige Stunden lang durchsauste der Eilzug, der den letzten Kaiser trug, das westlichste Land des österreichischen Freistaates, Vorarlberg. Dachte Karl vielleicht, starren Auges am Fenster stenend, an seinen groBen Ahn, der als Graf von Hohenems vor hundertfünfzig Jahren auch nach Osten fuhr? Wie anders war die Zeit, wie anders jener Mann! Als Warner war Josef der Gütige zur königlichen 60 Das Werden Neu-Österreichs Schwester unterwegs, als Warner vor frSnkischer Leichtfertigkeit trat Jpsef der Deutsche vor die Königin. Vergeblich war sein Bemühen, aber es war ein edles Bemühen. Konnte Karl von sich das Gleiche Sagen ? Die Lichter von Bregenz warfen lange Zitterstreifen über den See. Der Dampier fuhr schnaubend gegen Lindau, im Westen blickte Konstanz im Abenddammern herüber. Zur selben Stunde rollte weit im Süden schwer und langsam der Zug mit Kaiser Karl über die Rheinbrücke, in die Schweiz, in die Urheimat und doch in die Fremde. H Nachdem sich die durch den Vertrag von Saint Germain zerrissene Grafschaft Tirol schon am 24. April 1921 in einer freiwilligen Abstimmung mit ungeheurer Mehrheit für den AnschluB an das Deutsche Reich ausgesprochen hatte, folgte Salzburg Ende Mai desselben Jahres dem Beispiele. Fast einstimmig war der BeschluB, der Ausdruck der Sehnsucht, sich mit dem Stammvolke zu vereinigen. „Was Wall, was Wehr, ein Spiel, ein Spiel — für die wild aufrauschende, schwellende Flut — die nur eines weiB: Fern ruft ein Ziel — das Meer, drin ewig der Himmel ruht. — Volk will zu Volk! — Wenn die Liebe das sehnende Segel dreht, — wenn Heimverlangen ein Kind bezwang, — wo lebt die Macht, die dem widersteht, — wer würgt Hunderttausender Kehlen Drang: — Volk will zu Volk!" * Turner und Studenten legten die Grenzpfahle nieder, Jubel und Begeisterung durchbrausten das Land. Aber die Sehnsucht ward nicht erfüllt: das nur dem deutschen Volke auferlegte Verbot, sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben, blieb noch weiter drohend in Kraft. Die Welt jedoch wuBte, daB der Wille da sei, das Werk in dem Augenblicke zu vollenden, wo sich die Westvölker nicht mehr der Einsicht verschlöBen, welch ungeheure Vergewaltigung sie begingen. DaB dieser Tag kommt, der Tag der deutschen Einheit, der Tag des groBen deutschen Freistaates, ist so gewiB, wie das Kreisen des Erdballes um die Mutter Sonne. Aber wann er kommt, der Tag der Sehnsucht, wissen die Nomen allein. Nur in einer Richtung war der sonst allseits verstümmelte junge Freistaat Mehrer des Reichs: er konnte die Grenze der Menschlichkeit gegen Osten vorschieben. Hart und zflh war der Kampf, den die 61 Das Werden Neu-Österreichs österreichische Friedensabordnung um Deutschwestungarn kampfte, unzShlbar die Ranke, die der mit allen, buchstëblich allen Mitteln arbeitende Madjarenstaat anwendete, um dem deutschen Grenzvolke das Selbstbestimmungsrecht zu verwehren. Nicht das ganze, nach den Vertragsbestimmungen eindeutig österreich anfallende Gebiet kam zu der Republik. Unter fremdem Drucke mufite Österreich eine Abstimmung zugestehen, die, nach asiatischem Vorbilde durchgefOhrt, dem Königreiche Ungarn die deutsche Stadt ödenburg zurflckbrachte. Von der königlichen Regierung geförderte Banditen fielen in das Land ein, viele brave Österreicher verloren im Kampfe das Leben. Unsagbare Schandtaten wurden gegen die deutschen Bewohner und deren Verteidiger ausgeführt. Hauser wurden niedergebrannt, Menschen erschlagen, das Vieh vertrieben und geraubt. Dafür wurden die Banditen nach Jahresfrist in Budapest zu Helden geschlagen! Die Abstimmung in Ödenburg, die rechtlich niemals anzuerkennen war, weil österreich nach Kenntnis der gefalschten Stimmlisten und des Schreckenszwanges seine Vertreter noch vorher abberufen hatte und die trotz unerhörtesten Schwindels nur eine kleine Mehrheit für Madjarien ergab, muSte auf Befehl der Westmachte anerkannt werden, die so ihrerseits für die Aufrechterhaltung der von ihnen feierlich unterzeichneten FriedensvertrSge sorgten 1 Der „Fetzen Papier" war einst nach dem Einmarsch in Belgien ein tödliches Schlagwort. Was half es nun, wenn der Gegner Staatsvertrage in gleicher Art behandelte? Und auch noch nach der Abstimmung gegen jedes Recht abermals wieder Landstriche vom deutschen Burgenland abriB und zu Ungarn schlug ? Schwarz, rot und gold sind die Farben des Burgenlandes. Dreihunderttausend Deutsche und viertausend Geviertkilometer, ein Drittel von ElsaB-Lothringen, sind wieder unter eigendeutscher Verwaltung. Noch weit hinein in ungarisches Staatsgebiet reicht rein deutsches Sprachgebiet: noch tausend Geviertkilometer mit hundertsechzigtausend Deutschen warten auf Befreiung. Schwarz, rot und gold sind die Farben des Burgenlandes, schwarz, rot und gold die Farben der Freiheit von 1813, der Wartburg, die Farben der Revolution von 1848, die Farben des deutschen Freistaates. Schwarz, rot und gold waren die Farben des schon langst entschlafenen Geschlechtes der Graten von Forchtenstein. Sie steht noch, die deutsche Grenz- und Trutzburg, die seit sieben Jahrhunderten anflutenden Ostvölkem tapfer die Stirne wies. 62 Das Werden Neu-Österreichs Unweit vom Neusiedlersee liegt Rust, die alte Freistadt, die Stadt der Weinberge, die nach Tokay den besten Tropfen hat. Auf dem Seespiegel zittern die Sonnenstrahlen, im Röhricht schreit der Reiher, schiafrig nickt das Schilf am Ufer. Auch dieses Land ist ein vertrfiumtes Land, von gleichem Blut wie Österreich. * Mehr als vier Jahre sind ins Land gezogen seit jenem Tage, der Deutschösterreich schuf. Seit derZerschneidung des groBen Wirtschaftsgebietes, seit dem Absperren der Grenzen durch die Nachbarstaaten hat die junge Republik Unsagliches gelitten. Nur mit Anspannung aller Krafte war es bisher gelungen, den Zusammenbruch der Staatswirtschaft zu verhaten, doch jetzt schien jede weitere Anstrengung vergeblich. Schon flüsterte man in auslandischen Parlamenten von der bevorstehenden Aufteilung Österreichs, das nicht lebensfahig sei. Die GerQchte vom Einschreiten fremder Machte verdichteten sich. Da unternahm Bundeskanzler Seipel seine Reise nach Prag, Berlin und Verona und die europaische öffentlichkeit horchte auf. So leicht war also doch nicht über die österreichische Frage hinweg zur Tagesordnung überzugehen! Am 6. September stand Österreichs vierter Bundeskanzler vor den Vertretem des Völkerbundes zu Genf. An einer langen Tafel saBen die Manner, deren Machte die Kraft des gröBten Teiles der Menschheit zusammenfassen. Mit braunlichem Gesichte und welken Zügen der portugiesische Vorsitzende Da Gama, kühl und ruhig der Japaner Ischi, rosiges Gesicht mit schneeweiBem, dichtem Haar GroBbritanniens Vertreter Balfour, ein Casarengesicht durch Wangenfülle gemildert, der italienische Abgesandte Imperiali, beweglich, klein, sehr sicher als Beherrscher des Stoffes und hinter der Bühne Spielender, der Vertreter des Sudetenstaates, Benesch, eine Gestalt von fast französischem Eindruck, und mit einem, von weichem Spitzbart umrahmten Professorengesicht von fast tschechischem Aussehen Hanotaux, der Vertreter der französischen Republik. Ruhig, leidenschaftslos, klar und deutlich sprach der Bundeskanzler. Er sprach deutsch, nach Wort und Sinn. Die Versammlung hörte ihn mit Achtung und Aufmerksamkeit an. Und als der Kanzier nun zum Schlusse kam, keinerlei Drohfarbung in der Stimme, vielmehr nüchtern und gerade deshalb überwaltigend, weil es so selbstverstandlich klang: „Ich gestehe offen, ehe das Volk Österreichs in seiner Absperrung zugrunde geht, wird es alles tun, um die Schranken und Ketten, die es beengen und drücken, zu sprengen.. <* als der Kanzier diese Worte sprach, die in der schweigenden Stille 63 Das Werden Neu-Österreichs bis in den letzten Winkel des Saales vernehmlich waren, da ging tiefe Bewegung durch den Saai. Es mag sein, daB die QroBgünstigen beim Anhören dieser Worte das Gleiche dachten, was einst ein viel GröBerer als sie Ober einen noch unendlich GröBeren aussprach: „Wahrlich, das ist ein Mann!" Wie immer das Werk ausgehen möge: was in Menschenmacht lag, hat österreichs Kanzier getan. „Nimm die Kette freiwillig, ehe man dich verkauft und diene dich frei!" lm Süden der verstümmelten Steiermark, am linken Ufer der Mur, liegt die deutsche Stadt Radkersburg. Durch lange Monate war sie von Südslawen besetzt,seit 26.Juni 1920 ist sie wieder bei österreich. Es ist dort an der Mur das letzte Stückchen südlichen Sonnenlandes, das österreich verblieb. Seit vor zwei Jahrtausenden deutsche Stamme aus dem Norden ihre Wanderung begannen, hat der Drangzur Sonne niemals aufgehört. Oft war er verderblich für deutsche Volkskraft, hat unter sachsischen und staufischen Kaisern auf Irrwege geführt. Das aber, was österreich will, ist kein Irrweg; es will sein Recht und das seines Volkes! Hoch oben liegt Ober-Radkersburg, das SchloB der Grafen Wurmbrand. Alt ist das SchloB und viele Stürme sind über seine Mauern und Türme hinweggezogen. Vor einem halben Jahrtausend ward dort ein Türkenheer vernichtet Wesir Achmed Beg, der ein Jahr früher sengend und brennend bis nach Aglei am blauen Südmeer vorgebrochen war, verlor Sieg und Leben in dieser Schlacht. Steirer, KSrntner und Österreicher unter Führung Herzogs Ernst des Eisernen, Pankrazens von Ungnad, Eckarts von Herberstein und Friedrich von Harrach schlugen diese Schlacht, seit der Steiermark und Krain und die südlichen Marken von den Türken verschont blieben. Unweit von Radkersburg, heute in fremdem Land, liegt die deutsche Stadt Luttenberg, berühmt durch ihren von Deutschen einst gepflanzten Wein. Mögen ihn deutsche Enkel wieder trinken! * Kein wehrhaftes Heer kann heute dem Feinde, mag er von Norden, Osten oder Süden kommen, die Stirne bieten. Im Norden, Osten und Süden wird deutsches Volkstum gemordet, nicht mehr mit blankem Stahl oder mit Gewehrkugeln — obwohl in manchem neuen Staat Hunderte Deutscher das Bekenntnis zu ihrem Volkstum mit dem Leben bezahlen muBten — man mordet heute durch Erstickung der deutschen Kultur, durch Wegnahme deutscher, durch Zwang in fremdsprachige 64 Ruine Aggstein an der Donau Das Werden Neu-Österreichs Schulen. Wohl sind die dem deutschen Volkstum geschlagenen Wunden schmerzlich, Tausende und Zehntausende gehen ihm verloren. Aber das Achtzigmillionenvolk wird nicht sterben, es wird nicht geschichtslos dahindammern, der Tag wird kommen, wo wir wieder aus froher Brust und ungebeugten Nackens stolz sagen werden: „Wir sind Österreicher, wir sind Deutsche, auf diesen Posten gestellt zur Verteidigung der Marken gegen Norden, Osten und Süden." Ein durch eigene Anstrengung gekraftigtes Österreich wird diese Worte sprechen können, um dann, nicht aus Not, sondern aus tiefinnerster Überzeugung in das Mutterhaus zurückzukehren. Ein neues, harteres Geschlecht wachst heran. Es lacht und singt und traumt weniger, denn es hat zu viel Elend und Not und Treubruch und Schande gesehen. Und bevor der Tag der Heimkehr kommt, wird wieder die Zeit eines Herrn von Ungnad sein. Deutschösterreich Max Hartwich Der deutsche Gedanke*) So hör, mein Volk so groB und stark: Nimm auf das Wort ins Fleisch und Mark DaB, was du schufest, nimmer wanke — Dich halt allein — der deutsche Gedanke! Nicht Wort allein und guter Rat, Nein, der Gedanke sei die Tatl Die Tat soll neue Tat gebaren, So wird das Licht der Finsternis wehrenl Und ziehn auch Wolken übers Licht — Die Sonn' erlischt in Wolken nicht I Sie überstrahlt das Erdenganze Und bricht hervor im ewigen Glanze. Drum auf, mein Volk so treu und kühn Sten in der Welt mit hehrem Sinn Und daB dein Banner niemals schwanke Sei dein Panier — der deutsche Gedanke I *) Aus dem Romane „Der Student von Melk". 5 65 II. Aus den Stromliedern Wie gerauschlos und wie eilig Gleitest du an mir vorbei, Strom der Heimat, alt und heilig, Deutsch und stolz und ewig treul Deine Wasser lispeln Weisen Und sie brausen in der Nacht Und sie rauschen, künden, preisen Die vergang'ne Zeit dèr Macht. Trauernd beuge ich mich nieder, Deutscher Strom, zu deiner Flut, Du umschmeichelst meine Glieder — Kühl' auch meines Herzens Glut I Stille, lösche alle Flammen, Die ein Menschenherze hegt, Das die Schmerzen all zusammen Der enttausenten Heimat tragt Donau, Strom aus deutschen Landen, Sei gegrüBt viel tausendmal, Beide leiden wir in Banden An der deutschen Schmach und Qual I 66 Das Reiseland Österreich Fritz Benesch Österreich ist das Land, wo der schönste Strom mit dem schönsten Gebirge Europas zusammenkommt. Das ist der Grundzug seiner viel bewunderten Landschaft. Professor Penck, der bekannte deutsche Geograph, hat es einmal das schönste Gebiet dieses Weltteils genannt, nicht weil es an fesselnden Szenerien jeweils das Schönste besitze, sondern weil es alle Arten von landschaftlichen Reizen in sich vereine. Und dieser Vorzug ist ihm bis heute geblieben; er ist sein Stolz, sein Reichtum, wie er in der Art vielen glflcklicheren Völkern versagt ist. Gibt es denn auch eine prachtigere FluBlandschaft als den Durchbruch der Donau in der Wachau? Gibt es ein herrlicheres Bild von Kraft und GröBe als einen steirischen Hochwald mit den turmhohen Fichten, wenn durch die buschigen Kronen die von der Sonne vergoldeten Bergriesen hereinschauen ? Was ist der schönste Park gegen den herzerquickenden Anblick einer Tiroler oder Salzburger Alm an der Grenze der Baume? Und daB die Österreicher an Wien eine der reizendsten GroBstadte der Welt haben, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Zudem liegt über der Landschaft ein entzückender südlicher Ton, der sich auch in einem reicheren Pflanzenwuchs auspragt. Nimmt man dazu noch die sprichwörtliche Liebenswürdigkeit der Bewohner, die verfeinerte Kultur in allem, was leben und wohnen heiBt, so erscheint österreich dazu bestimmt, eines der ersten Reiselander Europas zu werden. Im folgenden soll nun versucht werden, ein Bild von den wichtigsten Reisegebieten des Landes zu geben. * Das Hochgebirge Von der WeiBkugel bis zum Semmering ein ungeheurer Bogen hoch aufgetürmter Massen der alternden Erde, ein prachtvolles Gewirre grün schillernder Kuppen, grauer Wande und blendender 67 Das Reiseland Österreich Firne, das sind die Alpen von österreich. Ihrer stillen, unverganglichen Pracht verdanken vier LMnder der einstigen Krone von Habsburg den Ruhm, zu den schönsten Europas zu zahlen. Tirol, Salzburg, Karaten und Steiermark mit dem lieblichen Abbild aus dem Herzen der Schweiz, dem Salzkammergut. Sie sind jetzt österreich, und ihre Schönheit ist das wertvollste Erbe, das das vergangene Kaiserreich dem jungen Staate vermacht hat. Und wie die Alpen in ihrem herrlichen Zuge gegen die aufsteigende Sonne stetig ihr Antlitz verSndern, vom Ausdrucke trotziger Wildheit und ungebandigter Kraft bis zum gewinnenden Lacheln des Riesen im jagergewande, der uns mit herzlichem Willkomm die Hand reicht, so gleicht auch von diesen Landern nicht eines dem andern. Was das Wort Tirol an Vorstellungen und Erinnerungen in uns erweckt, das breite, burgenreiche Inntal mit der altersgrauen Hauptstadt, die steilen, grfinen Berge mit den hohen Firnketten darüber, die traulichen Dörfer, die sonnigen Almen, die lebensfrohen jager und Sennerinnen mit ihrem Jauchzen und Schuhplatteln, all das ist Nordtirol, das Land nördlich vom Brenner. Die Landschaft hat hier manche Ahnlichkeit mit der von Salzburg. Was sich dort aber an Eigenart oft in einem einzigen, eng begrenzten Gebirgsstock zusammendrangt, das entwickelt sich hier zu einem gewaltig ausgedehnten Gebirge mit einem Gewirr hoher Gipfel, und was in Salzburg die kurzen Tauerntaier bedeuten, das sind in Tirol tagelang sich hinziehende Haupttaler, die wie das Zillertal oder das ötztal tief in das Herz der groBen Gebirgszuge dringen, HeeresstraBen der Touristik, wie sie ahnlich nur noch die Schweiz hat. Vorarlberg, der kleine Nachbar Tirols, ist wieder ein ganz eigenes Land. Andere Leute, andere Berge, dort Gebirgler bajuvarischen Stammes, hier Alemannen, dort der tirolisch-salzburgische Typus der Berge, hier die Schweizer Formen des nahen Appenzell, die Flühe des Pratigau, Berge so seltsam wie ihre rhatoromanischen Namen, und ganz im Westen der junge, grüne Rhein mit dem breiten Tal, dem weit geöffneten Tor zu den Schönheiten des Landes. Unweit der Stelle, wo der Rhein in den Bodensee mündet, liegt die Hauptstadt von Vorarlberg. Malerische, winkelige GaBchen führen vom Seeufer erst sanft, dann steiler bergan, zwischen freundlichen Giebelhausern alemannischer Stilart steht manch ehrwürdiger, historischer Bau und ganz oben ein entzückendes, altes SchloB im Epheugeranke; dann verliert sich das Hausergewirr im Laubgrün der 68 Das Reiseland Österreich Berge. So erhebt sich das gastliche Bregenz hoch aufgerichtet und stolz am schönsten Punkte des viel umworbenen Sees. Von hier zieht die schönste Bahnlinie in das Innere des Reiches. Zunachst geht es das Rheintal hinauf bis Feldkirch, einem eng geschlossenen Stadtchen von mittelalterlicher Bauart, und dann, nach dem Einmünden der Linie von Zürich, immer gegen Osten. Bald verengt sich das Tal, und über den Waldbergen im Süden tauchen die phantastischen Riesengestalten des Rhatikon auf. Bei Bludenz beginnt die Arlbergbahn. Keuchend und pustend müht sich der Zug das Klostertal hinan. Zur Rechten, halb hinter den Vorbergen versteekt, liegen die Bergketten des Ferwall, talauswarts steht ein dunkier KoloB von edler Gestalt, und zur Linken ragen die steilen Allgaueralpen empor. Es sind das zu Gruppen vereinigte Felsberge, hohe, trotzige Gesellen mit schroffen Flanken, bald hellgrau wie verwittertes Holz, bald braun von jah abfallenden, erdigen Schiefern; und überall, zwischen dem kahlen, lichten Gefelse die steilen, smaragdgrünen Mahder mit den Riesentannen darauf, die sich vom Tal her wie ein Spielzeug ausnehmen. Ihre Steilhange entlang führt der Schienenstrang bald über kühn gebaute Brücken, bald durch Tunnels, dann wieder in Steilwande gesprengt, stets hoch über dem Tal. Bei Langen sind wir den Almweiden schon nahe, und das Herdengelaute dringt bis zur Talsohle herab. Die dunklen, schneegesprenkelten Berge des Ferwall sind voll solcher Almen, und sie zeigen uns überall das Treiben der Alpier in ihren ureigensten Typen. Wir sehen den Hirten, den Gemsjager, die Sennerin und können die Bergsteiger beobachten, wie sie in Scharen über die Schneepasse kommen und sich als winzige Pünktchen durch die Felswande bewegen. Jetzt stehen wir an der Bergwand. Ein Tunnel von rund zehntausend Metern, der viertlangste Europas, durchbohrt das Massiv des Arlberges. Fast zwanzig Minuten dauert die Fahrt, dann sind wir in St. Anton, einem der ersten Wintersportpiatze Tirols. Schienenstrang, StraBe und FluB kampten auch hier um den notdürftigsten Raum, es geht unter Lawinendachern dahin, und aus unermeBlicher Höhe blinkt ein Gletscher herab. Ein einziger Brückenbogen von 120 m überspannt den Riesenschlund der Trisanna, drüben steht auf felsiger Höhe ein uraltes SchloB, und über dem Ganzen erhebt sich der höchste unter den Gipfeln der Nordalpen, die Parseierspitze. Das ist das erhabene Bild vor dem Eintritt ins Inntal. In Landeck ist groBer Postwagenbetrieb. Da geht es innaufwarts nach Finstermünz an der Grenze der Schweiz oder über 69 Das Reiseland Österreich Nauders ins Engadin oder zum Ortler, dem König der Ostalpen. In Imst kommt die PoststraBe aus Bayern und der Weg aus dem Pitztal, in Ötztal die FahrstraBe aus dem gleichnamigen Tal. Enge, tiefe Haupttaier mit breiter MOndung ziehen dort tagelang in das Gebirge hinein. Eine Kette von Weilern und Dörfern folgt dem sanft ansteigenden Weg immer höher und höher bis Ober die Grenze des Waldes, nahe den Gletschern, so hoch wie sonst nirgends im Reiche, dann öffnen sich meilenweite Firnbecken, die gröBten von österreich, mit machtigen Gletschern, gegen die die stattlichen Gipfel an GröBe verlieren. Das sind die ötztaleralpen, die freundlichste, anmutigste Gletscherlandschaft von Tirol. Es folgen wechselnde Ausblicke auf steil aufgerichtete Berge und pralle Wande, wir sehen die berühmte Martinswand, wo sich Kaiser Maximilian I. einst auf der Gemsjagd verstiegen, und erblicken die ansteigende Trasse der Mittenwaldbahn, wie sie quer durch die Wand zieht. Diese jüngste der Österreichischen Alpenbahnen führt nach Bayern hinüber. Links von ihr erheben sich frei hintereinander die wenig gegliederten Fronten der Miemingerkette und des imposanten Wetterstein mit dem höchsten Berge von Deutschland, kompakte, steil aufgewölbte Gebirge mit riesigen Wanden, umgeben von breiten, waldigen Talern voll blühender Ortschaften. Im Karwendl zur Rechten der Bahn wieder dicht gedrangte Ketten wild zerrissener, brüchiger Felsberge mit auffallender Schichtung, und dazwischen groBartige» düstere Schluchten. Jetzt erscheinen in der Ferne die Türme von Innsbruck, der Hauptstadt des Landes. Mitten im Hochgebirge, das mehr als 2000 m über das Tal emporragt, hat sich da, wo der alte Verkehrsweg über den Brenner abzweigt, ein historisch berühmtes Gemeinwesen entwickelt, das bei seiner herrlichen Lage, seinen Sehenswürdigkeiten und dem groBen Komfort zum Hauptverkehrszentrum der Ostalpen geworden ist. Hier strömt alles zusammen, was die Berge herbeilocken, vom verwöhnten Stadter, der sich die Alpen lieber von unten besieht, bis zum wetterharten Touristen, der nach der dürftigen Kost der Sennhütten stadtisches Wohlleben aufsucht. Von Innsbruck führt die Südbahn über den Brenner, durch das verloren gegangene Südtirol nach Italien, und fast in gleicher Richtung zieht eine elektrisch betriebene Lokalbahn ins Stubai, ein kurzes, tiefes Kesseltal mit vielen Ortschaften und Weilern. Das Tal ist schon zu Beginn von hohen Bergen umgeben, vergletscherten, unschwierigen Gipfeln mit einem gemeinsamen, massigen Unterbau. 70 Das Reiseland österreich Diese Berge gehören wegen ihrer schönen Fernsicht zu den besuchtesten von Tirol und haben fast mehr Schutzhütten als es unten Gasthauser gibt. Immer breiter wird das groBe Tal, durch das der Inn seine Fluten hinabwSlzt, und die steil aufsteigenden Berge im Norden, der finstere Bettelwurf und seine Begleiter aus dem düsteren Karwendl schauen hoch über den tischebenen Boden mit den zahllosen Wohnstatten. Auf Innsbruck folgt das vieltürmige Hall, dann Schwaz und dann Jenbach, von wo eine Zahnradbahn zum hochgelegenen, groBen Achensee hinaufführt. Rechter Hand schiangelt sich ein breites, flaches Tal mit freundlichen Dörfern und Markten meilenweit in die Berge hinein. Dann schlieBt es sich zu einem Sack, und wie die Finger einer Hand, so spreizen sich fünf Talaste nach allen Richtungen auseinander, ganz eng, oft klammartig, zwischen schroffen, hohen Felsbergen, daB nur noch Saumpfade Platz finden. Immer höher und höher geht es hinan, von Weiier zu Weiier, dann kommt die Grenze des Waldes, wo aus dunklen, zerbenbedeckten Hochkaren schaumende Wasserfalle hervorbrechen, endlich die breiten, tief ausgehöhlten Kessel, in die die Gletscher herabströmen, und darüber, hoch aufgetürmt, die massigen Gipfel, scharf ausgepragte Typen von seltener Schönheit. Das ist das berühmte, viel besungene Zillertal. In Wörgl verlassen wir den Inn, den die Südbahn bis Kufstein verfolgt. Langsam steigt der Zug durch ein enges, grünes Tal zur Wasserscheide von Kirchbichl hinan, da erscheint im Norden über dem kleinen Schwarzensee der Wilde Kaiser. Das prachtvolle Gebirge bleibt uns jetzt lange im Bilde, wahrend die Bahn den Bogen um Kitzbühel, den bekannten Wintersportplatz, beschreibt, wahrend sie sich der frei aufragenden Gruppe nahert und selbst beim neuerlichen Anstieg zur Grenze von Salzburg. Unter den Wanden des gewaltigen Birnhorn geht es drüben nach Saalfelden hinab und dann durch eine geraumige Talweitung südwarts gegen den Hauptkamm der Alpen. Glatt und ruhig liegt dort der Zellersee auf einem riesigen Hochmoor, und in seiner Flache spiegein sich die Gletscher der Tauern. Er füllt das Tal von einem Bergsaum zum andern und laBt nur im Westen eine Halbinsel frei, auf der sich das viel besuchte Zeil am See ausbreitet. Ihm gegenüber mündet von Süden das Kaprunertal, das Ziel aller Fremden, die den Kesselfall oder die Gletscher des Moserboden besuchen, und nach Westen zieht mit einer Lokalbahn das Salzachtal nach Krimml, zu den höchsten Wasserfallen der Alpen hinauf. 71 Das Reiseland Österreich -Das Hochmoor von Bruck-Fusch bezeichnet den Beginn einer wJldrbmantischen Fahrt. Ringsum stehen jetzt gewaltige Berge mit ewigem Schnee, durch einen tiefen Einschnitt blinken die Gletscher der Tauern, und wahrend das Haupttal breit und machtig von Westen hereinkommt, beschreibt die Bahn einen Bogen gegen die Schlucht der unteren Salzach. Fast eine halbe Stunde dauert die Fahrt langs des tosenden Flusses. Wir sehen zur Rechten eine riesige Klamm, den Ausgang des goldhaltigen Rauristales, dann einen machtigen Wasserfall, dann an hoher, grüner Lehne eine Bahn, die allmahlich herabsteigt und in Schwarzach-St. Veit in unsere Linie mündet. Es ist die Tauernbahn, auf 300 km die einzige Überschienung der Alpen. Ihr interessantester Punkt diesseits der Tauern ist Badgastein, ein weltberühmtes Thermalbad. An einer Stelle gelegen, wo die Natur an überschaumender Kraft und Wildheit sich überbietet, gewahrt es mit dem machtigen Wasserfall, der zwischen den Hausern hinabtost, mit seinen turmhohen Hotels und den Badeanlagen, die gleich Schwalbennestern an den Steilhangen des Waldkessels kleben, einen nie gesehenen Anblick. Hinter Schwarzach-St. Veit macht die Salzach ein Knie und biegt gegen Norden. Es folgt St.Johann mit der Liechtensteinklamm, der groBartigsten Wasserschlucht österreichs, dann Bischofshofen, wo sich die Linie teilt, dann Werfen unter dem hohen Tennengebirge. Die nun folgende Fahrt durch den PaB Lueg gehört zum GroBartigsten, was die Alpenbahnen uns bieten. Sie endet mit einem kurzen Tunnel, dann weichen die Berge auf einmal zurück, und wie ein abgetrenntes Stück des nahen Flachlandes schiebt sich ein bréiter, grüner Talboden ins Hochgebirge herein. Bei Hallein wird schon ein Stück der Ebene sichtbar, und bald erscheinen am Horizont die Stadthügel von Salzburg. Diese eigenartige, entzückende Stadt liegt zwischen kastellartig aufragenden Hügeln an jenem seltenen Punkte, wo schneeiges Hochgebirge unmittelbar an die buntscheckige Ebene grenzt. Schon Wilhelm von Humboldt hat sie eine der schönstgelegenen Stadte der Erde genannt und ihr damit einen Weltruf gegeben, den sie bis heute bewahrt hat. Kein Wunder, wenn sie nachst Innsbruck das bedeutendste Fremdenverkehrszentrum der Ostalpen geworden ist und zuweilen mehr Fremde beherbergt, als sie Einwohner hat. Einen besonderen Reiz verleihen ihr die Stadthügel mit ihren wundervollen Ausblicken und die vielen, schönen Kirchen. 72 Aus der „österreichischen Kunsttopographie Schlofi Sdionbühel in der Wachau ■ Das Reiseland Österreich Von Salzburg zieht sich quer über den südlichen Teil von OberÖstérreich das Salzkammergut. Ein biederes, ackerbautreibendes Volk von unverfalschtem, bajuvarischem Stamm hat das kostbare Gut übernommen, das schon die Ureinwohner der Alpen vor mehr als 4000 Jahren besaBen, und Keltengraber, Pfahlbauten und prahistorische Funde bezeichnen den Weg, auf dem die Besiedlung den Lagerstatten ■des Salzes gefolgt ist. Nach so vieler, bewunderter Schönheit sind die Berge nun eitel geworden und besehen sich in riesigen Spiegein, die sie zwischen sich ausgebreitet haben. Und die strahlende Anmut, die jetzt ihr Antlitz verkiart, rechtfertig ihr Tun. Wohl beugt sich noch hie und da ein trotziges Felshaupt hoch über den See, auf dem kleine, weiBe Dampfer lange Furchen ziehen, wohl zwangt sich manch stilles, klargrünes Gewasser tief in das Hochgebirge hinein, aber die Berge haben hier nichts mehr von ihrer erschreckenden Wildheit, sie lachein -freundlich herab auf die dichtbevölkerten Taier, auf prangende Garten und unzahlige Villen, die die Seeufer umsaumen. In wenig mehr als fünf Stunden bringt uns der Schnellzug von Wien über Linz und Attnang nach Gmunden, einem prachtig gelegenen Kurort am Nordende des Traunsees. Von da geht es in entzückender Fahrt langs des groBen Gewassers über Traunkirchen, das, auf einer Halbinsel gelegen, ein ungemein malerisches Bild gibt, nach Ebensee und dann durch das Trauntal unter dem gewaltigen Höllengebirge nach Ischl. Ischl ist der bedeutendste Ort des Salzkammergutes und ein vornehmes Bad, das der alte Kaiser Franz Joseph zu seiner Sommerfrische erwahlt hatte. Es liegt zwischen prachtigen, zurücktretenden Bergen am Kreuzungspunkte des Trauntals mit einer Weitung im Westen, die gegen Salzburg hinaufführt. Hier sowie dort gibt es prachtige Seen, zunachst den anmutigen Wolfgangsee, einen der lieblichsten seiner Art, überragt vom Schafberg, dem „Rigi" Österreichs. Deutlich erkennen wir wahrend der Fahrt das Hotel auf der Spitze und die Zahnradbahn, die von St. Wolfgang in weiten Schleifen emporklimmt. Seinen FuB bespülen im Norden noch zwei andere Gewasser, der riesige, freundlich gelegene Attersee und der zweifach gekrümmte Spiegel des Mondsees. Am Nordende des Mondsees liegt, gegenüber der imposanten Drachenwand, der gleichnamige, freundliche Markt mit einem prachtigen Kloster, das durch den Fund der sogenannten Mondseer Handschrift, des altesten deutschen Sprachdenkjnals, zur Berühmtheit gelangt ist. Gleich Mondsee ist auch St. Wolf- 73 Das Reiseland Österreich gang auf der anderen Seite des Schafberges weithin bekannt. In seiner Kirche steht der berOhmte, farbenprSchtige Altar von Michael Pacher, wohl einer der schönsten gotischen Altare der Welt Eng uraschlossen wie in einem norwegischen Fjord liegt zwischen hohen Vorbergen des Dachsteins der groBe Hallstattersee. Ein Dampfer bringt uns hinüber zum seltsamen Hallstatt, einer uralten Ansiedlung. Die malerischen Hauschen des Ortes scheinen an der Bergwand zu kleben, und jedes PlStzchen, vom Seespiegel bis hoch an der steilen Waldlehne hinauf, ist mit Wohnstatten besetzt. Von dieser altberühmten örtlichkeit hat das Salzkammergut seinen Namen, denn der Berg hinter dem Dorfe enthalt unerschöpfliche Salzlager. Das Mineral wird aus den Hohlraumen gelaugt und als Sole in meilenlanger Leitung nach Ischl und Ebensee in die Sudwerke gebracht Eine zierliche, hölzerne Brficke dieser Anlage sehen wir auf dem Wege nach Gosau, wenn wir den Gosausee, den herrlichsten unter allen, besuchen. Dieser liegt eingebettet zwischen die dolomitische Zackenreihe der Donnerkögel und die Hallstatter Alpen und gibt mit dem Hohen Dachstein im Hintergrunde ein so ideal schönes Gesamtbild wie kaum ein zweiter See in den Alpen. Hinter dem Hallstattersee zieht die Bahn durch ein groBartiges Tal, wo einst Lawinen die jetzt umgelegte Strecke bedrohten. Nach kurzem Verlaufe tritt sie in einen weiten Kessel hinaus, und vor uns liegt, schon im Lande Steiermark, Aussee, der drittgröBte Kurort desSalzkammergutes. Die Landschaft ist hier groBartig und anmutig zugleich. Prachtvolle Felswande und schneebedeckte Höhen spiegein sich in zwei reizenden, grünen Seen, dem kleineren Altausseersee und dem gröBeren Grundlsee, der sich, umringt von zahllosen Villen, tief ins Gebirge hineinzieht. Nun erklimmt der Zug die Wasserscheide von Mitterndorf, ein weites Hochmoor in entzückender Gegend. Ein gewaltiger, weiBgebSndeter Berg, der Grimming, bildet den AbschluB. Er steht dicht vor dem Ennstal und schaut hoch Ober das Dörfchen Pürg, eines der malerischesten im Lande. In weitem Bogen umgeht ihn die Bahn und erreicht endlich in Stainach den Boden des Ennstales und damit die zweite Linie nach Wien. Diese Linie beginnt, wie schon erwahnt, in Bischofshofen vor Salzburg, erklimmt die Wasserscheide von Radstadt und folgt dann dem Laufe der Enns. Bei Schladming sind wir den höchsten Bergen der Steiermark nahe; aber sie liegen noch hinter Vorhöhen versteekt, und erst vor Haus öffnet sich links der Bliek auf die hellfarbigen 74 Das Reiseland Österreich Steinberge des Kammergebirges, rechts auf die schneegesprenkelten, dunklen Kolosse der Niederen Tauern. Auf den östlichen Dachstein folgt das plumpe Hom des Stoderzinken, dann die breite, zierlich gespitzte WeiBwand und endlich der meilenlange, gewaltige Grimming, dem wir so nahe kommen, daB wir in die wolkenumrauchten Kare tief hineinsehen. Ein vielfach gewundener FluB, ein breiter, mooriger Talgrund mit Tausenden von Heuhütten darauf, rechts von schwarzgrünen Höhen, links von hellgrauen, riesigen Wanden begleitet, die Hunderte von Metern fast lotrecht absetzen, das ist der Charakter des mittleren Ennstales bis Admont. Bei Selztal mündet die Pyhrnbahn, die das Gebirge östlich vom Salzkammergut quert. Sie bringt uns nach Linz, der Hauptstadt von Oberösterreich, und führt an dem berühmten Stodertal. das Hermann von Barth das schönste Tal der nördlichen Kalkalpen genannt hat, vorbei. Eine zweite Querstrecke verlafit das Ennstal gegen Süden und zieht nach Mittelsteiermark und Kamten. Ein formvollendeter Kranz riesiger Felsmauern umgibt das freundliche Admont mit dem stattlichen Benediktinerstift. Es bezeichnet das Ende des mittleren Ennstales mit dem breiten, grünen Talboden und dem trage dahingleitenden FluB. Jetzt treten die Berge ganz enge zusammen, und es folgt eine der schönsten Fahrten im Bereiche der Alpen, durch das berühmte Gesause. Man traut seinen Augen nicht, wenn man hinter dem kurzen Tunnel am Eingang freien Ausblick gewinnt. Eine groBartigere Hochgebirgsszenerie erinnert man sich nicht einmal in den Dolomiten gesehen zu haben. Und das nicht in einem einsamen Gebirgstal, zu dem man stundenlang hinaufwandern muB, nein, in einem bis auf die Enge dicht bevölkerten Haupttal und von den bequemen Polstersitzen des Schnellzuges aus, als waren wir in einem Theater, einem Wandeldiorama von nie gesehener GröBe. Bei Hieflau ist das Gesause zu Ende, und eine kurze Flügelbahn führt nach Eisenerz, einem der merkwürdigsten und kostbarsten Punkte des Reiches. Dort steht ein ungeheurer Berg ganz aus Eisen, und das Erz wird in meilenweiten Tagbauen gewonnen. Es liefert das vorzügliche steirische Eisen, das dem schwedischen an Güte mindestens gleichkommt. Bis Hieflau folgte das Ennstal dem Zuge der Alpen, nun aber durchbricht es den Wall in der Richtung zur Donau. Die Bahn folgt dem tosenden Flusse durch eine Wildnis von unabsehbaren Waldern, verzweigt sich sodann und nimmt über Weyer und Waidhofen den 75 Das Reiseland Österreich kürzeren Weg nach Amstetten an der nördlichen Hauptlinie, die von Salzburg über Wels, Linz und St Pölten nach Wien führt. Eine Tagreise im Osten von Hieflau erhebt sich der Hochschwab, der gröBte und einsamste Gebirgsstock der Steiermark. In seinen Taiern liegen die entzückenden Sommerfrischen Weichselboden, Wildalpen, Aflenz und TragöB und weiter im Norden der berühmte Gnadenort Mariazell. Sonst gibt es hier weit und breit nichts als Wald, leuchtende Matten mit Herden und Sennhütten und kahle, sonnige Hochböden, über die die gröBten Gemsrudel der Alpen dahinsprengen. * Die Donau Nach der Vereinigung mit dem gröBeren InnfluB bei Passau tritt die Donau in den Bereich der südböhmischen Berge. In unzahligen Windungen zwangt sie sich durch die granitenen Massen, und ihre formenreiche, liebliche Landschaft wetteifert mit den schönsten Punkten des Rheins. Wie dort, so gibt es auch hier zahlreiche altersgraue Burgen, Ruinen und Schlösser und nicht selten ein prunkvolles Stift eines geistlichen Ordens. Überall, wo nur ein Platzchen-frei ist, stehen saubere Hauser, liegen Dörfer und Markte, deren reizende Bauart an die Bilder eines Schwind oder Spitzweg erinnert. In weitem Bogen durchflieBt die Donau das Becken von Linz. Die rasch aufblühende Stadt hat als Zentrale der reichsten Provinz eine vielversprechende Zukunft. Sie weist manche Sehenswürdigkeit auf wie alte Baudenkmale, ein schönes Museum und Kirchen, vor allem den imposanten, neuen Mariendom; der Stolz der Linzer aber ist der nahe Pöstlingberg mit seinem herrlichen Bliek auf die Stadt und den Zug der nahen Alpen. Wiederholt drangen die Granitberge zur Linken gegen den Strom vor, doch erst bei Grein gelingt es ihnen, an das andere Ufer zu kommen. Die Donau konnte sich hier selbst in den Jahrtausenden ihres Bestehens noch nicht ganz durch die Felsmassen nagen, und schaumend rollen die Wogen über die Blöcke dahin. Die Stromschnelle hatte noch vor wenigen Jahrzehnten den Schiffern zu schaffen gegeben, doch heute, nach der Sprengung, bleibt nur mehr das Schauspiel einer beschleunigten Fahrt. Von den Höhen schauen nun weitere Burgen herab, erst Freyenstein, dann Persenbeug, wo Kaiser Karl das Licht der Welt erblickte, dann an der Riesenschleife von Ybbs das SchloB Sausenstein. Auf das Felsennest Marbach mit der hochragenden Wallfahrtskirche Maria Taferl folgt die uralte Stadt Pöchlarn, wo die Nibelungen auf ihrer 76 Das Reiseland Österreich Fahrt ins Hunnenland nachtigten, dann die Burg Weitenegg und endlich das unvergieichliche Melk, der Prachtbau der Benediktiner, der von stolzer Felsenhöhe aus weithin die Donau beherrscht. Nun kommt das Schönste, die berühmte Wachau. Zunachst tritt wie ein Torwachter das alte SchloB Schönbichl gegen den Strom vor, dann schlieBt sich das Tal zur wildromantischen Enge. Auf steilem, düsterem Waldhange klebt rechter Hand wie ein Schwalbennest die Ruine Aggstein, die Raubritterburg der gefürchteten Kuenringe, die einst die Donau mit Ketten versperrten, links schmiegt sich das liebliche Schwallenbach an die Bergwand und bedrangt ein schroff zerklüftetes Felsufer, die Teufelsmauer, den Strom. Bei Spitz schaut eine hochgelegene, riesige Burg, die Ruine Hinterhaus, auf die ersten Weinberge, herab, und nun kommen die malerischesten Ortschaften, so eigenartig und schön, daB man oft ein gemaltes Bild zu sehen vermeint: erst rechter Hand das idyllische Arnsdorf, dann drüben St Michael mit dem seltsamen Kirchturm, dann das unvergieichliche WeiBenkirchen mit seinen entzDckenden Dorfbildern. Wieder verengt sich das Tal. Eine scharfe Wendung, und vor uns liegt der Glanzpunkt der Wachau, das herrliche Dürnstein. Über der dichtgeschlossenen, uralten Stadt mit der prachtvollen Barockkirche erhebt sich auf steiler Höhe die Zackenkrone der Ruine, in der einst der Sage nach König Richard Löwenherz von England gefangen war, und phantastische Felsgrate umrahmen das unvergieichliche Bild. In scharfem Bogen durchzieht der Strom die letzte Wildnis von Felsen und Wald, dann sprengt er die Fesseln. Wie ein weites Tor öffnet sichs vor unseren Augen. Links baut sich an den zurückweichenden Hangen die alte Stadt Krems auf, rechts nimmt Mautern von der ersten Niederung Besitz, und gerade vor uns thront auf der letzten Anhöhe das groBe Stift Göttweig. Jetzt wird die Donau breit. Sie verzweigt sich in Arme und flieBt trage zwischen bewaldeten Insein dahin. Wieder nahern sich Berge, die letzten Auslaufer der Alpen. Vorn auf der Höhe steht die Burg Greifenstein, drüben schaut über die Auwaider das SchloB Kreuzenstein, eine der schönsten mittelalterlichen Burgen des Festlandes, dann folgt, von Rebhügeln und Waldhöhen umschlossen, die Stadt Klosterneuburg mit einem machtigen Stift und endlich der steile Leopoldsberg, dicht vor den Toren von Wien. 77 Das Reiseland Österreich Wien An der Ostgrenze des Reiches, dort, wo die Donau nach Ungarn hinausflieBt, liegen die Reste einer römischen Siedlung. Ein gut erhaltenes Riesentor und ein Amphitheater geben noch Zeugnis von der GröBe der Garnison, die die Römer hier einst unterhielten. Ein Posten dieser Wacht an der Donau wurde stromaufwarts an die Auslaufer der Alpen vorgeschoben, und aus dieser kleinen Kolonie entstand die Millionenstadt Wien. Hier kreuzt sich der Stromweg vom Westen Europas nach dem Oriënt mit dem Weg von dem Hauptmeere der Alten nach der Mitte des Kontinents, hier war das Einfallstor ffir die asiatischen Horden, die das ganze Mittelalter hindurch den christlichen Westen bedrohten und hier wurde die ganze Kraft des bedrangten österreich zusammengezogen. So verdankt Wien seinen Aufstieg der günstigen Lage im Herzen Europas und der ruhmreichen Mission als Bollwerk des Abendlandes gegen den beutegierigen Osten. Die stete Gefahr zwang die Stadt zur Errichtung von Wallen und Mauern und einem breiten Glacis, Befestigungen, die sich immer bewahrten und auch dem letzten, furchtbaren Ansturme der Türken im Jahre 1683 standhielten. Sie wurden erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts beseitigt, und an ihrer Stelle entstanden unter der Regierung Kaiser Franz Joseph I. jene Prachtbauten, die Wien zu einer der schönsten GroBstadte machen. Die meisten davon stenen im Nordwesten der Inneren Stadt. Da ist die Votivkirche, die Universitat und das gotische Rathaus mit dem berühmten Burgtheater gegenOber und dem antiken Parlamentsgebaude zur Rechten, dann anschlieBend die beiden Museen mit ihren unermeBlichen Kunstschatzen und Sammlungen und ihnen gegenüber die neue Hofburg, die mit der alten den herrlichen Platz mit den Heldendenkmalern begrenzt. Das prachtvolle Opernhaus, auch als Kunststatte eines der ersten der Welt, bezeichnet die Mitte der Reihe von Privatpalasten, die sich zum Schwarzenbergplatz hinziehen, und dort erwartet uns wieder ein formvollendetes Stadtbild, das schöne Palais Schwarzenberg mit dem riesigen Hochstrahlbrunnen und zur Rechten die prunkvolle Karlskirche, einer der schönsten Barockbauten der Welt. Weiter führt die RingstraBe am denkmalgeschmückten Stadtpark vorüber gegen den Donaukanal, einen Arm des regulierten Stromes inmitten der Stadt, dann schlieBt der reichbelebte Franz Josefs-Kai den Kreis, der bei der Augartenbrücke als Schottenring mit seinen Palasten und dem schönen Börsengebaude begann. 78 Das Reiseland österreich Kaum weniger schön als die neuen Palaste sind die Baudenkmale aus langst vergangener Zeit. Da steht in der Mitte der Stadt der riesige Stephansdom, der altersgraue Zeuge aller der blutigen Schlachten, die vor den Toren von Wien einst geschlagen wurden. Sein herrlicher gotischer Turm ragt hoch über das gewaltige Hausermeer und schaut in all die engen, traulichen Gassen hinab, wo sich die einst zernierten feudalen Palaste auf knappem Raume zusammendrangen. Manch hochinteressanter Bau ist hier noch vorhanden, manch wertvolle Architektur noch erhalten geblieben, wenn auch die Wiedergeburt des uralten Gemeinwesens in das ehrwürdige GefUge schon breite Breschen geschlagen hat Auf dem Platze vor dem Dom laufen die belebtesten, vornehmsten StraBen der GroBstadt zusammen, die KarntnerstraBe, die RotenturmstraBe, der Graben mit der PestsSule und der bis zur Hofburg reichende Kohlmarkt Die die Innere Stadt umgebenden zwanzig Bezirke stammen aus jüngerer Zeit, aber auch sie haben ihre interessante Geschichte und weisen manche Sehenswürdigkeit auf. Da steht im Süden des 4. Bezirkes das wundervolle BelvedereschloB, das schönste des Kontinents, im 3. Bezirke erhebt sich die russische Kirche und unweit davon das edel dimensionierte Artilleriearsenal mit dem prunkvollen Waffenmuseum. Auf der MariahilferstraBe, der langsten und belebtesten StraBe der auBeren Bezirke, erreicht man Schönbrunn, das berühmte KaiserschloB mit dem prachtvollen, hoch ansteigenden Park, an den Hietzing, das vornehmste Villenviertel der GroBstadt, anschlieBt. Eine zweite Cottage liegt in der Nahe der Sternwarte und des groBen Türkenschanzparkes und reicht hoch an die Vorhöhen des Wienerwaldes hinan. Endlich zieht sich im Osten als Fortsetzung der prachtigen PraterstraBe, meilenweit der berühmte Prater, ein Naturpark von seltener Schönheit und GröBe, die Donau entlang. An Museen, Kunstschatzen und sonstigen Sehenswürdigkeiten findet der Fremde in Wien eine seltene Auswahl. Nicht weniger groB ist die Zahl der Theater, der Konzerthauser und sonstigen Vergnügungsstatten erlesener Art, und nicht zuletzt ist auch das anziehende Bild des Wiener Lebens zu nennen, die Geselligkeit, der unverwüstliche Frohsinn und die reizenden Typen aus dem Volke, die den Fremden immer aufs neue entzücken und ihm zeigen, daB sich die Stadt der Walzer und der schönsten Frauen ihr warm pulsierendes Leben auch in den ernstesten Zeiten bewahrt hat. * 79 Das Reiseland österreich Der Süden der Alpen Mit dem GroBglockner, dem höchsten Berg österreichs, zieher» die Hohen Tauern in das Land Karnten ein. Es sind gewaltige Berge, die da noch folgen, ehe die Hohen Tauern zu den Niederen werden, und selbst die sind noch machtig genug, um den Rang des Hauptkammes der Alpen zu wahren. Die Hohen Tauern setzen sich aber auch noch im Süden der Mur fort, als Karntner Alpen, massige Gestalten, die gegen Osten immer breiter und ausgedehnter werden und hinter niedrigen Satteln zu Querriegeln anschwellen. Indessen hat sich im Meridian des GroBglockners von den Tirbler Alpen der Südalpenzug abgetrennt, erst unmerklich und in die Lücke der Gailtaler Alpen geschoben, dann aber als frei aufragender, selbstandiger Zug der Karawanken, die zwischen sich und den Karntner Alpen eine weite Hochflache freilassen. Und selbst dieses Hochland ist noch gebirgig. Vom Norden dringen immer niedriger werdende Waldberge herein und zerteilen sich dann in ein Meer von allerliebsten, bewaldeten Hügeln und Erdwellen, hie und da mit einer kleinen Ebene dazwischen und geschmückt mit einer Schar reizender blauer Seen, auf die die weiBschimmernden Alpen von ferne hereinsehen. Das ist Karnten, das Land der lieblichsten Seen und der innigsten Volkslieder. Auch in Karaten sind alle Arten von Gebirgsformen vertreten. Zuerst im GroBglockner ein machtiger Hochgipfel von vollendeter Form, breit, mit massigem Unterbau und doch wieder in einen zierlichen, fein modellierten Kamm und eine schlanke, kühne Spitze verlaufend, und darunter einer der gröBten Gletscherströme der Alpen. An den Glockner reihen sich die letzten ansehnlichen Wellen der Hochalpen, dunkle Gneisberge mit scharfen Graten und weiten Firnbecken dazwischen, dann kommen die dicht stehenden, abgerundeten Karntner Alpen, der Königstuhl und der Eisenhut, ernste, dunkle Gestalten mit viel Wald und wenig Felsen und steilen, lawinengefahrlichen Flanken. Der ungestüme Wellengang hat sich endlich beruhigt. Und wie Gewitterwolken, die sich am Abend in Streifen auflösen, so werden die Karntner Alpen im Osten zu immer flacheren Bergen. Zwar sind sie noch immer sehr hoch und ragen betrachtlich über die Baumgrenze hinaus, aber ihr Anblick hat nichts Packendes mehr, denn die sanft abfallenden Hange lassen die Höhe kaum mehr erkennen. Und doch sind es gewaltige Berge, wenn man sie nur erst ersteigt und 80 Dürnstein an der Donau c Das Reiseland österreich mit Staunen bemerkt, wie sich die Riesen über Flachen von LandergröBe erstrecken, wie sich all das bevölkerte Land ringsum mit den tausendfaitigen Kuituren, mit den winzig erscheinenden Stadten, Dörfern und Hauschen von oben wie eine Landkarte ausnimmt So die Karntner Zentralalpen. An dem dichten Gewoge der nördlichen Kalkalpen, den schroff abgehackten Gesteinsbanken in Hellgrau hat Karnten keinen Anteil, aber die Südalpen ersetzen ihm alles. Da ist der lichte Zug der Karawanken, eine gerade, vom Hochland fast unvermittelt aufsteigende Kette von hornartigen Spitzen und scharfen Felskammen, nicht sonderlich hoch, aber mit allen den Merkmalen des Hochgebirges, den steilen Wanden, den finsteren Karen und Schluchten und den lichten Felszinnen über sonnigen Halden. Ihre Kette hat sich aus den Karnischen Alpen entwickelt, einem echten Kalkhochgebirge nach Art der Ampezzaner Dolomiten. Im oberen Gailtale sind es noch stark gebanderte, steil abgestutzte Felsriesen, dann, wo sich die Julischen Alpen loslösen, ungeheure Steinkronen mit hochgeschwungenen Graten, die in das vorgeschobene Waldland trotzig hinausragen. Die grüne Mark, das Land Steiermark, ist das Land der Grünröcke, der Förster und jager. 8000 km* Wald, rund die Halfte seiner Flache, bedecken es, prachtvoller, dunkier Fichtenwald und herrlicher Laubwald im Süden. Man nennt das Land auch die eherne Mark, denn da steht im Norden ein machtiger Berg aus lauter Erz, so vielem Eisenerz, daB die ganze Welt daran genug hatte. Das'Erz nimmt seinen Weg weit über das Land in die harzduftenden Taler, wo die Kohle aus den Tiefen der Berge, aus den Waldern gewonnen, das zahe Metall aus seinen Fesseln befreit wird, wo rauschende Bache den emsigen Steirern helfen, das starre Element in die brauchbaren Formen zu zwingen. Holz, Kohle und Eisen, das sind die letzten Kraftleistungen der Alpen vor ihrem Untergang im pannonischen Tiefland. Die Rolle des Hochgebirges haben in Steiermark die Nördlichen Kalkalpen übernommen. Die Niedern Tauern sind schon bei Seckau zu Ende, aber das helle Zackengewirr im Norden zieht noch lange dahin und versinkt erst dicht vor den Toren von Wien. Mit dem herrlichen Dachstein kommen sie ins Land. Die grandiose Wüste des Toten Gebirges, allein fast so groB wie ein Fürstentum, neigt sich ehrfurchtsvoll gegen den König der steirischen Alpen und seinen Trabanten, den gewaltigen Grimming, und nun geht es so weiter, bald als Wüstenei, bald als Turm oder zackiger, hoch geschwungener 6 81 Das Reiseland österreich Kamm, und am Knie der Enns, wo der tosende FluB endlich den Alpen entschlüpft, eine Corona der schönsten Charakterköpfe der Alpen: Buchstein, Reichenstein, das prachtvolle Hochtor und so mancher andere Riese, von denen ein einziger ein Land berühmt machen kann. Auf den fabelhaften Hochschwab folgt die Veitsch und die Schneealpe und endlich die berühmte Rax gegenüber dem Semmering. Der Zug der Karntner Alpen setzt sich noch weit in die Steiermark fort. Hier sind sie zu breiten, hohen Waldbergen geworden, vom Aussehen der Sudeten oder des Riesengebirges. Ihre rundlichen Kuppen und die baumlosen Kamme sind das Eldorado der Schifahrer, denn fast nirgends droht hier Lawinengefahr. Der hohe Wechsel ist Hir letzter Vertreter. Und wahrend sie gegen das Murtal und Mürztal jah absinken, streuen sie auf der anderen Seite ein Heer von immer kleiner werdenden Hügeln weit über das Land. Die schönsten Gebiete der Umgebung von Wien liegen im Süden der Stadt: die Berge von Mödling, Baden, Vöslau, die entzückenden Voralpen, auf die der machtige Schneeberg immer herabschaut, das liebliche Aspangtal und vor allem der Semmering. Ober diesen östlichsten PaB unserer Alpen nimmt die Südbahn ihren Weg zum Adriatischen Meer. Die Semmeringbahn ist eine der altesten Bergbahnen der Welt und an monumentaler Ausführung heute noch unübertroffen. Ihre Landschaft ist von seltener Schönheit und für die Wiener ein Schatz, wie ihn wohl keine zweite Weltstadt besitzt. Der Glanzpunkt liegt auf der Höhe des Passes. Dort zieht sich eine ganze Villenstadt um den Pinkenkogel an die Nordseite des Berges, zum groBen Südbahnhotel, das über dem wildromantischen Bergland wie eine Ritterburg aufragt. Der Bliek aus den Fenstern failt auf das nahe Hochgebirge, auf Schneeberg und Rax. Deutlich erkennen wir die Trasse der Bergbahn, die auf den Gipfel des Schneebergs hinaufführt, und an klaren Tagen können wir mit dem Fernglas in den Wanden der Raxalpe die Wiener Touristen beobachten, die ihren Lieblingsberg Sonntags zu Hunderten aufsuchen. Das Tal der Mürz hinter dem Semmering ist die Heimat der Eisenhammer. Von den Quellen des Flusses bis zur Mündung in die dunkle Mur, in Neuberg unter der Schneealpe, in dem anmutigen Mürzzuschlag und weit hinab bis nach Kapfenberg, überall tönt uns das muntere Klopfen der Sensenhammer entgegen. In Bruck kommt die Mur aus den Tauern herab, um dann nach Süden zu flieBen. Linkerhand steigen die Berge jetzt machtiger auf, es kommen Fels- 82 Das Reiseland Österreich wande und ein Gebiet voll seltsamer Höhlen, dann wird das Tal wieder breit, und niedere Mauern ziehen in Streifen entlang. Ab und zu blieken wir durch einen Einschnitt auf eine liebliche Landschaft, da macht die Bahn eine Wendung, und vor uns liegt in weiter sonniger Ebene ein dunstverhülltes Hausermeer und darüber auf felsigem HQgel ein altes SchloB. Es ist Graz, die Landeshauptstadt von Steiermark. Mit seinen 250.000 Einwohnern ist Graz jetzt die zweitgröBte Stadt des Reiches, aber trotz ihrer GröBe hat sie es wie keine zweite verstanden, das Stadtbild in eine fast unberührte Landschaft zu fügen. Wald flieBt von den Bergen zwischen die HSuser hinein, Wald und Park umgeben den SchloBberg, überziehen seine Hange und durchdringen die Stadt, ein entzQckendes Bild, wOrdig des waldreichsten Landes der Alpen. Das Murtal aufwarts führt von Bruck eine Linie nach Karnten, zunachst nach Leoben, der zweitgröBten Stadt des Landes, mit dem gröBten Eisenwerk österreichs, dann nach St. Michael mit der Linie nach Selztal und weiter über Judenburg und das Industriebecken von Zelfweg nach Unzmarkt Jetzt beginnt unsere Bahn an der Lehne zu steigen. Es ist eine wundervolle Fahrt mit groBartiger Aussicht in das obere Murtal und auf die Niedern Tauern, aber just wo es am schönsten wird, schwenkt die Trasse nach Süden und überschreitet bei Neumarkt die Grenze von Karaten. Das Murtal weiter führt eine schmalspurige Bahn über Murau und Tamsweg ins wild romantische Lungau an der Verzweigung der Tauern. Das schöne, mittelalterlich gebaute Friesach ist der erste Ort auf Karntner Boden, dann geht es durch ein liebliches Tal und an dem marchenhaften BergschloB Hochosterwitz vorbei, gegen St. Veit und die Hauptstadt des Landes. In Klagenfurt mündet unsere Linie in die Südbahn, die langs der Drau aus Jugoslawien kommt. Die Stadt ist der Mittelpunkt des groBen Touristenverkehres, dessen sich das seenreiche Land seit jeher erfreut. Der Lendkanal verbindet Klagenfurt mit dem Wörthersee, einem riesigen, langgestreckten Gewasser, das uns wahrend der Weiterfahrt mit der Südbahn begleitet. Ein Kranz von Sommerfrischen und vornehmen Kurorten, wie Pörtschach und Velden umsaumt seinen Spiegel, und über reizende Waldhügel schauen die Karawanken herein. Dampfer, Segelschiffe und unzahlige Boote beleben den See, und überall sehen wir Strandbader mit Kabinen und Zeiten, denn das südliche Klima durchwarmt das Wasser bis zu gröBerer Tiefe und macht das Baden besonders genuBvoll. In keinem Gebiete von öster- 83 Das Reiseland Österreich reich gibt es so vieie Sommerbader wie hier, ja man kann sagen, daB sich der Fremdenverkehr Karntens gröBtenteils um das Wasser abspielt. Nun nShern wir uns Villach. Diese zweitgröBte Stadt Karntens hat durch die Erbauung der Tauernbahn eine groBe Bedeutung gewonnen, und jetzt kreuzen sich hier drei Hauptlinien, wie auBer Wien an keinem Punkte des Reiches: die Südbahn von Ungarn und Jugoslawien nach Tirol, die Tauernbahn von Süddeutschland ans Adriatische Meer und die kürzeste Linie von Wien über St Veit nach Italien. Der prachtigen Lage in der Nahe der Seen und des Hochgebirges verdankt die Stadt auch einen groBen Touristenverkehr. Mit Villach beginnt das Karntner Oberland, wieder eine ganz neue Landschaft. Die fernen Ketten des Hochgebirgszuges haben sich jetzt wieder genahert. Bis Greifenburg zeigen sie nur wenig Felsen und sehen fast wie die Berge des oberen Murtales aus, doch sind sie höher und steiler und mit prachtvollen Waldern bedeckt. Ihre gleichlaufenden Ketten enden im Süden am Gailtale und umschlieBen zwei gröBere Seen, den weltabgeschiedenen WeiBensee und den prachtvollen, groBen Millstattersee. Auf der Landschaft liegt hier ein warmer, südlicher Ton, besonders am Millstattersee: ein rotgoldiger Hauch über den sonnigen Höhen, die violetten Schatten der Waldbuchten, das blauschimmernde Wasser, das üppige Grün, und das alles ohne die versengende Glut der südlichen Sonne, mit der köstlichen Beigabe erfrischender Alpenluft — es ist wahrhaftig die glücklichste Vereinigung der Vorzüge des Südens mit denen der Alpen. Bei Spittal kommt aus stillen Winkeln die Lieser herab, und ein Stück weiter oben mündet das MölltaL Es wird bis Obervellach von der Tauernbahn begleitet, die an der nördlichen Lehne emporsteigt, dann führt es in weit ausholender, zweifacher Krümmung zum GroBglockner hinauf. Bei Greifenburg erhebt sich über dem Walde das erste, riesige Felshaupt, dann kommt eine ganze Gruppe davon, die Lienzer Dolomiten an der Grenze Tirols. Die Südbahn führt nun zur neuen itaHenischen Grenze hinauf, die Tiroler Seite des GroBglockners und das prachtvolle Gletschergebiet des GroBvenedigers zur Rechten. Dieses Land mit seinen schneebedeckten Gebirgen und der reichen Vegetation der Südabdachung der Alpen gehört zum Schönsten, was österreich hat. 84 In den Firnen Tirols Otto Stolz „Adler, Tiroler Adler, warum bist da so rot?" — „Vom roten Firnenscheine, vom roten Feuerweine, Vom Feindesbltrte rot —, divon bin ich so rot." So heiBt es in einem beliebten Tiroler Nationalliede. Ja, der Tiroler Adler hat sich im Weltkriege, in dem auch Tirol ein Kampfpreis war, wie nie zuvor in Blut getaucht. Die höchsten FirnhSupter der Ortlergruppe und wildesten Zacken der Dolomiten waren vom GetOmmel des Krieges ebenso wenig ausgenommen wie die Rebenhügel an der unteren Etsch. Das Volk von Tirol hat aus dem starken Vorrat seiner Menschenkraft das Möglichste für die Verteidigung der geliebten Heimat hergegeben, unerschütterlich wie seine wehrhafte Streitmacht harrte es im Vertrauen auf die Gerechtigkeit seiner Sache aus, als der Zusammenbruch der Mittelmachte es überraschte und Tirol mit in den Abgrund riB. Das Land, das seit mehr als einem Jahrtausend die südliche Grenzwacht des Germanentums gehütet, wurde zerrissen. Die ganze Südabdachung des Alpenkammes, obwohl bis unter Bozen geschlossenes deutsches Land, hat Italien unter grausamer Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker in Besitz genommen. Verbannt ist seitdem der Tiroler Aar aus seiner Urheimat, den sonnigen Rebengelanden von Meran, aus seinen höchsten Horsten auf den Eisgefilden des Ortlers, geblieben sind ihm nur mehr Trümmer seines alten Reiches. Sie heiBen noch immer in der kaltherzigen Sprache des Staatsrechtes „Tirol", aber die Einheit und Ganzheit, die mit diesem Namen vorgetauscht wird, besteht in Wirklichkeit nicht mehr. Nordtirol, das Land des Inn, und Osttirol, das Gebiet der obersten Drau, sind abgesprengte Glieder eines zerstörten Körpers. Eine Haupteigenschaft des alten Gesamtlandes blieb aber auch diesen Teilen gewahrt. Sie sind, wie kaum ein anderes Gebiet politischer 85 In den Firnen Tirols Umgrenzung, ausgesprochenes Hochgebirgsland, ein Land, das in seiner ganzen Ausdehnung den Hauch und den Abglanz der Firne an sich tragt, die als die festen Rückenpfeiler seines Baues in die Lüfte ragen. Bau und Bild der Tiroler Hochgebirge Nordtirol gliedert sich von Nord nach Süd in drei Zonen: die nördlichen Kalkalpen, die Hauptiangsfurche des Inntales mit ihren Fortsetzungen nach Osten und Westen, und die nordseitige Abdachung der Uralpen. Durch langsam vorschreitende Bewegungen in der festen Erdkruste, durch Faltung, ZerreiBung, senkrechte und seitliche Verschiebung der Schollenteile derselben, sind die Höhen und Tiefen, Kamme und Abstürze der Alpen geschaffen worden. Gletscher und Wasser haben dann das Reliëf im naheren ausgearbeitet. Eine gewisse Gleichartigkeit im Aufbau der Tiroler Alpen wie der Alpen überhaupt ist unverkennbar. Die Uralpen sind mit ihren höchsten Erhebungen (3500 bis 3800 m über dem Meer) durchschnittlich um 1000 m höher als die Kalkalpen und beide nehmen innerhalb der einzelnen Gruppen von West nach Ost an Höhe ab. Beide, Ur- und Kalkalpen, sind der Hauptsache nach west-östlich gerichtete Kettengebirge, die Seitenaste aussenden. Die Langsketten fallen nur mit dem obersten Aufbau steil, meist wandartig, nach Norden ab, im ganzen ist aber die Abdachung des Gebirges nach dieser Seite viel allmahlicher als nach Süden. Daher entwickeln sich auf der Nordseite der Alpen langere und weiter verzweigte Taier als auf der Südseite, so in den Uralpen die rechten Seitentaler des Inntales, in den Kalkalpen die Quellgründe der Isar und des Lech. Durch die Erhebung der Alpen in höhere Luftschichten wird deren Klima bestimmt, namlich Abnahme der Warme mit der Höhe und gröBerer Reichtum an Niederschlagen überhaupt; das bedingt wieder alle den Alpen besonders eigentümlichen Erscheinungen der Bodenbedeckung. Auf dem Gürtel derWalder, in welche die Menschenhand die Insein des Acker- und Feldlandes gerissen hat, folgt nach oben der Bereich des Zwergholzes und der natürlichen Grasmatten oder Almen. Noch weiter oben verliert sich allmahlich auch die letzte Möglichkeit des Pflanzenwuchses, die Felswande und Steinhalden bleiben nackt oder bedecken sich mit Lagen von Schnee und Eis, die auch die Sommèrwarme nicht wegzuschmelzen vermag. Diese landschaftlichen Hauptzüge treten aber verschieden im Ur- und im Kalkgebirge auf, eine Folge der Verschiedenheit ihrer stofflichen 86 In den Firnen Tirols Zusammensetzung und ihres Verhaltens gegenüber den Kratten der Verwitterung und dem Pflanzenwuchs. Das Kalkgestein neigt schon infolge seiner ursprünglichen Schichtung zur Bildung steiler Abstürze, es vermag das Bodenwasser nicht aufzubehalten und besitzt auch sonst die den Pflanzen nötigen Nahrstoffe nicht in zureichendem MaBe. Wie in dieser Hinsicht das richtige Kalkgebirge beschaffen ist, zeigt gleich bei Innsbruck der Stock des Solstein mit der sagenberühmten Martinswand: Unmittelbar vom Gestade des Inn (560 *») bis zu einer Höhe von über 2600 m eine einzige Folge von SteilwSnden, Schluchten und Felsköpfen, nur sparlich bewachsen mit dürren Föhren, Zundern (Zwergkiefern) und mageren Graspolstern. Zum Glücke sind hier, und noch viel ausgiebiger sonst in den Nordtiroler Kalkalpen, zwischen den reinen Kalkschichten auch solche toniger Beimengung, sogenannte Mergel, eingelagert. Wo diese, dank der Gebirgsfaltung oder Wasserwirkung, an die Oberflache treten, da gibt es Quellen, Gras- und Baumwuchs in Fülle und in solchen Gebieten steigt der Wald bis zur Höhenlinie von etwa 1500 m, die Hochweide zu jener von etwa 2000 m an. Aus dem Zusammenwirken von Kalk und Mergel ergibt sich die landschaftliche und wirtschaftliche Eigenart der Nordtiroler Kalkalpen. Unvermittelt ringen sich aus tannendunkeln Talern oder saftig grünen Hochmatten die bleichen Felsbauten empor, bald reich gegliedert und vielgestaltig wie in den Lechtaler Alpen, bald mit der Wucht einer gewissen klotzigen Einförmigkeit wie im Wetterstein- und Karwendelgebirge. Für letzteres sind besonders auch die Kare bezeichnend, steilwandige, nach vorne offene Muiden, die reihenweise in den Leib der Felswande eingetieft sind, entstanden als Becken kleinerer Gletscher zur Eiszeit. Im Lechtale und dessen Nebentalern, wo die mergeligen Schichten besonders ausgebreitet sind, dringt die Siedelung tief in die Talgründe vor; im Karwendel hingegen ist sie auf die Talungen am auBeren Rande der Gruppe beschrankt; hier tritt auch der Almbetrieb hinter Jagd und Forstwirtschaft zurück. Im Sonnwendgebirge, östlich des Achensees bis zum Inndurchbruche bei Kufstein, bewirkt das tiefe Herabsinken des Gebirgssockels auf etwa 1500 m eine reiche Bewaldung; dieses Gebiet hat in ganz Tirol den gröBten Anteil an bewaldeter Flache (70%). Im Kaiser östlich vom Inn erhebt sich wieder ein scharfes Felsgebirge, aber nicht in so eng gedrangten Massen wie die vorerwahnten Gruppen, sondern mehr als freistehender AbschluB einer wechselvollen Wald- und Wiesenlandschaft. 87 In den Firnen Tirols Das Urgebirge besteht aus Gesteinen, die hauptsachlich aus Feldspat, Glimmer und Quarz sich zusammensetzen, leicht verwittern, das Wasser anspeichern und daher dem Pflanzenwuchs sehr günstigen Nahrboden bieten. Daher ist das Urgebirge auch dem menschlichen Anbau viel zuganglicher als der Kalk. Die Hauser und Felder steigen hier in begünstigten Lagen bis zu 1500 m und darüber, der Wald bis zu 2000»», der Graswuchs bis zu 2500 m und erst darüber beginnt hier die völlig unfruchtbare Region des Hochgebirges. Aus weiten, mit Blockmassen und Gletschern erföllten Muiden schwingen sich dann erst die eigentlichen Hochgipfel empor, teils scharfe Felshörner, teils machtige Firngewölbe. Das Urgebirge ist nicht durchwegs so vielgestaltig, schaustellerisch und herausfordernd wie die Kalkalpen, aber voll stiller Erhabenheit und edler Würde. In den Kalkalpen gibt es nur wenige und ganz kleine Felder ewigen Schnees. In den Uralpen Tirols entfaltet sich dafür die Firnw e 11 in eindrucksvoller Machtigkeit. Die Schneemassen, die alljahrlich im Hochgebirge fallen, werden von einer gewissen Höhe ab von der Sommersonne nicht mehr weggeraumt. Diese sogenannte Schneegrenze liegt bei 2800 bis 3000 m Höhe. In den Muiden des Gebirges hauft sich der Schnee im Laufe der Jahre und Jahrhunderte zu groBer Machtigkeit an, durch den eigenen Druck und die Einwirkung der Sonne wird er zusammengepreBt, körnig und hart, man nennt diesen Zustand Firn; der Firn entwickelt sich durch dieselben physikalischen Ursachen in den tieferen Lagen zu Eis. Da der Untergrund der Firnbecken ein Gefalle hat, der Firn in seiner Gesamtheit eine zahe Masse ist, gerat er in langsam nach abwarts gleitende Bewegung. Auf diese Weise kann die Eismasse, in diesem Zustand allgemein Gletscher, im ötztal Ferner und im Zillertal und den Tauern Kees genannt, die Schneegrenze nach unten überschreiten und schiebt sich einem Riesenwurme gleich durch das Tal hinaus, bis sie der wachsenden Warme der Luft zum Opfer failt An diesem unteren Ende schmilzt der mehrere hundert Meter machtige Eisstrom in einer schieten Flache, die man Zunge nennt, ab und gibt seine Schmelzwasser durch ein Loch, das Gletschertor, in einem machtigen Bache von sich. Das Gletschereis schmilzt aber infolge der Eigenwarme des Erdbodens am Untergrunde des Gletschers auch wahrend des Winters. Daher sind die Gletscher machtige Wasserspeicher für die Zeit der sommerlichen Hitze und winterlichen Kalte und die Flüsse, die von ihnen gespeist werden, nie so sehr der Wasserarmut ausgesetzt wie andere. Dieser Umstand befahigt die Bache und Flüsse 88 In den Firnen Tirols der Firnalpen ganz besonders zur Abgabe groBer und das ganze Jahr über gleichmaBig andauernder Wasserkrafte für industrielle Zwecke, namentlich zum Betriebe von Elektrizitatswerken. Doch ist in Nordtirol die Ausnützung dieser Wasserkrafte noch lange nicht vollende! Der Gletscher selbst erhait infolge seiner Eigenbewegung über einen höchst ungleichmaBigen Felsboden Risse und Spalten, die oft hundert und mehr Meter in die Tiefe gehen und an der Oberflache des Gletschers aufklaffen. An den Seiten und vorne führt er machtige Steinansaramlungen mit sich,-die Moranen. Das Gestein, über das der Gletscher gleitet, wird abgetragen und gegiattet, Gletscherschliffe. Als man einmal die heutigen Gletscher in den Alpen genauer beobachtet hatte, fand man an übereinstimmenden Anzeichen, daB vor langer Zeit die Gletscher infolge eines feucht-kaiteren Klimas sich viel weiter über die ganzen Alpentaler bis weit ins Vorland ausgedehnt haben. Diese sogenannte Eiszeit hat auf die Gestaltung des Reliëfs der Taler und Höhen in den Alpen einen sehr starken EinfluB ausgeübt. Von den Gruppen der Nordtiroler Uralpen zeichnen sich insbesondere die ötztaler durch die ungeheure Massigkeit ihrer Hochregion aus, sie enthalten die gröBten Gletscherbecken und abgesehen vom Ortler die höchsten Eisgipfel der Ostalpen; sie haben den gröBten Anteil an vöilig unfruchtbaren Boden (43%), verhaitnismaBig wenig Wald (17%) und viel Grasland (38% ihrer Gesamtfiache). Unter dem Schutze der Gebirgsmasse steigen aber auch hier die menschlichen Siedlungen zur höchsten in Europa erreichten Höhe, die Dörfer Vent und Gurgl bis nahe an 2000 w, der Doppelhof Roten sogar darüber. Die vom Hauptkamm nach Norden ausgehenden Kamme, zwischen denen die langgezogenen Furchen des Kauner-, Pitz-, Ötz- und Stubaitales sich lagern, bilden wahre Kolonnen hintereinander aufgereihter, steil getürmter Gipfelgestalten. In den ötztalern zum Teil, noch mehr aber östlich der Brennerfurche in dem Zil lertaler Hauptkamm, herrschen hartere Urgesteinsarten, Gneise und Granite, vor und bewirken jahere und scharfere Profile in den Taiern und auf den Kammen. Daher geht in den Gründen, wie die Quelltaler des Zillertales heiBen, der menschliche Anbau nicht nennenswert über 1200 m in die Höhe, obwohl die Gipfel bis zu 3500 m ansteigen. Einen landschaftlichen Gegensatz zum Zillertaler Hauptkamm bilden die Kitzbichler und Tuxer Schieferalpen, die von ersterem durch die Tiefenlinien des Gerlos- 89 In den Finten Tirols und Tuxertales getrennt werden. Sie erheben sicb bei bedeutender Flachenausdehnung nicht über 2800 m, beziehungsweise 2500 m, sind dank des weichen Tonschiefergesteins, aus dem sie bestehen, im Verhaltnis zu ihren Nachbarn sanfter gerundet und reich begrünt. Hier ist der unproduktive Teil auf nur 5% der Gesamtflache eingeschrSnkt,. das Grasland nimmt 50% ein, die Verbreitung der Almen und Berghöfe ist hier die dichteste in Nordtirol. Das gut besiedelte auBere Zillertal, Brixen- und GroBachental liegen ganz innerhalb dieser Zone. Auf der Südseite der Uralpen herrschen hinsichtlich. Pflanzenwuchs und Anbau dieselben Bedingungen vor wie auf der Nordseite, die klimatischen Einwirkungen, obwohl im einzelnen verschieden, gleichen sich eben infolge der gemeinsamen Höhenlage des Gebietes aus. Der Kamm der Zentralalpen, die Wasserscheide zwischen Inn und Etsch, ist daher ebensowenig eine kulturgeographische und nationale Grenze, wie er jemals bis zum Jahre 1918 eine staatliche gewesen. In der Sohle des Etschbodens bei Bozen finden sich die ersten Insein südlandischen Pflanzenwuchses und erst unterhalb Salurn nimmt die Landschaft im ganzen mit der Bevölkerung italienisches GeprSge an. Die nahe Gegenüberstellung von Kalk- und Urgebirge finden wir auch in anderen Teilen der Alpen. In einer Hinsicht ist aber das Inn tal unerreicht. Nirgends ist die trennende Hauptfurche so tief und so breit zwischen die beiden Gebirge eingesenkt, nirgends treten die drei Hauptelemente der alpinen Binnenlandschaft, Talebene, Urund Kalkgebirge in so enge und reizvolle Berührung wie im Inntale. Das tirolische Inntal zerfallt in zwei Teilstrecken, die nicht bloB geschichtlich, sondern auch landschaftlich sich von einander unterscheiden. Das Unterinntal, von Kufstein bis zur Martinswand bei Zirl reichend, ist in seinem ganzen Verlaufe ziemlich gleichmaBig breit — an der Sohle 1 bis 3 km — und besitzt auch ein ahnlich gleichmaBiges, schwaches Gefaile. Daher macht es, innerhalb der auf beiden Seiten mitlaufenden Bergkamme, einen der Lange nach mehr offenen, freien Eindruck. Die Talsohle ist fast durchwegs gerodet und von Feldern und Ortschaften bedeckt. Der Abschnitt des Inntales, in dem die Landeshauptstadt Innsbruck liegt, ist auch der landschaftlich am meisten bevorzugte; hier allein erblickt man vom Tale aus das Leuchten der Firne; es .sind die Eisberge im Hintergrunde des Stubai, man erreicht sie von der Stadt aus in einem Tagmarsche. — Das Ober inn tal, von der Martinswand bis Finster- 90 In den Firnen Tirols mtinz, besitzt hingegen mehrere Engen und Gefallsstufen und wird durch diese in einzelne, ausgesprochene Becken zerlegt. In diesen drangt sich die Siedlung zusammen. Gemeinsam ist dem Unter- wie Oberinntal die Bildung von Terrassen, die sich langs der Seitenflanken des Tales 200 bis 500 m über der Sohle desselben auf bedeutende Langen hinziehen. Diese Seitenstufen, die ihre Entstehung der Tatigkeit der eiszeitlichen Gletscher verdanken, bieten der Siedlung ein bevorzugtes Gelande und der Naturbetrachtung ganz besondere landschaftliche Reize, da sie mit der Umrahmung des Hochgebirges den Eindruck einer gröBeren Weite des Gesichtsfeldes verbinden. Von den gröBeren Seitentaiern des Inntales hat das Zillertal mehr den Charakter des Unterinntals, eine breite, gleichmaBig ansteigende und offene Talsohle, das Ötz- und Pitztal jenen des Oberinntales, namlich durch Schluchten und Stufen streng von einander geschiedene Becken. Die kleineren Nebentaler münden durchwegs mit einer Stufe und schluchtartig ins Haupttal, in ihren oberen Teilen besitzen sie oft betrachtliche Weitungen und Ebenen. Osttirol oder der Bezirk von Lienz liegt ganz auf der Südseite der Alpen und erstreckt sich über die zwei Hauptglieder derselben, Uralpen und südliche Kalkalpen, und das Langstal der Drau, das beide scheidet. Der Teil der Uralpen gehört der Gruppe der Hohen Tauern an und weist alle die Eigenheiten auf, die wir oben für das Nordtiroler Urgebirge andeuteten. Aus weiten Gletscherfeldern ragen gewaltige, eis- und felsgepanzerte Gipfelrecken auf, die zu den machtigsten der Ostalpen überhaupt zahlen, so der GroBglockner und der GroBvenediger als die höchsten derselben. Der untere Gebirgssockel failt über ausgedehnte Grasmatten in wald- und wasserreiche Taler ab, die dank ihrer Öffnung nach Süden die menschlichen Siedlungen verhaitnismaBig dicht bis an die 1500 mHöhenlinie vorschieben. Die Lienzer Dolomiten südlich der Drau sind, wie schon der Name sagt, ein durch schroffe Felsbauten gekennzeichnetes Kalkgebirge. Der Mensch im Hochgebirge Wie die Landschaft der Alpentaier ihr eigentümliches Geprëge durch ihre Gebirgsumrahmungen empfangt, so auch das Wirtschaftsleben in diesen Taiern durch ihre Beziehungen zu den höheren Gebirgslagen. Zwar unterscheidet sich auch in Tirol der Bauer in der Sohle des Haupttales („beim Land", wie man in diesem Sinne 91 In den Firnen Tirols sagt) in Wirtschaft, Lebensweise und auch in seinem BewuBtsein ganz wesentlich von den Bewohnern der höheren und steileren Berghange, den „Berglern", und jenen der inneren Talgründe, den „Tölderern". Diese beiden letzteren Bezeichnungen treffen den eigentlichen Typus des Bergbauern, eine Menschènart, die durch die Abgelegenheit ihrer Wohnsitze, die Nühe und unmittelbare seelische Einwirkung des Hochgebirges, ihre Besonderheiten empfangt. Die Beschwerden und Gefahren des hochalpinen Geiandes und Wetters mussen sie bei ihrer tagtaglichen Arbeit, sozusagen gleich vor der Türe ihres Hauses und von ihrer Kindheit auf kennen und überwinden lernen: die Abschüssigkeit and dem Flachiander oftmals unheimliche Steile der Feldstücke und Pfade, Steinschlag, Lawinen, Vereisung, Schneenot und Wetterstflrze. Der Bergler hat in Mundart, Tracht, Lebensgewohnheiten und körperlicher Erscheinung viel mehr Urwüchsigkeit bewahrt als die Bauern „am Land". Aber auch die Landwirtschaft in den tieferen Lagen der Alpen mit ihrem verhaltnismaBig groBen Viehstande ist nur durch den Besitz der Almen bedingt Die Almen liegen der Hauptsache nach in jenem Höhengürtel natürlicher Weiden, die von der oberen Grenze des Waldes aufwarts bis zu jener der halbwegs geschlossenen Grasnarbe reichen. Doch befinden sich auch Weiden im Bereiche des Waldes, durch künstliche Rodung geschaffen. Das Gras auf den Almen ist trotz seiner Kurzstandigkeit sehr nahrhaft und würzig, 'das Wachstom der dort aufgetriebenen Tiere und der hohe Fettgehalt der Milch sind dafür das beste Zeugnis. Dasselbe wird durch den guten Ruf und den starken Absatz des Tiroler Milch- und Zuchtrindviehes im Auslande bestatigt Die besten Almweiden liegen auf den mehr flachen Böden der inneren Talgründe sowie auf den Seitenterrassen über denselben. Auf gutgehaltenen Almen sind die Weiden nach Möglichkeft von kleineren Steinen, die von früheren Vergletscherungen, Bergstürzen und Wasserbflchen herrühren, gesaubert, die gröBeren Blöcke, die da und dort malerisch auf dem grünen Teppich herumliegen, konnte glücklicherweise die Menschenhand nicht verrücken. Übrigens hetfit ein alter Bauernspruch: Fleisch am Bein und Gras am Stein schmeckt am besten und ist am kraftigsten. Für das GroBvieh dürfen die Weideplatze nicht eine gewisse Neigung überschreiten, weil es sonst in Gefahr gerat, abzustürzen. Ziegen sind ausgezeichnete Kletterer und besuchen mit Vorliebe die besonders schmackhaften Grasgange, welche die steilsten Felswande vielfach durchziehen. Die Schafe, weit genügsamer, ziehen von allen Weidetieren am höchsten in die Gegend, wo 92 In den Firnen Tirols nur da und dort zwischen dem Trümmerwerk der Schutthalden und Moranen einzelne Pfianzenpolster wachsen. Der Auftrieb des Viehes erfolgt stets herdenweise, die Herden und die Almen selbst gehören entweder den Angehörigen einer ganzen Dorfgemeinde oder eines besonderen Verbandes, mitunter auch den Besitzern einer einzigen, groBen Einzelwirtschaft. Die Almen sind nun soweit von den Wohnstatten ihrer Eigentümer entfernt, daB eigene Gebaude zum Betriebe der Weidewirtschaft auf jenen selbst errichtet wurden. Man nennt sie im engeren Sinne auch Alm, ebenso wie im weiteren den ganzen Weidebereich. Die Almbauten bestehen in einem Unterkunfts- und Wirtschaftsraum der Almleute, Kaser genannt, Stall und Scheune für das Vieh und Reservefutter, gewöhnlich Haag genannt An der Spitze der Alm steht der Senner, der auch die Verarbeitung der Milch zu Butter und Kase zu besorgen hat, unter ihm die Hirten, auf den gröBeren Almen stets besondere Leute für die Kühe, Ochsen, Kaïber (sogenanntes Galtvieh), Schafe und Gaisen. Denn alle diese Vieharten müssen auf besondere, oft stundenweit entfernte Weideplatze getrieben und dort gehütet werden. Unter den Hirten sind alle Altersklassen vertreten, meist neben alteren Leuten auch Buben, die bei Zeiten in dieses Geschaft eingeweiht werden sollen und auch als Anfanger gute Dienste leisten können. Das Hüten auf den Almen erfordert Ausdauer, Schnelligkeit und Sicherheit im Bergsteigen, auch im felsigen Gelande, ferner Aufmerksamkeit und kluge Beobachtung der Tiere, des Pflanzenwuchses und des Wetters. Die Fahigkeit des Hirten ist im Zustand seiner Herde sehr wohl zu erkennen. Im Unterinntal, wo die Almwirtschaft mehr zerplittert ist die einzelnen Almen daher kleiner sind, besorgen die Sennereigeschafte vielfach Weiber, jüngere, aber unterschiedlich auch altere. Sie haben sich eine praktische Arbeitskleidung zurechtgelegt, eine weite Zwilchhose, die Vorlauferin des entsprechenden Kleidungsstückes der Hochtouristinnen. Im Juni, mit dem Beginn des Bergfrühlings, geschieht der Auftrieb auf die Alm und dauert bis Ende September. Auf vielen Almen gibt es zwei Höhenstufen, Unter- und Oberleger, die nacheinander bezogen werden und ihre eigenen Gebaude haben, auf manchen schiebt sich sogar noch ein Mittelleger dazwischen. Der Auf- und Abtrieb wird immer mit einer gewissen Festlichkeit veranstaltet, die Rinder erhalten einen bunten Aufputz auf den Hörnern und besonders groBe Schellen. Die Unterkunft auf den Almhütten ist sehr einfach. Viele derselben besitzen nur einen Raum, der eine offene Feuerstelle, den EBtisch und die Lagerstatte enthalt. GröBere Almen und besonders jene im 93 In den Firnen Tirols Unterinntal, sind schon besser eingerichtet, eine heizbare Stube mit Holzboden ist da meist vorhanden. Die Sennerei-Erzeugnisse werden in einer eigenen Kammer verwahrt. Die Kost der Almleute ist kraftig, Milch und Butter werden bei ihrer Zubereitung nicht gespart. Daher sind die Leute wohlauf, frisch und munter, das Leben in der Freiheit und Abgelegenheit einer groBartigen Natur gibt ihnen einen Zug rauher UrwQchsigkeit. Die Alm nimmt im Gemütsleben der Gebirgsbauern einen besonderen Platz ein, das zeigen die vielen Volkslieder, die hievon handeln. Der Jodler, der prachtige Hirtengesang ohne Worte, ist auf den Almen entstanden. AuBer zum Weidegang nutzt der Bauer die Almzone, indem er auf geeigneten Lagen derselben Wiesen herrichtet, die sogenanhten Berg- oder Hoch mande r. Sie werden einmal des Jahres, mancherorts nur einmal wahrend mehrerer Jahre gemaht; denn der Graswuchs ist auch hier auBerlich nicht sehr Qppig, wohl aber reich an innerem Gehalt. Das Heu wird in kleine, hölzerne Hutten (Stadeln) oder offen in dicht gepreBten, kegelförmigen Schobern, Tristen genannt, an Ort und Stelle verwahrt und erst im Winter, wenn die rauhen Bergwege sich in glatte Schlittenbahnen verwandein, an die Wohnstatten im Tale geliefert. In manchen Gegenden wird das Heu der HochmShder, besonders derjenigen, die noch innerhalb der höheren Waldzone gerodet sind, im Spatherbste oder Frühjahr an Ort und Stelle verfüttert und das Vieh wahrenddessen dortselbst in Stallen untergebracht; diesen Wirtschaftsbetrieb nennt man die Asten. Die Bergmahder sind oftmals sehr steil und abschüssig und hangen förmlich über schwindelnd hohen Felswanden. Die Heuer benützen an den FüBen Steigeisen, denn ein Ausrutschen würde an vielen Orten den Tod bedeuten. Auch die Abfuhr des Heues auf Schlitten, die auf den steilen Bergbahnen von selbst in ein rasendes Tempo gelangen und dabei oft jahen Abgründen entlang geleitet werden müssen, erfordert Kraft, Geschicklichkeit und Geistesgegenwart und ware fast eher als Sport denn als Arbeit zu bezeichnen, wenn sie eben nicht einem reinen Wirtschaftszwecke dienen würde. Neben der Viehzucht ist die Holzgewinnung der starkste Aktivposten in der tirolischen Volkswirtschaft. Die Walder liegen oft weitab von den bewohnten Gegenden in einsamen Talgründen oder hoch oben am Berghang. Die Holznutzung geht haufig bis an die oberste Waldgrenze, besonders wegen der für Tischlerarbeiten geschatzten Zirbelkiefer, die nur hier vorkommt. Die Arbeit im steilen, oft von Felsen unterbrochenen Bergwalde, dann der Abtrieb des Holzes im 94 In den Firnen Tirols Winter über vereiste Naturbahnen, sogenannte Riesen, und auf schwer beladenen Schlitten bedingt in einem womöglich noch höherem Ma8e jene Eigenschaften, die wir soeben für die Arbeit mit dem Bergheu andeuteten. Die Holzarbeit wird in den Forsten der gröBeren Besitzer meist an berufsmaBige Arbeiter, die Holzknechte, vergeben, eine Klasse der alpinen Bevölkerung, die durch Körperkraft, Schneid und wohl auch etwas Derbheit sich hervortut. TrSgt schon das Weidevieh auf den Almen sehr zur Belebung der alpinen Landschaft bei, erhalt es ja durch den langen Aufenthalt im Freien einen merkwürdigen Stich ins Naturwüchsige, so ist die schönste lebendige Zier des Hochgebirges das Wild. Die besten Jagdreviere liegen in den nördlichen Kalkalpen, besonders im Karwendel, wo durch langjahrige, herrschaftliche Hegung ein reicher Stand an Hirschen und Gemsen sich angesammelt hat. Viele Hütten und ein ganzes Netz von Wegen ist von diesen Jagdherrschaften angelegt, zahlreiche JSger werden von ihnen beschaftigt; der Beruf, meist vom Vater auf den Sohn vererbt, gibt den Leuten einen eigenartigen Ausdruck von Kühnheit, gepaart mit treuherziger Würde. Der Touristik stehen die Jagdherrschaften nicht gerade günstig gegenüber, doch könnte bei gegenseitiger Einsicht ein besserer Ausgleich der Interessen erzielt werden. Bei jeder Bergfahrt im Karwendel kann man den Wildreichtum dort bewundern. Wahrend die Hirsche im Hochwald stehen, bevölkern die Gemsen rudelweise die Kare und die darüberliegenden Felsgehange, wo nur gerade noch einige Graspolster zwischen den Steinwüsten wuchern. Sie ziehen aber auch über die höchsten Kamme, Fels und Firn, um von der einen Bergseite auf die andere zu kommen. Die schwierigsten Strecken nehmen sie hiebei mit leichtester Behendigkeit, ein beneidenswertes Vorbild für den in die Höhe strebenden Bergsteiger. Auch in einigen Gründen des Zillertales sind reich besetzte Herrschaftsjagden. In den übrigen Gebirgen Nordtirols sind die Jagden weniger sorgsam gehegt, aber Gemsen und das hochalpine Nagetier, Murmeltier oder Murmentel, trifft man da und dort fast überall an. Endlich führt den Menschen noch der Bergbau in die Hochregion. Die stattlichen Wohn- und Betriebshauser des Halier Salzbergwerkes liegen im wildromantischen Kalkgebirge drei Stunden oberhalb den Ortschaften. Einstmals — vom fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhundert — waren die Gebirge Tirols berühmt durch ihren Reichtum an Erzen. Aufgelassene Stollen trifft man überall im Gebirge, die moderne Technik hat an manchen Orten Betriebe wieder aufgenommen, die hoch über der Waldgrenze im Gebirge liegen. 95 In den Pirnen Tirols Wandern und Schauen in den Firnen Tirols Waren so die Hochlagen des Qebirges schon lange aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten von den Einheimischen aufgesucht, seine Naturerscheinungen ihnen bekannt und vertraut, in der groBen Welt drauBen blieben die Alpen unbeachtet. Diejenigen, welche auf einer deutschitalienischen Reise durch die Alpen muBten, haben sie keineswegs als anziehende Gegend befunden. Wie die alten Römer, so entsetzten sich auch die Deutschen und Italiener des Mittelalters über die Unwirtlichkeit und den finstern Ernst der Alpen. Gerade einem Bischof von Utrecht des elften Jahrhunderts, Adalbod, verdanken wir die früheste derartige Schilderung des Brennerweges, also des Hauptteiles des spateren Tirols: „Er führe über unfruchtbare Orte, rauhe Berge, weite Walder und abschüssige Pfade." Kaiser Max I., der die hochgebirgigen Teile Tirols von seinen Jagdfahrten her genau kannte, nannte Tirol „einen rauhen und groben Bauernrock, der zwar wegen seiner Falten und Runzeln unschön, aber bequem und warm sei." Damit soll wohl die rauhe AuBenseite desGebirgslandes gegenüber seinen angenehmen Gaben, wie Jagden, Bergwerke, Forste und fruchtbare Talgründe, entschuldigt werden, eine richtige Erfassung der Schönheit der Gebirgsnatur um ihrer selbst willen ist damit noch nicht gegeben. Verschiedene Schriftwerke, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Tirol entstanden sind, beginnen schon eher das Gebirge als solches zu loben: Die gute Luft, die prachtige Pflanzen- und Tierwelt, die Merkwürdigkeit der Landschaft und einzelne besonders schöne Schaustücke derselben, wie die Morgenbeleuchtung der Berge, endlich auch die gesunden Wirkungen des Aufenthaltes im Gebirge auf Körper und Gemüt Allein diese Regungen reichten nicht hin, um einen bewuBten Wandertrieb ins eigentliche Hochgebirge zu entzünden. Es bedurfte noch der Geistesentfaltung, die wir literargeschichtlich als die deutsche Klassik und Romantik bezeichnen, ehe man im Hochgebirge den erhabensten Ausdruck der Natur erkannte und sich gedrangt fühlte, diesem auch naher zu kommen. Etwa um das Jahr 1800 finden die ersten groBen Bergfahrten auf die Könige der Ostalpen, Ortler und GroBglockner, statt. Manner der Wissenschaft oder anderer geistiger Berufe aus entfernten Stadten waren die ideellen Anreger dieser Unternehmungen, Leute aus dem knorrigen Geschlecht der Bergbauern ihre faktischen Vollender. Vom Anfange an waren hiebei gesteigertes Naturgefühl, wissenschaftlicher Forschungseifer, aber auch der echt 96 In den Firnen Tirols faustische Drang „diesen Riesen den Ruf der Unbezwingbarkeit zu nehmen", in gleicher Weise wirksam. Noch waren es aber ein halbes Jahrhundert lang immer nur Einzeine, die das Hochlandsehnen bis auf die höchsten Firne auf unbekannten Bahnen führte. Erst seit den 1860 er Jahren nahm der Alpinismus in deutschen Landen den Charakter einer Massenbewegung an. Es entstand der Deutsche und Österreichische Alpenverein, der sich die Aufgabe steilte, die Alpen wissenschaftlich und bergsteigerisch zu erschliefien. Er hat seine Tatigkeit in fünf Jahrzenten mit vollem Erfolge gekrönt. Die Alpen und die Alpenwanderfreude sind seither ein Gemeingut der deutschen Nation, der Fremdenverkehr ein wirtschaftlicher Faktor der Alpentaler geworden. Um die Besteigung der Berge zu erleichtern, haben der Alpenverein und einige ahnliche gröBere und kleinere Verbande in allen Teilen der Ostalpen Schutzhauser erbauen lassen, am Rande und selbst hoch im Innern der Gletscherwelt, und sie durch ein Netz von Wegen mit den Talorten und den wichtigeren Übergangen verbunden. Freilich hat gerade diese von reinstem Idealismus getragene und durch das Entgegenkommen der Bevölkerung der Bergtaler geförderte Tatigkeit durch den Ausgang des Weltkrieges eine grausame Einbufie erlitten. Die italienische Regierung hat namlich alle Schutzhauser im besetzten Gebiete von Tirol dem Deutschen und österreichischen Alpenverein ab- und dem italienischen zugesprochen. Da aber der Alpinismus im italienischen Volke nicht annahernd die breite und tiefe Aufnahme gefunden hat wie im deutschen, wird der italienische Alpenverein kaum in der Lage sein, die vom Deutschen und österreichischen Alpenverein geschaffenen Werke einzuhalten, diese werden allmahlich verfallen und überhaupt das ganze Berggebiet für deutsche Wanderer verschlossen bleiben. Der Alpinismus hat seit seiner Entstehung manche Wandlungen mitgemacht, manche Übertreibungen und selbst Entartungen gezeitigt, die aber seinem gesunden Kernenichts anhaben können. Der Alpinismus ist weder allein auf Wissenschaft, noch allein auf GenuB von Naturschönheit, noch allein auf Sport eingestellt, sondern ist eine machtvolle Zusammenfassung von einer ganzen Reihe von Beweggründen. Das Grundmotiv, warum der Mensch zu seinem Vergnügen ins Hochgebirge wandert, ist auch heute noch der Trieb, das AuBergewöhnliche, das gewisse Etwas, das den Alltag übersteigt und verdunkelt, zu schauen und zu empfinden, Und wenn er einmal von diesen Eindrücken gekostet, ihre verjongende und erfrischende Wirkung verspürt, wird es ihn immer wieder zur Wunderquelle zurückziehen. 7 97 In den Firnen Tirols Von den letzten Ortschaften steigt der Wanderer durch den Hochwald empor, der ihn bereits mit ahnungsvollen Bildern empfangt. Anders sind hier die Baume als in der Ebene, knorriger und gedrungener, dem Felsboden angepaBt, den sie mit starken Wurzelarmen vor unseren Augen gespalten. Die Krone des Hochwaldes, und nur ihm eigen, ist die Zirbelkiefer, die ihre buschigen, sattgrünen Nadelzweige zu dichtgeschlossener FOlle vereinigt, duftig in ihren Umrissen und dennoch kraftvoll in der gesamten Erscheinung, ein echtes Sinnbild des Hochgebirges, dem sie entsprossen. Im Unterholz des Zirmwaldes und darüber hinauf in das offene Gehange wuchert in weiten Feldern das Gestrauch der Alpenrose, im Frühling das herrliche Rot ihrer Blüten in das volle Grün des Blattwerks webend. Und nun hinaus auf die freien Wiesenmatten der Almen mit ihren würzigen Krautern und farbenfrohen Blüten, die viel tiefer leuchten als die Schwestern in der Tiefe, weil sie die Strahlen einer reineren, starkeren Sonne trinken. In diese Regionen kann auf gebahnten Wegen jeder gelangen, der einigermaBen bei FuB ist. Und überall am Rande und im Innern der Gebirge gibt es An höhen, die über maBig steile Gras- und Steinhalden ebenso unschwer zu erreichen sind und einen vollen Einblick in die Pracht des Hochgebirges gewahren. Hier schon offenbart dieses jenen unvergleichlichen Zusammenklang von Wucht und Zartheit in Gestalt und Farbe, der nur ihm unter allen Landschaftsbildern der Erde in diesem MaBe eigen ist: Zu FüBen der weite, grüne Mantel der Walder und Almen, gestickt mit den weiBen Faden zahlloser Wasserlaufe, ein Bild des liebevollen, freundlichen Waltens der Natur; ober uns die Zeugen ihrer Gewalttatigkeit, ein drohendes Aufbaumen grauer und schwarzer Felskolosse; und noch weiter entrückt das erhabene Leuchten der Firne, gleich einer Treppe von dieser in eine andere, höhere Welt. Hier in der Nahe die satten Farben greifbarster Wirklichkeit, dort ein Strahlen und Verdammern scheinbar überirdischer Lichter. Darf man staunen, daB der Mensch, der die Krafte in sich fühlt, in dieses Reich der Wunder tiefer eindringen will? Ist einmal der Bergsteigerdrang geweckt, so darf er, soll ei nicht verhangnisvoll wirken, nicht blindlings, sondern nur mit Bedacht betatigt werden. Denn eine furchtbare Warnungstafel steht beim Eintritt ins Hochgebirge: Die Gefahren der Alpen und die Opfer, die sie alljahrlich fordern. Mangel an Erfahrung oder an Vorsicht oder endlich Tücke des Zufalls ergibt sich in letzter Linie immer als Ursache des Unglücks von Bergsteigern. Aber eben Erfahrung und Vorsicht allein vermögen das Watten des Zufalles im Bereiche 98 In den Fimen Tirols der alpinen Gefahren einzuschranken. Daher ist es unbedingt geboten, daB der Anfanger nur an Seite erprobter Gefahrten das Hochgebirge aufsucht. Von diesen muB er die Eigenart des alpinen Gelandes, die Begehung von Fels und Eis, die Handhabung des alpinen Rüstzeuges praktisch erlernen. Von diesem Gesichtspunkte aus ist der berufsmaBige Bergfuhrer immer der beste Gefahrte, denn er verbindet mit allgemeiner Bergerfahrung und Übung die genaue Kenntnis der einzelnen Anstiege. Unter der Anleitung eines tuchtigen Bergführers kann auch ein noch ungeübter Geher, wenn er nur allgemeine körperliche Ausdauer besitzt, sich an ernste Hochgebirgs■fahrten heranwagen. Beim führerlosen Gehen steigern sich die Moglichkeiten der Gefahr, vor allem in den kritischen Zeiten der Entwicklung und Heranbildung des jungen Bergsteigers. Übrigens sind bei der groBen Mannigfaltigkeit der Berge auch die Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Besteigung in allen Graden verschiedenartig verteilt. Jede Gruppe hat unter ihren höchsten Gipfeln solche, die bei gflnstigen Witterungsverhaltnissen und Einhaltung des richtigen Weges ohne Gefahr von jedermann bestiegen werden können, die sogenannten leichten Berge, dann solche, bei denen die Überwindung der Gefahr und Schwierigkeit dem Geher nur als ein Gefühl der Anregung bewuBt wird, das sind die mittelschweren, und endlich die schweren, sehr und auBerst schwiertgen Bergfahrten, bei denen jene Hindernisse nur mit dem Aufgebote groBer bis auBerster Willenskraft und körperlicher Gewandtheit und Ausdauer besiegt werden können. Diese Abstufungen werden in der bergsteigerischen Fachsprache als objektiv feststehend angenommen, sind aber in Wirklichkeit beweglich je nach den Fahigkeiten des Bergsteigers. Folgen wir in kurzen Zügen dem durchnittlichen Verlauf einer mittelschweren Bergfahrt im Eisgebirge, von der Art, wie etwa auf die höchsten Gipfel der ötztaler Alpen, wie der Wildspitze, der WeiBkugel und des Zuckerhüttls. Noch im Morgendunkel verlaBt die Gesellschaft von drei Bergfreunden die Schutzhütte und steigt auf angelegtem Weg über den Moranenwall neben der steilen Zunge des nahen Hauptgletschers empor. Kalt und unnahbar starren uns die Berggestalten der Um-r gebung entgegen. Wo der Gletscher zu einer mehr ebenen Bucht sich weitet, betreten wir ihn. Vorerst seilen wir uns an einem dünnen, aber aus bestem Hanf gedrehten Seile an, auf Entfernung von etwa acht Metern wird es jedem um den Leib geschlungen, derart, daB es ihn festhalten, aber sich nicht enger zuschnüren kann. Die Angeseilten r 99 In den Firnen Tirols bewegen sich gleichzeitig auf dem Gletscher, der vorderste sucht, mit der Spitze des Eispickels sondierend, einen sicheren Weg durch die Spalten. Würde er aber trotz seiner Vorsicht auf eine verdeckte Spalte oder eine treulose Brücke geraten und einsinken, so kann ihn der mittlere Gefahrte, der noch auf sicherem Grunde steht, am gespannten Seile zurückreiBen, jenem aber kann der Dritte, wenn es nötig sein sollte, ein Rückhalt sein. Durch diese Anwendung des Seiles auf dem Gletscher sind schon viele Unglücksfaile vermieden worden, es kommt bei jeder gröBeren Gletscherwanderung vor, daB der eine oder andere Teilnehmer in eine Spalte einbricht, aber von den Gefahrten am Seile gehalten wird, sonst würde er in die oft unergründliche Tiefe versinken. Inzwischen sind wir über ein steileres und besonders zerklüftetes. Stück des Gletschers, einen sogenannten Bruch, wo uns der Anblick des blau schillernden Eises des inneren Gletscherleibes fesselte, auf die obere Firnmulde emporgestiegen. Unter den Strahlen der Morgensonne winken uns die Berge wieder einladend und verführerisch zu, das Bergsteigerblut gerat in neue Wallung. Im Hintergrunde des Gletschers erblicken wir unser Ziel, ein steil aufgerichtetes Dreieck„ das in einer jahen Eisflucht zum Ferner niederstürzt, links und rechts in feinen Firnschneiden, stellenweise in drohenden Felszacken zu einem Sattel im Hauptkamme sich herabsenkt. Wie es dem kundigen Berggeher von vorneherein einleuchtet, durch den gedruckten Gipfelführer auch bestatigt wird, führt über die Eisflucht zum Gipfel kein allgemein begangener Anstieg, nur einigemal haben sich hier Bergsteiger, die eben mit Absicht ihre Krafte an einer besonders schwierigen Aufgabe messen wollten, einen Durchgang erzwungen. Wir begnügen uns mit dem „gewöhnlichen Weg" über den Firnsattel. Aber noch ist bis dorthin eine steile Eisflanke zu überwinden. Die Steigeisen, mit sechs bis acht scharfen Spitzen versehene Spangen, werden mit Riemen an die Stiefelsohlen geschnallt, sie gewahren uns auf dem glatten Eis einen sicheren Tritt. Vorerst müssen wir noch die breite Randkluft, welche das Gletscherbecken gegen den Steilhang einsaumt, mit besonderer Vorsicht überschreiten, denn die einzige darüberführende natürliche Brücke ist schon halb eingedrückt und noch dazu ist der obere Rand der Spalte bedeutend überhöht. Hiebei und dann am Eishang Jcommt die ausgepragteste Waffe des Bergsteigers, der Eispickel, in Tatigkeit. Derselbe ist eine zweiseitige, aus bestem Stahl gefertigte Axt, mit einer spitzen und einer breitschneidigen Haue, der Stiel, etwa bis zur Leibesmitte reichend, dient gleichzeitig 100 In den Firnen Tirols als Bergstock und ist daher auch unten am Ende mit einer starken Spitze versehen. Mit der Eisaxt schlagt nun der Spitzenmann der Partie Stufen in den Hang, und zwar immer von der letzten Stufe aus eine neue und dann sofort in diese tretend. Ein geübter Stufenschlager benötigt auch im spröden Eise zu einer Stufe nur einige Hiebe, im Firn sogar nur einen, und steigt, gleichmaBig arbeitend, in die Höhe, ohne dabei auBer Atem zu kommen. Das Stufenschlagen ist diejenige Seite der alpinen Technik, in der auch sehr gute Führerlose selten die Fertigkeit der Berufsführer erreichen, da diese in der Holz- und Feldarbeit hiezu die beste Vorübung standig mitmachen. Beim Aufstieg über den steilen Eishang bewegt sich immer nur einer der drei angeseilten Gefahrten, die anderen fassen festen FuB, indem sie die Axt fest ins Eis schlagen („verankern"), das Seil darum legen und so den in Bewegung befindlichen Gefahrten „versichern". Würde dieser ausgleiten, so kann er dann am gespannten Seil wieder Halt bekommen. Trotzdem bleibt der Anstieg über steile Eisflachen immer eine heikle Sache, die im hohen MaBe Kaltblütigkeit und Übung erfordert. Ein geringes Versehen eines einzelnen kann die ganze Partie aus dem Gleichgewichte reiBen. Es ist nur ein Glück, daB die unfreiwilligen Abfahrten, die die Folge davon sind, haufig ins ebene Gletscherbecken leiten und die Sache mit einigen Hautverletzungen abgetan ist. Wehe aber, wenn Eis- oder Felsabstürze sich in den Weg stellen, dann ist die Katastrophe geschenen. Endlich haben wir den Sattel erreicht, Höhensonne umfangt uns und unser Bliek fliegt in neues Land. Der Grat, der von hier auf unseren Gipfel führt, steigt zuerst in breiter Firnwölbung an, dann kommen wir auf Fels. Er ist in der Nahe leichter begehbar als von der Ferne aussah. Jene Steilstufe gliedert sich in mehrere Absatze, jene Platte ist von einem Sprunge durchsetzt, um jene Zacken leitet ein natürliches Band im Gestein. Aber man muB schon mit den Handen zugreifen, um Halt zu gewinnen, muB „klettern", wie der Fachausdruck lautet, Griff für die Hande und Tritte für den FuB erspahend und benützend. Es ist eigentlich eine Erholung auf das bisherige Steigen im Eis, man hat auf den rauhen Felsen doch bedeutend mehr Anhalt und Sicherheit. Und ein ganz eigener Reiz ist es, über schwindelnden Tiefen auf den höchsten Rippen der Erde mit fester Hand und sicherem Auge herumzuturnen. Kletterfreude, unverstandlich dem, der sie nie empfunden, nur der Kenner weiB, was damit gemeint ist. Das Seil wird auch hier zur gegenseitigen Sicherung und Unterstützung der Gefahrten mit Vorteil verwendet, bei gefahr- 101 In den Firnen Tirols licheren Stellen unbedingt erf order] ich. Schon zwischen zwei der überschrittenen Felszacken war eine feine Firnschneide eingeschaltet und eine solche führt nun vollends auf den Gipfel. Die Schneide hflngt nach der einen Seite fiber, sie tragt eine sogenannte Schneewfichte, die der von unten fiber den Grat blasende Wind aufgeworfen hat. Auf der Seite dieses Oberhanges ist der Grat nicht zu begehen, wir bleiben auf der anderen, die aber auch in unheimlich steilen» Gefalle in die Tiefe stürzt, da heifit es wieder mit dem Eispickel sich einen künstlichen Weg über den Firn zu schlagen, dann noch fiber einen kurzen Aufschwung empor und wir stehen endlich, etwa ffinf Stunden nach Verlassen der Hfitte, auf dem Gipfel. Schon am ganzen Wege hatten wir ja die Bilder betrachte! die immer wieder neu sich vor uns entrollten, hatten wir insbesondere die wachsende Erweiterung unseres Gesichtsfeldes empfunden. Und dennoch ist der volle Rundblick vom Gipfel etwas ganz Besonderes. Das höchste Geffihl der Freiheit, der Erhebung fiber die Erdenschwere, aber auch eine restlose Befriedigung des Höhendranges kann uns nur der Aufenthalt am Gipfel verschaffen. Das Geffihl der vollbrachten Leistung stellt sich aber erst ein, nachdem wir den Abstieg wieder vollzogen, alle Fahrlichkeiten und Schwierigkeiten glücklich hinter uns gebracht und von irgend einem erhöhten Punkte am Rande des unteren Gletschers zurfickbiicken auf die durchmessenen Eisgefilde, auf den erklommenen Gipfel. Der Tag ist uns mit allem Erschauten, Empfundenen und Erlebten zum Ereignis unseres Lebens geworden, an der Kraft, mit welcher er in unserer Erinnerung haften bleibt, können wir die auBergewöhnliche Tiefe und Bedeutung der erhaltenen Eindrficke ermessen. Ganze Schwarme von frohen Wanderern durchziehen heute die Firnen von Tirol. Nicht alle sind berufen, gerade bis auf die höchsten Eisgipfel vorzudringen. Aber den erfrischenden und reinigenden Hauch dieser gewaltigen Landschaft empfangt man schon, wenn man sich nur dem inneren Bannkreis derselben nahert. Schon auf den Talern dieser Gebirge liegt ein unbeschreibliches Etwas, ein Abglanz ihrer leuchtenden Erscheinung. Auf der Stufe der Almmatten entfaltet sich dann der Höhenzauber bereits mit seiner ganzen Macht. Die verschiedensten Grade körperlicher Leistungsfahigkeit und geistiger Empfanglichkeit können so in ihrer Weise in den Bergen selig werden. So sind die Firne der Alpen ffir Europa von unschatzbarem Werte, nicht bloB weil sie seine Ströme speisen, sondern sie sind auch ein ewiger Verjfingungsborn ffir die Seele seiner Menschen. 102 Wunder der Unterwelt Karl SchoBleitner Allgemeine Einleitung Die Höhle im Weltbilde ch bin kein Maler und vermag es nicht, mit farbenbunten Plakaten, verblüffender Linienführung die Augen zu fesseln, ich kann nur mit Klangen und Worten versuchen das Ohr zu betönen, zu locken und zu betören und möchte ein Grammophon aufstellen, knapp vor dem Eingang zur Unterwelt, von ihren Wundern verkündend. Wenn gangbare Themen und gelSufige Stoffkreise zur Diskussion kommen und Modeworte aufklingen, bevölkert sich die Vorstellung im Nu mit vertrauten Gestalten und Bildern, Begriffe quellen über von Fülle des Inhalts und gebaren zwillingshafte Korrelate und Assoziationen. Wenn aber von Höhlen und Unterweltsphanomenen die Rede anhebt, wenn von Polarfahrten im Bergesinnern erzahlt wird, ersteht nur wenigen Eingeweihten, um nicht zu sagen und anmaBend zu erscheinen, wenigen „Auserwahlten", die Fülle der Gesichte. Den Meisten bleibt die Gehirn-BTabula" in Permanenz, „rasa" wie am ersten Tag, wie eine weiBe, unschuldsvolle, fleckenlose Leinwand. Ein Höhlenfilm, ein Lichtbildervortrag, ein Höhlenmuseum, als universelle Zusammenfassung, kann die Belebtheit neuer Stoffkreise zur Erscheinung bringen, erste Meldung künden über den neuesten „Sport", letzte Berichte über die jüngste „Erforschung" altester Gegenden und Objekte, die bejahrter sind als indische Heiligtümer oder chinesische Tempel, als die Pyramiden der Pharaonen, als jegliches Menschenwerk, als die Quellen des Nil, als die Urwalder Amerikas, vielleicht sogar als die weithin leuchtenden Gletschergipfel des Gaurisanker. . . . 103 Wunder der Unterwelt Doch zahme deinen Werberuf, mein Grammophon! Es ist gar nicht nötig, so weit in die Perne zu schweifen. Im Gegenteil! Mirten drinnen in unserer engeren Heimat, im Herzen der angeblich so völiig rationalisierten Natur des „kultivierten", nach allen Richtungen durchgeackerten Mitteleuropa, schlummem die Wunder im mitternachtigen Dornröschenschlaf unberührter Verzauberung. Unsere Karbidflammen brennen beharrlich. Magnesiumpatronen und Leuchtdrahte zischen und fauchen, Lichtbomben platzen knallende Helle mit Blitz und Raketen und jagen die neidischen Schleier in fernste Winkel. Wir ziehen und zerren an allen Zipfeln, um teilhaftig zu werden letzter Geheimnisse... in staunender Ehrfurcht. Jeder, der mitkommt, kann Einblick gewinnen. Hereinspaziertl So tönt das Grammophon. Verzeiht mir aber vorerst ein wenig theoretische Charakteristik des Höhlenthemas: Dem Höhlenforscherwird es durchaus nicht so leicht, die Begriffskategorien eng zu umgrenzen und reinlich zu unterscheiden. Von überall treffen sich Strahlen im Schnittpunkt seiner Betatigung, kommen aus schillernder Buntheit und schwinden ins Ungewisse. Alles durchdringt sich gegen- und wechselseitig. Er dient bisweilen der Wissenschaft und fördert Ergebnisse zutage für die Geologie, Mineralogie, Morphologie, Meteorologie, Hydrographie, Paiaontologie, Archaologie, Geographie, Kartographie und Vermessung, für Palaanthropologie, Zoölogie und Botanik. Seine Erfolge können Bedeutung gewinnen für die Volkswirtschatt, für das Meliorationswesen und die Wasserversorgung der Stadte, für die Ausnützung der Wasserkrafte, FluBregulierung, Ingenieurwissenschaft, Wasserbautechnik, Elektrizitatsgewinnung, für Fremdenverkehr und valutarischen Ausgleich, wenn Sehenswürdigkeiten von Weltruf entdeckt und erschlossen werden, die aus aller Herren Lander Besucher und Geld in die Heimat bringen. Man muB nur an die Adelsberger Grotte denken, überhaupt an die Krainischen Höhlen und sich die Statistik der staunenswerten Frequenzen vor Augen halten, um ein richtiges MaB für die Wertschatzung zu gewinnen. Bis auf die Fruchtbarkeit der Wiesen und Felder erstreckt sich der Wirkungskreis des Höhlengangers, so fernliegend es auch erscheinen mag. 104 DACHSTEIN-RIESENEISHÖHLE BEI OBERTRAUN, OB.-ÖST. DER tVORHANG* IM tl. EISABGRUND Wunder der Unterwelt Er fördert einerseits die Berieselung dürrer Landstriche, die Aufforstung verkarsteter Gegenden durch sachgemafie Benützung der natürlichen Wasserreservoirs im Bergesinnern. Anderseits kann wieder — im gegenteiligen Sinn — durch die Ergebnisse der Höhlenforschung in Gebieten, die durch Höhlenflüsse plötzlich und sozusagen überfallsweise überflutet werden, eine unterirdische Entwasserung eintreten und fruchtbares Ackerland gerettet werden, wie dies bei den Sumpfufern des unterirdisch gespeisten Zirknitzersees zutrifft oder im Planinatale geschehen ist, wo beispielsweise die Ernte einer Bodenflache von 1700 ha gesichert eingebracht werden kann, die zuvor der jahrlichen Sommerüberschwemmung zum Opfer getallen ist. Forst- und Landwirtschaft unterhalten mit der Höhlenforschung die regsten Wechselbeziehungen, das beweist die eigene Staatsstelle, die als offizielle Bundes-Höhlenkommission errichtet wurde und in erfolgreichster Weise die Gewinnung des Höhlendüngers betreibt. Daran gemessen erscheint allerdings die Ausbeute der Jagd auf Sumpf- und Wasserwild und höhlenbewohnendes Getier und der Ertrag von Fischfang und Fischzucht in unterirdischen Gewassern nur von geringerer, ganz bescheidener Bedeutung. Jedoch besticht vielleicht die bequeme und mühelose Art der Gewinnung: Wenn im Hochsommer die Oberwasser in die Tiefe der Höhlenwelt versickern, werden die Fische daran gehindert, mit zu verschwinden, indem Gitter und Netze über Ponore und Abzugsöffnungen gespannt werden, sie verfangen sich darin und sind schon gesammelt und bereit für den Ab transport. Ebenso wie in Montenegro zahlreiche Höhlen — mit versperrbaren Eingangen — als Kühlraume und Speisekammern dienen, gibt •es in Tirol etliche Bierkeller dieser Art. Die günstigen Temperatur- und Ventilationsverhaltnisse fördern die Kasebereitung. Der berühmte Roquefort der Cevennenhöhlen des südöstlichen Frankreichs gründet darauf seine hohen Qualitaten. Die ursprünglich armen Bewohner dieser nahezu vegetationslosen Landstriche sind reiche Leute geworden durch Ausnützung ihrer heimischen Höhlenwelt, denn die Kasebereitung erzielte bereits vor dem Kriege eine Jahreseinnahme von über 25,000.000 Franken, «die sich in der letzten Zeit in bedeutend höheren Summen ausdrückt. 105 Wunder der Unterwelt Die reichen Ergebnisse der Champignonzucht in nordfranzösischen Höhlen sind hinlanglich bekannt Nicht selten erreichen die Höhlenwasser fühlbarste Wirkung ffir den Gesundheitszustand derAnwohner, manchmal sogar für kilometerweit entlegene Landstriche und Ansiedlungen, ja selbst für groBe StSdte. Man erinnere sich der Typhusepidemien in Triest und Pola„ in den dicht bevölkerten Industriegebieten der Donauquellen, oder in Kranichfeld, desgleichen in Paris, Brussel, Worthing usw. Darauf gründet sich wieder ein Spezialthema: die Höhlen und das Sanitatswesen. Oberraschender Zusammenhang ergibt sich beispielsweise mit dem weltberühmten Thermen von Bad-Gastein, die von der geologischen Wissenschaft als auf- und absteigende Quellen gedeutet werden, die aus den Tiefen des Erdinnern ihre hohe Temperatur mitbringen, aber hoch oben von den Gebirgsniederschiagen gespeist werden. Weitere Themen reihen sich an: Die Höhlen als Zufluchtsstatten gegen Unbilden der Witterung, gegen feindliche Einwirkung, von den Urzeiten bis auf unsere Tage. Ganz besonders hat der Krieg in mannigfaltigster Fülle die abenteuerlichsten Verwendungsmöglichkeiten ausgenützt. Was sonst vereinzelt und im kleinen bekannt geworden ist, steigerte sich im Karst zur massierten Hypertrophie. Nach den letzten Berichten wird an der neuen Grenze zwischen Italien und Jugoslawien eifrig daran weitergebaut. In mehr oder minder künstlicher Ausgestaltung wurden natürliche Höhlen und Grotten verwendet als Viehhürden, Stallungen, UnterstSnde. Wohnstütten, Kasernen, Bureaus, Kanzleien, Magazine, Speisesflle, Operationsrflume, Spitaler, Kapellen und Kirchen. Die Höhle als Kultstatte mit den ersten AuBerungen künstlerischer Betatigung urzeitlicher Menschen, die mit expressionistischen und. dadaistischen Tendenzen der jüngsten Zeit Vergleiche anregen, ware ein Kapitel für sich. Die vorhistorischen Höhlenbemalungen in Südspanien und Südfrankreich regen dazu an. Die bisher erwahnte Mannigfaltigkeit erschöpft aber das Höhlenthema noch lange nicht, sie begreift bloB einen Teil in sich: die Objekte und Attribute der Höhlenforschung, oder anders ausgedrückt: die Höhlen selbst und was wissenschaftlich und kunst- oder kulturhistorisch darin gefunden werden kann und volkswirtschaftlich daraus zu gewinnen ist 106 Wunder der Unterwelt Ihre optische Betrachtung umfaBt die charakteristischen Unterschiede zwischen natürlichen Felsenhöhlen und künstlichen Tiefbauten in Kohienbergwerken und Erzlagern, zwischen Tropfsteingebilden und Kristalldrusen eines Salzberges. Mineralogisch ergibt sich die Einteilung in Kalk-, Salz-, Basalt-, Lava-, Gletscher- und Gipshöhlen — tektonisch und architektonisch, wenn ich so sagen darf —, in Ausbruch-, Halb-, Sack- und Durchgangshöhlen, in Naturschachte Schlote, Windröhren und Wetterlöcher, Riff- und Überdeckungshöhlen usw. Gegensatze und Gemeinsames der Höhlenwelt in den Alpen, im territorialen Karst und in den Karstgebieten der übrigen Erdteile, im bosnischen Bergland, in den südlichen Niederungen Italien6, im nördlichen Schottland, in Peru, in Nordatnerika, in der afrikanischen Wüste, in Paiastina, in Indien, in den Felsenufern des chinesischen Jangt-se-Flusses, regen den Vergleich an und werfen die Frage auf, wie sich die österreichischen Sehenswürdigkeiten dagegen ausnehmen mögen. Vor allem verlocken die polaren Szenerien unterirdischer Eislandschaften mit den geschwungenen Rhythmen ihrer Linienführung, verschieden von oberweltlichen Bergformen. AuBer dieser optischen Betrachtung der Höhlenforschung darf das Unsichtbare, Geistige, das Unmaterielle, Irreale, nicht vernachlassigt werden; das tatige Subjekt der Höhlenforschung, jene Art Mensch, die besondere Eignung und Neigung für diese Betatigung mit sich bringt, mit besonderen Fahigkeiten ausgestattet, auBerordentliche Erfolge auf diesem Gebiete zu erringen. Damit wendet sich das Thema von der Natur zum Menschen, vom Altehrwürdig-Überkommenen, Historisch-Gegebenen in die lebendige Gegenwart und betritt nicht bloB physikalisch-geographisches, sondern zugleich auch geistiges Neuland, springt ins Philosophische, Psychologische, Geheimnisvoll-Mystische. Rutenganger und Wünschelrute geistern herein. Der diametrale Gegensatz • zum Fltegen erganzt den Ideenkomplex und verankert die kosmische Einordnung. Aber dies alles bedürfte gröBerer Ausführlichkeit. SchlieBlich ware noch der Widerspiegelung in der bildenden Kunst, in der Dichtung zu gedenken und der historischen Voraussetzungen der Höhlenforschung Erwahnung zu tun, die Abspaltung von der Durchschnittstouristik anzuführen, und die Zusammenhange mit der Oberwelt-Alpinistik aufzuzeigen, das spezifisch Sportliche 107 Wunder der Unterwelt „Tart pour Part" des Pelsen- und Gletscherkletterers im Gegensatz zum zweckhaft betonten Zieltrieb des Höhlengangers zu charakterisieren. Zuletzt grellt noch ein Reflex in die Rechtswissenschaft. Ebenso wie der Luftverkehr zur Untersuchung und Pestlegung des Luftrechtes geffihrt hat, scheint es notwendig, Ober Voraussetzung und Formulierung des Höhlenrechtes sich klar zu werden, um rechtzeitig bei Schurf und sonstiger Höhlenauswertung endlosen Prozessen und Kompetenzgegensatzen vorzubeugen. Denn noch mehr als dem freizügigen Jagersmann ist die naturhafte Naivitat des Laien geneigt, dem „wilden" Höhlengfinger, dem „Höhlenwilderer" alle Rechte hemmungsloser Betatigung einzuraumen. Der individuellen Preiheit des Staatsburgers sind auch unter der Erde die Flügel gestutzt durch die neuen österreichischen Gesetzesnovellen. Der praktische Interessent wird vor allem nach dem Handwerkszeug des Höhlengangers und seiner AusrQstung fragen und öber die Attribute des Subjektes Bescheid verlangen, wenn ich es so ausdrücken darf, zum Unterschied von den Attributen des Objektes. So bereichert sich das Höhlenthema mit seinen Wundern — universell betrachtet — aus allen Gegenden, Talern, Gebirgen und Meeren der sichtbaren Welt, wie der geistigen und erreicht umfassende Totalitat wie ein Spiegel des Weldbildes, wie eine kosmische Sammellinse, wie ein Gedanken- und Blutegel, alles in sich einsaugend, weiter greifend als die winterlichen Eishöhlen selbst, die bloB Wirbel warmerer AuBenluft in sich hineinschlingen. So drohen Überfülle und Vielseitigkeit zu bedrücken und zu verwirren. Die Mahnung wird lebhaft, den Stoffkreis enger zu umgrenzen und zu beschranken, obwohl schon von vornherein die Prage nach „Wann" und „Warum", nach Gesetzen und Vorbedingungen der Entstehung, nach Zeitdauer und Alter und allen Höhlentheorien und Hypothesen, die damit zusammenhangen, beiseite gelassen wurden, um zu vereinfachen. Diese Sondererörterungen mögen der spekulativ-theoretischen Höhlenkunde und den strengeren wissenschaftlichen Darstellungen vorbehalten werden. Ich möchte vor allem praktisch und gegenstandlich, gleichsam stellvertretend für die Objekte eines der bedeutsamsten herausgreifen, das dazu noch den Vorzug aufweist, derzeit am leichtesten und bequemsten erreichbar zu sein: Es ist dies die Rieseneishöhle im Dachstein. 108 Wunder der Unterwelt Die Rieseneishöhle im Dachstein Zuf ahrtswege Von Nordwesten (Amsterdam, Köln, Frankfurt a. M., Nürnberg, München, durchlaufende Wagen, in 18 Stunden) führt die Reise über Rosenheim, vorbei an Prien mit dem Chiemsee und dem Schlosse Herrenchiemsee, dem bekanntesten der bayrischen Königsschlösser, die erbaut wurden, um den französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. an Prachtentfaltung zu überbieten. In 4Vj Stunden ist Salzburg erreicht. Die Salzkammergut-Lokalbahn, eben in der Umstellung für elektrischen Betrieb, durchquert das vielbesuchte Seengebiet, gleicb reich an lieblich anmutigen Sommerfrischen und Kurorten wie an wildpittoresken Gebirgsszenerien. Uralte Kulturstatten haben ihre Kontinuitat bis heute bewahrt. So reicht das idyllische Mond se e bis auf eine römische Niederlassung zurück (Tarantone), 784 wurde die Benektinerabtei gegründet, nach deren Aufhebung von 1789 in ein SchloB umgebaut, mit dem Napoleon dem bayrischen General Wrede belehnt hat. Aufragende Steilwande und sanfte, gewellte Vorberge des „österreichischen Rigi", des Schafberges, bespiegeln sich in drei Seen: im Mondsee, im Wolfgang- oder Abersee, im Atter- oder Kammersee, dem gröBten, mit 20 km Lange. Der bequemste Aufstieg beginnt von St. Wolfgang, wo auch die Schafbergbahn ihren Ausgang nimmt. Im Orte der Hochaltar des berühmtesten Malers und Holzschnitzers der Frühzeit, Michael Pacher aus Brunneck in Tirol, eine kunsthistorische Reliquie von europaischer Bedeutung. In St. Gil gen lenkt das Geburtshaus der Mutter Mo z arts pietatvolle Aufmerksamkeit auf sich. In weniger als einer Stunde ist bereits Ischl erreicht, als Bade- und Alpenkurort weithin bekannt, lange Jahre der Sommersitz des österreichischen Kaisers und Treffpunkt der vornehmen Welt des Kontinents. Auf der Bundesbahnstrecke Attnang-Puchheim—StainachIrdning wird in weniger als einer Stunde über Goisern und Gosaumühle Hallstatt erreicht, am gleichnamigen See bereits in vorhistorischer Zeit von den Pfahlbautenbewohnern keltischen Stammes besiedelt, die mit ihren Töpferwaren, Waffen, Werkzeugen und Zierstücken zwischen 1000 und 500 v. Chr. einen europaischen Export betrieben, der kaum seinesgleichen hat. Eine wichtige Kultur- 109 Wunder der Unterwelt periode erhielt nach Hallstatt den Namen als terminus technicus für die wissenschaftliche Welt. Am Ostufer des Sees liegt Obertraun, die Aufstiegsstation zur Rieseneishöhle. Landschaftsbllder von eigenem Reiz, einer sfldtirolischen Dolomitenfahrt vergleichbar, entrollt die Wanderung von der österreichischen Bundesbahnstation Golling im Salzachtal, mit der staatlichen Kraftwagenlinie nach Abt en au, die „Lammeröfen" passierend, enge Klammbildungen des Lammerbaches, bis zum PaB Gschütt Ober die drei in Farbe, Aussehen und Umgebung so verschiedenen Gosauseen nach Gosaumühle, wo der Dampfer mit Obertraun und Hallstatt in reizvoller Seefahrt die Verbindung herstellt. * Aus der Richtung Wien, vom Osten, fahrt die Hauptstrecke der Westbahn über Linz bis Attnang, wo die Verbindungsbahn (mit direktem Wagen) über Gmunden mit dem Traunsee und Ebensee nach Ischl und Obertraun weiterleitet. * Von der Gegenrichtung aus Süden und Sü do sten kommen die Züge über Aussee und Stainach-Irdning von der oberen Ennstallinie abzweigend. Zwischen Admont und Hieflau ragen zu Seiten der Bahn schroffe Bergwande himmelan, im Klammcharakter bald enger zusammentretend, bald wieder wechselnde Ausblicke eröffnend. Tief unten tosen und toben die schaumenden Fluten der Enns, die sich und uns in jahrhundertelangem Ansturm diesen DurchlaB erzwungen haben, das sehenswerte Gesause. Bleibtnoch die Anreise aus Süden und Südwesten: Aus der Schweiz über Buchs—Bregenz oder aus Italien über Mailand, Bozen nach Innsbruck mit der Gebirgsfahrt am Zeiler See vorüber nach Salzburg, oder vorher nach Osten bei Golling abzweigend, oder noch früher bei Bischofshófen die Hochgebirgskette der Tauern entlang ins obere Ennstal zur erwahnten Abzweigung vor Stainach-Irdning Geradewegs aus Süden kommend, mündet ziemlich genau in der Streckenmitte zwischen Zeil am See und Bischofshofen die Tauernbahn bei Schwarzach aus dem Gasteinertal mit den Orten Lend, Dorf-, Hof- und Wildbad-Gastein. 110 Wunder der Unterwelt Aufstieg und Rundgang Von der Bundesbahnstation Obertraun geleitet die DorfstraBe zwischen den schmalen Zeilen der Baulichkeiten, die sich dünn und ohne HinterhSuser in langer Erstreckung aneinander reihen, bis zum neuen Zeughaus der Feuerwehr. Dort weist eine neue Wegtafel nach rechts über das Eisenbahngeleise. Die Köhlerbrücke überquert den Miesenbach, der lieblich und bescheiden seine Moosufer befeuchtet, nach anhaltendem Regen aber auch bösartige Wildheit bekundet, das Gelande Qberschwemmt, und schon mehrmals die Brücke zerstört hat. In der Zeit der Entdeckung benützten wir für den Aufstieg einen dürftigen Jagersteig an den Ostwanden des Talkessels. Da er durch Steinschlag gefahrdet war, wurde er aufgelassen und der Zugang durch die Westwande geführt. Jetzt eröffnen zahlreiche Kehren und Wegschlingen malerische Rückschau auf das reizvoll wechselnde Talbecken, auf den See, auf Hallstatt, auf den Salzberg mit den winzigen. hochemporklimmenden HSuerhauschen. Daran schlieBen die Höhenzüge mit den Gipfeln: Hoher Saarstein, 1973 w, und Plassen 1953 *»; inmitten seiner Ischler Nachbarn lugt der Dachstein hervor. Als bequemer Promenadeweg mutet das letzte Wegstück an, nahe der Eishöhlenhütte; sie ermöglicht mit den neuen Zubauten Unterkunft für 45 Personen und Tagesverpflegung für 200. In den Almboden und seine nachste Umgebung münden gleich mehr als ein halbes Dutzend von Unterweltschlünden. AuBer der Rieseneishöhle öffnet sich knapp daneben der „Eiskeller", seitlich davon der „Backofen", besonders merkwürdig durch das Ausströmen warmer Luft und darum auch so benannt, nicht weit davon die „Mörkhöhle" (die kleine, nicht zu verwechseln mit dem groBen Dom in der Salzburger Eisriesenwelt des Tannengebirges), dann die „Dr. Morton-Höhle", das „Holzknechtloch", die „Kraulhöhle" und schlieBlich die „Mammuthöhle" mit den Doppeltoren, die es ermöglichen, den ganzen Berg durch wechselvolle Wanderung in Eis- und Steinwüsten unterirdisch zu durchqueren und auf der anderen Seite, auf der Angeralpe, wieder ans Tageslicht zu gelangen. Der neuangelegten Wasserleitung entlang - dreht sich der Pfad zum Eingang empor, 1453 m, von der Hütte kaum mehr als eine Viertelstunde Gehzeit, vom Talboden 2l/2 bis 3 Stunden. Gleich neben dem Eingang in die Sackhöhle, zur Linken den sogenannten „Eiskeller", weitet sich das machtige Felsentor in Trapezform. Aus gröBerer Entfernung gesehen, baumen sich die schragen til Wunder der Unterwelt Trapezseiten wie ungleich geraffte Vorhange in schwarzblauen Mustern, mit Tintenstrichen, Flecken und Streifen, hervorgerufen durch die filzigen Überzüge von Kieselalgen und einzelligen Tieren. Besonders vom gegenüberliegenden Felshang oder vom Eingang der „Mammuthöhle" gelangt die Naturdekoration zu tSuschender Wirkung. Um Reiz und Eindruck der Naturwunder durch Massenbesuch nicht zu beeintrachtigen, tut man gut, Gruppen zu bilden und getrennt einzufahren. In der ersten Enge verstarkt sich der Eiswind, der im Sommer standig aus dem Innern der Höhle hervorblast zu solcher Heftigkeit, daB ungeschützte Lichter zu erlöschen drohen. Nach anfanglicher Höhe von 2 m schwingt sich die Decke betrachtlich empor und überwölbt eine geraumige Halle, in die sich Eiszungen vorschieben, die bald zur geschlossenen Masse zusammenwachsen, den ganzen Boden spiegelblank überglasend. In einer Steilstufe von 25 m stürzt ein erstarrter Wasserfall nahezu senkrecht hinab, verliert sich im Dunkel. Jenseits des Schlundes baumt sich ein Gletscher in steilem Bogen empor, messerscharf taucht ein Eisgrat bis zur halben Höhe, blinzelt dazwischen im fahlen Licht wie eine Brücke für Seiltanzer, die sich aber lange nicht einfinden wollten, ihre kühne Kunst zu erproben. Durch diese beiden Hindernisse, Absturz und Gletscher, war der weiteren Erforschung lange ein Ziel gesetzt, bis endlich in den Juliund Septembertagen des Jahres 1910 die erste Bezwingung erfolgen konnte. Eine baumelnde Drahtseilleiter half bis zur Halfte den Abgrund hinab, rittlings wurde der Kamm überstemmt, mühsam eingeschlagene Eisstufen ermöglichten in langer, hartnackiger Arbeit den jenseitigen Aufstieg. Für das nachste Mal konnte schon die Drahtseilleiter gegen eine stabilere Holzleiter umgetauscht werden, noch dazu durch Drahtseil gesichert. Wasserfall und Eisgrat, ursprünglich die schwierigsten und gefahrlichsten Stellen, sind jetzt die bequemsten geworden. Der Höhlenführer Aigner, von dem die Durchführung der Wegbauten herstammt — nach Weisungen und Richtlinien von Ingenieur Bock —, hat in waghalsiger und mühevoller Arbeit, ausgehend vom letzten FuBpunkt vor dem Abgrund, starke Eisenkeile in die linke Felswand getrieben, vorgepaBte Trager und Stützen mit Mutterschrauben angefügt und darüber ein Laufbrett geschoben. Damit kam er schon einen Schritt weiter, trieb abermals Keile in die überhangende Wand, 112 Badgastein Wunder der Unterwelt schraubte wieder Trager daran, rückte das Brett weiter und schob sich so das Gewölbe entlang über den Abgrund zum jenseitigen Ufer, bis eine feste BrUckengalerie mit sicherem Gelander erbaut war. Doch bald nach der beschwerlichen Vollendung ware fast wieder eine bedrohliche Gefahrdung erfolgt. Die Sickerwasser der Decke tropften bestandig auf die Brücke, erstarrten und wuchsen im Laufe des Winters zu einem machtigen, meterhohen Eisbarren, der die Tragkraft der Stützen zu überlasten drohte. Da vollführte Aigner die Arbeit des Vorjahres ein zweites Mal, um 2 m höher, schuf neue Trager und Stützen, so daB jetzt die Galerie eingedeckt ist und der Besucher trockenen Hauptes unbehelligt verwetten und den schönen Niederblick in den Abgrund mit MuBe von oben genieBen kann. Auch der Rundgang im Innern wurde bedeutend erleichtert. Es bedarf jetzt natürlich keiner Steigeisen mehr. Betonierte Promenaden mit leichtem Sand bestreut, gewahren gemachliches Schreiten über ebene oder sanft geneigte Strecken, gelegentlich von breiten, niedrigen Stufen unterbrochen, die im wilden Gewirr der Blöcke auch asthetisch befriedigende Wirkung darstellen, wie eine Kyklopentreppe harmonisch in die Umgebung eingefügt. Massive Holzeinbauten wirken gleichfalls ohne Störung, im Gegensatze zu schlankem Eisengestange. GröBere Höhenunterschiede werden durch Eisenleitern, deren Trittflachen Holzverkleidung aufweisen, oder durch tief ins Eis gekerbte Stufen spielend überwunden; gleichfalls mit Sand bestreut. Diskrete schwarze Tafeln mit weiBen Inschriften benennen die Hauptraume und örtlichkeiten. So gelangt man mühelos in den Tristan-Dom, mit der gelb und roten Bemalung des eisenschüssigen Gesteins und erblickt nicht lange darauf im Lichtkegel der Scheinwerfer ein verkleinertes Nachbild des scharf umrissenen „Monte Cristallo". Dem „Cristallogletscher" entlang schlüpfen hochgewachsene Besucher mit eingezogenem Kopf durch den niederdrückenden, klosterartigen „Kreuzgang" mit den blauschwarzen Eisreflexen ..., schon weitet sich der „Parsival-Dom". Am jenseitigen Ausgang erhöht es den Reiz, wenn jede zweite Lampe ausgelöscht wird, um in der verminderten Helle mit doppelter Aufmerksamkeit, die Augen auf den Boden geheftet, hinabzusteigen, dann erst den zurückgelegten Weg emporzuleuchten und oben Blitzfeuer zu entbrennen. 113 Wunder der Unterwelt Unterschieden von den reizvollen Lichtspiegelungen in mittelmaBig groBen geschlossenen Raumen, erglSnzt jetzt von oben her aus der strahlenden Höhe des „Mont Salvatsch" — frei aufragend — die „Gralsburg" mit Zinnen und Ecktürmen und steilen Giebeln, mit zierlichen Torbogen und seltsam verbogenen Fenstern, von ungewöhnlichen Blumen bestanden, mit bizarren, verzerrten, ungesunden Formen. Wie von innenher leuchtend, dringt aus glashellen oder milchweiB schimmernden Wanden grellgelber Lichtschein, wahrend die weiten Wölbungen des „Parsival-Domes" mit lastenden Schatten in die Dunkelheit wachsen, drohend und ungeheuer. Wundervoll wechselt die Beleuchtung in künstlichen Farbentönen und entwirft Bilder von hinreiBender Pracht. Noch jedesmal wurden Rufe des Staunens und der Bewunderung laut und sammelten sich zu stürmischem Jubel. Man würde am liebsten lange hier stehen bleiben, wenn der Farbenglanz nicht alsbald verblaBte. Aber oft halt der eine oder der andere im Schreiten inne und spaht nach rückwarts, um zu sehen, wie zurückgelassene Kerzenreste heil und gleichmaBig erstrahlen oder schon im Verlöschen unruhig flackern und grüBende Lichtblitze über das Eis werfen Die gewaltige Höhle erstreckt sich noch weiter, den groBen und kleinen Eisberg entlang, vorüber an den Monumentalfiguren, „Löwe" und „Elephant", in die „kleine Eiskapelle" und zum Palast der „Kondwiramur" mit den „Orgelpfeifen". Ein Eistor, in schmaler Steitheit hoch emporgezogen, von drauend niederhangenden Eisdraperien zackig umzüngelt, entiaBt den Besucher in die eisfreien Teile der Höhle, wenn er sich nicht mit der kleinen „Normaltour" entlang des Führerweges begnügen will. Als wir einmal in wechselnder Folge die alten FluBiaufe „Plimisoel" und „Korsa" durchstreiften, geraumig Rundhallen und hochgewölbte Felstunnels betraten, geschah es plötzlich, daB von oben her, schrag über uns, schreckhafte Laute ertönten, die machtvoll von den Wanden widerhallten: Die Teilnehmer einer anderen Gruppe, die durch den zweiten Gang in die Höhlung gedrungen waren, hatten unsere Lichter wahrgenommen und zur BegrüBung das Freudengeheul angestimmt. Der Zug stürmte an uns vorüber und kletterte den linken Hang wieder hinauf über verstürztes Geröll. Melancholischer Zauber wob sich um dieses langsame Aufwartsschweben der Lichtlein, die schlangend hin- und herschwankten und knapp an der Wölbung des Domes in einer finsteren öffnung ver- 114 Wunder der Unterwelt schwanden. Ganz behutsam, eines nach dem anderen.... Man hofft, dort noch Fortsetzungen der Höhle zu finden, die vielleicht irgendwo wieder an den Tag münden. Auf- und abwarts senken und heben sich die unterirdischen Gange durch die „Gawan-Halle", den FluBtunnel „Jofians", die „Iwein-Halle" und das „Labyrlnth" bis der „König-Artus-Dom" wieder erreicht ist, wo bei langeren Expeditionen gewöhnlich groBe Rast gehalten wird, die für kurze Zeit alle Höhlenganger zu einem bunten Lagerleben zusammenführt Ffir die Rückkehr bleibt eine Oberraschung aufgesparrt, einzig in ihrer Art, ein Abstecher in die groBe „Eiskapelle" nahe dem Eingang, deren Besichtigung in jede Normalführung einbezogen wird. Vom schmalen Eisgrat zwischen Wasserfall und Gletscher führt ein weiterer Absturz hinab zu einer Grotte, mit mannigfaltigen Eisbildungen, die sich vielartig über die Decke verzweigen, zu qeuen Überdachungen ineinandergreifen, und wie Spitzenrüschen und glitzerndes Zierwerk zwischen den Felsspalten und Gewölberippen hervorquellen. Entfesselte Bewegung, Rhythmus und Schwung expressionistischer Graphik, die abenteuerlichste Formgebung bizarrster Malerei und Plastik scheint hier in Architektur umgesetzt Der „allermodernste" und zugleich alteste Baumeister hat die merkwürdigsten Gewölbekonstruktionen ineinander geschachtelt, komprimiert und geballt und ganz unwirklich und schauerlich kühn, gleichsam der Schwere entbunden, zum Schweben erlöst, ins Körperlich-Unkörperliche gesteigert. Aus dem Boden wachsen SSulen und Saulchen. Durch unermüdliche Wassertropfen, die von der Höhe herabtrflufeln, muten sie an wie Schalen und Becher oder wie schmale, gezackte, in ihrem oberen Teile ausgehöhlte Kelche fremdartiger Blumen einer verzauberten Welt. Man fühit sich versucht, die schlanken Gebilde der „Eiskapelle" für Leuchter anzusehen und brennende Kerzen in die glasigen Röhren zu stecken oder für FackeltrSger und Licht darauf zu stellen, indes andere abwechselnd alle verfügbaren Laternen und Scheinwerfer in ein und dieselbe Richtung wenden bis alle Wande aufleuchten und transparent erscheinen, wie Palaste aus edlem Gestein, die einen kühlgrünen oder blaBblaulichen Schimmer ausstrahlen, wenn sie aus glatten Spiegelflachen erbaut sind oder wieder vielartig glitzern und aufblitzen, wenn sie aus „Wabenéis" bestehen, das nach Art von Bienenwaben zusammengesetzt ist aus deutlich sichtbaren Kristall- 115 Wunder der Unterwelt zeilen, die von der Lichtflut spiegelnder Reflexe zauberhaft überrieselt, in vielen Nuancen des Spektrums erglanzen. Man lernt diesen Formenreichtum nicht aus, um so mehr, da er stets wechselnden Veranderungen unterliegt und zudem bei verschiedener Beleuchtung noch veranderter aussieht. Das ist jedesmal bei der Frühsommereröffnung der Höhle der auffallende Eindruck, daB das Eis gegen den letzten Spatherbst machtig gewachsen ist. Die beginnende Schneeschmelze auf den Hochflachen verstarkt die Wasserbewegung im Innern der Höhle und einsetzendes Tauen zersagt die Formen noch grotesker. Andere Oberraschungsmomente gesellen sich hinzu; es geschah einmal, daB in der „Eiskapelle" das „Wandeis" aufklaffte und eine über 10 m lange Spalte enthüllte, die wieder eine neue Halle mit prachtigem Eisgang betreten lieB. Solche Geschehnisse reizen die Phantasie, hinter jeder Wand neue Wunder zu wittern und zu erwarten. Daher mag es naheliegend erscheinen, was früher vielleicht Verwunderung erregt haben mochte, daB die Entdecker für diese Raume und örtlichkeiten so phantastische Kennworte gewahlt haben: Es geschah offenbar aus Bedürfnis, für den ungewöhnlichen Eindruck einen angemessenen Ausdruck zu finden; und da steilten sich die Namen des keltischen Sagenkreises um so zwangloser ein, da sie an sich schon reiche Stimmungswerte mitbringen. Hochbefriedigt grüBt jeder das Tageslicht wieder, das nach dem Einstieg in das Reich der Unterwelt doppelt freundlich und erwarmend übersonnt. Die benachbarte „Mammuthöhle" bedeutet noch eine Steigerung in der GroBartigkeit der einzelnen Raume sowie in der Gesamtausdehnung der Gangsysteme, die, in drei Stockwerken übereinander geschichtet, den Berg durchwühlen. Gegenwartig wurden bereits gegen 20.000 m Ganglange vermessen. Für den ungeübten Besucher bereitet die „Mammuthöhle" aber noch einige Schwierigkeiten und erhebliche Anstrengungen, bis die unterirdische Gleitbahn ausgebaut sein wird, wie geplant ist. In der unterirdischen Eisriesenwelt des Salzburgischen Tannengebirges sind nach dem Stande der letzten Entdeckungen schon über 25.000 m Ganglange vermessen. Die schönsten Eisteile bis zu „Thors Eispalast" erfuhren auch schon gefahrlose ErschlieBung. Die kühne und zugleich gut gangbare Anlage des Aufstieges gehört zu den aussichtsreichsten Höhenwegen der Alpen. Lage und Rundblick des Unterkunftshauses verdienen und belohnen an sich schon den 116 Wunder der Unterwelt Besuch, von den Höhlenwundern gar nicht zu reden, deren Schilderung hier leider nicht Platz finden kann (vergleiche Band III der österreichischen HöhlenfOhrer „Die Eisriesenwelt" von Karl SchoBleitner, Bundeshöhlenkommission, österreichische Staatsdruckerei). Gleichfalls durch ansehnliche Ausdehnung, durch Bekanntheit von altersher und durch geheimnisvollen Zauber mannigfaltiger Schatzsagen bemerkenswert, erscheint auch die „ötscherhöhle" bei MariaZell in Niederösterreich. Doch müssen erst Vermessungsarbeiten, Weganlagen zum Eingang und ErschlieBung der Innenraume durchgeführt werden. Bei den Dachsteinhöhlen lassen sich mit gröBter Deutlichkeit bereits die drei typischen Phasen der Entwicklung einer Schauhöhle wahrnehmen: Nach den Tagen der ersten Entdeckungen mit den hartnackigen Kampfen um das Weitervordringen in das Reich der Unterwelt, woran sich zuerst nur wenige erprobte Höhlenforscher und bisweilen wagemutige Amateure beteiligen konnten, geschah in der zweiten Stufe der Entwicklung die Konzentration der Bemühungen auf besondere Teile und Abschnitte, um sie auch der gröBeren Allgemeinheit zuganglich zu machen. So erfolgte vor allem die ErschlieBung der Rieseneishöhle bei Obertraun. Symptomatisch für die dritte Phase erscheint die internationale Einschatzung als europaische oder „Weltsehenswürdigkeit" im Verein mit mehr oder minder groBzügigen Planen der Auswertung und Industrialisierung für den Fremdenverkehr. (Erfreulicherweise blieb die wissenschaftliche Eroberung nicht dagegen zurück.) In diesem Sinne ist auch die denkwürdige Begehung zu werten, die über Initiative des Bundesministeriums für Verkehrswesen gemeinsam mit der Bundeshöhlenkommission des Landwirtschaftsministeriums stattgefunden hat und mit dem Minister die hervorragendsten Spezialreferenten und Staatsfunktionare zu einer Kommission vereinigte. Desgleichen nahmen daran teil: Colonel Mr. Ceusey, der in Kohlenfragen, in Elektrifizierung der Bahnen, Ausnützung der Wasserkrafte etc. als bedeutendei Fachmann gilt, weiter Colonel H. C. Scott der englischen Mission und Mr. C. G. Cloever der amerikanischen Mission, der unter anderem auch den letzten Boxeraufstand sowie den Krieg mit den Philippinen mitgemacht hat und mit allen Sensationen der letzten Geschehnisse in den fünf Weltteilen vertraut ist. 117 Wunder der Unterwelt Unverhohlen gaben diese weitgereisten Besucher der Oberzeugung Ausdruck, eine Sehenswürdigkeit vor sich zu haben, der wenig Ebenbürtiges zur Seite zu stellen ist In diesem Zusammenhange muB noch ein anderer Gesellschaftsausflug erwahnt werden: AnschlieBend an die Tagungen der internationalen Frauenliga in Salzburg, die unter Vorsitz der amerikanischen Prasidentin MiB Jane Addams von dreihundert Vertreter inn en aus Indien, China und Japan, um nur die entferntesten Lander zu nennen, beschickt waren, meideten sich unter meiner Führung gegen dreifiig Teilnehmer für den Besuch der Dachsteinhöhlen. Die gröBte Zahl steilte England, des weiteren Amerika, Danemark, Deutschland, die Tsehecho-Slovakei usw. Die gangbare Vorstellung, das Gebirge als Urbild des Massigen, Massiven, als Grundfeste der Erde aufzufassen, gerat fast ins Wanken, wenn man immer deutlicher gewahr wird, sozusagen poröse Gebilde vor sich zu haben, geklüftet, zerwühlt und durchfurcht von Abgründen, Schlotten und labyrintisch verflochtenen Gangen, wie Maulwurfbauten gigantischer AusmaBe, mit Stollen und Tunnels, in denen ohne Gedrange mehrere Eisenbahnzüge nebeneinander Platz tanden. Wer hatte vermuten können, daB im Herzen von Mitteleuropa noch ansehnliche Gebiete von kilometerlanger Erstreckung bis auf unsere Tage unerforscht geblieben sind, daB heute noch geographisches Neuland zuwachsen könnte? Die aufsehenerregenden Entdeckungen in den österreichischen Alpeniandern haben diese überraschende Tatsache erhartet. Nach EinbuBe und Verarmung der Oberwelt eröffnet sich ungeahnter Reichtum aus unterweltlichen Bereichen. Moderne Schatzgraber Ihre volks- und weltwirtschaftliche Auswirkung Das Schatzgrabersuchen hat neue Bedeutung und neuen Aufschwung gewonnen. Das arme österreich, verkrüppelt und siech am Boden liegend, erhait plötzlich aus dem Boden und für den Boden des Ackerlandes und der Wiesen ein wunderwirkendes Arzneimittel und versucht ermutigt einen Bliek ins gelobte Land der Gesundung. Wie soll das geschehen? Durch den Höhlendünger. Durch die Höhlenphosphate. Durch Phosphors3ure, aus Höhlen gewonnen, eines der wichtigsten Aufbaustoffe für das vegetabilische Leben. 118 Wunder der Unterwelt Auch Ackerschollen, Wiesengründe und Gartenbeete sind der Unteremfthrung anheimgefallen. Wie die Menschen von heute. Schon 1917 war es gelungen, sechs Höhlen mit Vorkommen von Phosphaten festzustellen. Drei davon sind im österreichischen Bundesland Steiermark gelegen, wahrend die übrigen (in Mahren, Galizien und im KOstenland) an das Ausland verloren gingen. Man hat aber die heimischen Forschungen unermüdlich weitergeführt, so daB jetzt bereits über 30 Höhlen Berichte vorliegen. In 17 Höhlen wurden phosphathaitige Schichten nachgewiesen. Der geringste Ertrag beiauft sich auf 03% reine Phosphorsaure und steigt bis auf 17 2%, wahrend der Durchschnitt 6 8 und 15% aufweist. Besonders günstig liegt die Lettenmayer-Höhle bei Kremsmünster, in unmittelbarer Nahe des altberühmten Chorherrenstiftes an der Donau. Die steirischen Düngerhöhlen: die Peggauer Felsenhöhlen III bis VI, die Badl-Höhle, gleichfalls bei Peggau, und die Drachenhöhle bei Mixnitz setzten dem Abbau Schwierigkeiten entgegen, da Förderanlagen mit Drahtseilbahnen notwendig waren. Den Rekord halt bis jetzt die vorerwahnte Drachenhöhle, aus der allein 1300 Waggon Höhlendünger gefördert wurden mit über 2,000.000 kg reiner Phosphorsaure. Der Mehrertrag an Getreide betrug durch diese Düngung errechneten Gewinn von acht Milliarden. Die Höhlenevidenz in den österreichischen Bundeslandern überschreitet schon die Zahl von 500. 217 Höhlen wurden bereits genauer erforscht, im Salzburgischen allein über 50, wo bisher 271 festgestellt werden konnten. Ein GroBteil des Verdienstes gebührt der freiwilligen Arbeit des Vereines für Höhlenkunde in Salzburg gemeinsam mit der staatlichen Bundeshöhlenkommission in Wien. Höhlenphosphate wurden auch im Untersberg nachgewiesen, seit es gelungen war, in der unterirdischen Fortsetzung der Gamslöcher, und zwar in „Kaiser Karls Thronsaal" einen „Barenhorst" mit prahistorischen Knochenlagern aufzuspüren, die betrachtliches Aufsehen erregt haben. Erste Fachspezialisten aus München und Wien (Professor Doktor Schlosser, Professor Dr. Kyrie), aber auch der Direktor des Pariser „Institut palaeontologique humain" hatten sich dazu eingefunden. Das eiszeitliche Vorkommen des Höhlenbaren Ursus spelaeus wurde damit für Salzburg erstmalig festgestellt Der Untersberg, das Wahrzeichen der Stadt Salzburg, schon durch den Augeneindruck das Landschaftsbild beherrschend, nimmt aber auch in Geschichte und Sage eine besondere Stellung ein. t!9 Wunder der Unterwelt Haufig wird Salzburg als Heimat vieler Alpensagen angesprochen, der Untersberg geradezu als Olymp der Deutschen bezeichnet „Mannigfaltig sind die Gebilde der dichtenden Volksseele, die ihm schon seit den frühesten Zeiten den Namen des Wunderberges eingebracht haben. Da ging die Rede um von ,Karl dem GroBen' und dem .Birnbaum auf dem Walserfeld, wo Weltgerichtstag gehalten wird' (vergleiche das Gedicht von Chamisso), von .Kaiser Barbarossa', oder vom .Kaiser' schlechthin, der in .Walhöl' thront und niemand anderer war als .König Wotan' oder .Wute', der Herrscher von Walhalla. Da galt es für ausgemacht: Nirgendwo anders als im Untersberg ist der Eingang in die Unterwelt mit den zwölf Toren in das Reich der Geister. ..."*) Was nicht wundernehmen kann, wenn man bedenkt, daB im Untersberg bereits dreimal zwölf Höhleneingange erforscht wurden. Wie die Sagen — gegen hundert — beweisen, reicht ahnungsvolle, ungewisse Kunde seiner Wunder in graue Vorzeit zurück. Unerschöpfliche Schatze sollen in seinem Innern verborgen sein. Die „Venedigermannlein" und die Zwerge, nach ihm „Untersberger" genannt, sind Hüter und Verwahrer. Die höhlenkundlichen Forschungen haben auch hier in dunkle, unklare Vorstellungen hineingeleuchtet. Zuerst wurden Schatze wissenschaftlicher Art zutage gefördert, wichtige Ergebnisse aus der Geologie und Erdgeschichte, Zoölogie und Botanik, Karsthydrographie und Meteorologie, um nur einiges zu nennen. Damit Hand in Hand geht die Wiederaufnahme der altesten unterweltlichen Betatigung, die schon in vorhistorischer Zeit — damals freilich vorwiegend als Tagbau eingesetzt hat: der Bergbau. Aluminiumvorkommen wurden festgestellt Der alte Stollen in Böckstein an der Tauernbahn (im Gasteinertal) mit goldführenden Erzen, ebenso die Goldfelder in den Hohen Tauern werden wieder neu ausgebeutet. Nach dem Schweizer Ingenieur Imhof der Goldbergbaugesellschaft Rathausberg bei Böckstein sind die gröBten Edelerzvorkommen Europas in den Hohen Tauern zu suchen. Er berechnet den Goldvorrat mit 167.400%. Dazu kommen in den Niederen Tauern und den übrigen Alpengebieten 80.000 kg Gold. Höhlenkundlich verankert sind auch die Forschungen über Entstehea und Herkunft der Heil- und Thermalquellen, die Wunder zu wirken vermögen. Man braucht nur an Gastein zu denken. Aber •) Zitat aus „Der Geistermusikant von Untersberg" („The ghost of musican" in der englischen Obersetzung) von Karl SchoBleitner. 120 Aus der"",,Österreichischen Kunsttopographie" St. Gilgen am Wolfgangsee Wunder der Unterwelt auch in unmittelbarer N3he der Stadt Salzburg erzieiten die neuesten Untersuchungen wertvolle Ergebnisse: Nach den Ausführungen Dr. Rollets sind die Moorwasser von Ludwigsbad, Marien bad und KreutzbrOckl der Heilwirkung nach mit Bad Elster, Franzensbad und anderen auslandischen Badern vergleichbar. So wird trotz Schwierigkeiten und Hemmungen nach vielen Richtungen zu arbeiten versucht Insbesondere der Mangel an Brotfrucht hat die Bemühungen um die Hebung des Ackerbaues und der Landwirtschaft angespornt, wodurch auch die Höhlendüngergewinnung zu groBer Bedeutung gelangt ist. Ihr verdienstvoller Vorkampfer in österreich, Hofrat Dr. Rudolf Willner, konnte der Erwartung Ausdruck geben, daB für das laufende Jahr der Bedarf der österreichischen Landwirtschaft an Höhlenphosphaten wird gedeckt werden können, da alle Vorkehrungen getroffen sind, die Höhlen ebenso wie der Wissenschaft auch der Volkswirtschaft dienstbar zu machen. Soweit heute schon ein Überblick darüber möglich ist, können daraus Auswirkungen für die Weltwirtschaft erwachsen, sobald die Staaten der Nahe und Ferne von wertvollen Forschungsergebnissen Kenntnis erlangen und im eigenen Bereiche diese Höhlenauswertung in Angriff nehmen, so daB die Höhlenforscher aller Kulturlander dazu beitragen können, das Weltdefizit an Pflanzennahrstoffen zu verringern und dem ausgehungerten Boden eine Erholungskur zu efmöglichen, die wieder erhöhte Ernteertrage, reichere Futtermittel (gesteigerte Milchproduktion) und mit ihren Folgeerscheinungen allgemeine Besserung der Lebensverhaltnisse verspricht. Als Forschungsinstitut für die höhlenkundlichen Sonderdisziplinen, als Sammelstelle und dauernde Ausstellung, worin die mannigfaltigen Wunder der Unterwelt bequem und anregend zur Darbietung gelangen, wird die Errichtung eines österreichischen Höhlenmuseums vorbereitet. Es ware das erste in Europa. Dokumente der Unterwelt Die Ergebnisse rastloser, mehr als zwölfjahriger Forschungsarbeit, an der viele Mithelfer verdienstvoll teilgenommen haben, tanden in einer Reihe von Höhlenplanen imponierenden Ausdruck als Dokumente endgültiger Eroberung durch den Menschen. Das bloB körperliche Vordringen in das Reich der Unterwelt erfordert vorwiegend sportlich touristische Höchstleistungen. Dagegen bekunden die genauen Vermessungen, Berechnungen und karto- 121 Wunder der Unterwelt graphischen Aufnahmen unter derart erschwerenden Umstanden schrittweises Bewaltigen und Besitzergreifen durch geistige Krafte. Ebenso wie die Höhlen der österreichischen Alpenlander als Schaustücke und Naturobjekte eine europaische Sehenswürdigkeit bedeuten, gebührt auch ihrer planimetrischen Darstellung und markscheiderischen Widergabe höchste Wertschatzung als wissenschaftlich publizistisches Unikum, zugleich befahigt zu wirtschaftlicher und popularer Wirkung. Selbst aus den klassischen Höhlengebieten in Frankreich, Spanien oder Belgien liegen keine derartigen Höhlenplane vor, die an raethodischer Exaktheit oder auch nur annahernd so gewaltiger Dimensionierung ebenbürtig dieser Standardleistung zur Seite gestellt werden könnten. Die Bundeshöhlenkommission hat jetzt eine Serie von HöhlenMonographien als Führer herauszugeben begonnen, worin sich Text, Plan und Bild zu einer nicht haufig erreichten Einheit erganzen. Für den ersten Band über die Dachsteineishöhle zeichnet Dr. Saar als Verfasser, desgleichen für den zweiten Band über die DachsteinMammuthöhle; für den driften Band, „Die Eisriesenwelt" im Salzburgischen Tannengebirge, Karl SchoBleitner. Die Vermessungen und Planzeichnungen für GrundriB, AufriB und 26 Querprofile stammen von den beiden Salzburger Ingenieuren Walter Freiherr von Czoernig und Robert Oedl. Der Plan des Drachenloches im Röthelstein bei Mixnitz in Steiermark (gleichfalls GrundriB, AufriB und 26 Querprofile), aufgenommen von Dr. Karl Wolf und Ingenieur L. TeiBl, leitet von den Schauhöhlen zu den sogenannten Düngerhöhlen über. Zu den Forschungsexpeditionen gesellten sich zahlreiche photographische, die es ermöglichten, schöne Seriën von Lichtbildaufnahmen zu erzielen, die in Vierfarbendrucken zur Reproduktion gelangt sind. Dadurch werden auch jene, die nicht Gelegenheit haben, diese Naturphanomene unmittelbar auf sich wirken zu lassen, mit eigenen Augen von ihrer GroBartigkeit und gewaltigen Ausdehnung sich zu überzeugen, mühehos in die Lage versetzt, auf Beweisdokumente gestützt, deutliche Vorstellung zu gewinnen, das Weltbild auch in diesem Sinne erganzend zu erweitern. «8> 122 Die Naturschutzbewegung GQnther Schlesinger pver Naturschutz, eine der jüngsten, groBen Kulturbewegungen, *-J ist auffallenderweise nicht als Kind der ihm verwandten Heimatschutzbewegung entstanden, sondern hat seinen Ausgang von der wissenschaftlichen Seite, der Naturdenkmalpf 1 ege, her genommen. Er ist so recht eine deutsche Tat. Man hat das abgelaufene Jahrhundert das naturwissenschaftliche genannt, und das mit Recht. Es hat uns enorme wissenschaftliche Fortschritte rund um den Entwicklungsgedanken gebracht, es hat ferner unsere Zivilisation mit Hilfe der Technik, der angewandten Naturwissenschaft, zu einem HöchstmaB von Naturbeherrschung geführt. Über dem siegreichen Vormarsch aber vergaBen wir, daB wir uns selbst Schritt für Schritt die Basis unseres Schaffens entziehen, daB wir mit jeder neuen Errungenschaft unser groBes Krüftereservoir, die Natur selbst, èrschöpfen. Darin liegt eine gewisse Tragik des neunzehnten Jahrhunderts. Es ist für uns Deutsche ein erhebendes BewuBtsein, daB in unserem Volkskreise zuerst dieBesinnung wach geworden und dieser die Tat gefolgt ist. DaB der Naturschutz den Weg von der Wissenschaft, vom Intellektuellen, her genommen hat, ist bei der allgemeinen intellektualistischen Einstellung des neunzehnten Jahrhunderts nicht verwunderlich. Zum erstenmal blitzte das Wort Naturdenkmal 1819 bei A. von Humboldt, spater 1874 bei Schweinfurth, auf. Beide gebrauchten den Begriff, ahnlich seinem heutigen Umfang, waren sich aber sicherlich seiner kulturellen Bedeutung nicht bewuBt. Erst H. Conwentz, der groBzügige Organisator der Naturdenkmalpflege in Deutschland, hatte ihn zu neuem, kraftvollem Leben 123 Die Naturechutzbewegung erweckt. Ausgehend von dem Einzelfalle des RQckganges der Eibe in Deutschland war er dem Schicksal anderer seltener Pflanzen und Tiere nachgegangen und hatte erkannt, daB weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus die Natur unter dem Einflusse des zivilisatorischen und kulturellen Fortschrittes gefahrdrohende EinbuBe leidet. Conwentz fand den Schritt vom Gedanken zur Tat Er machte dem Chef der Staatsforstverwaltung, dann dem der Unterrichtsverwaltung eindringliche Vorstellungen, Qberreichte Denkschriften und brachte es, unterstützt durch einen gleichzeitigen, unabhangigen VorstoB des Abgeordneten Wetekamp, im preuBischen Landtage dahin, daB eine „Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege" (erst in Danzig, dann in Berlin) ins Leben gerufen wurde. Sie entwickelte sich unter Conwentz' FOhrung bald zum Motor der ganzen Naturschutzbewegung, nicht nur in Deutschland, sondern im gröBten Teil Europas. Es ist ein erfreuliches Zeichen für den Weitblick jener Manner, die im Naturschutz eine führende Rolle inne haben, daB sie die Unabanderlichkeit der Tatsache des Konfliktes zwischen zivilisatorischem Aufwarts und Erschöpfung der Natur erkannt haben und die Lösung nicht in einer Hemmung der kulturellen Entfaltung, sondern im Ausgleich zwischen dieser und der Erhaltung der Natur unserer Heimat, als der starken Wurzel unserer Kraft, suchen. Dies gibt sich schon in der Begriffsumgrenzung des Naturschutzes zu erkennen. Sie kennzeichnet ihn alsBewegung, die die Natur, soweit sie ursprünglich oder nahezu ursprünglich erhalten ist, zu bewahren sucht, insoferne dies mit den Interessen der kulturellen Fortentwicklung des Volkes in Einklang steht. Der Schutz kann entweder seltene, wissenschaftlich wertvolle Objekte, sogenannte Naturdenkmale, oder hervorragende Landschaften, beziehungsweise Naturschönheiten betreffen: Wir sprechen demgemaB von wissenschaftlichem Naturschutz oder Naturdenkmalpf lege und asthetischem Naturschutz oder Landschaftspflege. Dabei möchte ich betonen, daB die Grenzen keineswegs so scharf sind. Bei jeder Art von Naturschutz sind starke Gemütswerte mit im Spiele und der tief innerliche Zug nach seelischem Sichselbstfinden ist für seine beiden Erscheinungsformen die eigentliche treibende Kraft. Am besten zeigt sich dies in dem Bestreben aller am Naturschutz 124 Die Naturschutzbewegung interessierten Kreise, GroBbanngebiete oder Naturschutzparke zu schaffen. Naturdenkmale können entweder dem Boden (Höhlen, Klammen, Karren- und Tropfsteinbildungen, Gletschertöpfe, Endmoranenwaile der Eiszeit, besondere geologische Aufschlfisse oder Zeugenberge und ahnliches mehr), der Pflanzenwelt (seltene Pflanzenarten oder besondere Wuchsformen und machtige Baumindividuen), der Tierwelt (verschwindende Arten überhaupt oder geographische Seltenheit) angehören oder ganze Lebensgemeinschaften darstellen. Solche Naturdenkmale umfassen bedeutsame Landschaften meist von besonderer Bodenbeschaffenheit und einer reichen, möglichst ursprünglichen Pflanzen- und Tierwelt (Moore, Auen, Urwalder, Steppen.usw.). Ganz anderer Art sind die Objekte, deren sich der asthetische Naturschutz annimmt. Für ihn ist nicht bloB die ursprüngliche, natürlich gewordene, sondern auch die vom Menschen beeinfluBte Landschaft Gegenstand des Schutzes. Er ist ebenso auf die Erhaltung alter Alleen, Parke, auf die Beeinflussung von FluBbegradigungen und Wasserkraftanlagen, auf die Form der HöhlenerschlieBung, die Hintanhaltung von Verunstaltungen jeder Art bedacht, wie auf die Bewahrung des urigen Waldes, der schönen Klammen, Wasserfalle, Seen und dergleichen. Als Anwalt der vom Menschen beeinfluBten Landschaft hat er die nachsten Beziehungen zum Heimatschutz. Ich habe versucht, in Kürze darzustellen, wie der Naturschutz entstanden und zu welcher Art Kulturgut er geworden ist. DaB er notwendig und dringlich ist, beweist wohl am besten die Tatsache, daB er heute bereits zu einer machtigen Volksbewegung geworden ist. Es würde den Rahmen dieser Zeilen übersteigen, wollte ich noch im besonderen zeigen, welche Gefahren seitens des einzelnen, der Schule, des Handels, der Jagd, Fischerei, Industrie, des Fremdenverkehrs, der Touristik und vieler anderer Zweige menschlicher Betatigung der Natur drohen. Nach dieser allgemeinen Einführung wollen wir uns vor Augen rücken, was im Naturschutz in österreich bisher geleistet worden ist. Die ersten Versuche, dem Naturschutz helfend beizuspringen, hat der Staat getan. Er war es, der 1903, auf eine Anregung von PreuBen hin, Fakultatsgutachten der Universitaten über den Gegenstand einforderte und im AnschluB daran eine Aufnahme des Bestandes an Naturdenkmale™ (Inventarisierung) versuchte. Der Weg, den das Unterrichtsministerium wahlte (Landesregierung und Gendarmerieposten), war ja vielleicht nicht der glücklichste. Immerhin kam eine 125 Die Naturschutzbewegung ansehnliche Reihe von Nummern dieses Naturdenkmalinventares zustande. Es war für die spater begründete Fachstelle für Naturschutz eine brauchbare Grundlage. Zwei Jahre darauf (1905) versuchte Gustav Nowak, ein deutschböhmischer Abgeordneter, ein Gesetz betreffend Denkmalpflege und Naturschutz im Reichsrate zur Annahme zu bringen. Doch scheiterte sein Bemühen an der trostlosen politischen Lage Alt-österreichs. Die folgenden Jahre brachten der Naturschutzbewegung keinerlei Förderung. Erst die Begründung des österreichischen Vereines Naturschutzpark (1912) führte zu einem neuerlichen Aufflackern, allerdings bloB in der durch den Namen des Vereines gegebenen Richtung. Entscheidend wurde dagegen das weitere Schicksal des Naturschutzes durch einen Vortrag beeinfluBt, den H. Conwentz (1912) in Wien hielt. Die unmittelbare Folge war die im selben Jahre erfolgte Begründung einer Naturschutzkommission seitens der Zoologisch-botanischen Gesellschaft. Sie sollte die Interessen insolange wahrnehmen, als keine amtsmaBig tatige Stelle in österreich bestehe. Ein weiterer Erfolg des Vortrages war die Schaffung eines publizistischen Organes seitens des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich im Jahre 1913. Es erschien unter dem Titel „Blatter für Naturkunde und Naturschutz", zunSchst mit der Bèschrünkung auf Niederösterreich, dehnte aber spater seine EinfluBsphare auf ganz Deutschösterreich aus. Schon an dieser SchOpfung hatte der österreichische Heimatschutzverband ideellen Anteil genommen. Der Schutz der heimatlichen Landschaft war hier zur Triebkraft geworden, die dem Heimatschutz die Schwesterbewegung nahebrachte. Den Bemühungen des Verbandes und seiner führenden Personen ist es auch gelungen, 1917 die Mittel für die Schaffung einer dauernden, amtsmaBig tatigen Naturschutzstelle seitens des Österreichischen Ackerbauministeriums flüssig zu machen und den Verfasser dieser Zeilen für die Leitung zu gewinnen. Die Begründung der zentralen „Fachstelle für Naturschutz in österreich" mit 1. Mai 1917 ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Naturschutzes in österreich. Erst wurde die Stelle selbst durch Schaffung eines wissenschaflichen Fachbeirates innerlich gefestigt. Ihm gehOren namhafte Gelehrte Wiens und Praktiker aus den Fachgebieten des Heimatschutzes, der Jagd wie der Land- und Forstwirtschaft sowie ein Rechtsbeistand an. Zugleich mit den ersten positiven Arbeiten für 126 Die Naturschutzbewegung den Naturschutz wurde die Organisierung von Landesfachstellen in Angriff genommen und vorerst eine solche ffir Niederösterreich in Wien mit den Kratten der zentralen Fachstelle ins Leben gerufen. Nach ihrem Muster gelang es nach und nach in fast allen Landeshauptstadten derartige Kraftzentren zu schaffen. BloB das erst jung zur Republik gekommene Burgenland steht noch aus. In allen Landern steht ein Fachwissenschafter als Leiter an der Spitze der Landesfachstelle, ihm zur Seite ist, wie in Wien, ein Fachbeirat berufen, der sich im wesentlichen aus der naturwissenschaftlichen Hauptkörperschaft des betreffenden Landes erganzt. Den Kanzleiapparat stellt der Landesheimatschutzverein bei. Durch diese Organisationsform war es möglich, den HaupteinfluB an einer Sache, die vornehmlich das Land angeht, diesem vorzubehalten, den landsmannschaftlichen Strömungen innerhalb des Bundes entgegenzukommen und die Krafte im Lande wirksamer an die Sache zu ketten. Die einzelnen Landesfachstellen ernennen nach dem Plane der Wiener Stelle Fachberichterstatter in ihrem Wirkungsbereiche aus den verschiedensten Berufskreisen (vornehmlich Lehrer, Geistliche, Förster und andere) und sind daran, ein engmaschiges Netz von solchen Vertrauensmannern fiber ganz österreich zu legen. Die ganze freiwillige Mitarbeiterschaft verbindet die schon frfiher genannte Zeitschrift „Blatter ffir Naturkunde und Naturschutz", die zugleich offizielles Organ der „Fachstelle ffir Naturschutz" ist und unter der Schriftleitung des Ffihrers der Bewegung in österreich steht. Man sieht, es ist zielbewuBte Arbeit, die hier seit 1917 geleistet werden konnte. Ffir die allernachste Zeit steht ein weiterer Schritt — gewissermaBen ein vorlaufiger SchluBtakt — bevor. Mit dem Obergang der Agende des Heimatschutzes an das Unterrichtsministerium, beziehungsweise an das Bundesdenkmalamt, werden innerhalb dessen drei selbstandige Referate, Denkmalpflege, Heimatschutz und Naturschutz errichtet werden. Das letztgenannte wird der Leitung der gesamtösterreichischen Fachstelle vorbehalten sein, wahrend die Landesstellenleiter als Konsulenten ffir Naturschutz dem zustündigen Landeskonservatorate angegliedert sein sollen. Damit wird der vereinsmaBigen, im Volke wirkenden Organisation in ihren Leitern ein behördlicher Hintergrund gegeben, der von groBem sachlichen Werte sein wird. In den beiden letzten Jahren hat die Naturschutzarbeit in Österreich eine bedeutende Förderung durch die „Bundestagungen ffir Heimatschutz und Naturschutz" erfahren, die unter persönlicher 127 Die Naturschutzbewegung Teilnahme des Bundesprasidenten und der zustandigen Ressortminister in Wien (1921) und Murau (1922) stattgefunden haben. In ihrem Rahmen hatten die Leiter der Landesfachstellen Gelegenheit, sich in besonderen Arbeitstagungen über die Wirkungsmöglichkeit im Sinne des Naturschutzes eingehend auszusprechen. In Murau wurde auBerdem das Problem der Wasserkraf tnutzung unter Teilnahme der Heimatschutzkreise sorgfaltig erörtert und der Bundesregierung die Forderung nach Ausnahme der wenigen ganz hervorragenden Wasserfaile und Taler unserer Alpen und nach einer en gen Zusammenarbeit mit den Heimatschutz- und Naturschutzstellen überreicht. Wir haben bisher die Entwicklung des Naturschutzgedankens und die Organisierung der Naturschutzarbeit in Österreich verfolgt. Es erübrigt noch zusammenfassend darzustellen, was an Erfolgen bisher erreicht wurde. Eine derartige Erörterung wird zweifellos in einer Richtung mangelhaft sein. Was durch die Tatigkeit der Fachstelle an Hebung des allgemeinen NaturschutzbewuBtseins in der Bevölkerung erreicht wurde, entzieht sich der unmittelbaren Feststellung. Und gerade diese Aufxüttelung ist auBerordentlich wichtig. Sie wird klar aus zahllosen Einzelerscheinungen. Fast kein touristisches, jagdliches und popular-naturkundliches Blatt unterlaBt es heute mehr, immer wieder auf den Naturschutz hinzuweisen. Die Lehrerschaft aller Schulen rückt ihn in den Vordergrund. Eine der sprechendsten Tatsachen ist die 1922 erfolgte Begründung eines „Landesverbandes zum Schutze der heimatlichen Naturschatze", der neben uns Naturschützern alle Jagd-, Touristen- und Fischereivereine und -verbande, zudem aber auch alle mit diesen zusammenhangenden Organisationen für Hundezucht, Schützenwesen und das betroffene Gewerbe und den Handel umfaBt. Sie alle haben sich bereit erklart, hinter den Naturschutz zu treten. Ja, ein Wiener Tagesblatt, die „Volks-Zeitung", hat sogar wöchentlich eine halbe Seite unter dem Titel „Naturschutz" den Verban dszwecken zur Verfügung gestellt. Für das Prasidium dieses Verbandes wurde einhellig Schreiber dieser Zeilen als Führer der Naturschutzbewegung in österreich ausersehen. Das sind Erscheinungen, die jedenfalls zu denken geben und zeigen, wie tief die Arbeit der Naturschutzstelle ins österreichische Volk gedrungen ist. Doch auch die Zahl der unmittelbaren Erfolge ist nicht gering. Den maBigsten Fortschritt hat die Naturschutzgesetzgebung zu verzeichnen. Jagd- und Vogelschutzgesetz sind die gleichen geblieben und nach wie vor zwar bei gutem Willen in 128 Stubachtal: Enzingerboden Die Naturschutzbewegung unserem Sinne brauchbar, doch in keiner Hinsicht modernen Auffassungen des Naturschutzes entsprechend. Auch das bekannte Gesetz zum Schutze gewisser Alpenpflanzen, wie Aurikel, Kohlröserl, verschiedener anderer Orchideen, Steinröserl und andere mehr ist dadurch kaum wirksam, daB es nur das Ausgraben verbietet. Seit 1918 ist die Fachstelle bemüht, diesen Zustand wenigstens für Wien durch Umanderung der Marktverordnung zusammen mit einem Gesetze günstiger zu gestalten. Es sollen nach der Eingabe grundsatzlich der Handel mit allen wildwachsenden Pflanzen, die nicht in einer Liste der haufigen Arten bekanntgemacht sind, verboten werden. Nur dadurch könnte der Verödung der Wiener Umgebung hinsichtlich seiner Flora wirksam entgegengearbeitet werden. Es besteht Hoffnung, daB diese Verordnung in absehbarer Zeit in Kraft tritt. Der Rückgang der Frühlingsblumen hat ja schon frtiher einzelne Bezirkshauptmannschaften (Hietzing, Baden) zu Schutzverordnungen veranlaBt. Baden hat diese 1922 erneuert und erweitert. Besonders scharf istMödling gegen den Blumenfrevel aufgetreten und hat empfindliche Geldstrafen bis zu 100.000 K eingehoben. Leider sind alle diese Falie nahezu vereinzelt. Viel geholfen ware durch ein Naturschutzgesetz entweder des Bundes oder der Land er. Ausgearbeitet sind beide. In letzter Zeit sind sogar Anzeichen vorhanden, daB eines unserer Bundeslander damit ernst macht. Ein reiner Erfolg der Fachstellenarbeit sind einige Verordnungen, die seitens der meisten Landesschulrate zum Schutze der Amphibien und Reptilien und im Naturschutzinteresse überhaupt erlassen wurden. Besonders hat sich der niederösterreichische Landesschulrat durch einen im Einvernehmen mit der Fachstelle ausgearbeiteten ErlaB über die Pflege des Naturschutzes in den Schulen (und zwar im Unterrichte und auBerhalb) hervorgetan. Die Schule ist natürlich die Zukunft des Naturschutzes. Die Fachstelle hat ihr deshalb auch seit jeher ein Hauptaugenmerk zugewendet. AnBanngebieten ist manches erreicht worden. Vor allem ist es gelungen, Lobau und Lainzer Tiergarten aus den Fahrnissen der Umsturzzeit zu retten. Als ehemalige Krongüter und Hauptjagdgebiete waren sie zwar selten ursprünglich und wildreich erhalten, hatten aber auch den argsten Ansturm der revolutionaren Massen auszuhalten. Zudem wurden in der Umsturzzeit zahlreiche unsinnige Projekte erörtert, mit Hilfe deren die Gebiete zu Geld gemacht werden sollten. Natürlich waren es vornehmlich unsaubere Elemente, „Revolutions- 9 129 Die Naturschutzbewegung Ü hyanen", die sich hier bereichern woilten. Der entschlossenen Tatkraft der Fachstelle ist es zu danken, daB die Gebiete gerettet und einer vernünftigen, pfleglichen Nutzung zugefflhrt wurden. Der Weg war hart Von den drei denkwürdigen Fachsitzungen der Vertreter der Wissenschaft und Kunst sowie aller Behörden und Vereine, die mit Natur- und Heimatschutz, Volksbildung, Jagd, Touristik und überhaupt kulturellen Fragen zu tun hatten, über die Broschüre „Die Krongüter und ihre Zukunft" bis zum Erfolg gab es schwere Kampfe. Heute ist der Tiergarten dem Forst-, Jagd- und Wiesennutzungsbetrieb erhalten und wirft dem Kriegsbeschadigtenfonds überdies Millionen an Eintrittsgeldern der Besucher und AbschuBtaxen ab. Die Lobau nicht minder, in ihr ist die Jagd eine Haupteinnahme. All das ware ohne die Naturschutzstelle dahin, der Tiergarten verbaut, parzelliert und jedenfalls abgeholzt, letzteres vielleicht sogar durch Diebstahl. In ihm und der Lobau ware alles Wild verschwunden. Der Naturschutz in österreich hat mit dieser Tat einen Be we is seiner Reife erbracht Der Ausgleich mit den wirtschaftlichen Belangen hatte nicht besser getroffen werden können. Nicht wirtschaftliche Opfer, sondern wirtschaftliche Vorteile sind hier aus dem Naturschutz erwachsen. Leider müht sich die Stelle noch immer um die Erkiarung einer Zahl von staatsfiskalischen Mooren zu Schutzgebieten. Auch diese Tat kann nur Nutzen bringen. Wir brauchen für die Moorkultur Studienobjekte. Welche aber eignen sich dazu besser, verlustloser für den Staat als unausbeutbare. Und solche hat die Fachstelle zum Schutze vorgeschlagen. Die Arbeit ist getan, es bedarf nur der Zustimmung des Staates. Recht schöne Erfolge hat übrigens in der Schaffung von kleinen Banngebieten dieNaturschutzkommission der zoologisch-botanischen Gesellschaft erreicht Ihr ist die Erhaltung zweier pontischer Fluren in L a s s e e und 011 e n t a 1 mit ausnehmenden pflanzengeographischen Seltenheiten zu danken. Auf das, was der Verein Naturschutzpark bisher erreicht hat geht ein besonderer Artikel naher ein. Vielfach günstig zu beeinflussen vermochte die Naturschutzstelle auch die ErschlieBung der Höhlen, besonders der Schauhöhlen im Dachsteinmassiv. Von Anfang an wurde ein enges Zusammenarbeiten mit der Bundeshöhlenkommission, der auch der Leiter der Fachstelle als Beirat angehört, gesucht und gefunden. Dadurch konnte auf vieles aufmerksam gemacht, manches vermieden werden. 130 Die Naturschutzbewegung Nicht unerwihnt kann die enge Zusammenarbeit mit dèr Jagd bleiben. Der Naturschutz hat seinerzeit gegen die Auswüchse der Jagd mit Recht Front gemacht; auch die Fachstelle! Sie hat aber nie verkannt, welchen Wert die Jagd als naturerhaltender Faktor hat. Aus dieser Erkenntnis hat sie auch die Tatfolgerung gezogen und ist in der Umsturzzeit mit voller Kraft für die Jagd in die Bresche getreten. Ihr ist es zu danken, daB die Angriffe auf das Jagdgesetz, die zur Vernichtung unserer Wildbestande geführt hatten, abgeschlagen wurden. Aus ihrem SchoBe sind Gedanke und Tat zur Begründung einer Abwehr durch Ausarbeitung eines sachgemaBen Gegenentwurfes entsprungen. Sie hat aniaBlich der Krongüterberatungen über Antrag ihres Leiters eine „Kommission zur Beratung der Reform des Jagdgesetzes" geschaffen und durch Fühlungnahme mit den jagdlichen Vereinigungen die Abwehr wirkungsvoll gestaltet. Auch daraus wird die wirtschaftliche Reife der Naturschutzbewegung klar. Denn die Jagd ist heute ein volkswirtschaftlicher Faktor, der nimmer unterschatzt werden kann. SchlieBlich sei noch erwahnt, daB dieAufnahme deslnventars der Naturdenkmaier österreichs, die 1903 vom Unterrichtsministerium begonnen worden war, eifrig fortgesetzt wurde und zu einem voriaufigen Zettelkatalog von erheblichem Umfang gediehen ist. Wenn ich noch die Propagandatatigkeit kurz bespreche, ist das Bild vollstandig. Es war von Anfang an das selbstverstandliche Bestreben, die Fachstelle bekannt zu machen. In erster Linie galt dieses Streben den öffentlichen Behörden, da ja die Naturschutzstelle zufolge ihres amtlichen Charakters hier vor allem Wurzel fassen muBte. Es ist erfreulich, daB es gelungen ist, den EinfluB der Fachstelle und seiner Exponenten in den Landern derart zu festigen, daB sich etliche Ministerien, Landesregierungen, Gemeinden und nachgeordnete Amter an sie unmittelbar in Sachen des Naturschutzes wenden. Ja es hat sogar ein ministerielier Gesetzentwurf sie mit vollem Namen einbezogen und ihr amtliche Befugnisse zugewiesen. Das zeigt, wie sehr man allenthalben in Österreich sie als Bedürfnis empfindet und in ihr die derzeit einzig mögliche Lösung der Schaffung eines Naturschutzamtes anerkennt. Doch auch in der breiten Öffentlichkeit hat sie sich in den fünf Jahren ihrer Tatigkeit ausgiebig bekannt zu machen verstanden, trotz ihrer maBigen Propaganda im eigentlichen Sinne. Ihre Reklame ist die Propaganda der Tat und wir können ohne Selbstüberhebung sagen, daB ihr rasches und energisches 9* 131 Die Naturschutzbewegung Zugreifen dort, wo die Gefahr am gröBten war, ihren Rückhalt in der Öffentlichkeit geschaffen hat. DaB überdies eine rege Lichtbildvortragstatigkeit entfaltet wurde, ist selbstverstandlich. Besonders wurden die Lehrerbildungsanstalten in dieser Hinsicht bedacht. Von ihnen ist ja das künftige Schicksal unseres Volkes am meisten abhangig. Nicht minder rege war und ist die literarische Propaganda. Vor allem haben die schon erwahnten „Blatter für Naturkunde und Naturschutz" hier sehr viel geleistet Aber auch in anderen Zeitschriften und Tageszeitungen wurde bald dieser, bald jener Naturschutzgedanke besprochen und eine eigene Naturschutzkorrespondenz sorgte für die Unterbringung derartiger Notizen. Die machtvollste Propaganda ist die seit zwei Jahren in etlichen Landeshauptstadten und vielen Stadten und Orten österreichs im Umlauf befindliche Naturschutzausstellung. Sie warzum erstenmal in Wien durch den Herrn Bundesprfisidenten eröffnet worden und brachte auf moderner musealtechnischer Grundlage die gesamte Naturschutzbewegung in klarer und knapper Art zur eindringlichen Darstellung durch Objekt, Bild und reichliche Beschriftung. In Wien wurde sie von allen Kreisen, insbesondere von der Lehrerschaft aller Schulkategorien, und von der Presse mit Begeisterung aufgenommen. So ist der Naturschutz in kurzer Zeit in österreich zu einer machtvollen Bewegung geworden und im besten Geleise, eine Volksbewegung im wahrsten Wortsinne zu werden. Es war allerdings eine hetzende, aufreibende Arbeit. Vieles war versSumt und muBte in kurzer Zeit nachgeholt werden. Dazu brachte der Umsturz auBerordentliche Gefahren. Ich ware nicht imstande gewesen, die Titanenarbeit zu leisten, wenn mir nicht eine Reihe von Mannern zur Seite gestanden waren, deren ich bei diesem Rückblick dankbar gedenke. Insbesondere waren es zwei, die mit mir an Aufopferung wetteiferten. Hofrat Dr. K. Giannoni, der Führer der Heimatschutzbewegung in österreich, und Vizedirektor Dr. K. A. Ginzberger, der derzeitige Vorstand des Naturschutzparkvereines, mein niemals müder, engster Weggenosse im Naturschutz. Wir stehen vor groBen Zeiten. Ein Volk von der kulturellen Kraft und GröBe des deutschen ist niedergebrochen. Die Strömungen des Untermenschlichen, Ichsucht, materielles Interesse und kalter Intellektualismus, durchwegs volksfremde Eigenschaften, sind wieder einmal obenan und haben den natürlichen Schichtenbau zerstört, den jedes gesunde, schaffende Volk in seinen durch 132 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs besondere Pflichten und Rechte gebundenen Standen zeigt. Das Chaos triumphiert! Die Form ist zerbrochen, der Inhalt aber kann nicht verloren gehen. Er hat sich ins ganze Volk ergossen und brodelt in dem Chaos der Jetztzeit, wirftda und dortBlasen und will wieder nach oben. Und er wird auch kommen. Für uns Naturschützer bezeugt dies die Tatsache, daB der in allen Revolutionen immer wieder auftauchende Ruf: „Zurück zur Natur!" auch heute in dem Anschwellen der Volksbewegung zum Naturschutz neuerdings lebendig wird. Sie ist der Ausdruck der Sehnsucht dieses Geistes deutscher Führerschaft, deutschen Seelenadels nach seiner Wiedergeburt. Diese heute in allen Schichten verstreuten Adelsseelen können sich nur auf dem Wege der Selbsterkenntnis wiederfinden. Dazu bedürfen sie eines Spiegels, der nicht menschengeschaffen, der frei ist von kulturellem Beiwerk, eines „Reiches der Mütter", der ewigen unberührten, urigen Natur. So ist der Naturschutz die Keimzelle deutscher Volkswerdung aus dem deutschen Chaos. Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs J. Podhorsky rxie Naturschutzparkbewegung — ein Teil der HeimatschutzU bewegung, jedoch noch weiter gehend als diese, indem sie internationale Werte einer Nachfahrenschaft übermachen will — hat, im Prinzipe von Deutschland, praktisch von Amerika ausgehend, im alten Kaisertum Österreich verhaitnismaBig spat eingesetzt, zum Nachteil des Zustandekommens des heutigen Parkes in den Hohen Tauern etwas zu lange in der Wahl des Gebietes geschwankt und schlieBlich gerade in jenem Tale der Salzburger Tauern Wurzel gefaBt, welches der Staat nachher, infolge der Nachkriegsnot, als das zur Wasserkraftausnützung, behufs Ausschaltung der Einfuhr von Kohle aus dem teuerem Auslande, geeignetste erklart und wo er bald nach Kriegsende die Bauvorbereitungen getroffen hatte: im Tale der seen- und wasserfallreichen, bis dahin trotz des schon früher starken Touristenverkehrs (Kaprunerthörl — Moserboden, WeiBsee — Kaiser Tauern— 133 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs Windisch-Matrei) dornröschenhaft schlummernden Stubache (das Wort rührt von „Staub", Wasserstaub der Schnellen und Ffllle her; siehe „Stuibenfall" im ötztal). Dieser Teil des künftigen Naturschutzparkes war daher von vornherein zur Rolle eines Schmerzenskindes verurteilt und wenn wir heute in seine Geheimnisse eindringen wollen, so müssen wir den Maulwurf, der nun schon drei Jahre da drinnen wühlt und scharrt und ganze Hauser, ja ein ganzes Dorf a la Goldfelder von Kalifornien und Alaska, aufgeworfen hat, wohl oder übel mit in den Kauf nehmen und uns mit der Tatsache begnügen, daB von Seite der maBgebenden Faktoren des Staates und der Bauunternehmung so ziemlich alles vorgekehrt wurde und wird, was unter den gegebenen Verhaltnissen zum Schutze der vorhandenen Naturschönheiten und des gesamten Naturbildes getan werden konnte. DaB hiebei immerhin die eigentliche Bedeutung des Parkes in diesem Talgebiet, namlich jene für die Naturwissenschaft, stark gefahrdet bleibt, müssen wir vom Standpunkte des Heimatschutzes sowohl, wie vom allgemein wissenschaftlichen Standpunkte um so mehr bedauern, als gerade die groBartige, in Jahrhunderte langem Kampfe der höheren und niederen Organismen und gleichzeitig auch durch die wunderbare Aneinanderpassung derselben entstandene und bis vor kurzem von Menschen völlig unberührt gebliebene, natürliche Lebensgemeinschaft dieser Organismen untereinander, wie auch mit dem toten Gestein, zu den unersetzlichen Schatzen des Parkes gehört, dem Auge des Touristen vielleicht weniger auffallend, überraschend und manchmal verblüffend jedoch für den genauer hinsehenden Naturfreund! Glücklicherweise hat der Verein „Naturschutzpark" in Stuttgart, der nebst dem „Österreichischen Verein Naturschutzpark" die Durchführung dieses Projektes in die Hand genommen hat und hier ein alpines Gegenstück zu seiner bereits in Sicherheit gebrachten „Lüneburger Heide" schaffen will, rechtzeitig dafür gesorgt, daB diese intimeren Reize des Parkes wenigstens in seinem zweiten Gebietsteile, der Ammertaler öd, jenem Gabeltal der Felberache, welches an das Stubachtal (und zwar an dessen südwestliches Seitental, die „Dorfer öd") angrenzt, voll erhalten bleiben. Dieses ist zwar weniger reich an Seen und machtigen Wasserstürzen als das Stubachtal, bezaubert weniger als dieses durch prachtvolle Gletscherabschlüsse und besitzt von Touristen fast noch nie begangene „Tauern" (das sind Hauptübergange in andere Taler), entzückt 134 135 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs jedoch beinahe noch mehr wie jenes durch seine feinen, inmitten einer viel rauheren Umgebung um so seltsamer anmutenden, intimen Reize einer Vegetationsgemeinschaft, die sich neben dem Naturfreunde auch dem touristischen Laien offenbaren müssen. Als ebenso unberOhrtes Anhangsgebiet des Parkes ist noch ein kleinerer Streifen stark verworfenen Tauernbodens fOr diesen in Aussicht genommen, welcher sich über die Westabhange der Ammertaler öd zum Felber-Tauern hinüberzieht und vor dem urwilden „Tauerng'wand", oberhalb des einsam-schönen Hintersees, abbricht Das für den Naturschutzpark bestimmte Gesamtland umfaBt demnach das rückwartige Einzugsgebiet der Stubache, ungefahr von der Einmündung des Wurfbaches in letztere an, ferner das Tal der Dorfer öd, welches westlich des Alpengasthauses „zur Schneiderau" beginnt und an den Nordhangen der Granatkogel- und Sonnblickgruppe, beziehungsweise an den Ostauslaufern der Landeckgruppe entspringt, endlich das Tal der Ammertaler Öd, vom forstSrarischen Jagdhause gleich hinter der Taimeralpe („Thoamasalm") einwaïts, mit dem Hochgebirgsanteil bis zum Felber-Tauern und „TauerngVand"; insgesamt rund 90 km2 groB. Zum Schutze des einheimischen Wildes, welches zum Teil als Wechselwild in Betracht kommt, also seinen Stand ort nur zeit weise im eigentlichen Schonpark hat, wurde ferner ein Schongürtel, welcher dem Hauptpark gegen Norden in wechselnder Breite vorgelagert erscheint, in Aussicht genommen (siehe Übersichtskarte). Mit diesem Schongürtel würde die Gesamtflache des Parkes etwa 170 km* betragen. Endlich ist zu hoffen, daB es in absehbarer Zeit möglich sein wird, auch noch dieGlocknerpasterze, welche derzeit Eigentum des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines ist, in den Park einzubeziehen und so eine geschlossene „Reservation" von etwa 250 km2 zu schaffen, in welcher dann auch unbestandigere Wildarten, wie zum Beispiel der weiBköpfige oder Lammergeier, verschiedene Adlerarten und andere einer systematischen Schonung teilhaftig werden könnten; gegenüber den amerikanischen Riesenreservationen oder jenen Schwedens allerdings ein Miniaturpark, immerhin nicht kleiner oder unbedeutender als die schweizerischen Kantonalparke, ja letztere an Ursprünglichkeit und Unberührtheit, zugleich auch an Naturschönheiten überragend! Noch ist aber der österreichische Park nicht Tatsache. Zum groBen Teile aus zusammenhangenden, wertvollen Nadelholzwaidern 136 Hohe Tauern: Rotgildensee mit Hafnereck Hochkönig bei Saalfelden Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs bestehend, welche fast ausschlieBlich Eigentum des Staates sind, sich zur forstlichen Bewirtschaftung zumeist eignen, infolge ihrer Entlegenheit jedoch bisher wenig genutzt wurden, ist er derzeit noch von den Verhandlungen zwischen dem Verein „Naturschutzpark" in Stuttgart und der österreichischen Regierung abhangig, wonach voraussichtlich obige Forste vom genannten Verein auf langere Zeit in Pacht genommen würden. Dieser ist heute jedoch schon Eigentümer von'fünf kleineren und gröBeren Alpen (Französach oberhalb des Grünsees, hintere Dorferödalm, Gasteigalm am Osthang des Brettelkogels, westlich der „Schneiderau", dann hintere ödalm in der Ammertaler öd) sowie der ehemals Schmedererschen Jagdhauser nahe der Schneiderau. Dem besonders von bauerlicher Seite vor einigen Jahren ausgegangenen Widerstande gegen das Zustandekommen des Schutzparkes wurde dadurch die Spitze abgebrochen, daB der genannte Verein diese seine Alpen an bauerliche Besitzer der Gegend in Pacht gab, welche die Alpwirtschaft auf denselben in normalem Umfange weiter betreiben. Da dieser Wirtschaftsbetrieb seit undenklichen Zeiten heimisch ist, war prfnzipiell gegen seine Weiterbelassung nicht viel einzuwenden; allerdings würde es vom Standpunkte der Allgemeinversorgung des Landes oder Staates selbst mit Rücksicht auf deren heutige wirtschaftliche Notlage gewiB nichts verschlagen, wenn die eine oder andere dieser von Natur aus auf ein Mindestdasein beschr&nkten kleineren Alpen (im Volksmund „Almen") zu naturwissenschaftlichen Zwecken freigegeben würde, womit durchaus nicht einer totalen Selbstüberlassung, also „Verwilderung" derselben, das Wort geredet sein soll. Diesen allgemeinen Betrachtungen mag sich nun ein Rundgang durch unseren Park anschlieBen, wobei das Wichtigste über Art und Umfang des Naturschutzes in demselben gesagt werden soll.*) *) Wer sich naher mit dem Gegenstande befassen will, kann folgende Veröffentlichungen darüber nachlesen: „Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines", 1916, „Das Stubachtal" von Dr. August Prinzinger, einem weitgereisten Salzburger und hochverdienten Naturfreund; „Der Salzburger Naturschutzpark", von Hofrat Dr. Medicus in den „Münchener Neuesten Nachrichten", Nr. 390 von 1920; „Der österreichische Naturschutzpark in den Hohen Tauern* von Verfasser in Nr. 4 der „Deutschen Alpenzeitung" vom Jahre 1922; „Die Ammertaler öd als Teil des salzburgischen Naturschutzparkes; die kflnftige Bewirtschaftung der letzteren und die ihm drohenden Gefahren" vom Verfasser, in der „Salzburger Gebirgszeitung" — Zeil am See vom Jahre 1920 (November) bis Ende 1921 (September) (dieser monographische Aufsatz konnte infolge vorzeitiger Einstellung der genannten Zeitung nur 137 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs Die geschlossene Lage des Parkes ermöglicht uns, denselben von einem der beiden Talausgange, das ist entweder von der Station Uttendorf der Pinzgauer Lokalbahn (% Stunden Bahnfahrt von Zeil am See) durch das Stubachtal oder von der Station Mittersill (eine Stunde von Zeil) durch das Felbertal in einem Zuge zu begehen (ein Befahren desselben, etwa wie im nordamerikanischen Park von Montana oder im Yellowstone-Park, ist nur auf den ganz kurzen ZufahrtsstraBen möglich: im Stubachtale derzeit bis zur „Schneiderau", doch ist eine AutomobilstraBe bis hieher und weiterhin im Bau, beziehungsweise zum Teil bereits fertig; im Felbertale kommt auf der Strecke Mittersill—Talgabelung am NordfuBe des Mitterbergs [schlechter Fahrweg] nur landesübliches Fuhrwerk in Betracht). Der Übergang aus dem einen in das andere Talgebiet geschieht, Immer auf Parkboden, aus der Dorferöd über die „Glanzscharte", 2354 m Seehöhe. Der Aufstieg zu dieser von der Dorferöd ist besonders im oberen Teil ohne Führer (ein „Hüter" von einer der benachbarten Almen genügt) nicht ratsam. Ein solcher ist auch für den Besuch des Tauernmoossees zu empfehlen (Jager in Französach oder Arbeiter der Bauunternehmung für die Wasserkraftanlagen). Wer in den hochinteressanten „Wiegenwald", die forstliche Hauptsehenswürdigkeit des Stubachtales, eindringen oder sonstige „Geheimnisse" des Parkes erforschen will, kann entweder einen der zahlreichen jager um seine Begleitung ersuchen oder muB sich auf sein Orientierungsvermögen verlassen, da auch eine gute Karte nicht überall genügen wird. Im übrigen setzen wir die touristischen Lokalkenntnisse des Besuchers voraus und beschranken uns auf jene Naturdenkmaler groBen und kleinen Stils, die unserem Parke eigentümlich sind oder als Typen unseres Hochgebirges in ihrem ursprünglichem Zustande erhalten werden sollen. Stubachtal: Der stufenförmige Aufbau des oberen, den Naturschutzpark einschlieBenden Talgebietes bewirkt jenen Reichtum an Seen und Wasserstürzen, Terrassen und Katarakten, Hochebenen mit Viehweiden und prachtig bewaldeten Talstufen, welcher dem Stubachtal seinen besonderen Reiz verleiht und es von allen übrigen nördlichen zum Teile veröffentlicht werden), „österreichische Vierteljahresschrift für Forstwesen", 1914, IV. Heft: „Waldbilder aus unserem künftigen Naturschutzgebiet" von Hofrat Dr. Adolf von Guttenberg, einem der österreichischen Hauptvorkampfer des Naturschutzparkgedankens und forstlichem Altmeister; „Wiederaufbau", herausgegeben vom „Österreichischen Verein Naturschutzpark" in Wien, Wien 1919: „Wiederaufbau und Naturschutz" von Prof. Dr. H. Salomon, und andere. 138 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs und auch südlichen Hochtauerntaiern unterscheidet. Infolgedessen finden wir auch eine ziemlich mannigfaltige Ausbildung der Vegetation, der Gesteinsgrundlagen und teilweise auch der Fauna. Besonders der fortwahrend und überall langs der zahlreichen Wasseradern und Quellbache, Schnellen und „Graben" aufstaubende und oft weit hinziehende „Wasserdunst", also die stete Luftfeuchtigkeit auch bei voller Sonnenbestrahlung, ruft Pflanzenbilder hervor, die eben nur unter solchen Jahrhunderte lang gleichbleibenden Verhaltnissen bestehen können und bei Wegfall dieser verschwinden oder einförmiger werden müssen. Hier ist es vor allem der Baumwuchs im Zusammenhang mit eigentümlichen Fels- und Bodenbildungen und nicht weniger die Kleinflora, die Kryptogamenwelt, die sich in fast tropischer Üppigkeit und Pracht entfaltet. Es wundert uns zum Beispiel daher nicht, wenn der berühmte Salzburger Arzt und Botaniker Eleutherius Sauter des vorigen Jahrhunderts die Salzburger Tauerntaler, die ahnliche Verhaltnisse aufweisen, als die an Kryptogamen und namentlich Moosen artenreichste Gegend Europas bezeichnet. Dieser wunderbare Zusammenhang zwischen Wald, Bodenvegetation und Gestein wird uns zum Beispiel in schönster Weise zum BewuBtsein gebracht beim Aufstieg zum Enzingerboden, beim Überschreiten seines Bergsturzes, beim Erklimmen der oft beangstigend wilden „Tapperlklamm" zwischen Enzingerboden und Grilnsee; in ganz anderer Weise wieder beim Durchwandern des „Wiegenwaldes", mit seinem ausgedehnten Zirbenurwald auf 1700 bis 1800m Seehöhe (die „Wiege" bildet eine flachgewölbte, vollkommen bewaldéte, alte Gletscherseitenmorane am Absturze der wilden „Teufelsmühle" [diese 2508 m] und ist von dieser, beziehungsweise vom Magaiskopfe [2697 m] nur an ihrem südlichen Ende durch die „schwarze Lacke", einen düsteren Kaarsee, getrennt). Die „Wiege" tragt namlich mehrere teichartige, kleine Seen, richtiger „Mööser" oder „Lacken, wie solche zeitweise anschwellende und zur Zeit der Trockenheit wieder einschrumpfende, flache Wasseransammlungen vom Volksmund genannt werden, von sehr geringer Tiefe, aber um- und dürchwuchert von einer hochinteressanten Sumpfflora und Legföhrengestrüpp, umsaumt von uralten, mit oft meterlangen Baumbarten (Flechten) phantastisch behangenen Zirben und zum Teil Larchen, durch und über die die Gletscher des Johannisberges, Eiskögeles, der hohen Riffel hereinstrahlen, sich im dunklen Gewasser dieser stillen Tümpel, zu denen nur Reh und Hirsch und manchmal auch die Gemse zur Tranke ziehen, weihevoll spiegelnd. 139 Oer Naturschutzpark In den Hohen Tauern Salzburgs Zwischen Grünsee und Französach lösen sich die WaldbestSnde, die hier nur noch aus Zirbe, Krummholzkiefer („Latsche", womit manchmal auch die diese Kiefernart vertretende Grünerle bezeichnet wird, auch „Legföhre") und Larche bestehen, in lockere Schwarme auf, die Bodenflora (vor aliem der „Almrausch", Rhododendron ferrugineum) bleibt sich selbst überlassen und geht in die Formation der vorletzten Stufe des noch bewachsenen Hochgebirges über, in der noch Pferde und Rindvieh weiden. Aber noch am WeiBsee (2218 m) überwuchert sie zwischen malerischen Blöcken (am Schafbichl, 2350 m, ebenfalls einer alten Gletscher[Mittel]morane) den bereits sturmumbrausten, hügeligen Boden, das Weidegebiet der „Rudolfshütte". Von hier hinab über den Sprengkogel hauste noch vor nicht langer Zeit das Murmeltier (vom Volke „Mankei" genannt), dessen Wiederanzucht möglich und daher erstrebenswert ware, wahrend die Hange hinan zum Kalser-Tauern und weiter noch zum sanften Sonnblickkees, zur trotzigen Ödwinkelscharte und zum finster herabblickenden „Totenkopf" mit dem ihm überlagerten, blauschillernden Gletscherhaupte der Riffl (3346 m) vor Jahrhunderten von den Rudeln des Steinbockwildes, dem Edeljagdwild der Salzburger Erzbischöfe, damals „Fahl"oder „Valwild" genannt, bevölkert waren. Heute vernimmt man nur hin und wieder den Pfiff der Gem se, der Nachfolgerin des Steinbockes, die, durch das gefahrdrohende Auftreten der Gemsraude in den Ostalpen, einige Jahre vor Kriegsausbruch, stark dezimiert, heute erfreulicherweise nahezu ihren einstigen Wildstand wieder erreicht hat. Auf welche Weise das „Fahlwild" seinerzeit zugrundegegangen ist — oder ausgemerzt wurde aus unseren Ostalpen — ist noch nicht sichergestellt. (Siehe „Brehms Tierleben".) Ob es hier wieder angesiedelt werden kann, wird sich wohl in der Zukunft zeigen, bis der „Park" einer wirksamen Schutzkontrolle teilhaftig sein wird. Der noch heute bestehende, zur Zeit des Fahlwildes noch heftiger gewesene Kampf zwischen „Taurern" und „Entertaurern", das ist zwischen Salzburger jagern und Karntner, beziehungsweise Tiroler Wilderern, welcher vielleicht auch zur Vernichtung des Steinbockes geführt hat, failt hier besonders ins Gewicht, zumal sich bekanntlich so eingelebte Volksleidenschaften, wie es nun einmal die Jagdlust ist, sehr schwer durch Zwang oder Gewalt eindammen oder beseitigen lassen. Ein Seiten-, wenn nicht Gegenstück zum Oberlaufe des eigent-; lichen Stubachtales bildet dasHochtal des Tauernmoosbodens, an der Ostseite des Sprengkogels, welches sich vom Absturz der 140 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs Totenköpfe und ödwinkelscharte fast eben in einer Höhe von rund 2000 m zum seichten Tauernmoossee breit hin erstreckt. So öde es in seiner Baumlosigkeit und Eintönigkeit gegenüber dem weit abwechslungsreicheren, abgestuften westlichen Genossen erscheinen mag, so wertvoll ist es durch seine Florenformation für den Wissenschaftier. Freilich ist hier der ursprüngliche Pflanzenwuchs seit Jahrhunderten durch die für die Zucht des Pinzgauer Pferdes wertvolle Weide bereits stark beeintrachtigt worden, doch sorgen wiederholt eingetretene gröBere Bergstürze (zuletzt im Jahre 1920, durch welchen der Übergang über das Kaprunertörl so erschwert wurde) dafür, daB neue Florengruppen sich entwickeln können und die alten wenigstens oasenartig erhalten bleiben. Eines Naturdenkmales müssen wir hier gedenken, welches in Touristenkreisen sehr wenig bekannt ist, in seiner Art jedoch zu den Seltenheiten gehört und — bald ganz verschwunden sein wird! Des oberen Tauernmoosbachfalles, eines Trichterfalles, ahnlich jenem am Ausgange des Unteren Sulzbachtales. Er entsteht unmittelbar am Seeausflusse und man wird seiner erst ansichtig, wenn man unmittelbar vor ihm steht (der Talwanderer sieht ihn übrigens sonst nur noch vom untersten Stubachtal aus, etwa in der Gegend des Wiedrechtshausergutes). Geschlossen stürzen die Wassermassen, nach ihrem beschaulichen Dasein auf dem Tauernmoosboden, über die scharfe Terrainstufe in einen von alten Wetterzirben und leuchtenden Alpenrosen umstandenen Kessel und poltern gischtend weiter, fast 600 m tief, in gleichbleibender Umrahmung, zum unteren Tauernmoosbachfall, der letzten Stufe, unmittelbar am Enzigerboden, der Touristenwelt besser bekannt, einem Schaustück unversehrter Urwüchsigkeit, nach Jahrtausende langem Spiel des Wassers künftighin ebenfalls zur Untatigkeit verurteilt! Der Reichtum des Stubachtales an Prachtbildern höchsten Ranges, jedes anders in seiner Art, ist hiemit jedoch nicht erschöpft, wenngleich wir hier nicht beabsichtigen, denselben nur von der rein alpinen und touristischen Seite zu beleuchten. Wenn auch bereits — leider! — auBerhalb des Naturschutzparkgebietes in spe liegend, verdient vor allem noch das vom Kitzsteinhornmassiv (Geralkogel) herabziehende und ebenfalls deutlich abgestuf te Wurfbachtal, ob seiner zwei herrlichen Falie und seines auffallenden Zirbengürtels, besondere Erwahnung. Glücklicherweise befinden sich gerade diese schönsten Schaustücke derzeit im Privatbesitze eines für den Naturschutzgedanken begeisterten, einheimischen, einfachen Bauern und nicht auf 14! Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs dem Index der „weiBen Kohle"; — derzeit wenigstens. Es ware zu wünschen, daB auch diese, der Touristenwelt wohl fast unbekannten, an dem „Park" allerdings nicht unmittelbar angrenzenden Teile des „Stubach", an ersteren rechtzeitig angegliedert würden, selbst um das Opfer einer gröBeren Alpe! Wie wird nun dieser Park durch den Ausbau der Wasserkrafte beeinfluBt, geschadigt, verandert? Manches hierüber wurde bereits im vorstehenden angedeutet AuBer den beiden Tauernmoosfallen wird noch die urwfichsige „Tapperlkamm" und weiterhin die Stubache bis zur Schneiderau hart mitgenommen werden; sollen doch in letzterer wahrend der drei Sommermonate bei Tage nur 176 Sekundenliter im Mutterbette zum Abflusse freigegeben werden 1 Der liebliche Grünsee wird gerade am urwildnisartigen Nordufer, wo eine Legföhrenkolonie auBerst malerisch den Wiegenwaid, bis dicht an die tiefblauen Gewasser herantretend, abschlieBt, durch eine viele Meter hohe Staumauer erhöht, der Tauernmoossee, jetzt zeitweise allerdings nur eine gröBere „Lacke", wird durch eine lange Staumauer um das Acht- bis Neunfache vergröBert und sohin in einen richtigen See verwandelt, in dem sich die Wellenlinien des Rifflkeesabbruches und die Westabstürze des Hocheisers auf Kosten der heutigen Pferdeweide wohlgefallig spiegein werden; freilich zum „touristischen" Vorteil des Sees selbstI Eine ahnliche Rangerhöhung ist dem Enzingerboden zugedacht; auch fiber seiner anheimelnden Grundalpe sollen kfinftighin, wenigstens in ihrem unteren Teile, die Wellen eines Stausees zittern, in den der erwahnte Bergsturz seine FüBe taucht. Der WeiBsee endlich dürfte, wohl infolge seines geringen Wassereinzuges, endgfiltig auBer Betracht ffir die elektrische Kraftgewinnung bleiben. Der Tourist wird nun sagen: Da Ihr zu all diesen Bauten auch gute Wege und StraBen braucht und wir statt zweier Wasserfalle nahezu zwei groBe, schön gelegene Seen erhalten sollen, so ist der Bau der Wasserwerke doch nur von Vorteil, denn der Park wird dadurch auch leichter zuganglich und verliert fast nichts von seinen Sehenswfirdigkeiten. Auch der Naturasthet wird nicht viel einzuwenden haben, da ja das „Naturbild" gewahrt bleiben soll. Nur der tiefer auf die Sache gehende Naturfreund und Wissenschaftier wird auch weiterhin den Kopf schfitteln und sich ausmalen, was die Folge sein muB, wenn standig einige hundert Arbeiter aus aller Herren Gegenden auf beschranktem Raume mindestens durch zehn Jahre (der Baukonsens sieht eine Bauzeit von 15 bis 25 Jahren vor!) arbeiten und 142 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs die Natur in ganz andere Geleise bringen sollen, auschlieBlich mit ihrem Holzbedarf auf die Waldbestande ihres Arbeitsfeldes angewiesen... Er wird sich freilich damit trösten müssen, daB immerhin, wenigstens in Zukunft, doch noch soviel unberührtes Land verbleiben wird, um wenigstens jene MaBnahmen durchzufOhren, welche ein richtig gehegter und überwachter Naturschutzpark erfüllen soll: Tatsachlichen Schutz wenigstens für die bereits gesetzlich geschützten Alpenpflanzen, Bannlegung aller Forste, bestockten Weiden und Alpen innerhalb des Parkgebietes, welche nicht mit urkundlichen Holzbezugsrechten belastet sind und unbedingt von jeglicher Holzund sonstiger Nutzung ausgeschlossen werden müssen, wenn anders der Charakter und Zweck eines Naturschutzparkes erfüllt werden soll; wirksamer Schutz den noch vorhandenen und etwa wieder einzusetzenden Wildarten, jedoch ohne Oberhege; VorbeugungsmaBnahmen gegen weitere Ausnützung der noch vorhandenen Wasserkrafte zu industrie Hen Daueranlagen und vieles andere. Nun noch einen Besuch des zweiten Teiles unseres Parkes, der Ammertaler öd. (Öd bedeutet nach landlichem Begriff »abgelegene, einsame Gegend".) Er führt uns zunachst von den ehedem Schmedererschen JagdhSusern langs des schnellenreichen Unterlaufes des Dorferödbaches (Va Stunde) zum Eingang in das ziemlich ebenmaBige Tal des letzteren, in welchem die Zirbe fast ganzlich fehlt, wahrend am Fufie des Westhanges, welchen wir über die erste Talgrundalm und durch einen Fichtenwald betreten, seit etwa einer Generation sich auf früherem Almboden in auffallender Menge und Geschlossenheit reine Legföhrenbestande angesiedelt haben, mit Fichtenhorsten abwechselnd; sie geben ein schönes Bild forstlicher „Sukzession", das ist der natürlicben Aufeinanderfolge verschiedener Pflanzenformationen. Weiterhin stets über unbewaldete Almtriften, an der Hochalpe der vorderen ödalpe vorüber, durchschreiten wir fruchtbare, durch ihre hochalpine Flora ausgezeichnete Weidegebiete, gewinnen allmahlich prachtigen Einblick in den TalabschluB (mit dem kleinen Ödsee und seinen tief abstürzenden AusfluB) und auf die touristisch fast unbekannten Nord- und Westabstürze der Landeck- und Sonnblickgruppe, um endlich über blütenbestreute Kaare und vereinzelte Schneefelder zu den zum Teil vertrockneten und von düsteren Gneisund Granitblöcken umstarrten und durchsetzten, kleinen Glanzseen und zur aussichtsreichen Glanzscharte selbst anzusteigen. Prachtvoll ist der Bliek vom nahen Glanzgschirr (2657 m) nach West und 143 Der Naturschutzpark in den Hohen Tauern Salzburgs Ost, Sfid und Nord, besonders auch in die Ammertaleröd hinab, auf die Pihappergruppe bei Mittersill und den fernen Venediger. Beim Abstieg zur Taimeralpe Qber deren Hochalm (zirka 1900 m) erOffnet sich uns über charakteristische, schwarzgrüne und zum Teil abgestorbene oder vom Borkenkafer gerötete Wetterzirben hinweg ein herrlicher Bliek in die einem Engpafi ahnliche und von Sonklar mit einer Sackgasse verglichene Öd des Ammertales, die im Süden von ihrem Wahrzeichen, der schiefzahnigen Teufelsspitze (2742 m) und dem Riegelkogel (2924 m) beherrscht wird. Am eindruckvollsten und übersichtlichsten, zugleich malerischsten ist die Talschau, wenn man ungefahr die Mitte des Abstieges durch den hochinteressanten Hochwald erreicht hat, der nach unten hin sich immer mehr in einen reinen Fichtenbestand mit Urwaldcharakter verwandelt und am Talboden allmahlich in jenen zauberhaften Hain übergeht, dem wir nach v. Guttenberg den Namen „Zauber- oder Marchenwald" bewahren wollen. Dieses unvergleichliche Naturdenkmal, aus grauer Vorzeit unversehrt in seinen Grundlagen erhalten, durch immer wiederkehrende Felsbrüche (Hornblende, Granit, Gneis), jedoch stets neu belebt und vom unbeugsamen Drange der Vegetation nach Leben, Luft und Licht neu verjüngt, eine auch vom Weidetiere nahezu verschont gebliebene Wildnis, wo der Kampf ums Dasein zwischen totem Gestein und Lebewelt bis in die kleinsten Gebilde deutlich sichtbar wird, laBt sich mit Worten nicht beschreiben, auch im Lichtbild nicht anschaulich genug wiedergeben. Wer vom Jerieschen Jagdhause hinter der Thoamasalm diese an die alte, heidnische Tauriskerzeit gemahnende, bald düster-wilde, von der gischtenden Ache durchleuchtete, bald auf grünem, ebenen Boden (Weitenau) sich beiderseits der nahen Talflanken auftürmende, bald labyrinthahnliche, von haushohen „Palfen" durchsetzte und allerlei Seltsamkeiten (eine sogenannte „Kletterfichte", rotblühende Ribes, Vegetationsnachzügler aus dem Frühjahr, die erst im Herbst blühen, und andere) bergende „öd" aufmerksam-andachtsvollen Sinnes durchwandert, wird selbst der geheimen Schönheiten dieses Parkes inne werden und Gott danken, daB er sie soweit der gierigen Menschenhand entrückt hat. Schliefilich möge er noch des Ammertaler ödsees nicht vergessen, der, allerdings nach beschwerlicher Turnerei über ein Gewirr von Felstriimmern, von der ödalm in drei Stunden erreichbar, in etwa 2200 m Seehöhe am Talschlusse in nordpolahnlicher Umgebung, fast das ganze Jahr von Eis bedeckt, schlummert 144 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum Josef Aug. Lux Wien bleibt Wien! Ich weiB, warum ich das sage. Aus Lokalpatriotismus? Man wird es schwer haben, mir das nachzuweisen. Ein Bliek auf die Himmellage und man wird es verstenen, wie eitel die Absicht war, die StraBe des Weltverkehres umzulegen und über Prag und Budapest oder durch Jugoslawien zu führen, mit anderen Worten, Wien auszuschalten. Die Donau ist die WeltstraBe, die Ost und West verbindet und solange sie nicht über Prag oder Laibach flieBt, bleibt Wien ein Weltzentrum. Und zwar das Verkehrs- und Kulturzentrum der europSischen Mitte. Daran konnte nicht einmal Berlin etwas andern, die eifersüchtige Rivalin mit dem Typus des Emporkömmlings aus der zweiten Halfte des abgelaufenen Jahrhunderts. Es ist doch kein Zufall, daB ein solches Kulturgebilde wie Wien gerade hier an der Donau entstand, just unter dem Meridian, wo es liegt. Kein Zufall, daB es den Stürmen trotzte, der Völkerwanderung, der Türkennot, Napoleon, und aus dem oftmals drohenden Untergang immer wieder zu gröBerem Glanze hervorging. Es wird auch dieses Chaos von heute überdauern, wenn nicht alle Zeichen trügen. Kein Zufall ist es, daB der strategische Sinn der Römer hier den starksten Stützpunkt seines nördlichen Machtbereiches schuf und das Vindobona eines Mare Aurel bereits von der Aureole einer kaiserlichen Residenz umleuchtet war. Das ist Schicksal und Bestimmung, die über den Sternen entschieden wird und der menschlichen Willkür entrückt ist. Kein Zufall ferner, daB sich in den bewegten Jahrhunderten der Hunnenund Avarenzüge das Wien der Babenberger als Bollwerk christlicher Gesittung emporschob, überstrahlt von der Macht des allerchristlichsten Königs und Kaisers Karl des GroBen und dem östlichen Ansturm, 10 145 Wien als europalsches Verkehrs- und Kulturzentrum zuletzt der Türken, ein Halt gebot. Kein Zufall, daB mit Rudolf I. die Weltmacht des Hauses Habsburg, tief verankert im religiösen und sittlichen BewuBtsein, hier aufwuchs und mit ihrer völkervereinigenden Mission den Bestand des christlichen Europas und der abendlandischen Kultur sicherte. Europa mit seinen Staatengebilden entstand mit allen seinen Einrichtungen und Anschauungen, mit seiner Kultur und Gesittung aus religiösen Grundlagen und Voraussetzungen, orientiert nach dem westlichen Christentum, im Gegensatz zu Byzanz und wenn diese Grundlagen erschüttert oder zerstört werden, stürzt auch das Staatengefüge und der stolze Kulturbau Europas zusammen, an Stelle der Kultur triumphiert wieder der Barbar, der Barbar bleibt auch in der auBerlichen und rein technisch bedingten Umkleidung der „Zivilisation". DaB es nicht langst dahin gekommen ist, hat mit als starkster Eckpfeiler der europaischen Kultur, die immer nur aus religiös sittlichen Wurzeln emporwachsen kann und ein Metaphysisches ist, das Haus Habsburg und mithin Wien ein unwagbares Verdienst Wien ist die Wage — eine alte Weisheit will wissen, daB es unter dem EinfluB des Sternbildes der Wage steht —, in dem Widerstreit der Nationen war es das ausgleichende Element, kein künstliches Produkt, sondern eine organische und himmelgewollte Existenz, das Herz Mitteleuropas. Aus diesem Zwangsgesetz entstand das alte österreich, das nach einem Wort Palackis erfunden werden müBte, wenn es nicht existierte. Scheinbar ist es nicht mehr vorhanden; dennoch ist es als eine metaphysische Notwendigkeit da, die wieder nach einem gewissen kosmischen Gesetz in die Erscheinung treten und in seinem eingeborenen menschen- und völkerverbindenden Liebessinn weiterwirken muB, sei es mit oder ohne, oder auch gegen die ephemere Politik seiner kurzsichtigen Zertrümmerer. Vor allem aber ist Wien da als ein geopolitischer Organismus und als ein geradezu naturbedingtes Verkehrs- und Kulturzentrum, das keine Willkür aus der Landkarte wegwischen kann, und das als funktionelles Glied des Welt- und Völkerorganismus folgerichtig weiter arbeitet und durch nichts anderes verdrangt oder ersetzt werden kann. Nach wie vor begegnen sich hier die Völker, tauschen Ost und West ihre Güter und werden weltpolitische Probleme gestellt. Auch noch im Tiefstand und nie dagewesenen Zusammenbruch wird von hier aus, wenigstens im einzelnen das Beispiel menschlicher und kflnstlerischer Kultur aufgerichtet oder wenigstens im Spiegel einer 146 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum ruhmvollen Vergangenheit, die hier als ein Lebendiges fortwirkt, der Welt gezeigt, so daB sich die Blicke der Nationen mit einem mehr als bloB sachlichen und egoistischen, sondern gleichzeitig schier höher gearteten menschlichen Interesse nach diesem Bild alter Kulturschönheit hinwenden, als ob man dort nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell eine Sendung für die Zukunft erwarten zu mossen glaubte. Das wichtigste mitteleuropaische Problem liegt in der Tat gerade heute wieder an der Donau und heiBt Wien, das nach wie vor die Wage bildet, sowohl in den Fragen des wirtschaftlichen und weltpolitischen Ausgleiches der Völkerinteressen als in den Fragen der höheren Kultur, die für alles übrige von entscheidender Bedeutung sind. Ober das verkehrspolitische Obergewicht Wiens vermöge seiner Weltlage an dem einzigen west-östlichen Strom kann kein Zweifel sein ; hier geht die groBe VölkerstraBe durch, und hier konnte sich ein solches Emporium von Ansehen und kulturbildender Kraft entwickeln, das durch die Jahrhunderte leuchtete und heute noch, mitten im Chaos, der Welt etwas su sagen hat. Und diese Bedeutung drückt sich in dem Kunstbild dieser Stadt aus, das als altes Kulturzentrum mit dem Herzen der Menschheit unlösbar verknüpft ist, so daB man wohl sagen kann, daB das Herz der Welt hier in einer seiner starksten Pulsadern schlagt, am vernehmlichsten in der Musik, in der alten Baukunst, in der heimatlichen Dichtung eines Grillparzers und Raimunds, die als klassische Geniën Wiens schier von der himmelgeborenen Muse Calderons gesegnet sind. Nie stand die Kulturvergangenheit Wiens gröBer und lebendiger vor uns als heute in der Zeit des Kulturbankrotts und wenn Wien immer noch eine gewisse verblichene Schönheit birgt, so ist diese den immer sparlicher werdenden Resten alten Kunst- und Kulturbesitzes zu verdanken, der, soweit er nicht der Roheit und dem Ausverkauf zum Opfer failt, das tragische Bild dieser Stadt nur noch ergreifender an unser Herz rückt. Nie haben wir Dantes Wort tiefer empfunden als jetzt: kein erhabener Schmerz, als sich vergangener, glücklicher Zeiten erinnern im Elend! Es ist das Geheimnis der menschlichen Seele, daB wir in der Rückerinnerung nur die Lichtpunkte sehen, die allerdings in dem alten Kunstbild glorreich überliefert sind und dieser Stadt auch im Verfall einen unsterblichen Glanz verleihen; wir haben Mühe uns vorzustellen, daB auch diese vergangenen, „glücklichen" Zeiten von Krisen heimgesucht waren, die der heutigen verzweifelt ahnlich sehen, 147 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum woraus sich immerhin die maBgebende Tatsache ergibt, daB der Genius loei eine unverwünstliche Lebenskraft besitzt und auch die heutige Krise überwinden wird. Wie eine schöne, ferne Legende erzahlt die Historie von der regen Kunst- und Musikpflege, deren Trager der Hof, der Adel und das vornehme Bürgertum war. Im achtzehnten Jahrhundert war Wien die musikalische Seele Europas, nur London wetteiferte mit ihr, allerdings bloB was den Bedarf betrifft, nicht das Schöpferische, darin Wien den Vorrang behauptete bis Beethovens Tod 1827. Hier erhob sich das strahlende Fünfgestirn: Haydn, Gluck, Mozart, Beethoven, Schubert; der deutsche Genius siegte Ober die welsche Oper, die bis dahin AUeinherrscherin war; Josefs II. Idee einer nationalen Musik war erfüllt, noch ehe er es ahnte. Die Türkennot war vorüber, eine historische Sendung erfüllt und eine künstlerische folgte: das aristokratische Wien eines Fischers von Erlach entstand. Hof und Adel, das „allermusikalischeste, das es je gab", waren im schönsten Sinne volkstümlich durch das Band der Kunst. Die Raumkunst und die Tonkunst erfreuten sich der intensivsten Pflege und ihre reprasentative Vereinigung, die Oper, die weltliche Schwester der klangdurchzitterten Jesuitenkunst. Als wahre Volkskaiser gaben Leopold I., Josef I., Karl VI., Maria Theresia und Kaiser Josef II., ein Vorbild dem der Adel kunstbegeistert folgte. Das Palais der Schwarzenberg, EBterhazy, Liechtenstein, Lobkowitz, Kinsky, Lichnowsky, SachsenHildburghausen, die Barockpracht der Hofbibliothek, waren Schauplatz gianzender Musikfeste; der Hochadel unterhielt eigene Musikkapellen und befand sich unter den Ausübenden ; im Augarten fanden die sogenannten Kavalierkonzerte statt, die Musikerpersönlichkeiten genossen die Freundschaft der Fürsten, das musikliebende Publikum hatte Zutritt. Nach 1800 verblaBt das glanzvolle Bild; die Kunst übersiedelt in die bescheideneren Bürgersalons, neben der Pflege der Hausmusik entwickelt sich die unpersönlichere des Konzertbetriebes ; die bürgerliche Zeit der Schwestern Fröhlich mit ihrer anspruchslosen Anmut beginnt; der Hochadel zieht sich mehr und mehr zurück in ein privates Dasein und wird selbst bürgerlich; die barocke Herrlichkeit ist vorbei. Sie endet, auBerlich betrachtet, mit einèm Fanal; der Brand des Rasumofsky-Palais auf der LandstraBe mit dem kostbaren Canova-Saal, wo die groBe Kunsttradition sich noch einmal zum letzten Aufglühen vereinigt, ist gleichsam ein symbolischer AbschluB mit einem furchtbaren Feuerwerk. 148 Wien als europMisches Verkehrs- und Kulturzentrum Es müssen tiefe Ursachen gewesen sein, die mit dem Tode des Kaisers Josef II. und zu Beginn der francisceischen Zeit der aristokratischen Epoche des kunstvollen Barocks ein Ende setzte. Die Kulturgeschichte gibt uns kaum eine Erklarung für dieses plötzliche Versagen; wir müssen sie in einer inneren Wandlung des Weltschicksals suchen, das buchstablich einen Weltbrand entfacht hat. Es ist die groBe französische Revolution mit den nachfolgenden Napoleon-Kriegen, der Feind vor Wien, schlieBlich österreichische Heere unter Schwarzenberg zu Deutschlands Hilfe in der Völkerschlacht bei Leipzig und als unvermeidliches Ergebnis langer Kriegsjahre, totale Erschöpfung, enorme Teuerung, Staatsbankrott, der Reiche und Vornehme zu Bettlern, Arbeiter zu Vagabunden, Schieber zu Reichen macht und das Moralgefühl der Bevölkerung aushöhlt. ZustSnde, die den heutigen auf ein Haar ahnlich sehen. Die KongreBzeit mit ihrem Pomp ist ein Taumel, der über das Elend mit tauschendem Glanze hinweghilft und im Katzenjammer endet. Bei allem gebührenden Abstande, aber der Vergleich mit dem heutigen Wien und seinen internationalen Reparaturskommissionen ist nicht von der Hand zu weisen. Unerhörter Luxus, wahnsinnige Vergnügungssucht und maBlose Verschwendung auf der einen Seite, bitterste Not auf der anderen. Die Geschichte erzahlt uns nur von der trügerischen Lichtseite. Graf de la Garde, ein etwas dunkier Ehrenmann und Abenteurer, deren es viele im Gefolge solcher groBer Herrschaften gibt, erzahlt uns als unmittelbarer Augenzeuge in seinen, übrigens recht anziehenden Memoiren, von dem Strudel der Vergnügungen, der an die hunderttausend Fremde nach Wien zog und nennt Wien den Mittelpunkt der Welt, die Hauptstadt Europas, die Wien auch heute ist, in der schmerzlichen Bedeutung die Hauptstadt der Not, des Elends und der Verschwendung, ein Problem sich selbst und der Welt. Die Theater sind taglich ausverkauft, es ist fast ebenso schwer, selbst für teueres Geld, ein Billett zu erhalten, wie eine Wohnung. Gelegentlich entschlüpft ihm ein Seufzer über die wahnsinnigen Preise: in wenigen Monaten verdient ein Hauswirt mehr als ihm das ganze Haus gekostet hat. Wie es dabei mit der Bevölkerung stand, verschweigt die Geschichte. Niemand hat ein Bild von dem wahren Zustande des Lebens aufgezeichnet Nur gelegentlich finden sich fast schüchterne, fast verschamte Zeugnisse, die einen Zipfel des Schleiers lüften und dann umso erschütternder wirken. Wir wissen, daB der Dichter der „Ahnfrau" und der „Sappho" in den Tagen seiner ersten Erfolge keine eigene Wohnung hatte; erstens fand er 149 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum keine und zweitens konnte er sich diesen Luxus nicht leisten — denn wie heute gab es infolge der darniederliegenden Bautatigkeit eine arge Wohnungsnot und eine sündhafte Mietteuerung — er lebte mit seiner Mutter in einer elenden Kammer bei Verwandten im Schottenhof, auf deren Gnade angewiesem Grelles Licht failt aus dieser kargen autobiographischert Andeutung auf die Zeitverhaitnisse. Deutlicher noch macht Beethoven seinen tiefen Unmut gelegentlich eines Besuches des kurlandischen Arztes Karl Burey ungefahr um dieselbe Zeit Luft — fünf Jahre nach dem Staatsbankrott: „Es geht hier lumpig und schmutzig zu, es kann nicht Srger sein. Von oben bis unten herab ist alles Lump. Niemanden kann man trauen. Was man nicht schwarz auf weiB besitzt, das tut und halt kein Mertsch." Es ist, als ob er von heutigen Verhaltnissen sprache. Auch damals drangen sich niedere Elemente empor; Schieber, die sich im Kriege und an der herrschenden Not in unlauterer Weise bereichert haben, bilden sozusagen eine neue Gesellschaft Eine g3nzlich veranderte Menschheit ist da. „Der Bauer als Millionar" ist eine typische Erscheinung; durch das Marchengewand eines Ferdinand Raimund blickt eine minder poëtische Wirklichkeit durch, die man als realen Untergrund in der literarischen Betrachtung nur noch zu wenig beachtet hat Möge der Dichter Recht haben, daB der unredliche, unkultivierte Reichtum wieder zu schanden wird, wie der „Aschenmann" und der „Verschwender" mit der schlieBlichen Erkenntnis des wahren Menschentums als poetisches Gleichnis auf zweifellos geschaute, reale Erscheinungen des Lebens und gerechte Wiedervergeltung des MiBbrauches sinnbildlich vor Augen führt. Die Adelspalaste haben sich geschlossen, Biedermeier heiBt die neue Kulturform. Es war kein Ehrentitel, das Wort hatte wegwerfenden, ironischen Beigeschmack, es war eher ein Schimpt, als ob wir heute sagen würden: Schiebermeier. Der Mangel an Arbeitskraften, anMittel aller Art legte auBerste Sparsamkeit auf: es entstehen die Biedermeiermöbel, die man gegen die Vornehmheit des Barocks, gegen den klassizistischen Prunk des Empires schauderhaft empfand. Immerhin hatte das Handwerk noch den ganzen Segen der künstlerischen Vergangenheit und den Sinn für das bürgerlich Gediegene: das englische Beispiel wirkte; kurz, eine bürgerliche Kultur entstand, die bewies, wie viel kulturbildende Kraft in dem von reicher Tradition befruchteten Wiener Boden und seinem Bürgertum ruhte, so daB es die Erschütterung und soziale Umschichtung zu überwinden vermochte, die der alten aristokratisch-volkstümlichen Kultur des achtzehnten Jahrhunderts 190 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum oder deren Reprasentation ein Ende bereitete. Das literarische, künstlerische und musikalische Leben bewegte sich mehr und mehr auf dem Boden der eingesessenen Bourgeoisie, die Salons der Karoline Pichler, der Schwestern Fröhlich, der Sonnleithner, Pereira stehen im Vordergrund, um nur einige zu nennen, wobei bezeichnenderweise ein neuer Finanzadel sich hervortut. Der Hofadel übt seine Tradition im stillen weiter, wie die persönlichen Widmungen Beethovens beweisen. Es ist die Zeit Grillparzers, Raimunds, Schuberts und seines Freundeskreises. Es ist auch die Zeit Metternichs, die in dem Umsturz von 1848 einem neuen Regime weicht. Es ist das deutsche Nachspiel der groBen französischen Revolution, die Oberwindung der Restauration oder des VormSrz. Wie immer ist Umsturz jedenfalls Sturz, der kulturell Wertvolles und Edles vernichtet und neue MiBbrauche an Stelle der alten setzt, wodurch die Saat zu neuen Unruhen und Umwalzungen entsteht. Zwischen der französischen Revolution, den deutschen Befreiungskriegen, dem Jahre 1848 und dem Jahre 1866, das die Trennung österreichs vom Deutschen Reich vollzog, besteht ein innerer Zusammenhang, so gut wie er zwischen 1870/71 und dem Weltkrieg besteht, und zwar in dem Sinne, daB ursprünglich ideale Antriebe sich zu materiell egoistischen, wirtschaftlichen verharten und dadurch ihr Gegenteil bewirken. Es ist von der französischen Revolution bis zum Weltkrieg ausschlieBlich eine Frage des Bürgertums und seiner Vormacht, wobei es anfangs um die Idee und zum SchluB um das Kapital ging. Wieder tritt nach 1866 und besonders nach 1870/71 eine völlig andere Gesellschaft in die Erscheinung; der groBbürgerliche Parvenü im Gegensatz zu dem freiheitlichen Demokraten der Achtundvierzigerjahre und in noch scharferem Gegensatz zu dem stillen, aber ungleich kulturvolleren Biedermeier-Bürgertum der spaten Goethe-Zeit, auf die noch das Wort vom Volk der Dichter und Denker paBte. Die groBbürgerliche Parvenü-Weltstadt Berlin wurde nun auf Kosten Wiens, das vom Deutschtum abgedrangt und von dem kulturell niedriger stehenden ZufluB aus den slawischen Provinzen durchsetzt, sich auf sein Eigenes besinnen muBte. Ein neues Barockzeitalter entstand in den Siebzigerjahren, aber der Krach der Gründerjahre zeigte schon die innere Faulnis dieses Glanzes. Im kleineren MaBe zeigten sich auch damals Erscheinungen wie heute, aber diese Bankrotteure waren harmlos zu nennen im Vergleich mit unserer Schieberepoche. Der Parlamentarismus hatte jetzt den Sieg errungen, um den er 1848 151 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum gekampft hatte. Aber damals schon in seinen unsicheren Anfangen war seine erste Tat die Einstellung der hochberühmten Altwiener Porzellanfabrik. Das muBte über seine kulturelle Befahigung zu denken geben. Jetzt war seine Tat die Einführung der Gewerbefreiheit, die der alten, gediegenen Handwerkskunst, dieser Grundlage jeder lebendigen Volkskultur, den TodesstoB versetzte und dem Faksimile einer Talmikultur die Ara eröffnete. Es sollte nicht ausbleiben, die tote Architektur des ReiBbrettes triumphierte über die alte Baukunst, das edle Antlitz alter Stadte, Wien voran, empfing ein proletenhaftes Aussehen; das Niveau sank rapid. Die Makart-Zeit lieB verhaltnismaBig noch wenig davon spüren, man stand noch im ersten Rausch eines neuen Machtund Weltgefühls. Es war eben die erste Jugend der beiden neuen Kaiserreiche, des deutschen sowie des österreichischen. Bei uns komplizierte sich die neue wirtschaftliche, industrielle, groBbürgerliche Ara durch beginnende nationale Kampfe, die die Fugen und spateren Klüftungen des österreichischen Staates bedenklich erscheinen lieBen. Zunachst aber war die Politik von der Musik gemacht. Deutschland besaB einen Richard Wagner, österreich einen — Johann StrauB. Er machte im besten Sinne Auslandspolitikl Es war auch die Zeit eines Brahms, Hugo Wolf und Bruckner, die tiefes Deutschtum, nordisches und süddeutsches bei aller Gegensatzlichkeit verkörperten. Es war aber auch die Zeit der Operette, die den tiefen Niveauverfall beschleunigte und schlieBlich als Alleinherrscherin triumphierte. Das Burgtheater als erste nationale Bühne, von Josef II. vorausgedacht, hatte langst abgedankt. Und von der Kunst- und Theaterstadt Wien blieb nur der Operettenmarkt, der die Welt mit Kitsch versorgte. Und in Deutschland? Seit 1866 abgeschnitten, war Wien, das deutsche Bollwerk in der Türkennot, zur KongreBzeit „der Mittelpunkt der Welt" nach de la Garde, seit 1866 und 1870/71 die deutsche Reichshauptstadt eines vorwiegend slawisch-nationalistischenJLanderkonglomerats, nur mehr eine dunkle Sage für den Reichsdeutschen, der allenfalls zu wissen glaubte, daB man „in Wien auf den StraBen tanze" und weiter nichtsl Der Weltkrieg hat die innere Schwache und Haltlosigkeit einer solchen Entwicklung auf das grausamste enthüllt. Die Revolution von 1918, die nach einem unerbittlichen Gesetz aus einer solchen Lage hervorgehen muBte, war keine Angelegenheit des Bürgertums mehr, wie noch Anno 1848, obzwar sie mit Hilfe des Bürgertums vor sich ging. Sie war eine Angelegenheit des Proletariats, des vierten Standes, und hat ihre Geschichte, die auf ein anderes Blatt gehört, obzwar 152 Wien: Votivkirche Wien als europalsches Verkehrs- und Kulturzentrum sie eng mit diesem Geschichtsvorgang verknüpft ist. Wir haben nur die kulturellen Resultate festzustellen. Wieder zerbricht Edles, das Kultur heiBt. Und herrschend wird, was weder Kulturtradition hat, noch nationale Wurzelkraft, noch auch die Fahigkeit, neues Leben aus den Ruinen zu erwecken. Zwar kokettiert man mit Kulturvergangenheit, veranstaltet kitschige Beethoven-Ausstellungen und verschleudert unersetzlichen Kulturbesitz. Was weder der Hunne noch der Türke vermochte, nicht Soliman und nicht Kara Mustapha — der Barbar im eigenen Volke bringt es fertig. Alle Erschütterungen früherer Jahrhunderte brechen in dieser apokalyptischen Zeit zugleich Ober diese tragische Stadt herein. Verzehnfacht empfangen wir diese Segnungen. Was den Feinden Maria Theresias nicht gelang, die Zertrümmerung, den inneren Feinden ist es jetzt gelungen. Wir haben die Not, die Teuerung, das Wohnungselend der Napoleonzeit, nur ins Gigantische gesteigert. Wir haben internationale Gaste wie in der KongreBzeit, nur sind es keine Kaiser und Könige, sondern die Hefe und diese zumeist aus östlichen Gebieten. Wir haben auch den Luxus, den Vergnügungstaumel, nur ist er bar jeder Anmut. Wir haben eine moralischeVerkommenheit oder einen Tiefstand der öffentlichen Moral, wie sie kaum Beethoven ahnte, als er zornig ausrief: „Von oben bis unten alles Lump!" Wir haben Kaffeehauspolitiker wie im Jahre 1848, überhaupt nur mehr „Politiker", nur haben wir keine Münner der Arbeit und des Neuschaffens. Wir haben keine Biedermeier, dafür aber Schiebermeier. Wir haben Bettler und Vagabunden, die Reiche sind und Reiche, die Bettler sind, ganz wie einst. Wir haben eine weltunmittelbare Reichshauptstadt, nur hat sie kein Reich auBer ein paar aufsaBigen Provinzen, die uns absperren und die man heute mit unbewuBter Ironie „Bundeslander" nennt. Wir haben — ganz raimundisch — Bauern als MillionSre, aber keine Lebensmittel — dafür haben wir Schleichhandler. Wir haben auch „Aschenmünner" — nnr sind das nicht die bestraften Wucherer und Prasser, sondern die verarmten Kulturdeutschen Wiens, der geistige Mittelstand, die eine Kontinuitat des alten besseren Wiens darstellen und das eigentliche Opfer sind inmitten einer heutigen so völlig fremden und veranderten „Gesellschaft". Nach der heutigen Lage der Dinge weiB der Kulturdeutsche Wiens, daB er allein steht in der Welt, auf nichts gestützt, als auf sein Menschentum, aber gerade darum hat er Ankergrond unter sich. Hinter ihm steht die grandiose, geistige und künstlerische Architektur Wiens, das seinem lebendigen BewuBtsehrzur metaphysischen Heimat 153 Wien als europaïsches Verkehrs- und Kulturzentrum geworden ist, die er verkörpert und von deren Ewigkeitsgianz weder der Verfall noch selbst der Untergang etwas wegnehmen kann. Er hat ja so viel AuBeres verloren, 'daB ihm fast nur mehr dieses bleibt. Aber es ist ein Wesentliches, Unsterbliches, wie ein Symbol oder ein Sternbild. Wandelt er durch die StraBen, so sprechen sinnfallig die Zeichen einer geradezu musikalischen Kultur, die unendliche Gleichnisse setzt, zu ihm, wie sparlich sie auch mit der Zeit geworden sind und geben der Stadt ihre vertieften ZUge, die auch in der internationalen Überflutung im besten Sinne ein Nationales, Wurzelhaftes und darum nicht petrefakenhaft Historisches, sondern fühlsam Lebendiges sind, dem er sich überzeitlich verwandt weiB. Darum sage ich, daB Vergangenheit nie so lebendig war als in einer Gegenwart und ungewissen Zukunft, die wie eine Sintflut hereingebrochen ist. In einer solchen Zeit sucht man das Eigenste und Innerste, den Quell seiner Wesensart, ein unwillkürlicher Akt der Selbstbehauptung, die hier charaktervoll ist. Und selbst das Leid der Vergangenheit, deren Oberwindung diese Steine aller Jahrhunderte konden, wird Quell des Trostes und Zukunftshoffnung einer besseren Menschlichkeit, die auch diesen Tiefpunkt zu Qberwinden strebt. Denn das ist das heimliche Wien, das überdauerte; nicht die Hunnen und Türken waren Wien, nicht das Lumpenpack der Beethovenzeit, nicht der Pöbel vom grünen Tisch, der Parlamente und der Revolutionen, auch nicht die Barbaren von heute, weder die kleinen, feisten Prasser und Schieber, die landfremden Elemente, noch die Massen der Verrohten und Gemeinen, die das vergeistigte Bild entstellen, auch wenn sie zufallig da geboren sind. Auch nicht die Indolenten und die böhmischen Hofrate, diese Verhinderer in jeder Gestalt sind Wien; das überdauernde, ewige Wien sind jene Meister, die seine geistige und künstlerische Kultur schufen und ein hohes Menschliches auch in Not und Anfechtung trotz [des Undanks der Mitwelt sichtbar machten. Dieses Geistige besteht in einem höheren Sinn und gibt dieses einzigartige Lebensgefflhl, das sich immer am Ziele weiB, diese tiefste Kultur, die den ewigen oder höheren Menschen sichtbar macht, wahrend die aufgerflhrte Hefe, der schmutzige Schlamm immer wieder zu Boden sinkt. So ward alte Not vergessen und nur das leuchtende Bild verblieb; so wird vielleicht auch einmal die heutige Not vergessen sein und das krönende Bild vieler Jahrhunderte und Kulturepochen im reineren Glanz vor der Zukunft stehen als eine Menschheitsldee. Denn das ist Wien und es verkörpert darum in seiner GröBe und Tragik ein Allmenschliches, nicht einen „Sonderfall", sondern das Schicksal des Edlen. 154 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum Nicht ohne Absicht habe ich die Tragik Wiens berührt, die insbesonders in dieser Zeit so ergreifend in die Erscheinung tritt. Es ware töricht, darüber mit Stillschweigen hinweggehen zu wollen. Das Edle, das hier zerstört ward, erhebt eine stumme Klage, die sich an die ganze Menschheit richtet. Die Welt würde um einen ihrer groBen Lichtpunkte armer, wenn diese Stadt mit ihrer reichen Kulturüberlieferung von der Erdoberflache wegzudenken ware. Ein solches Verschwinden ist glücklicherweise nicht anzunehmen; die Himmelsmachte haben schon dafür gesorgt, daB Wien Wien bleibt vermöge der ganz auBerordentlichen Weltlage, die immer wieder die Völker hier zusammenführt und den ProzeB einer unerschöpflichen Kulturbildung weiterentwickelt. Unendlich reich gedüngt ist der Boden an solchen Oberlieferungen, die immer neues Blühen und neue Keimkraft bergen und nicht nur an solchen idealen Gütern, sondern auch an Talenten, die sich immer wieder in einer Qualitatsproduktion auf allen Gebieten des guten Geschmacks, des Edelgewerbes und des Kunsthandwerk» hervorgetan haben, sondern auch an unmeBbaren Schatzen des Bodens im Hinblick auf das weitere österreich, die zum groBen Teil freilich erst gehoben werden müssen und als solche aber ungeahnte Möglichkeiten erschlieBen. Aus alledem schöpfe ich die Berechtigung, dieses 0sterreich mit seiner glanzenden Hauptstadt Wien das reichste Land der Erde zu nennen; vor allem aber schöpfe ich daraus seine Daseinsberechtigung, seine Anwartschaft auf die Zukunft, der Überwindung, der gegenwartigen, allerdings schwersten Lebenskrise, nicht der einzigen und ersten, die bereits überwunden werden muBten, wie ich hier geschildert habe, um zu zeigen, daB das Wort Nietzsches auch hier seine Geltung hat: was mich nicht umbringt, macht michstarker! Es kann Zeiten der Schwache, des Rückschlages, der Katastrophen geben, wie heute; die innere Lebenskraft, die zugleich eine innere Ausstrahlung des Bodens ist und immer neue Krafte erzeugt, ist ungebrochen und unverwüstlich; sie ist, wie gesagt, ein Himmelgegebenes, durch die zentrale Lage Bestimmtes, eine magnetische Ausstrahlung dieses Bodens und dieser Himmelslage selbst, die hier eines seiner starksten atherischen Kraftfelder geschaffen hat, einen dei unvermeidlichen Anziehungspunkte der Erde, was ja in dieser immer erneuerten Kulturblüte und in diesem unversiegbaren Fremden- und Wirtschaftsverkehr zum Ausdruck kommt. Was der Fremdenverkehr volkswirtschaftlich bedeutet, sei an anderer Stelle anseinandergesetzt. Was der Wirtschaftsverkehr seit Anbeginn hier zu bedeuten hatte und umgekehrt wieder für die Welt bedeutet, das lesen wir wieder aus dem 155 Wien als europaisches Verkehrs- und Kulturzentrum Antlitz der Stadt, aus den alten'Namen, aus den Haus- und StraBenbezeichnungen heraus, die gleichzeitig eine lebendige Chronik sind. Ich erwahne nur Beispiele wie den Regensburgerhof am Lugeck oder die Kölnerhofgasse oder an die Grünangergasse (am „grünen Anger" als Stapelplatz), die das Gedachtnis an die Warenlager und Faktoreien der Regensburger und Kölner Kaufleute überliefern und daran erinnern, daB Wien seit jeher der wichtigste Umschlagplatz für den Verkehr des deutschen Handels nach dem Osten war. Die zentrale Weltlage dieser Stadt und ihre Wichtigkeit für den Weltverkehr war in den frühesten Zeiten bekannt und genützt. Je mehr sich die zerstörenden Krafte von heute bemüht haben, das völkerverbindende Wien und österreich aus dieser Geltung, die zugleich seine geschichtliche Mission ist und seinen Bestand für alle Zukunft sichert, zu verdringen, desto nachdrücklicher macht sich diese Bestimmung als eine fühlbare Notwendigkeit für den Weltverkehr geltend. Wie sehr man zum Beispiel in SOddeutschland mit dieser Tatsache für die Zukunft rechnet, beweist die erhöhte Aufmerksamkeit, die man wirtschaftlich den bayrischen WasserstraBen, dem Mainkanal und der Donau zuwendet. Der alte Kosmopolit unter den Strömen wird wieder die Völker von West und Ost verbinden; die zentrale Weltlage Wiens wird mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Wirtschaftsmachte aller Lander erzwingen und eine Politik, die ihr entgegenarbeitet, ist von vorneherein zum Fiasko verurteilt. Trotz allem, was über diese Stadt hereinbrach, über eine noch düstere Gegenwart hinweg steht die Zukunft fest; sie beruht mit auf dem festen Pfeiler einer ruhmreichen und kulturkraftigen Vergangenheit. Austria in orbe erit ultima! 156 Österreichs Dichtung seit dem Umsturze Karl Wache War das literarische Leben im alten Österreich schon recht mannigfaltig und zersplittert, indem es die scharfsten Gegensatze in sich vereinigte, so bietet der Spiegel des Schrifttums im neuen österreich das Bild noch gröBerer Zerklüftung. Es rührt dies nicht allein davon her, daB neue Geistesströmungen mit dem Umsturze in Bewegung gesetzt wurden, sondern hangt zum Teile auch damit zusammen, daB das seit langem erloschene Verlagsleben eine neue, wenn auch kurze Blütezeit erfuhr. Denn nach der Tragheit der Verlegertatigkeit in den letzten 30 Jahren zeigte sich seit den Umsturztagen mit einem Male eine Rührigkeit und eine Unternehmerlust im Verlagswesen, daB der Büchermarkt mit neuen Druckwerken geradezu Oberschwemmt wurde. Eine Reihe neuer Verlage entstand — Tal-Verlag 1919, WilaVerlag 1919, Burg-Verlag 1920, Rikola-Verlag 1921 —, altere Verlagsunternehmungen erlebten einen neuen Aufschwung — Strache in Warnsdorf, Kienreich in Graz, Manz, Frick, Urban & Schwarzenberg, Löwit in Wien — und dieser Umstand wirkte machtig fördernd und anregend auf die Schaffenskraft der Dichter. Freilich wurde hiebei wenig Wertvolles zutage gefördert und nur selten kam ein neuer wahrer Dichter hiebei zu Worte. Auch neue Dichter- und Schriftstellergesellschaften entstanden, ohne jedoch sonderliche Bedeutung zu erlangen; dagegen behaupteten die beiden altbewahrten Schriftstellervereine, die Deutschösterreichische Schriftstellergenossenschaft und die Concordia, ihre führende Stellung. Daneben nahm der Reichsbund deutscher Mundartdichter einen erfreulichen Aufschwung. Aber diesem reichen Dichterwalde steht nicht eine einzige Zeitschrift zur Verfügung. „Donauland", „Österreichische Rundschau" und 157 Österreichs Dichtung seit dem Umsturze die „Österreichische Illustrierte Rundschau" muBten infolge der allzu groBen Abgeschlossenheit und Zurückhaltung ihrer Schriftletter eingehen, so daB heute Wien geradezu ohne eine einzige führende Zeitschrift dasteht Von nahezu allen Dichtern, gleichgültig, in welchem Lager sie stehen mögen, muB gesagt werden, daB sie sehr fleiBige und flinke Schreiber sind, so daB die Menge des Geschaffenen die Güte um ein weites überbietet; dazu wird diese Kunst durch eine starke Freundschaftspflege gehalten, die es auch mit sich bringt, daB alle Verlagsunternehmungen, das gesamte Bühnenwesen und ebenso, wie bereits erwahnt, die Herausgabe von Zeitschriften stets nach kurzer Blflte jah verfallen und eingehen. Aus der Masse der dichterischen Erscheinungen lassen sich mehrere bedeutende Geistesrichtungen klar herausarbeiten. Da ist fürs erste die durch die ganze deutsche Dichtung der Jetztzeit durchgangige breite Bewegung der Romantik und des romantischen Realismus in allen seinen Erscheinungsformen zu nennen; zum anderen tritt die zeitgemaBe Strömung des Naturalismus stark zutage; drittens meldet sich gelegentlich die klassizistische Richtung zum Wort; vereinzelt auBert sich auch der Expressionismus; daB daneben geschaftiges Unterhaltungsschrifttum und eingebildetes Kaffeehausliteratentum mit groBer Gebarde und schreiender Aufmachung Qppig in die Halme schieBen, ist bei dem Wiener GroBstadtboden nur zu selbstverstSndlich. Die romantische Richtung umfaBt die weitaus gröBte Gruppe von Dichtern; doch sind hier wieder verschiedene Spielarten zu unterscheiden. In unserer Zeit ist es begründet, daB der Roman gegenüber Drama und lyrischer Dichtung eine starke Vormachtstellung genieBt. Besonders wird der Heimat- und Lokal-, der Künstler- und Studentenroman gepflegt, wahrend der geschichtliche Roman mehr zurücktritt. Führend und richtunggebend wirkte der Altmeister der österreichischen Dichtung unserer Tage, der soeben verstorbene Adam Müller-Guttenbrunn, der ein reiches Lebenswerk hinterlassen hat Seine beiden ungarlandischen Romandreiheiten krönte er mit einer neuen Romandreiheit, dem Künstlerroman „Lenau", der auf ungarischem und Wiener Boden spielt „Sein Vaterhaus" führt die Jugend Lenaus in meisterhafter Weise dem Leser vorAugen; „Damonische Jahre" stellt seine weitere Entwicklung dar; „Auf der Höhe" zeigt Lenau in seiner reifen Zeit und das jahe Ende. Ein hübscher Novellenband „Aus herbstlichem Garten" ist das letzte Werk des Meisters. 158 Österreichs Dichtung seit dem Umsturze Müller-Guttenbrunn zunSchst an Ruhm und Alter steht Emil Ertl, der seit seinem letzten Romane, „Das Lacheln Ginevras", mit dem Buche „Der Berg der LSuterung" hervorgetreten ist. Der romantische Erzahler und Novellist Wilhelm F i s c h e r-Graz, weitaus der ülteste der österreichischen Dichter, veranstaltete eine Gesamtausgabe seiner Werke im Rikola-Verlage. Rudolf Hans Bartsch ist wohl noch immer einer der gelesensten Dichter. Nicht weniger als neun Romane schuf er seit dem Umsturze. Im „Heidentum" verkündet er die Rückkehr zur Natur, im „Ewigen Arkadien" den Siedlungsgedanken. Der „Landstreicher" (bei Rikola) ist wieder ein Roman der alteren Richtung Bartschens, ahnlich dem „Deutschen Leide", im Stimmungsgehalte dem Eichendorffschen „Taugenichtse" nahekommend. Die weiteren Romane setzen die bereits mit „Er" begonnene Reihe der Gedankendichtungen fort. „Seine Jfldin oder Jakob Böhmes Schusterkugel" beschaftigt sich mit der Rassenfrage und spricht sich für eine reinliche Scheidung der Rassen in der Ehe aus. Die Beziehung auf Jakob Böhme ist rein auBerlich: der Romanheld ist ein Nachfahre Jakob Böhmes und besitzt dessen Schusterkugel. „Das Tierchen" geifielt das heutige Schiebertum und die damit emporgekommenen geistlosen Weiber. „Mozarts Faschingsoper" steilt Mozart in den Mittelpunkt der Handlung, daneben spielen Kaiser Josef und de Ligne eine bedeutende Rolle. Die Entstehung von „Cosi fan tutti" bildet den Inhalt des Buches. Die drei neuesten Werke des rührigen Dichters gehören wieder zu den Gedankendichtungen und bilden eine Romandreiheit; sie stellen den Königs-, den Satans- und den Gottesgedanken einander gegenüber. „Der Königsgedanke"istein alttestamentlicherSaul-Roman; im „Satansgedanken" will ein moderner Faust die Welt vernichten; der bereits bekannte Roman „Er" bringt den Erlösungsgedanken. Einen wunderschönen Heimatsroman mit liebevoller Kleinmalerei und fast an Jean Paul heranreichendem Stimmungsgehalte in der Mischung von Heiterkeit und Wehmut schrieb Karl Hans Strobl: „Die alten Türme", ein Buch, in dem eigentlich nicht die Menschen, sondern die Landschaft selbst die Heldin ist, die altberühmte Stadt Iglau. Strobl bewegt sich auch auf dem Gebiete des spiritistischen und okkultistischen Romans: „Umsturz im Jenseits", „Gespenster im Sumpf". In dem letzteren Romane wird auch ein satirisches Bild des Wien nach dem Umsturze entworfen. Ahnliche Bahnen wandelt Paul Busson. Sein Roman F. A. E. (Wila) bringt ein Zukunftsbild: Die Bekehrung der Menschheit zum 159 Österreichs Dichtung seit dem Umsturze Friedenswillen mit Hilfe der technischen Errungenschaften; „Die Wiedergeburt des Melchior Dronte", mit prachtigen Bildern aus der Zeit des DreiBigjahrigen Krieges, stellt sich als Roman okkulten Gehaltes dar. Walter v. Molo vollendete seine groBe Romandreiheit aus der Zeit Friedrichs des GroBen, „Ein Volk wacht auf. Wahrend Ida Maria Deschmann in ihrem „Sonnegghof ihre steirische Heimat vorführt, spielt der „Wachtmeister Pummer" von Egyd Filek in Niederösterreich; beides sind Romane, denen der Erdgeruch ihrer Heimat anhaftet und die mit liebevoller Versenkung in das Innenleben ihrer Helden geschrieben sind. Rudolf Greinz ist neuerdings mit Tiroler Romane hervorgetreten. Ernst Decsey hat in der „Stadt am Strom" abermals einen Alt-Wiener Roman geliefert. Schwerblütig - romantisch, völlig dem Stoffe angepaBt, ist E. G. Kolbenheyer, der im „Gestirn des Paracelsus" den Aufstieg seines Helden, des berühmten Arztes des sechzehnten Jahrhunderts, Theophrastus Bombastus Paracelsus, darstellt. Josef August Lux, bestbekannt durch seinen Grillparzer- und Schubert-Roman, stellt in seinem Romane „Das groBe Bauernsterben" den Bauernkrieg unter Stephan Fadinger dar. In die deutsche Geschichte und Heldensage greifen Emil Lucka und Karl Wache. Lucka stellt in seiner „Fredegund" die geschichtlichen Ereignisse dar, die dem Nibelungenliede zugrunde liegen, Wache führt dies in seinem Karolinger-Romane „Roland" für das Rolands-Lied durch. Der Meister des Künstlerromanes ist Robert Hohlbaum, der in seinen „Unsterblichen" eine lange Reihe deutscher Dichterfürsten vorführt, wobei er zumeist nur einen — den fruchtbarsten — Augenblick aus dem Leben eines Helden herausgreift und lebendig und ergreifend vorführt: Fischart, wie er zur „Flohhatz" angeregt wird; Hoffmanns Ende; Kleists Aufenthalt in Weimar; Grillparzers letzten Ausgang und anderes. „Der wilde Christian" (Rikola) behandelt das Leben des unglücklichen Dichters Günther in Romanform, doch hat der Leser das Empfinden, als ob das Letzte und Tiefste im Helden unausgeschöpft und ungeschrieben geblieben ware. Ein zweiter Band der „Unsterblichen" ist in Vorbereitung: acht Tondichter — Bach bis Bruckner — werden, ahnlich wie im ersten Bande, in den Höhepunkten ihrer Kunst dargestellt. 160 Wien: Volksgarten mit dem Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museum österreichs Dichtung seit dem Umsturze Gleichfalls ein Künstlerroman ist Emil Hadinas Buch „Die graue Stadt — die lichten Frauen", das Theodor Storm als Romanhelden einföhrt „Von deutscher Art und Seele" ist ein Erbauungs- und Trostbuch in dieser Zeit der deutschen Schmach. Stüber-Gunther, der Frühverstorbene, ist als Schöpfer eines Raimund-Romanes, „Rappelkopf", zu nennen; das „Wirtshaus an der Gams" ist eine heitere Erzahlung. Franz Karl Ginzkey hat nur ErzShlungen und Plaudereien erscheinen lassen: „Der Doppelspiegel" (Wila), „Von wunderlichen Wegen" (Staackmann). In die Wirklichkeit der Gegenwart führen Hohlbaums Romane „Grenzland", „Die Zukunft"; ersterer führt die Unterdrückung der Deutschen in den sudetenlandischen Gebieten durch die Tschechen vor, dieser nimmt die augenblicklich schwierige Lage des deutschen Volkes zum Ausgangspunkte und vertröstet auf eine bessere Zukunft. Gleichfalls in der Wirklichkeit fuBt Franz Nabl, dessen „ödhof", 1921 neu aufgelegt, ein prachtiges Familiengemalde entrollt. Ebenso wurzelt Grete Urbanitzky mit ihrem neuen Buche „Die goldene Peitsche" in den realen Verhaitnissen unserer Tage. Das gleiche gilt von Roderich Meinhart, dem Sohne Adam MüllerGuttenbrunns, dessen Romane „Wiener Tot en tanz" und „Die vergessene Stadt" als österreichische Sittenbilder anzusprechen sind. Realistisch gehalten ist Jakob Wassermanns Roman „Christian Wahnschaffe" und seine Novellen „Der Wendekreis". Modernes Schiebertum in Berlin führt Kurt Frieberger in seiner „Danae" vor. Kunstgeschichtliche Züge in der Art des Romanes der alteren Romantik weist Hans Hofmann-Montanus' prachtige Erzahlung „Eden auf Erden" auf, die die künstlerischen und landschaftlichen Reize von zehn Salzburger Schlössern an der Hand einer lose geknüpften Handlung vorführt. Durchaus romantisch sind die Marchen „Regenbogen" von Oswald Menghin, der wie Richard Schaukal, Enrica HandelMazzetti („Ein deutscher Held") und Maria Eugenie delle Graz ie („Homo") dem katholischen Kreise des „Gral" nahesteht. Einen Kreis für sich bilden die Mundartdichter mit Ludwig Hörmann als ihrem Nestor an der Spitze, dessen Gedichtsammlung „Spatobst" eine herrliche Auslese seiner heiteren, launigen Gedichte bringt. KarlBachers „Südmahrische Gedichte", Zephyrin Ze111 s drei Sammlungen„Waldlerisch",„Woldgsongla", „Bon uns dahoam", Franz Pschorns „Stade Stunden", Karl jagers „Wias mar 11 161 Österreichs Dichtung seit dem Umsturze einfallt", Hans Fraungruber mit „Ausseer G'schichten", Josef Reichl mit „Hulzschnitt" u. a. gehören hieher. In der Gefflhlsdichtung ist als neu entdeckter Lyriker Josef Weinheber besonders hervorzuheben, dessen Gedichtsammlung „Der einsame Mensch" im Tal-Verlage erschienen ist. Hohlbaum hat „Deutsche Bi ld er" herausgebracht. Die „Wila" gab „Wiener Elegien" von J. A. Lux und „Sieveringer Sonette" von Kurt Frieberger heraus, ferner Gedichte von Alfons Petzold „Gesang von Morgen bis Mittag". Reicher Stimmungsgehalt und edle Formgebung ist all den genannten Lyrikern eigen. Aus den vielen Gedichtsammlungen neuerer Lyrik seien ferner die von Heinrich Fogar „Waschgold" (Leipzig, Poeten-Verlag), die eine Anzahl recht stimmungsvoller und tiefer Gedichte bringt, von Erika SpannRheinsch, Friedl Schreyvogl und Hans Nüchtern herausgehoben. Der Hauptvertreter der klassisch-asthetischen Richtung ist noch immer Hugo Hofmannsthal, der indessen in letzterZeit mehr zurücktritt. Heinrich Studer, ein Schüler Spittelers, schwankt zwischen klassischer Formpragung und naturalistischer Urwüchsigkeit Von diesem Klassizismus laBt sich daher leicht eine Brücke zum Naturalismus schlagen. Herrscht im romantischen Realismus die Gattung des Romans vor, so überwiegt — es liegt dies im Wesen der Sache — in der naturalistischen Richtung weitaus die Vorliebe für das Drama. Anton Wildgans, Karl Schönherr und Artur Schnitzler beherrschen den Spielplan der Wiener Schaubühnen. Bei Wildgans schiagt in ein und demselben Stück der Stil urplötzlich um: zumeist beginnt er in derbstem Naturalismus und erhebt sich spater zu einem hohen klassizistischen Odenstil. Seine jüngsten Dramen sind: „Dies irae" und „Kain". Wahrend Schönherr seinen Stoffkreis im Menschen und in der Scholle sucht und mit herben, wuchtigen Strichen und glanzender Kunstfertigkeit im dramatischen Aufbau seinen Stoff behandelt, arbeitet Schnitzler in seiner letzten Schaffenszeit durchaus mit zarten, feinen Strichen und bevorzugt dunkel abgetönte Schicksale, ohne indes einem sittlichen Ziele dienen zu wollen. Von Schönherr stammen die Dramen „Kindertragödie", „DerKampf" und „Es". In dem letzten Stück spielen nur mehr zwei Personen fünf Aufzüge hindurch, nachdem sich Schönherr schon in seinen früheren Dramen allzu groBer Sparsarakeit mit Personen befleiBigt hatte. „Vivat academia" ist eine Komödie, der es jedoch infolge der galligen Zweckrichtung an dem nötigen MaBe von Frohmut gebricht. Von Schnitzler ist „Casanova in Spa 162 Österreichs Dichtung seit dem Umsturze oder die Schwestern" zu nennen. Hans MüHer hat mit seinen Schauspielen „Der Schöpfer" und „Sterne", wie seinerzeit mit den „Königen", grofies Aufsehen, doch keine innere Wirkung erzielt. Alfons Petzold hat sich nicht nur auf lyrischem Gebiete betatigt, wo er, wie bereits erwahnt, heute mehr romantische Wege geht, sondern auch Novellen und Romane geschrieben — „Erde", „Das Lach ein Gottes" u. a. —, doch offenbart er hiebei eine düstere, schwarzseherische Weltanschauung, die wenig erfreulich anmutet: nicht das Lob der Arbeit, die Erhebung des Menschen durch die Arbeit wird besungen, sondern es wird dargestellt, wie die Menschen bei der Arbeit und durch sie zugrundegehen. Peter Altenberg, der geistvolle Plauderer und Bummler, das literarische Wahrzeichen Wiens, ist nicht mehr. Seine verschiedenen Gedankensplitter und Skizzen sind in zahlreichen Sammlungen aufgelegt worden, von denen eine der letzten „Vita ipsa" ist. Die neue Strömung des Expressionismus, die sich zuvörderst dadurch auszeichnet, daB sie um jeden Preis etwas Neues, noch nie Dagewesenes bringen will und sich auf diese Weise vom Herkömmlichen und Oberlieferten völlig unterscheidet, hat in Österreich nicht sonderlich viele Vertreter. Franz Werf el ist unter ihnen der bedeutendste, daneben sind noch Oskar Maurus Fontana, Albert Ehrenstein, Georg Kulka und E. A. Rheinhardt zu nennen. Drama und Lyrik sind die Gebiete, die ihnen am meisten liegen. Werfels Stücke „Spiegelmensch" und „Bocksgesang" wurden unter starkem Widerspruch im Wiener Burgtheater aufgeführt, letzteres erlitt eine scharfe Ablehnung, da sein Inhalt — die Geschichte der Verirrung einer Frau mit einem Bocke — allzu anrüchig auf der ersten Bühne österreichs erschien. Von Fontana erschien im Tal-Verlag ein Novellenband „Empörer", der wenig von expressionistischer Eigenart verrat; es sind Novellen mit starkem pessimistischen Gehalte, ohne besondere Eigenart zu verraten. Die lyrischen Dichtungen der Expressionisten sind mehrmals in Sammelbanden erschienen, zuletzt bei Strache: „Die Botschaft". Werfel hat seine Gedichte als „Gerichtstag", Ehrenstein als „Die Gedichte", Kulka als „Der Stiefbruder" herausgegeben. Was daran ursprünglich und neu sein will, hat vom deutschen Geistes- und Gefühlsleben so weit Abstand, wie etwa die Kunst der Malaien oder Fidschi-Insulaner. Ob dereinst daraus für die deutsche Kunst fruchtbare Keime gezogen werden können, steht dahin. 11' 163 Heimat Robert Hohlbaum Nie war ich dir inniger verbunden, Als in diesen schweren, dunklen Stunden, Da verschlossen mir dein gastlich Tor, Da dein Wappen trSgt den dunklen Flor, Heimat I Nie fühlt' ich das Wehen deines Windes Mit der Muttersehnsucht eines Kindes, Das im letzten, bangen Angstgebet Fürchtet, daB ihr Atem stille steht, Heimat I Deine Berge waren nie so nah', Als ich sie mit sattem Auge sah. Deine Wëilder rauschten nie so sacht', Wie in meine ferne Sehnsuchtsnacht, Heimat! An die Tiroler Br. Willram LaB ab von unfruchtbarem Gram, Du Volk in Schmach und Not; Dein Adler ist nur flügellahm, Dein Adler ist nicht tot; Und eine heiSe Hoffnung schlagt Aus seiner Blicke Brand, Die wieder ihn zur Sonne trëgt lm freigeword'nen LandI 164 Musik und Theater Max Millenkovich-Morold In der Musik kommen die Eigenschaften des Österreichers, zumal des Wieners, am klarsten und eindruckvollsten zur Geltung: Gemütswarme, Sinnlichkeit, Phantasie, Freude am Schonen. Die Musik ist die Sprache des Gemütes; „vom Herzen, moge es wieder zum Herzen genen", schrieb Beethoven über seine Missa solemnis; und Wagner konnte „den Geist der Musik nicht anders fassen als in der Liebe". Die Formen aber, deren sich diese Sprache bedient, sind bewegte Töne, Tongestalten, deren plastische Bildung, architektonische Gliederung und ornamentale Verzweigung an und für sich eine Kunst ist und künstlerisches Vergnügen gewahrt. Zur Meisterschaft in dieser Kunst gehört eine reiche Phantasie, ein nie erlahmendes Vermögen zu kombinieren und zu komponieren, wovon diese Kunst ja auch ihren Namen hat Doch das rechte Vergnügen bereitet sie nur und dem Hauptzweck der Musik, dem seelischen Ausdruck, dient sie nur dann in der rechten Weise, wenn mit der tonsetzerischen Erfindungsgabe auch die sinnliche Freude am Klang und an den Klangfarben gepaart ist, wenn all der Zauber, den die Singstimmen und die Tonwerkzeuge entfalten können, in die künstlerische Arbeit miteinbezogen wird, wenn die Tongestalten nicht bloB bleiche Schatten sind, die das „Auge des Ohres" forschend wahrnimmt, sondern wenn sie blühendes Leben haben und die Lust des Hörens erregen, ja das ganze Nervengefüge der Hörer wohltatig erschüttern, daB die Tore der Seelen sich um so leichter öffnen. All diese unentbehrlichen Bestandteile der Tonkunst sind im österreichischen Wesen in der starksten Anlage vorhanden. Es ist kein Zufall, daB die österreichische Musik eine Art Weltsprache geworden ist, daB man auf der ganzen Erde Haydns, Mozarts, Schuberts Weisen spielt und singt und StrauBische Walzer tanzt. Es ist ein notwendiges Merkmal des Wiener Lebens, daB hier alle Gesellschaftskreise sich am liebsten musikalisch unterhalten, 165 Musik und Theater musikalisch begabt sind, musikalisches „Verstandnis" haben und fortwahrend beachtenswerte Musiker und Musikwerke aus sich hervorbringen. An diesen Verhaltnissen hat sich seit dem Umsturze nichts geandert. Ja, die Musikliebe und das musikalische Können, die hier zu Hause sind, haben sich in den letzten Jahren noch besonders entwickelt, als wollten sie für so viele Enttauschungen und Entbehrungen, unter denen das Volk leidet, Trost und Ersatz bieten. Zur selben Zeit, als der groBe Kreis des gebildeten Bürgertums, des Beamtenstandes und der sogenannten „geistigen Arbeiter", namentlich auch der studierenden Jugend — der vorher stets den regsten Anteil am Kunstleben genommen hatte — von schweren wirtschaftlichen Sorgen. ja von Not und Armut bedrangt wurde und sich gewöhnen muBte, auf alles „Überflüssige" zu verzichten, und als zugleich die Kosten öffentlicher Musikaufführungen von Tag zu Tag ins Ungemessene stiegen und schlie&lich nur mehr für die Allerreichsten bestimmt zu sein schienen, da war dennoch die allgemeine Teilnahme für gute Musik, für edle Darbietungen eine so groBe, daB nicht nur die alten, tüchtigen und bewahrten Unternehmungen, wie etwa die Gesellschaft der Musikfreunde und der Wiener Konzertverein, ihren Betrieb ununterbrochen und unvermindert aufrechthalten konnten, sondern auch eine ganze Menge neuer Veranstaltungen dem wachsenden Bedürfnisse zu genügen suchte. Es gibt allerdings auch Wiener — vorwiegend aus dem Arbeiterstande — die nach dem Umsturze in groben Materialismus versunken sind und es ist schon sprichwörtlich geworden, daB viele ihre Lohn- und Gehaltsforderungen nach dem Preise des ihnen unentbehrlich dünkenden „Viertel Wein" bemessen. Der Mittelstand aber, dessen Löhne und Gehalte verhaitnismaBig hinter jenen der meisten Arbeitergruppen weit zurückgeblieben sind, sinnt und rechnet, wie er sich trotz der fortschreitenden Verringerung seines Einkommes nicht geistige Getranke, sondern wirkliche Geistesnahrung, Labung und Erfrischung für seine dürstende Seele zu kaufen vermöchte. Das „Viertel Wein" und der heiB begehrte Trunk aus dem Becher der Kunst haben übrigens den gleichen Ursprung: auch der bestbezahlte Handarbeiter spürt das österreichische Elend und die Unsicherheit seines persönlichen Daseins, jeder Stand und Beruf wie jeder einzelne trachtet über die Qual der Gegenwart hinwegzukommen und den auf ihm lastenden Druck wenigstens für Stunden zu erieichtern. Das tut dann jeder in seiner Weise, nach den Oberlieferungen seiner Geschichte und den Geboten seiner Um- 166 Musik und Theater welt: der eine, dem die so lange vorenthaltenen irdischen Freuden als bedeutsamste Errungenschaft gelten, langt5 nach den „Sorgenbrecher", der andere, dessen Gemeingefühl und Selbstlosigkeit stSrker ist, da er ja immer nur für andere gelebt hat, nach der liebevollen Hand der Trösterin Musik. Die überfüllten Weinhallen mögen manchem Laster Vorschub leisten, aber sie sind auch Erholungsstatten und Vergnügungsorte, sie zerstreuen und beschwichtigen, sie verhüten neue Unruhen; und die Tonhallen, die so oft als „Kunsttempel" bezeichnet werden, sind vielen zu wahren GotteshSusern geworden, in denen ihr hin und her gerissenes und zu Boden gedrücktes Ich sich sammelt und erhebt Fast möchte man sagen, die Religion des Wiener Mittelstandes sei die Musik — wenn man unter Religion nicht ein Dogmengebaude, sondern eine gemeinsame Seelenstimmung und ihren in gemeinsamer Übung geformten Ausdruck begreift. „Ichglaube an Gott, Mozart und Beethoven T Dieses Wagnersche Bekenntnis ist auch das der besten und vielleicht armsten Wiener. Nicht nur die Weinschanken, auch die Kirchen sind überfüllt, die Aufführung guter Kirchenmusik aber hat vollends begeisterten Zulauf, wohlhabendere Leute bestellen und bezahlen eigens die Darbietungen selten gehörter, bedeutender Werke der kirchlichen Tonkunst bei festlichem Gottesdienst und die Konzertsale waren in den schlimmsten Tagen teils wohlgefüllt, teils ganzlich ausverkauft, wenn Oratorien, Symphonien Und vornehme Gesangleistungen zu wahrem Kunstgenusse, nicht nur zu modischem Amüsement riefen. Der Wiener ist leichtfertig und oberfiachlich, aber die Musik nimmt er sehr ernst. Was Wien musikalisch zu leisten imstande ist, das zeigt im höchsten Mafte die ehemalige kaiserliche Hofoper, die nach dem Umsturze zur republikanischen Staatsoper wurde, ohne dabei irgend etwas an ihrem Ruhm und Glanz einzubüBen. lm Gegenteil: Direktor Gregor, dessen unwienerische und zudem auch völlig unmusikalische Veranlagung trotz redlichen Bemühens der Anstalt wenig Glück gebracht hat, wurde beseitigt und an seine Stelle trat der langjahrige erste Kapellmeister Franz Schalk, dem sich für einen Teil des Jahres kein Geringerer als Dr. Richard StrauB beigesellte. Die Hauptarbeit verrichtet Schalk und er ist ein Arbeiter ohnegleichen. Was für Schwierigkeiten und Mühseligkeiten waren zu überwinden, als die neuen rechtlichen Grundlagen für den Betrieb gefunden werden muBten, gleichzeitig die Angestellten und Arbeiter immer neue Forderungen jeder Art erhoben, die auch einen vollkommen gesicherten Betrieb in Unordnung bringen konnten, und vor allem die trefflichsten und 167 Musik und Theater beliebtesten Künstler, geSngstigt durch den wirtschaftlichen Niedergang im Inlande, verlockt durch die „Edelvaluta" des Auslandes, kaum mehr zu halten waren oder vielmehr nur so gehalten werden konnten, daB ihnen haufige und langwahrende Gastspielreisen ins Ausland bewilligt wurden. Der heimischen Anstalt gingen sie dadurch zur Haifte verloren und es war nicht nur das Studium von Neuheiten, die Neueinstudierung al.terer Werke und die Ausnützung jedes Erfolges, sei es eines Werkes oder der Darstellung, durch diese Unbestandigkeit und wechselnde Abwesenheit der Hauptdarsteller auf das empfind*lichste gestört, es drohte auch der gewöhnliche Spielplan durch minderwertige oder zum mindesten von den Theaterbesuchern nicht für vollwertig erachtete Besetzung allzuviel an Güte und an Reiz zu verlieren. Das nachste Auskunftsmittel war, berühmte Gaste aus dem Auslande zu holen, gleichsam einen Tauschverkehr mit den auslandischen Opernbühnen zu pflegen. Gerade dadurch aber war die Stetigkeit der Arbeit und die Einheitlichkeit der Vorstellungen. erst recht bedroht. Wie nun Schalk, der die gesamte Verwaltung des ihm anvertrauten Theaters musterhaft leitete und damit allein genug Würde und Bürde zu tragèn gehabt hatte, seine so anspruchsvolle künstlerische Aufgabe in keinem Punkte vernachlassigte, wie er durch die sorgsamste Wahl der Gaste und ihre feinfühlige Anpassung an den heimischen Kunstkörper eine staunenswerte harmonische Rundung der meisten Aufführungen erzielte, wie er die erfolgreichsten Gaste für langere Dauer und regelmaBige Wiederkehr zu gewinnen wuBte und so den Personenstand, der bereits abzubröckeln drohte, festigte und vermehrte, wie er durch die planmafiige Erziehung des jüngeren Nachwuchses auch die sogenannte zweite und dritte Besetzung zu einer „erstklassigen", der alten Hofoper durchaus würdigen machte, wie er als Direktor und als Dirigent, für das Ganze und für manchen unvergeBlich schönen Abend im besonderen verantwortlich, seinen Schwung und seinen geistigen Willen auf das Ganze übertrug, wie er — alles in allem — statt des befürchteten Verfalles eine neue Blüte der Wiener Oper erstehen lieB, das wird dereinst als einer der stolzesten Abschnitte in der Geschichte des Operntheaters zu lesen sein. Schalk verdanken wir auch die Opernaufführungen im Redoutensaale der Hofburg, in dem einst der „Ball bei Hof stattzufinden pflegte. Die Anmut und Leichtigkeit, die Feinheit und Liebenswürdigkeit, womit in diesem heiterprachtigen, mit kostbaren Gobelins geschmückten Raume Mozarts „Figaro", Rossinis „Barbier", Donizettis „Don Pasquale" zur Darstellung kamen, dürfte nirgends zu übertreffen 168 Wien: Johann Straufi-Denkmal im Stadtpark Musik und Theater sein. Das ist altösterrëichische Theaterkultur — und Schalk berufen wie wenige, die besten Überlieferungen zu hüten und zu erneuern. StrauB diente dem Operntheater ursprünglich mehr zur Zierde: sein Name sollte werben und locken. Bald aber zeigte sich, daB auch er ein rüstiger Arbeiter ist und daB die ihn offenbar erwarmende Wiener Luft seine Krafte steigert: in den wenigen Monaten, die er, gleichsam auch nur ein Gast von Weltruf, in der Direktionskanzlei und am Dirigentenpuit des Operntheaters verbringt, vollzieht sich manches, was ohne ihn schwerlich so leuchtend und wirksam zustande kame; wenn er sich der Wagnerschen oder seiner eigenen Werke annimmt, .dann strahlt und glüht das Orchester und die Gesamtdarstellung in unbeschreiblichem Wohlklang und mitfortreiBender Leidenschaft. Die Aufzahlung aller verdienten Helfer der beiden Direkloren, aller künstlerischen Stützen der Wiener „Hofoper" (wie sie noch immer, nicht so sehr aus monarchistischer Gepf logen heit, als vielmehr im Gefühle ihrer nicht alltaglichen Leistungsfahigkeit, genannt wird) würde zu weit führen. Nur vier Künstler seien genannt: Marie Jeritza,die groBe Diva, die die Ehre Österreichs mit Vorliebe jenseits des Ozeans verkündet, wo sogar die klugen und nüchternen Geschaftsmenschen durch das heiBe Feuer ihrer dramatischen Gestaltungsweise in einen Taumel geraten; der Baritonist Hans Duhan und der Bassist Richard Mayr, die adeligsten Sanger, natürlichsten Darsteller und frischesten Persönlichkeiten, die wir haben, untereinander sehr verschieden und dennoch zusammengehörig durch ihre überragende Künstlerschaft, ihre künstlerische und menschliche Vornehmheit und nicht zuletzt dadurch, daB sie beide fast nie auf Gastspielreisen gehen, daB sie ihre ganze Kraft der heimischen Anstalt widmen, der sie ja auch ihre Entwicklung und Geltung verdanken; endlich ein neuer Dirigent, Clemens KrauB, vorher in Graz, der trotz seiner Jugend Schalk und StrauB beinahe ebenbürtig zur Seite steht. Weit geringere Mittel dienen der Volksoper, die in den Jahren seit dem Umsturze einen besonders schweren Kampf führte. An Stelle des Direktors Raoul Mader trat Felix Weingartner, der einstige Direktor der Hofoper und heute noch Dirigent des Staatsopernorchesters in ihren berühmten philharmonischen Konzerten. Mit diesem Orchester erntete er im Sommer 1922 Gold und Lorbeeren in Südamerika, wie er denn überhaupt gerne, allzu gerne ausiandische Triumphe feiert und sein Opernhaus dabei vernachlassigt. Also auch hier ein gewissermaBen nur gastierender Direktor, der als Dirigent allerdings auch sehr bedeutend ist, aber für die Bühne doch bei 169 Musik und Theater weitem nicht so viel Herz und Sinn hat wie Richard StrauB. Weingartner ist in jedem Betracht — auch rein technisch-handwerksmaBig genommen — Konzertdirigent. Ein geborener Bühnenmensch hingegen ist sein Stellvertreter und Mitdirektor Gruder-Guntram, der beste Opernregisseur, den Wien seit langem besaB. Wahrend der Abwesenheit Weingartners hat Gruder in bösen Zeiten wahre Heldentaten verrichtet Auch er muBte sich vielfach mit Gasten behelfen. Nicht weil seine eigenen Sterne lieber Ober anderen Weiten aufgingen, sondern weil er zu wenig eigene Sterne an seinem Bühnenhimmel hatte, um die anspruchsvollen neuen Reichen und die verwöhnten Ausiander, die jahrelang den gröBten Teil des Wiener Opernpublikums bildeten» befriedigen zu können. Dadurch kam arge Unruhe und Unausgeglichenheit in den Spielplan und die Vorstellungen. Aber immer wieder wuBte Gruder, wuBte auch Weingartner, wenn er da war und für eine Weile eifrig mittat, den Wienern zu zeigen, was sie Wertvolles und Entwicklungsfahiges an ihrer Volksoper haben, aus der ja einst Marie Jeritza hervorging und an der einer unserer begabtesten und tüchtigsten Kapellmeister, Karl Auderieth, wirkte, der aber mit Weingartner nicht gedeihlich arbeiten konnte und gegenwartig in Baden bei Wien Opernvorstellungen veranstaltet. In der jüngsten Zeit ist auch ein scharfer Zwist zwischen Weingartner und Gruder aus* gebrochen, just da die Volksoper sich in sehr bedrangter Lage befindet Der Abgang Gruders ware ein Unglück, die drohende Auslieferung der Volksoper an einen gewiegten „Unternehmer" ein Verbrechen. Neuheiten gab es in den beiden Opernhausern nur wenige und unter diesen wenigen gab es viel zu viel italienische Opern fraglichster Art. Dafür fehlten Wilhelm Kienzl und Josef ReiterI Auch Franz Schmidts „Fredigundis" kam erst über Deutschland und wird ihre Wirkungskraft nun zu bewahren haben. Die neuen Werke von Julius Bittner und von Felix Weingartner haben sich nicht behauptet, auch nicht Weingartners „Dorfschule", trotz ihrer bewunderungswürdigen Knappheit und Eindringlichkeit in Wort und Ton. Drei Werke aber dürften sich allem Anscheine nach dauernden Bestandes erfreuen: „Die Frau enne Schatten", ein von Hugo von Hofmannsthal in seiner geistreich kühlen und blassen Manier gedichtetes, allegorisch zu sehr belastetes Marchendrama, zu dem Richard StrauB die warmblütigste und leuchtkraftigste Musik geschrieben hat, die ihm bisher in einem gröBeren Werke gelungen ist und neben der die mehr sehens- als hörenswerte Pantomime „Diejosefslegende" trotz ihres vorübergehenden Sensationserfolges allzu leicht wiegt; dann Erich Wolfgang Korngolds „Tote 170 Musik und Theater Stadt", trotz des undramatischen und nicht leicht verstandlichen Buches ein effektvolles Theaterstück, woran die auf Verdi-Meyerbeersche Melodie und Faktur eingestellte, Obrigens von echter Begabung zeugende, sehr geschickte und in manchem Zuge wahrhaft poëtische Musik den Hauptanteil hat; ferner Modest Mussorgskis' „Boris Godunow", eine unwiderstehlich fesselnde, an sich gleichfalls undramatische Szenenreihe aus der russischen Geschichte und dem russischen Volksleben, mit einer unverfalscht russischen, urwüchsig packenden und doch zugleich höchst kultivierten, ja nervösen, beinahe hysterischen Musik, die von dem eigenartigen Können des 1881 verstorbenen Vorlaufers der russischen „Moderne" eine eindrucksvolle Probe gibt. DaB diese Werke Erfolg hatten und ihr Erfolg Dauer verspricht, obwohl sie dramatisch und bühnenmaBig so vieles vermissen lassen, beweist nur, daB das wichtigste Erfordernis — innere Folgerichtigkeit der Anlage, organische Verbindung der Teile — jedenfalls vorhanden ist. Wo aber dieser geistige Organismus fehlt, wo nur Willkür zu uns zu sprechen scheint, da hilft kein noch so künstlich errichteter Bau zu einer klaren Anschauung und zu innigem Mitgefühl. Dies ist der Fall bei den Dichtungen Franz Schrekers, dessen Personen stets nur Allegorien sind — aber das würe nicht das Argste, die Musik kann auch allegorische Figuren greifbar lebendig machen — und Qberdies ihre Bedeutung unaufhörlich wechseln, so vielerlei auf einmal ausdrücken wollen, daB sich, wie man in Wien sagt, „kein Teufel auskennt". Kurz: In diesen Opernbüchern herrscht eine geistige Unordnung, mit der kaum die schönste, tiefste, seelenvollste Musik versöhnen könnte. Schrekers Musik aber ist weder seelenvoll noch klar und durchsichtig. Ein unablassig brodelndes Klanggemisch verdeckt die melodische Linie und hemmt zugleich die Deutlichkeit des Wortes. Ober diese Grundtatsachen des wirklichen Theatererlebnisses bei Schreker tauscht keine gelehrte Zergliederung und keine fiberschw&ngliche Anpreisung seiner Texte und Partituren hinweg. Weder „Die Gezeichneten", unter allen bisher bekannt gewordenen Schrekerschen Werken das dichterisch und musikalisch verhaitnismaBig am meisten ansprechende, noch der unmögliche „Schatzgraber" haben sich in Wien behaupten können. Trotzdem muBten sie erwahnt werden, da Schreker auBerhalb Österreichs als groBer Musikdramatiker, als Nachfolger Richard Wagners gefeiert wird und der „Schatzgraber" beispielsweise schon Ober mehr als vierzig Bühnen, auch fiber die strebsame und wagemutige Grazer Bühne gegangen war, ehe Schalk sich entschlieBen konnte, ihm an 171 Musik und Theater der Wiener Staatsoper EinlaB zu gewahren. Man begreift Schalks Zögern und Unlust vollends, wenn man sich vergegenwartigt, mit welchem Werke er als Direktor und Dirigent seinen gröBten Sieg erfochten hat: mit Hans Pfitzners „Palestrina". Diese zu den ganz groBen Meisterwerken und zu den hehrsten Offenbarungen zahlende „musikalische Legende" wird in der Wiener Staatsoper zwar nicht szenisch, aber darstellerisch und musikalisch mit einer unerhörten Eindringlichkeit verkörpert, so daB der Ausnahmscharakter des Werkes niemand verborgen bleiben kann. Kein Wiener hat den „Palestrina" je als Opernneuheit empfunden. Er galt vom ersten Tage als Festspiel, dem denn auch eine Sonderstellung im Spielplan eingeraumt wurde. Die schon erwahnte, oft beispielgebende Grazer Opernbühne machte sich um Pfitzner durch Aufführung seines „Christelflein" verdient. Im Konzertsaale hatte Pfitzner seinen Ruhm mit einem anderen Romantiker zu teilen, mit dem Oberösterreicher und vormaligen Leiter der Musikschule des „Mozarteums" in Salzburg, Josef Reiter. Pfitzners romantische Kantate „Von deutscher Seele" und Reiters Weihnachtsmesse sind wohl das Schönste, Innigste, Deutscheste, was uns die Nachkriegszeit in solcher Art beschert hat. Auch ein neues Klaviersextett von Reiter und altere, aber in Wien noch wenig gespielte Kammermusikwerke Pfitzners enthüllten das poetisch-traumerische und dabei klangfrohe und singfreudige Wesen der beiden geistesverwandten Tondichter, von denen der kraftigere und sinnlichere Reiter als Nachfolger Schuberts, der nervösere und empfindsamere Pfitzner als Nachfolger Schumanns gewertet werden darf. Etwas vom Geiste Schuberts, der der Inbegriff des österreichischen in der Musik war, lebt in den meisten österreichischen Tondichtern. Namentlich in der symphonischen Musik wird der Zusammenhang deutlich. Bruckner, der Vollen der Schuberts als Symphoniker, steht sichtbar (oder eigentlich hörbar) dabei und gibt dem nachdrangenden Geschlecht seinen Segen. Aber auch Brahms laBt sich mit gutem Rat und freundlichem Wink vernehmen. So entstand eine neuzeitige Symphonie (nicht symphonische Dichtung, nicht Programm-Musik), in der alles Frische und Fruchtbare der heimischen Überlieferung von neuem zu grünen und zu blühen anhebt. Drei Werke haben in dieser Hinsicht den starksten Eindruck gemacht: die Dritte Symphonie von Guido Peters, ein tief ergreifendes, schwermutvolles, poesiedurchtranktes Seelengemalde; die farbenprachtige, melodienselige, in anmutigster Schönheit prangende D-moll-Symphonie von Bernhard Tittel; und die nur 172 Musik und Theater etwas zu sehr in bacchantischen KlSngen und schwülen Mischfarben. schwelgende Heibst-Symphonie von Josef Marx, ein sozusagen stammelnd beredter Hymnus auf das Leben und die Urkraft alles Seins. Daneben waren noch die „Landlichen Stimmungsbilder" der Frau Linda Bandara, einer javanischen Tondichterin deutschösterreichischer Abstammung und Erziehung, mit besonderer Auszeichnung zu nennen — Natureindrücke aus Java in entzückender orchestraler Darstellung. Peters ist auch mit seiner edel-schönen, tragisch angehauchten Kammert musik immer mehr durchgedrungen und hat sich als Klavierspieler, zumal als Verkünder der erhabenen Sprache Mozarts und Beethovens, endlich den Platz errungen, der ihm langst gebührt. Neben ihm erstand in dem jungen Paul Serkin eine neue pianistische GröBe. Tittel, früher in der Volksoper und in der Staatsoper tatig, begeistert als Konzertdirigent ein zahlreiches, ihm treu anhangendes Publikum. Marx hat nach Ferdinand Löwe die Leitung der staatlichen Musikakademie übernommen, an der nun auch Clemens KrauB der Dirigenten schule vorsteht. Löwe aber feiert nicht, sondern führt immer noch kraftig und schwungvoll das Symphonieorchester des Konzert-^ vereines. Und immer noch ist er der alte, treue Bruckner-Apostel, dem aber Schalk in dieser Hinsicht höchst erfolgreich zur Seite getreten ist. Das Tonkünstlerorchester zieht mit Vorliebe den ersten: Dirigenten der Gegenwart, Wilhelm Furtwangler, zur Mitwirkung heran, der in Wien sogleich ein popularer Mann geworden ist. Auch der Schwede Nils Grevillius und der D3ne Paul von Klenau haben rasch das musikalische Bürgerrecht in Wien erworben. Es genügt* daB einer von den Genannten als Leiter einer Aufführung angekündigt ist und der gute Besuch wie der laute Erfolg des betreffenden Konzertes ist gesichert. Denn jeder von ihnen hat seine überzeugte „Gemeinde". Diese „Gemeinden" sind aber keine Klüngel, die sich gegenseitig befehden. Es findet nur gewissermaBen eine Arbeitsteilung statt, wie unter den Veranstaltern und Leitern, so unter den dankbaren Zuhörern, denen Vieles und Mannigfaches geboten wird, ohne das Bedürfnis zu erschöpfen und die Aufnahmsfahigkeit zu ermüden. Martin Spörr und Anton Konrath mit ihren „popularen", aber durchaus vornehmen und gehaltvollen Symphoniekonzerten dürfen nicht vergessenwerden. Auch der Meistersanger Duhan hat sich schon als Dirigent bewahrt. Ferdinand Habel, der langjahrige Chormeister des Gesangvereines „Dreizehnlinden", macht sich um die vorbildliche Pflege der Oratorien- und Kirchenmusik Jahr für Jahr rühmlichst verdient. Daneben gibt es eine eigene Oratorien-Vereinigung und die beiden 173: Musik und Theater groBen Mannerchöre des „Wiener Mannergesangvereines" und des „Schubert-Bundes" stehen ja auch auBerhalb österreichs in hohen Ehren. Man kann sagen: was die Philharmoniker als Orchester sind, das ist der „Mannergesangverein" für den MSnnerchorgesang: das erste Orchester der Welt und der beste Mannerchor. Aber der „Schubert-Bund" gibt ihm kaum etwas nach. Beide Vereine haben sich ein besonderes Verdienst um die Pflege der Chorgesange von Josef Reiter erworben. Viktor Keldorfer, der den „Mannergesangverein" so oft zum Siege föhrte, leitet jetzt den „Schubert-Bund". Was alle diese und noch viele andere Vereine und Unternehmungen bieten, das wird in öffentlichen Generalproben und Wiederholungskonzerten zu ermaBigten Preisen den „geistigen Arbeitern", den öffentlichen Angestellten, den verschiedenen „Kunststellen" der Christlichsozialen, der GroBdeutschen, der Sozialdemokraten und der studierenden Jugend, ja den Schulkindern besonders zuganglich gemacht. Der ganze Winter ist — Jahr für Jahr — ein einziges groBes Konzertieren und Musizieren. Auch die Hausmusik hat seit den Tagen des Umsturzes und der politischen Erniedrigung eine neue Blflte erlangt Wie in alten Zeiten ist jetzt wieder das Quartettspiel eine Lieblingsbeschaftigung vieler, die sich in Sorgen und Nöten dadurch Trost und Beruhigung schaffen. Die öffentliche Darbietung kammermusikalischer Werke tritt daneben im Vergleich zu früher einigermaBen zurück. Sparen und Haushalten ist heute ein Gebot für den gröBten Teil der ernsten und treuen Musikliebhaber und so werden in der öffentlichkeit die Symphonien und Chorwerke bevorzugt, die man sich zu Hause eben nicht vorführen kann; die Kammermusik aber, im Konzertleben glanzvoll vertreten durch das altberühmte Quartett Rosé, durch die neuaufstrebende Vereinigung Mairecker-Buxbaum und durch manche andere, kehrt immer mehr aus den weiten Salen in die hausliche Kammer zurück, wo sie ihren echten Wert und ihren wahren Zauber — auch bei unvollkommener Ausführung — erst so recht entfalten kann. Dem Konzert- und Geschaftsleben überlaBt sie die Aufführung umfangreicherer und schwierigerer intimer Werke mit Biasern oder mit Gesang, die früher kaum gekannt waren, und jetzt, namentlich unter der Leitung von Rudolf Nilius oder Alexander Wunderer, zu groBer Beliebtheit gelangt sind. Aber auch die Volksmusik, aus den Gasthausern und Heurigenschanken durch die Teuerung und durch rohe Pöbelsitten oder schnöden Luxus vertrieben, flüchtet sich ins Haus, in die Kammer. Den „klassischen" Quartettgenossenschaften (zwei Geigen, Viola und Violoncell) treten immer haufiger sogenannte Alt-Wiener Quartette 174 Musik und Theater (zwei Geigen, Gitarre und Ziehharmonika) zur Seite, die in der Pflege der echten Wiener Volks- und Tanzweise Klassisches leisten. Auch in Wort und Sang wird Alt-Wien mit Lanner und StrauB, Raimund und Nestroy eifrig gepflegt. Das Volksbildungshaus „Urania" ist hierin beispielgebend vorangegangen, bei Vereinsfesten und Wohltatigkeitsfesten ist Alt-Wien nahezu unentbehrlich geworden. Der Schauspieler Und Sanger Dr. Josef Bergauer hat durch seine Alt-Wiener-Abende auch auBerhalb österreichs einen Namen erlangt. So ist das unverfaischte Wienertum auch auf diesem ursprünglichsten Gebiete bewahrt und gehütet, bis der Wiener Tanz und die Wiener Operette, deren letzter vollgültiger Vertreter, Karl Michael Ziehrer, vor kurzem zu Grabe getragen wurde, von neuem auferstehen wird. Die Gattung der Operette, aber ins Unwienerisch-internationale, ins SalonmaBige und Opernhafte gewendet, beherrscht von Franz Lehér und seinen Nachahmern, steht allerdings noch in Blüte und man darf ihr nachsagen, daB sie immerhin bemüht ist, wenn schon nicht wienerisch und kernig-volkstümlich, so doch in Wort und Ton anstandig zu bleiben. In Oskar Jascha scheint ihr eine gesunde neue Kraft zuzuwachsen. Von den alteren, witzigeren und künstlerisch wertvolleren Operetten eines Johann StrauB, Suppé, Millöcker werden die besten immer wieder als „komische Opera" — so hoch stehen sie jetzt in Ansehen — auch in den Opernhausern aufgeführt. So sehen wir allenthalben Gesundes und Erfreuliches, das nicht auf Wien allein beschrankt bleibt. In Linz, wo der Liszt-Jünger August Göllerich, in Graz, wo Dr. Roderich Mojsisovics, einer der fahigsten österreichischen Tondichter, in Salzburg, wo Dr. Bernhard Paumgartner (am „Mozarteum") die Leitung inne hat, in Innsbruck, Klagenfurt und in vielen kleineren Orten, zum Beispiel in Vöcklabruck, wo der Bruckner-Biograph Max Auer tatig ist, wirken treffliche Musikschulen nnd ehrgeizige Konzertgesellschaften oder Kirchenmusikvereine und schenken ihren Mitbürgern edle Kunstgaben, deren Gelingen unter den beengten Verhaltnissen der „Provinz" oft weit mehr FleiB und Genie voraussetzt, als die verwöhnten GenieBer der GroBstadt ahnen. In Graz lebt und wirkt auch ein noch zu wenig beachteter, eigenwüchsiger Tondichter für die heitere Gattung, für das Singspiel und das Puppenspiel: Dr. Ludwig Uray. In Salzburg stromen allsommerlich Gaste von nah und fern zusammen, um die Mozart-Feste zu feiern, an denen sich regelmaBig auch die Wiener Staatsoper mit wonderschonen Aufführungen beteiligt. Das alplerische Volkslied aber, dieser Urborn süddeutscher Musik, wird in ganz österreich, von Wien 175 Musik und Theater bis in die entlegensten Dörfer, von Volksliedvereinen und vom Volke selbst rein erhalten und mit Hingebung gepflegt Das allzu „Moderne", das die Grenzen der Musik mit Eigensinn verlaBt — das Haupt dieser Schule ist Arnold Schönberg — spielt in dem Gesamtbilde der österreichischen Musik der Gegenwart keine wesentliche Rolle. Was uns immer wieder von allen Seiten hold und machtig entgegentönt, das ist die wahre Musik und das echte Österreichertum: Gemütswarme, frohe Sinnlichkeit, Phantasie, Freude am Schönen und Gestaltungskraft Es war ein rechtes Sinnbild dieses musikalischen Österreichertums, als trotz der Ungunst der Zeit im Sommer 1921 im Wiener Stadtpark das aus kostbarem Stoff geformte, blendend-reizvolle Johann StrauBDenkmal Edmund Hellmers enthüllt werden konnte und als bei dieser Enthüllungsfeier die Philharmoniker im Freien Aufstellung nahmen und StrauBische Walzer spielten. Artur Nikisch, dessen künstlerische; Entwicklung in Wien unter den Philharmonikern begonnen hatte, führte den Taktstock. * * * Eben dieses musikalische Österreichertum versagt nun leicht dort, wo nicht die Musik, nicht das bloB GefühlsmaBige, nicht das Schwelgen in reiner Schönheit die Hauptsache ist; wo eine gefestigte Anschauung, folgerichtiges Denken und entschlossenes Handeln nötig sind. Daran gebricht es haufig dem „gemütlichen" und geistig zu wenig geschulten österreicher und das zeigt sich nicht nur im Staatsieben, in der öffenttlichen Verwaltung, in Verkehr und Wirtschaft, sondern auch auf kOnst^ lerischem Gebiete, zumal auf jenem, das sich nach allen Seiten mit der Wirklichkeit, den geselligen Bedürfnissen und den Forderungen des Tages berührt: auf dem des Theaters, österreichische Theaterkultur, wie sie in der höfischen Festoper des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ihren höchsten Glanz entfaltete, in den Raimundschen Zaubermarchen ihre duftigste Blüte erschloB, wie sie noch heute in den besten Darbietungen der Opernhauser von Wien und Graz, in den schon erwahnten Aufführungen im Redoutensaale, gewissermaBen auch in der leidenschaftlichen Pflege der Operette und nicht am geringfügigsten in der köstlichen Neubelebung des Puppenspieles, des Kasperltheaters zu Graz und Salzburg erkennbar ist — österreichische Theaterkultur war immer irgendwie mit der Musik oder dem Musikalischen verknflft, tragt immer etwas vom Wagnerschen Gesamtkunstwerk an sich. Auch die Kultur des Burgtheaters, das doch einzig oder vornehmlich der klaren Durchgeistigung des Wortes gewidmet zu sein scheint und das diese Aufgabe nur deshalb in so vorbildlicher Weise, mit so viel 176 Wien: Ringstrafie, Opernhaus p Musik und Theater Adel und so viel Natürlichkeit zu erfüllen vermochte, weil da immer eine geheime Musik den Ton angab, weil das Gefühlsverstandnis des theaterliebenden und in sein Burgtheater ganz besonders verliebten Wiener Publikums und die gesellschaftliche Kultur dieses mit den Darstellern zusammen eine groBe, eintrachtige Familie bildenden Zuschauerkreises den fruchtbaren Boden gab, aus dem der „Burgschauspieler", der lange Zeit für unübertrefflich galt, seine beste Kraft schöpfte und von dem er fortwahrend neues Leben empfing. Aber das Wiener Publikum ist durch den Umsturz über Nacht ein anderes geworden. Aristokratie und Bürgertum, Beamten und Offiziere, die früher beinahe so sehr zur „Burg" gehörten wie die Darsteller, waren auf einmal nicht mehr da und die neuen Reichen und was sich sonst ins Theater bis in die Hoflogen drangte — an und für sich kein übles Publikum, empfanglich und dankbar — das war durchaus nicht imstande, zu geben; das konnte nur nehmen und sich bilden lassen. War also die Bühne vorher der feinste Ausdruck und die schönste Frucht einer allgemeinen, ziemlich gleichmaBigen Bildung, so wurde sie jetzt zur Bildungsanstalt; hatte sie vorher ihr Schwergewicht in der Darstellung, in der schauspielerischen Verkörperung eines Spielplanes, dessen Grundzüge durch die Bildungsstufe und den gesellschaftlichen Rang der Theaterbesucher gegeben waren, so wurde jetzt die Erziehung der neuen Theaterbesucher durch einen neuen Spielplan die Hauptaufgabe. Alles Bühnenwesen hat ein Doppelgesicht: das Vergnügen an der mimischen Kunst ist nur die Voraussetzung und ein Hilfsmittel für die dramatische und theatralische Erfassung der politischen und sozialen Machte und Triebe. Die Bühne wird immer wieder zum Tribunal und zum Spiegel der Zeit. Das Burgtheater, geborgen in der Wiener Luft* die es wohltatig umspülte und zugleich von ihm so viel angenehme Würzë empfing, hatte sich von jeher auf die edelste mimische Gestaltungsweise beschrankt und, seinem höfischen Ursprung und seiner geschichtlichen Oberlieferung treu, von dem geistigen und literarischen Fortschritt der Umwelt immer nur gerade so viel in sich aufgenommen, als zur ununterbrochenen Förderung und Neubelebung derDarstellungskunst unerlaBlich schien ; auf solche Weise war es die „erste deutsche Bühne" in rein künstlerischer Hinsicht geworden und geblieben. Nun war das Verhaltnis umgekehrt; nun sollte es ganz anderen und vorerst wichtigeren als bloB künstlerischen Zwecken dienen; nun hatte die Kunst, die durch mehr als ein Jahrhundert im Burgtheater Selbstzweck gewesen war, an dieser Statte auch nur ein Hilfsmittel zu werden für die geistige Befruchtung und nationale Festigung einer neuen Gesell- 12 137 Musik und Theater schaft, ES war eine bedeutsame Sendung, die das Burgtheater zu erf lillen hatte — und es versagte. Weder Hermann Bahr, der allzu österreichische, dem es hauptsachlich an dem gebricht, was man eine gefestigte Anschauung nennen kann, noch Albert Heine, der Nur-Theatermensch, dem neben der erforderlichen höheren Geistigkeit vor allem das Österreichische fehlte, das im Burgtheater denn doch nie gSnzlich zu entbehren sein wird, noch Anton Wildgans, der Dichter und Jurist, der — wiewohl auch dramatischer Dichter — dem Schauspielwesen kühl und fremd gegenübersteht und seine ganze Kraft in keineswegs unfruchtbaren, aber für ihn selbst schlieBlich erfolglosen KSmpfen mit den übergeordneten Instanzen ausyab, lieBen irgend etwas von einem tiefer wurzelnden und zur Tat entflammenden Verstandnisse für jene Sendung spüren. Alles, was man sah, war teils ein Fortwursteln, teils, ein Herumexperimentieren. Die Experimente zielten aber nicht auf irgend ein: nationales oder soziales Bekenntnis, sondern nur — nach alter Burgtheatergepflogenheit — auf die Gewinnung neuer, dankbarer Arbeit für die Schauspieler, denen der gewohnte Widerhall im Publikum fehlte und die sich zwiefach entwurzelt fühlten: sie waren nicht mehr die Schauspieler des Kaisers und nicht mehr die Lieblinge einer theaterkundigen und mit jedem von ihnen sozusagen persönlich befreundeten Zuhörerschaft. In dem manchmal schier verzweifelten Bemühen; auch die neuen Zuhörer zu begeistern und sich so eine neue „Gemeinde" zu schaffen, verfiel das Burgtheater auf den schlechtesten Auswëg: es glaubte auch mit den neuesten Erzeugnissen der modernsten Richtungen aufwarten zu müssen, mit gepfefferter oder eigentlich schon paprizierter Erotik, mit krassen» aufreizenden Karikaturen, mit verstiegener Symbolik und — mindestens — mit der futuristischen Ausstattung klassischer Stücke. Es fand aber gerade damit kein Verstandnis bei einem minder geb ldeten und eben darum auch nicht verbildeten Publikum, das allen Darbietungen des Burgtheaters mit einer naiven Hochachtung entgegenkam, die dem wahren Burgtheaterdirektor die heiligden Pflichten auferlegt haben würde. Wirkliche Erfolge waren doch nur jene Darbietungen, die sich nicht so eigenwillig von dem erprobten alteren Geschmacke entfernten und in denen ein echter Glaube, eine innere GewiBheit sich aussprach — und ware es auch nur der Glaube an die allein seligmachende Kraft des guten Theaterspiels, das immerhin seinen Wert und sein Gewicht behait, auch wenn gröBere Zwecke darüber vernachlassigt werden. Es ist das unbestreitbare Verdienst des gegen- 178 Musik und Theater wartigen Direktors Max Paulsen, daB er, sich bescheidend, einstweilen nichts anderes anstrebt, als wenigstens den alten Anforderungen an einen reichen Spielplan und eine harmonisch ausgeglichene Darstellungsweise so eifrig als rrrögHch zu entsprechen und so das Burgtheater nach manchen Erschütterungen seines Gefüges wieder zu einem tauglichen Werkzeug für spatere, weiter ausgreifende Pfane zu machen. DaB das Deutsche Volkstheater und die damit verbundenen Kammerspiele den schlechten Gewohnheiten und den bösen Neigungen des am wenigsten erfreulichen Teiles des heutigen GroBstadtpublikums viel zu sehr entgegenkamen, mag darin seine Entschuldigung finden, daB es sich hier um reine Geschaftstheater handelt, die vielleicht nicht anders bestehen können. Und doch widerspricht dem die Tatsache, daB das Raimund-Theater aus einer Operettenbühne ein Sprechtheater geworden ist, das unter der jedenfalls ernst zu nehmenden Führung Dr. Rudolf Beers einen ausgesprochen literarischen Spielplan, allerdings stark „moderner" und sensationeller Farbung, mit steigendem Erfolge festhait. Auch Josef Jarno, der das von ihm geleitete Stadttheater wieder an die Operette ausliefern muBte, laBt sich wenigstens m der Josefstadt nicht von seiner alten Liebe zu Strindberg abbringen, den er als Schauspieler und Regisseur zur Geltung bringt, wie nur wenige. Freilich ist auch seine Josefstadter Herrlichkeit dem Ende nahe: Max Reinhardt soll dort einziehen, der in den letzten Jahren an Salzburg mit den raffiniert in Szene gesetzten Festspielen Hoffmannsthals — Jedermann" und „Das groBe Salzburger Welttheater" — neuen Ruhm erlangte und zwar vergeblich ins Burgtheater strebte, wohl aber in Wien festen FuB gefaBt hat: einige bemerkenswerte Aufführüngen im Redoutensaal, Inszenierungen im Deutschen Volkstheater, die bevorstehende Übernahme der Josefstadter Bühne, die geplante Erneuerung einer Offenbachschen Operette in der Volksoper beweisen, welches Ansehen er bei den Wiener Theaterleuten genieBt, wie gerne sie ihn zur Mitarbeit heranziehen, ja wie sie nur zu sehr geneigt sind, ihm das Feld zu raumen. Einzig und allein das Burgtheater, mit Direktor Wildgans an der Spitze, hat ihm kraftig widerstanden. Und hierin waltete ein gesunder Trieb. Reinhardt, der in seiner Art geniale, rast- und friedlose Regievirtuose, kann das Wiener Theaterleben nur noch mehr in eine, wenn auch literarisch-künstlensch g^richtete, VerauBeriichung führen. Das Wiener Theaterleben -aber bedarf der Verinnerlichung Es hat sich seiner eigensten Krafte zu besinnen und sich mit diesen neu aufzubauen. 13* 179 Musik und Theater Wer am Burgtheater die noch immer mustergültigen, manchmal ganz vollendeten Darstellungen Bernard Shawscher und Franz. Molnai-scher Stücke oder Shakespeares „Coriolan", „Was ihr wollt" und „Viel Larm um nichts" oder Fritz v. Unruhs „Prinz Louis Ferdinand", im Raimund-Theater Gerhart Hauptmanns „Weber", bei Jarno Strindberg zu sehen bekommt, der muB es merkwürdig finden^ daB man hier nach neuen, fremden Feldherren ausschaut, die die österreichische Bühne erneuern und ihre so schlagkraftigen Truppen erst zum Siege führen sollen. Eine Stadt, die zwei Tragödinnen, wie Hedwig Bleibtreu und Else Wohlgemuth, zwei Volksschauspieler, wie Willy Thaller und Hansi Niese, einen bodenstandigen Komiker, wie Ernst Tautenhayn (am Carl-Theater in der Operette tatig), ihr eigen nennt, wo die vierköpfige Schauspielerfamilie Thimig — Vater^ Tochter und Söhne — teils Bürgerrecht, teils herzlich gewahrtes Gastrecht erworben hat, wo neben diesen allerersten Kratten rundum. Können und Begabung regsam sind, wo mit dem jüngsten, hoffnungsvollen Nachwuchs immer wieder schön gerundete und höchst eindringlich wirkende Theaterabende zustande kommen, bedarf keiner Gewaltsamkeiten und am allerwenigsten einer Sensationsregie, um zur einstigen Höhe zurückzufinden. Sie bedarf nur der unablassigen^ strengen Arbeit und zu dieser gehört zielbewuBtes Wollen, planmaBiger Fortschritt. DaB so tüchtige Regisseure und Bühnenleiter, wie Paulsen und Herterich im Burgtheater, wie Alfred Bernau im Volkstheater, wie Beer und Jarno noch nicht das Letzte erreicht haben und eben auch in ihrem Wollen schwankend sind, das hangt doch hauptsachlich mit den unendlich schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhaltnissen der Gegenwart zusammen, die den Theaterbetrieb manchmal so gefahrlich und qualvoll machen. An diesen Verhaltnissen aber wird auch Reinhardt als Regisseur nichts zu andern vermögen. Wenn aber vom Theater die Rede ist, dann darf nicht der Theaterdichter vergessen werden. Österreich hat einen Schönherr und einen Wildgans. Die gehaltvollsten Stücke der letzten fünf Jahre stammen von diesen beiden. Daneben kommt Hans Müller rein dichterisch wohl kaum in Betracht. Aber dem Theater gibt er redlich,. was des Theaters ist. Und selbst Franz Werfel kann man gelten lassen, wenn auch sein „Spiegelmensch" so lange nicht ins Burgtheater kommen durfte, als dort die fünf Dramen, aus denen er sein sechstes geformt hat, im Spielplane fehlen: „Faust", erster und zweiter Teil, „Alpenkönig und Menschenfeind", „Peer Gynt" und „Nach Damaskus". Dieses Beispiel laBt so recht erkennen, wie sehr es an 180 Musik und Theater Plan und Ziel gebricht. Schönherr behauptet eine Ausnahmsstellung. Er ist der einzige Volksdichter, Bauerndichter, der im modernen Getriebe zu Wort kommt. Sein ebenbürtiger Landsmann Franz Kranewitter w3re unbekannt, wenn nicht die ausgezeichnete Tiroler Bühne des Ferdinand Exl diesem Dichter ihre KrSfte geliehen hatte, wie so manchem geringeren, aber nicht bedeutungslosen. GewiB gibt es auch noch immer Wiener Volksdichter. Aber die vortrefflichen volkstümlichen Darsteller des Burgtheaters und des Volkstheaters bekommen sie nicht zu spielen. Es braucht übrigens gar kein „Volldichter" im engsten Sinne zu sein. Nur österreichertum, Heimatsgefühl, die innere Musik unseres Volkes sollte in geisterfüllten Dichterwerken zum Ausdruck kommen. Solche Werke gibt es. Aber sie werden verdrangt von den Zerrbildern einer ganzlich unösterreichischen „Moderne" odér von den üblichen Knalleffektstücken krimineller und erotischer Art oder vom — jüdischen Jargonstück, das ein Teil der Wiener Bühnen in ungebührlicher Weise bevorzugt. Das Bodenstandige wird gering geachtet. Sogar Grillparzer und Anzengruber haben im Spielplane den Fremden den Vortritt zu lassen. Die Landesbühnen aber, unter denen das Grazer Schauspielhaus mit den achtbarsten Leistungen an der Spitze steht, müssen sich nach den Wiener Erfolgen richten. Es gart allenthalben, die Zeit ist trüb und unreif und die Bühne ist eben ein Spiegel der Zeit; die Wiener Bühne im besonderen ein Spiegel des Wienertums, dem selbst heute — nach den Erfahrungen des Krieges und des „Friedens" — jeder wertlose, langweilige oder sogar anwidernde französische Kitsch, von dem sich nicht einmal das Burgtheater frei zu halten wuBte, unterhaltender dünkt als gute heimische Ware. Doch die Heimat ist nicht armer geworden. Sie muB nur zur Selbstbesinnung und zum Selbstvertrauen gelangen und dann wird auch der SelbstgenuB nicht ausbleiben in einer ihr tiefstes Wesen treu und klar widerspiegelnden Bühnenkunst. 181 Salzburg als Musikstadt Salzburg als Musikstadt M. Gehmacher Wolfgang Amadé Mozart ist am 27. Janner 1756 als Sohn des Vizekapellmeisters Leopold Mozart zu Salzburg geboren." Welche Tradition, welche Fülle von Segen und Frucht, welches MaB von Erwartung und Verantwortung! Salzburg und Mozart 1 — E i n Begriff, seit die groBe musikalische Welt den siebenjahrigen Wunderknaben anstaunte und mit Ehren überschüttete l „Die Mozart-Stadt 1" Wohl ihr, wenn sie diesen Namen nicht eitel führt! Es muB wohl so sein: Dort, wo sich landschaftliche Schönheit mit edelster Baukunst vermahlt, wo der schnelle Lebensmut des Südens mit deutscher Gemütstiefe unter einem Dache wohnt, dort darf der Künste zarteste und feinste nicht fehlen! Wem es gegeben ist, Augenbilder in Tönen zu genieBen, wem edle Linien zu Harmonien werden, wem Auge, Ohr und Herz gleich offen stehen für Schönes und Bedeutendes, der mag wohl mancherlei Musik vernehmen, wenn er von der Höhe des Kapuzinerberges die Stadt und ihre Grenzmarken übersieht 1 Liegt sie nicht eingebettet, die uralte Fürstenstadt, ins Tal der Salzach wie eine einfach-vornehme Melodie in den Rahmen reizvoller Begleitfiguren ? Steigen nicht die Auslaufer der Alpen, der sagenumkranzte Untersberg, der ragende Göll, das höhlendurchwühlte Tannengebirge, wie machtige BaBoktaven steil aus der Ebene auf? Wie ein weit hingebreiteter, endloser Orgelpunkt verdammert im Westen die bayrische Ebene. Und mitten durch zwischen all der Schönheit in wiegenden, wogenden Passagen die grünblaue, goldführende Salzach 1 GieBt unendlicher Regen aus tief hangenden Nebeln, wie verklingen die ragenden Basse im pp, wie verliert sich das fröhliche Rankenwerk der Begleitfiguren, wie rückt alles zusammen zu den wehmütig-engen Tonschritten einer Herbstelegie! Die alte Stadt selbst — steingewordene Symphonie! Die breiten Piatze, umschlossen von den Prunkbauten machtiger Kirchenfürsten — ein gewaltiger Hymnus schaftenden Lebens; die himmelsuchenden Türme der 27 Kirchen wie helle Fanfaren, das Gewirr der hundert 182 Salzburg als Musikstadt Giebel- und GrabendScher gleich dem kunstvollen Gewebe einer alten Meisterfuge. Auf diesem gesegneten Erdenfleckchen hatte Frau Musika allzeit eine Heimstatt und Herberge. Nicht nur, daB Musik hier eifrig gehegt und gepflegt wurde, es ging auch zu allen Zeiten Anregung und Befruchtung vom Salzburger Musikhofe aus. Wie es in der Residenz geistlicher Fürsten begreiflich ist, stand die musica divina jederzeit voran. Und wenn sich jetzt, da das Konzertleben Salzburgs durch den Mangel entsprechender Sale und durch die unüberwindlichen Heizschwierigkeiten aufs schwerste bedroht ist, wenn sich da die Hallen des altehrwürdigen Domes zum Konzertraume wandeln, mag man sich an die Glanzzeiten der Salzburger Kirchenmusik erinnern. Nicht lange Zeit, nachdem die Lieder Neidharts von Reuental und des Tannhausers — beide wahrscheinlich Söhne des bayrischen Salzburgerlandes — verklungen waren, blühte am Salzburger Fürstenhofe die Kunst eines bescheidenen Benediktiners, des „Mönchs von Salzburg". Mit feiner Zunge pries er die Gottesmutter in Liedern, denen man es wohl anmerkt, daB ihr Sanger auch den weltlichen Freuden nicht abhold war. Wie oft mag er, dessen weltliche Lieder an Reiz den geistlichen wenig nachgeben, die Hoftafel des lebenslustigen Erzbischofs Pilgrim II. mit kraftigen Liedlein gewürzt haben, wenn die edle Martinsgans aufgetragen wurde oder ein FaBlein feurigen Traminers — ein Geschenk des geistlichen Bruders auf dem Stuhle zu Saben — Hofdamen und Hofherren zu fröhlichem Zirkel vereinte. Der EinfluB des „Mönchs" auf die damalige Musik ist nicht leicht zu überschatzen, gilt es doch, daB zu seiner Zeit die lyrische Dichtung am Fürstenhofe zu Salzburg eine der bedeutendsten Erscheinungen der mittelalterlichen Literatur überhaupt und eine ganz eigenartige Gattung war.*) Beim Mönch finden wir, damals eine besondere Seltenheit in deutschen Landen, mehrstimmige Lieder und solche mit Instrumentalbegleitung.*) Kaum 150 Jahre spater beherbergt Salzburg in seinen Mauern einen der genialsten Tonsetzer des sechzehnten Jahrhunderts, den unbestrittenen Orgelmeister seiner Zeit, Paul Hofhaymer (seit 1528 Domorganist in Salzburg; sein Wohnhaus in der Pfeiffergasse tragt eine Erinnerungstafel). In den Diensten seines fürstl'chen Herrn *) Nagl, deutschösterreichische Literaturgeschichte und Mayer-Rietsch: „Die Mondsee-Wiener Liederhandschrift und der Mönch von Salzburg." 183 Salzburg als Musikstadt schuf auch er kirchliche und weltliche Werke, die weit über seine Heimat hinaus Aufsehen erregten. Als Instrument stand ihm eine der schönsten Orgeln der damaligen Zeit, die im Jahre 1399 aufgestellte, groBe Domorgel zur Verfügung, deren 1974 Pfeifen nach Berichten der Zeitgenossen „einen auBerst lieblichen Klang" hatten (Hübner, Stadt Salzburg I, 108). Als Ausführende standen unter seinem Dirigentenstabe die „Kantoreiknaben", die „Hofsanger" und „Hofmusizi" des Fürsterzbischofs. Wer heute dem Spiele des „Salzburger Stieres" lauscht, kann eine seiner ruhig-edlen Weisen vernehmen.*) Hofhaymers Schule wirkte in talentvollen Mannern, wie Kaspar Glanner, Kaspar Bock, Stefano Bernardi und anderen, fort. Die Tatigkeit des Veroneser Meisters Bernardi gipfelte in den groBen musikalischen Festlichkeiten zur Weihe des neuen Domes. Es sei bei dieser Gelegenheit einer Aufführung gedacht, die wohl am besten den Hochstand der damaligen Musikpflege in Salzburg bezeugt. Am 24. September 1628 wurde der neue Riesendom durch Erzbischof Paris Lodron eingeweiht. Zum Pontifikalamt kam eine zwölfchörige Messe von Orazio Benevoli und ein ebenso groBes Tedeum des genannten Bernardi zur Aufführung. Auf den zwölf aus der Wand des Domes vorspringenden Oratorien waren die zwölf Chöre samt ihren Orchestern getrennt aufgestellt. Bernardi selbst leitete vom Presbyterium aus die zwölf Chöre, deren jeder wieder seinen eigenen Dirigenten hatte. Dazu kamen noch die zwei in der Kuppel eingebauten Orgeln. Dies alles wirkte zu einem Eindrucke von überwaltigender Wucht zusammen. Ein Zeitgenosse schreibt über diese jedenfalls gröBte Aufführung, die jemals in Salzburg mit Erfolg gewagt wurde: „ ... Dann aber teilte Herr Stefano Bernardi aus Verona die überaus groBe Zahl seiner Sanger und Chöre ein. In wieviele wohl? In zwölf, sage ich, welche die aus Marmor erbauten und aus der Wand hervorragenden Tribünen, die man Oratorien nennt, aller Augen sichtbar machten. O, Gott! O, ihr himmlischen Geister 1 Es ertönen die Posaunen, es erklingen die Stimmen, des Herrn Lob wird laut verkündet, fast sind die Zuhörer den Raumen des Tempels entrückt In Wahrheit hatte man glauben mögen, im Himmel, ja, unter den himmlischen Chören sich zu befinden " (Musica divina, Sonderheft Salzburg, S. 337.) *) „Ad Lydiam" aus den „Harmoniae poeticae" (HorazischeOden). 184 Salzburg als Musikstadt Durch solche Manner und so intensive musikalische Kultur wurde der Boden bereitet für das edelste Reis, das ihm entsprossen sollte. Seit 1762 wirkte durch volle 44 Jahre Michael Haydn als -erzbischöflicher Orchesterdirektor und Organist in St. Peter und die schönsten Gebete seiner Seele bewahrt die Stiftsbibliothek St. Peter .als wertvolle Schatze. Das „Haydn-Stüberl" im Stieglkeller erinnert an die Zeit, da sich hier um den bescheidenen, gemütüchen Bruder des „Vater Haydn" eine sangfrohe Runde versammelt hatte, in der auch der Komponist des Oberon, Haydns Schüler, das Jahr 1801 verlebte. Mozart, der groBe Diener eines Herrn, der seiner nicht wert war, hatte bald nach 1779 sein unhaltbares Verhaltnis zum Erzbischof gelöst und schuf fern der Heimatstadt seine reifsien Werke. 1791 war Salzburgs gröBter Sohn einsam in die Grube gesenkt worden. Sein Erbe aber wurde treu gehütet. Eine Musikschule entstand» die seinen Namen tragt und berufen ist, die Musikpflege Salzburgs zu leiten und zu einigen. Mit ihren Leiden und Freuden sind Namen verknüpft, die wir in Dankbarkeit und Ehrfurcht nennen: J. F. Hummel, der seine ganze Arbeitskraft, sein Leben dem „Mozarteum" verschrieben hatte; J. Reiter, der Schatzgraber im Marchenreiche des deutschen Volksliedes; Paul Graener, der Nachfolger Regers auf der Lehrkanzel zu Leipzig; R. Hirschfeld, der gelehrte Kampfer für die alte a capellaMusik und andere mehr. Dreifach wertvoll war die Arbeit dieses Institutes: Die Schule selbst, damals eine bescheidene Musikmittelschule, war eine Statte unermüdlicher, pflichttreuer Arbeit, die beseelt war von bestem musikalischen Qeiste. Mancher, der heute im Kunstleben österreichischer, reichsdeutscher oder auslandischer Stad te seine ehrenvolle Rolle spielt, hat hier die erste Ausbildung genossen. Die Lehrkrafte des Mozarteums waren stets auch Solisten von Rang und die Schule ist stolz darauf, daB Künstler von Weltruf, wie Lilli Lehmann und Bianca Bianchi hier lehrten oder Kurse abhielten. Die Künstlerschar des Mozarteums bildete den Grundstock eines Symphonieorchesters, das unter der Leitung des Direktors alle orchestralen Aufgaben der Spielzeit bewaltigte. Bei dem regen Eifer und dem bedeutenden Können, dem man auch in Liebhaberkreisen begegnete, darf es nicht Wunder nehmen, daB ein Instrumentalkörper von einer Disziplin und Spielsicherheit herangezogen werden konnte, wie sich ihn auch gröBere Stadte nur immer wünschen können. 185 Salzburg als Musikstadt Da die Kammermusik auf gleicher Höhe stand, hatten die Salzburger reichlich Gelegenheit, beste Musik in bester Form zu hören. Neben Darbietungen der bedeutendsten kirchlichen und profanen Tonwerke, Oratorien, Messen, groBer Chorwerke (von der „Salzburger Liedertafel" und dem „Damensingverein Hummel" aufgeführt) wechselten in reicher Fülle mit Kammerabenden Konzerte aller namhaften Solisten, die es nie versaumten, auf ihren Kunstreisen auch der Mozartstadt einen Besuch abzustatten. Fanden sie doch dank jahrelanger Erziehung zu edlem KunstgenuB ein Publikum, das nachfühlen und miterleben konnte wie seiten eines. Keine der üblichen Konzertsaalunsitten konnte hier Wurzel fassen und wer in Salzburg konzertierte, wuBte im vorhinein, daB er auf verstehende Dankbarkeit für ehrliches Können rechnen durfte, aber auch strengste Kritik an Halbheit und Scheinkunst zu fürchten hatte! Dem rastlosen Streben und den allseits wirkenden Kraften wurde bald der Kreis zu enge. Die Musikschule sehnte sich in beschrankten, dumpfen Raumen nach einem neuen, würdigen Heim und der Gedanke, Salzburg zu einem musikalischen Wallfahrtsorte zu gestalten, fand begeisterte Verfechter. So entstand der Plan des Mozarthauses und die Salzburger Festspielhausgemeinde trat ins Leben. Wie fruchtbar beide Gedanken waren, zeigte der Massenbesuch der Musikfeste, die in immer kürzeren Zwischenraumen, zuletzt jahrlich im Sommer, veranstaltet wurden und zu deren Durchführung sich mit den einheimischen Künstlern die glanzvollsten Namen der groBen Musikwelt vereinigten, an deren Gelingen, man darf wohl sagen, ganz Salzburg mitarbeitete. Es ist nicht nötig, mehr zu sagen. Jeder erinnert sich entweder an selbst erlebte Stunden höchster Weihe im schlicht-erhabenen Raume der alten Aula academia oder an jene denkwürdige Aufführung des Don Juan, in der jede Partie von dem besten Vertreter, den die Welt kannte, gesungen wurde — oder aber, er hat einen jener Berichte gelesen, die alle führenden Blatter der Welt diesen Weihespielen widmeten. So blühte in der alten Salzstadt ein reiches musikalisches Leben und alles drangte nach aufwarts. Das neue Mozarthaus, die Hoffnung und das Schmerzenskind Salburgs, war eben nach tausend Optern und Mühen fertiggestellt, alle Vorbereitungen zu seiner glanzvollen Einweihung waren getroffen, die Proben und Vorarbeiten für das. 186 Salzburg als Musikstadt groBe Musikfest des jahres 1914 waren abgeschlossen — da ertön'ten statt der weltversöhnenden Harmonien Mozarts wilde Kriegsfanfaren und Polyhymnia verhüllte ihr Strahlenhaupt. Man kann über keine politische, wirtschaftliche oder kulturelle LebensauBerung unserer zertretenen Heimat sprechen, ohne die Wunden, die der groBe Krieg geschlagen, neu aufzureiBen. Auf tausend Blüten ist der Reif getallen; auch Salzburgs Musikleben schien, ins tiefste Mark getroffen, erfrieren und verdorren zu sollen. Viele der Besten tauschten die Leier mit dem Schwerte und was zurückblieb — sei es, daB die Faust nicht stark genug war, die Waffe zu führen, sei es, daB die Pflichten und Bedürfnisse des Hinterlandes zu stillem, unbedanktem Heldentume zwangen — das betreute unter bitteren Sorgen den welken Stamm, daB er nicht vollends verderbe. Hoffnung und Arbeitsmut waren diesen Wackeren nicht erstorben. Auch in dieser schwersten Zeit wagte man groBe Aufführungen, die zahlreichen Wohltatigkeitskonzerte blieben dank der Mitwirkung von Künstlern und dem Geschmacke der Zuhörer vor Verflachung bewahrt, neben den nie ruhenden groBen Planen blühte reizvoller denn je die bescheidene Trösterin, die liebliche Hausmusik. Der groBe Krieg ist aus! „Friede" und „Freiheit" sind in unsere Republik eingezogen 1 Aber, wie weit sind wir noch von der Sorglosigkeit, Ruhe und wahren Bewegungsfreiheit entfernt, deren Salzburgs musikalisches Leben bedarf, soll es sich in der vor dem Kriege glücklich eingeschlagenen Richtung weiter entwickeln 1 Das Mozarteum kampft mit unglaublicher Not, einige seiner besten Lehrkrafte muBte es ziehen lassen, und die noch blieben halt einzig die Treue zu Salzburg, ihrer zweiten Heimat. Wenn auch Land und Staat (das Mozarteum ist seit kurzer Zeit in staatlichem Betriebe) immer wieder helfend eingreifen, wenn auch das Ausland in Verehrung Mozarts und in Hochschatzung der geleisteten Arbeit die drückendste Not durch Spenden zu lindern sucht, die geplante Ausgestaltung zum Konservatorium konnte bisher, trotzdem die Schule diesen Namen bereits führt, nicht voll gelingen und drohte in Versuchen (Oper, Schauspielschule, gymnastische Kurse) zu ersticken, denen die knappen Betriebsmittel nicht gewachsen waren. Der Dommusikverein muB bei den öffentlichen Gottesdiensten milde Spenden sammeln, um nur die Instrumentalisten für die sonntaglichen Aufführungen bezahlen zu können. 187 Salzburg als Musikstadt Noch fehlt Salzburg der starke Magnet, der ahnlich wie Bayreuth alles anzieht, was in hohen Feierstunden sich Frau Musika zu FüBen werfen will. Vor wenigen Monaten ist im Lustpark zu Hellbrunn der Grundstein zum Salzburger Festspielhaus gelegt worden. Eine stille Wiesenkuppe am auBersten Ende des weiten Parkes, umschlossen von uralten Baumriesen, die nur da und dort einem Blicke Raum geben auf Salzburgs Wahrzeichen, die Feste Hohensalzburg, auf den Sagenberg unserer Heimat, den Untersberg, auf die weit hingelagerten GrenzwSlle des Salzachtales. Ein paar Schritte tiefer in den Schatten der Baume — und ein Stück Urwaldfriedens umfangt dich: An dieser Statte, recht geschaffen zum Sammelplatze aller guten Geister, soll sich, nach Poelzigs Entwurfe organisch aus der Landschaft emporwachsend, das Festspielhaus erheben, dessen Grundstein wohl noch manches Jahr dort oben einsam traumen wird. Denn wenn auch eine Schar von Werbern in Wort und Schrift den Gedanken des Weihehauses in alle Welt tragt, wenn es auch an Geldopfern daheim und in der reicher gesegneten Fremde nicht fehlt, wir sind noch weit vom Ziele und die gewaltige Summe, die das Werk erfordert, predigt unerbittlich Zahigkeit und boffende Geduld. Die Grundsteinlegung war das Ite, missa est in dem musikalischen Gottesdienste, der auch heuer wieder, glanzvoller denn je, gefeiert "worden ist. Eine eigenartige Zeit, die Festspielzeit! In diesen Tagen ist Salzburg, das seine Bewohnerzahl plötzlich aufs vierfache steigen sieht (kamen doch heuer zu den 40.000 Einheimischen rund 130.000 Gaste !), nur Musik, alles lebt nur in Tönen, Platze, alte Höfe, Kirchen und Garten werden zum Konzertraum, auf allen StraBen summen eilende Menschen „aus Figaro" und „Don Juan". Unser kleines Theaterchen wird zum Juwelenschrein für Mozarts göttliche Melodien, die AllergröBten im Reiche der Tonkunst wandeln leibhaft unter uns, am Tage arbeitende und sorgende Menschen wie wir, des abends machtige Geisterbeschwörer! Viel Unheiliges freilich drangt sich auch in diesen Tempel und Dollar und Gulden sind auch da für viele das Einzige, was ihr Herz schneller schlagen laBt. Doch wo ware je GroBes geschehen, das nicht Kramergeist und Eigensucht zu kleinem, schmahlichem Gewinne entwürdigt hatte! Wahrend ich diese Zeilen schreibe, ist Salzburg wieder verlassen von der Flut der Gaste und traumt in Regenschauern dem Winter 188 Salzburg als Musikstadt entgegen, der uns aller Voraussicht nach wenig musikalische Ereignisse bescheren wird. Zwar öffnet das Theater in einigen Tagen wieder seine Pforten, aber der Prunksaal des Mozarthauses friert in dammerndem Dunkel, es fehlt an Holz und Kohle, die Honorarsatze der Berufsmusiker sind ins Ungemessene gestiegen, damit failt Oper und Symphonie, kaum ein oder der andere Künstler wagt es, seinen Zuhörern Eintrittspreise zuzumuten, wie er sie brauchte, um nur die eigenen Auslagen notdlirftig zu decken. Das beste Konzertpublikum muB schon seit geraumer Zeit auf seinen letzten GenuB, einen Abend guter Musik, verzichten, es scheint, als ob die Muse, die nach dem Kriege ihr verhülltes Antlitz ein wenig freigegeben hatte, neuerdings den Schleier vor die tiefen, sinnenden Augen ziehen wollte. Der Kunst sei Dank, es scheint, es ist nicht! Denn wahrend das groBe Musikleben schlaft, regt es sich und treibt es allüberall im Kleinen ! Im traulichen Wiener Saaie pflückt man noch immer manche reife Frucht edler Kammermusik, manche junge Blüte öffnet hier zum erstenmal ihre scheuen Blatter, in den besten Familien der Stadt finden sich Kenner und Feinschmecker zu kleinen erlesenen Kunstabenden, im altehrwürdigen Dome lauschen jeden Sonntag die Freunde der musica divina den Werken unserer gröBten Kirchenkomponisten aus alter und neuester Zeit, die Riesenorgel weiB nichts von Jammer und Not, wenn sie, Religion und Kunst verbindend, ihre hundert sieghaften Stimmen erhebt; die musikalischen Vereinigungen 1 sind eifrig tatig, um, sobald es die Jahreszeit gestattet, mit groBen Werken kirchlichen und weltlichen Stiles herauszukommen; an allen Schulen arbeiten begeisterte Lehrer daran, die Jugend von den Verirrungen der „Kunst" weg zum klaren. Bom des Volksliedes und der ewigen Schönheit unserer Altmeister zu führen; das Mozarteum selbst ist, gewiB nicht zum Schaden seiner Schüler, vom kostspieligen Experimentieren zu schlichter, gediegener Unterrichtsarbeit, zur Beschrankung auf Bleibendes und Erprobtes zurückgezwungen : kurz, ein Treiben, Drangen, Aufbauen, ein kraftiges, versprechendes Wollen ist überall zu spüren Und so muB es auch sein! Die Musik, die anderwarts zu den mannigfachen Vergnügungen des Geistes noch ein besonderes, höchstes GenieBen hinzufügt, hier in Salzburg ist sie das Vergnügen schlechthin, die Freude, die Erholung nach des lastenden Tages Plag' und Mühe! Die Hoffnung und das Ziel der Jungen, die Erinnerung und der Zehrpfennig der Alten. Ünd das heute wie vor dem Kriege! 189- Salzburg als Musikstadt Wer an einem warmen Sommerabend durch die engen StraBen der Altstadt wandert, kann es vernehmen. Was anderwarts ein wohlweiser Stadtrat eiligst verbieten muBte, hier ist es gutes, altes Recht und niemand stöBt sich daran; Aus allen Fenstern, die der lauen Abendluft welt geöffnet sind, dringt Musik in die StraBe herab. Hier wird gesungen, dort liebkost einer seine alte Geige, ein Spinett glaubst du, ein Menuett aus Vater Haydns Zeiten zu hören, dorther fliegen abgerissene Klange eines Mozartischen Streichquartetts und hoch oben im Dachstübchen klingt schüchtern und vertraumt ein Lautenakkord ! Dreimal des Tages erhebt auch das tote Erz seine Stimme. Die Glöckchen des Glockenspiels*) pizzikieren ihre alten Weisen und wenn sie verklungen sind, schwingen sich die gehaltenen Akkorde vom „Salzburger Stier" **) hinüber über Altstadt und FluB zum waldumkranzten Kloster der Kapuziner. In stiller Zelle laBt ein Franzikanermönch das Pansymphonikum P. Peter Singers erklingen, das in einem bescheidenen Orgelwerk alle Instrumente des Orchesters und noch das Klavier, die Orgel und das Harmonium in treuester Nachahmung verein igt***) Wo alles Musik treibt, darf auch das Fühllose, Tote nicht stumm bietben und wenn der Tag im Westen verglühen will, wenn des Sorgenden Stirne sich glattet unter dem weichen Finger des Abends, dann singen die Glocken der 27 Kirchen ihr frommes Ave harmonisch Ober die dammerselige Stadt. Möge eine neue, schöne Sonne aufgehen ob der Heimat Wolfgang Amadés möge die Zeit der Not eine Zeit der Sammlung und der stillen Arbeit für uns werden, auf daB wir dereinst, wenn alle Wunden vernarbt sind und die Freude wieder bei uns eingekehrt ist, mit ehrlichem Munde sprechen dürfen: „Kommt zu uns, hört und freuet euch mit uns, wir haben das groBe Erbe treu verwaltet: Salzburg ist noch die „Mozartstadt"! *) Vom Salzburger Uhrmacher Sauter zur Erinnerung an die Handelsbeziehungen zwischen Salzburg und Holland erbaut. **) Ein selbstspielendes Hornwalzwerk aus dem siebzehnten Jahrhundert ***) Dieses Instrument ist eine Erfindung des Franziskanermönches P. Peter Singer, der sich auch als Verfasser einer Harmonielehre (1847) einen geachteten Namen geschaffen hat In dem musiktheoretischen Werke versucht er atifierst geistvoll, die Harmonien Ihrem psychologischen und religiösen Gehalte nach darzulegen. 190 Neue Kunst Bruno Grimschitz Die künstlerische Produktion Österreichs erfüllte um die Jahrhundertwende neuer Aufschwung. Neue Impulse in Architektur, Plastik und Malerei. Nicht, daB es den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts an künstlerischem Leben gefehlt hitte, aber die künstlerische Initiative führender Entwicklung war nach allen Richtungen hin erloschen. Eine dünn gewordene Tradition erfuhr unpersönliche Abwandlungen, historisierendes Schaffen entbehrte schöpferischer Unmittelbar* keit. Auf keinem Felde der künstlerischen Entscheidungen ein neuer Weg aus den Wurzeln und Anliegen modernen Menschentums. Vielleicht besaB nur die Malerei bedeutendere Individualisten in Makart, Canon und Pettenkofen. Aber auch sie trugen die Züge des Epigonentums und waren nur im AnschluB an vergangene künstlerische Konventionen groB geworden. Da setzte an der Wende des Jahrhunderts bewuBt die Forderung nach neuen Wegen ein. Mit aller Scharfe wurde der Tradition die Macht der freien Persönlichkeit entgegengesetzt, das Recht der subjektiven Freiheit alles Schaffens. Wenn auch die produktive Tat nicht vollends gelöst werden konnte von den künstlerischen Voraussetzungen der Vergangenheit — und es blieb oft die beste Kraft innerer Orientierung, daB es nicht ge-chah — so war doch wieder über alles hinaus ein neues künstlerisches Verantwortlichkeitsgefühl erwacht, ein neuer Begriff des Künstlerischen überhaupt wieder aufgestellt und gehalten. Ein «roBes Wollen, dem nicht nur Programme, sondern auch Schöpfungen fotgten, setzte sich in erbittertem Widerspruch zur herrschenden Produktion. Durch die Unversöhnlichkeit der Auseinandersetzungen nahm die neue Bewegung den Charakter einer künstlerischen Revolution. Heute ist die Bedeutung der Sezession überschaubar. Geschichtliche Distanz scheidet, was absolute Leistung war und was unerfüllter Kampfruf blieb. Aber trotz der kurzen Schwungkraft der neuen Strömung, trotz der wenigen Individualiteiten, die durch künstlerische Potenz 191 Neue Kunst h.naufwuchsen in die heiBe Aktualitat der Begeisterung des neuerr Anlaufs zu objektiven Schöpfungen, eines blieb unverlierbar für alleBezirke künstlerischen Ausdrucks: eine neue Wendung zum Österreichischen. Eine neueBlüte des Österreichischen, wenn die Rückkehr zu wesentlichen Linien des eigenen künstlerischen Grundcharakters so genannt werden darf. Und in dieser Rückkehr als Notwendigkeit, daBallgemeinste Züge der Struktur österreichischer Begabung wieder alle Dokumente des künstlerischen Schaffens umspannten, daB das Gemeinsame österreichischer Erde wieder in den besten Individualisten emportneb. Vor allem manifestierte es sich in der Erscheinungdes Dekorativen n Architektur, Plastik und Malerei. Das Dekorative war in Österreich immer mehr, als der Begriff für andere LSnder umschloB. Es gab um seine glanzendste Epoche zu berühren, dem österreichischen Barock gegenüber fremden Entwicklungen einen besonderen Grad lebensfroher Pracht. Eine besonders ausgeglichene Schwingung, die das Monumentale und das Intime, die künstlerische Gesamtheit und jede architekte-ttlsche plastische oder farbige Einzelerscheinung in gleich vollendet schwingendem Rhythmus durchströmte und zu einer einzigartig fessellosen Rundung erhob Eine blendende Geste souveraner Lebensempfindung war allen künstlerischen Dokumenten gemeinsam, eine skepsisfreie Freudigkeit, die alles Künstlerische irgendwie in die Sphare des Fesflich-Dekorativen drangte und die deshalb nur in selteneren Fallen in die letzten Tiefen der Probleme führte. Und dieses Dekorative sprang am Ende des Jahrhunderts in der österreichischen Produktion wieder bestimmend auf Aber m ganz gegensatzlichem Sinne zur Erscheinung des Barocks War dort alle dekorative Schwingung nur eine besondere Betonung der durchaus sinnl.ch gerichteten Grundstruktur jeder künstlerischen Schöpfung so wurde um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts das Abstraktdekorative entscheidend für alle künstlerische Problemstellung überhaupt, bestimmte von intellektualistischer Seite her den Weg und das Ergebnis des künstlerischen Schaffens. Und diese künstlerische Einstellung dekorativer Grundtendenz in Architektur, Plastik und Maleret Wenn auch Otto Wagners, des Führers der neuen Architekturbewegung groBe Baugesinnung monumentale Züge tragt, Raumarchitèktur in groBem, lebendigstem Sinne war sie nicht. Ihr fehlte die Sinnlichkeit der Raumempfindung, und die neue Wertung des Konstruktiven die* sich mit Zweck- und Materialforderungen zum Ausdruck eines neuen Zeitstiles band, ging von gegensatzlicher Richtung an die Schöpfung raumhcher Weiten. Der Gestaltung dtr materiellen Raumgrerizen fiel die entscheidende Bedeutung in der künstlerischen Gesamtwirkung 192 Hanak, Junge Sphin Neue Kunst zu. Verkleidungstechnik, Materialausdruck und Ornament waren das Wesentliche. Und noch starker bestimmt diese dekorative Tendenz josef Hoffmanns künstlerische Erscheinung. Er, der die feinste Blüte des österreichischen darstellt, neigt starker zur Intimitat. Von ihm ist kein monumentaler Bau erhalten und das groBe Ausstellungsgebaude auf der römischen Ausstellung 1911 war Monumentalarchitektur in einem ganz besonderen Sinn: auBerste Schmucklosigkeit, geadelt durch die kultivierteste Reinheit der Proportionsverhaitnisse, eklektisches Raffinement, das dem Konstruktionsnaturalismus die Kühle und Vornehmheit von Werken des Empire zu geben wuBte. Wie eine neue Phase — eine Phase ganz persönlicher Wandlung — der feinen Baukultur des österreichischen Empire wirkt Hoffmanns Architektur: alles architektonische Können konzentriert auf die Relationen der Richtungsgegensatze in der FlSche. Keine Wirkung der Baumasse, sondern die architektonische Gesamterscheinung in der dekorativ reliefmaBigen Isolierung empiremaBigerFlachengestaltung gegeben. Hoffmanns groBe Sachlichkeit in der architektonischen Formulierung moderner Lebensbedürfnisse kam zur Klarheit seiner Formanschauung. Der groBzügig gestaltenden Gliederungskunst verband sich eine seltene Liebe zum Objekt kunstgewerblicher Kleinarbeit. So hat Hoffmann Vorbildliches im Villenbau, in der Innenarchitektur und im dekorativen Kunstgewerbe gegeben. Er hat eine Reorganisation der Wiener Kunstgewerbeschule durchgesetzt, er war Initiator und Leiter der Wiener Werkstatten und wirkte durch einen groBen Schülerkreis in die Weite. Über die Grenzen österreichs drang die neue kunstgewerbliche Bewegung. Und der Name Josef Hoffmanns gab ihr das Geprage. Wo sie sich von ihm entfernte, irrte sie oft in spielerischer Willkür. Die bedeutendste Begabung, die aus dem neuen Kreis erwuchs, ist Dagobert Pêche. Seine bizarre Phantastik gab der puritanischen Vergeistigung Hoffmanns wieder gröBeren Reichtum linearer und farbiger Werte. Und von anderer Richtung, aus der traditionellen Schulung Karl Königs kommend, hat Oskar Strnad durch eine ganz persönliche Kraft der Verarbeitung verschiedenster künstlerischer Voraussetzungen dem österreichischen Schaffen eine neue Erscheinung gegeben. Im Gegensatz zu Hoffmann und Pêche, deren Schöpfungen als Dokumente kultiviertester Sensibilitat einen Grad artistischer Auserlesenheit besitzen, wirkt Strnads sprudelnde Phantasie mit der Macht wurzelhafter Vitalitat. Und die Stellung zum künstlerischen Problem beginnt sich zu wandeln: nicht mehr erhebt die Oberfeinerte Lebensempfindung alle Produktivitat zur künstlerischen Dekoration kultiviertester Sonderexistenz, sondern breite Kraft volks- 13 193 Neue Kunst tümlicher Wucht formt neue Denkmaler phantasievoller Ursprünglichkeii Die plastischen Energien sind im Umkreis des modernen österreichischen Schaffens die schwachsten. Nur in zwei Begabungen sammelt sich der lebendige Strom plastischer Anliegen. Wie auf keinem anderen Felde bleiben die Schöpfungen auf der Ebene akademischer Vollendung, unpersönlich und ohne richtunggebende Aktivitat. Vielleicht hebt sich nur der Name Müliners aus dem allgemeinen Charakter der Produktion. In festumrissener Subjektivitat führender Kraft aber steht einzig das Werk Barwigs und Hanaks. Barwig, nahe dem Kunstgewerbe, Hanak von monumentaleren Ansprüchen absoluter Formenschöpfung. Barwig, der Meister kleiner Tierbronzen, Hanak, dem menschlichen Aktproblem zugewendet, das sich ihm zum Trager geistiger Entwicklungen ausweitet. Barwigs Werke bestimmt durchaus das Dekorative: eine straffe Linie geschmeidiger Wölbungen bindet die Tierfiguren in eine Kurve flieBender Bewegung, die alles Naturalistische abschleift und durch eine zusammenfassende Modellierung ersetzt. Hanaks Gebarde, unendlich schwerer und von dumpfer Animalitat erfüllt, reckt sich in groBen Körpern empor. Die Schwere der Form wird zu Gestalten machtiger Symbole. Organisch, gewachsen, bauen sich die überlebensgroBen Leiber auf, in klangvoll schwerer Rhythmik die Glieder in den groBen Raum hebend. Aber wie die geistige Beobachtung dieser Gestalten in unerlöster Problematik gebunden bleibt, so erhebt sich auch die Form nicht zur absoluten Höhe schöpferischer Vollendung. Hanak gibt zwar der österreichischen Plastik die überragende Potenz verantwortungsbewuBter Führerschaft, aber nicht die letzte GröBe dauernder Pragung. Diese war der Malerei vorbehalten. Wie in keinem anderen Bezirk künstlerischer Entscheidungen hob sich die österreichische Malerei nach der Jahrhundertwende zu überragender Wirkungsweite. Klimts Werk stand an ihrem Beginn. Klimts Persönlichkeit fing den starksten Anprall allgemeiner Gegnerschaft auf. Der Kampf um seine Universitatsbilder, um die Richtung seines künstlerischen Weges überhaupt, scheint heute kaum verstandlich, die MaBlosigkeit der Erbitterung nicht faBbar, weil die Zeitdistanz die stumpfe Tiefe des herrschenden Malerhandwerks, gegen das sich Klimts verantwortungsfreudige Forderung nach einem neuen Begriff des Künstlerischen erhob, der Vergessenheit übergab. Umso gröBer die Tat Klimts, als sie sich nicht zu kleinsten Kompromissen verleiten lieB. Und 194 Barwig, Steinbock Neue Kunst anderseits enthielt sie sich aller lauten Kampfprogrammatik. Sie war ja nicht bewufiter Gegensatz zur herrschenden Anschauung, sondern entwickelte sich vielmehr selbst organisch aus den malerischen Voraussetzungen der Achtzigerjahre. Aus der Generation Makarts wuchs Klimt. Diese Feststellung bedeutet die Herrschaft des Dekorativen schon für den Beginn der künstlerischen Laufbahn. Und die Herrschaft des Dekorativen wurde immer einseitiger: sie führte zur vollen Aufgabe dreidimensionaler Raumlichkeit. Vielleicht war von den Grundlagen des dekorativen Stils Makarts her keine andere Entwicklung zu einer neuen persönlichen Formulierung möglich. Aber die Konsequenz, mit der Klimt in der Steigerung des Dekorativen auf eine auBerste Grenze schritt, war das Entscheidende der persönlichen Tat. Damit überwand Klimt die Tradition in der Richtung auf eine neue Autonomie des Subjektiven. Ungleich aber — und darih enthüllt sich die Tragik des künstlerischen Einzelschicksals in einer Zeit, der die groBe Einheit einer allgemeinen künstlerischen Kulturkonvention verloren ging — entfernte sich der Weg Klimts immer mehr von den entscheideaden Linien der modernen malerischen Entwicklung, wurde anachronistisch, in starkstem Gegensatz zur naturalistischen Phase impressionistischer Malerei. Klimts künstlerisches Ergebnis, das, an dem Verlauf der österreichischen Voraussetzungen gemessen, Überwindung der Tradition bedeutete, wurde in seiner Reife von der Aktualitat entgegengesetzter malerischer Probleme überholt und auBerhalb alles lebendigen malerischen Lebens gestellt. Deshalb muB für den Fernerstehenden, der nur das sichtbare Werk Klimts überblickt, immer wieder der Dualismus der menschlichen und künstlerischen Erscheinung Klimts betont werden. Ohne Klimts menschliche Potenz undenkbar der rasche Aufstieg der jungen Generation, ohne Klimts malerische Dokumente vielleicht ungehemmter möglich und unbeschwerter. Denn Klimts zweidimensionale Flachenkunst war ein gefahrlicher Boden für eine künstlerische Jugend. Sie verleitete zu dekorativem Manierismus. Und Schiele, der Frühvollendete und früh Dahingegangene, kam nicht über diese Grenze in die innere Einheit einer neuen Raumwelt hinüber. Klimt hatte ja auf dem abstrakten Ornament seine Kompositionen aufgebaut, hatte rein geometrisch-flachenhafte Fornw und Farbenwerte ganz persönlichster Erfindung mit Stücken sensibelster Schilderung «naturalistischer Darstellungsfeinheiten verbunden. DaB diese polaren künstlerischen Gegensatzlichkeiten nicht zerfieten, sondern daB sie sich zu dem Raffinement einer ganz subjektiven 13* 195 Neue Kunst Intensitatseinheit der malerischen Vorstellung verbanden, bedeutete die künstlerische Kraft Klimls. Schiele verzichtete auf das Ornament. Und damit auf den Dualismus der Darstellungswerte Klimts. Dieser Verzicht aber fflhrte in den allgemeinen Kreis dekorativer Stilisierung. Nur weil Schieles Linie über ein aufierordentliches MaB expressiver Ausdruckskraft verfügte — eine leidende Natur drangte in sie alle Exstasen verquaiter Existenz — entging das zeichnerische und malerische Werk der Verflachung. Vielmehr bot Schiele ein Neues: eine geistige Intensivierung der linearen Gebilde von eigentümlich sinnlicher Kraft. Nicht die sinnliche Vitalitat gesunder Ursprünglichkeit, sondern die abgründige Erscheinung erregter Grenzphanomene erotisch-dekadenter Lebensempfindung. Kokoschka begann am gleichen Punkte der allgemeinen Entwicklung. Auch er kam von Klimt. Aber in den ersten künstlerischen Dokumenten schon löste sich sein genialer Instinkt von den Fesseln stilisierender Dekoration und die Erweiterung der Tradition von der toten Linie provinzieller Abgeschlossenheit in die allgemeinsten Bezirke vergangener Produktion, welche die Tat Klimts war, wiederholte sich in ungleich gröBeren Perspektiven. Nur mit dem fundamentalen Unterschied in der Parallelitat des Verlaufs, daB die Phanomene der künstlerischen Auseinandersetzung Kokoschkas, die von Klimt wegführten, ganz andere waren — und andere sein muBten — als die Vorbilder Klimts. Nicht primitive Kunst und Ornament, byzantinische Pracht und die Sensibilitat ostasiatischer Schöpfungen, sondern die alten Deutschen, Rembrandt, Rubens und Grünewald hieBen die Anregungen. Und damit auch die fundamentale Wendung in der Stellung der subjektiven Leistung zum Allgemeinbild der Produktion: Klimts Dokumente standen isoliert, ein seltener Anachronismus, Kokoschkas Schöpfungen aber erhoben sich unerhört gegenw&rtig in den künstlerischen Zeitschicksalen, führend und revolutionierend. Nicht, daB Kokoschka mit Hauptlinien der modernen Malerei nie Berührungspunkte besessen hatte. Corinth und Nolde waren solche. Aber der Weg zu ihnen, von Klimt her, führte über die gröBten Linien der Vergangenheit. Damit weitete sich die künstlerische Welt Kokoschkas. und durch ihre Universalitat erhob sie sich zur blendenden Aktivitat weitester Wirkung. Sie vereint alles: die besten Züge des österreichischen Barocks (auf denen Kokoschkas Kraft mehr ruht als auf allen anderen Vorraussetzungen), das Dekorative und das Jenseitige, die farbige Sinnlichkeit und die souverane Freiheit der malerischen Diktion und die Errungenschaften des modernen Sehwillens, die Tiefe 196 Schiele, Gattin Neue Kunst psychologischer Charakteristik und die Geheimnisse des Metaphysischen Die Natur und die letzten Differenzierungen der GroBstadt. Und alle Elemente hinausgestellt von dem genialen Zentrum einer im Tiefsten intuitiv schaftenden Seele, die alle Elemente wandelt und pragt und zu eindrucksvollen Symbolen erhebt, traumhaft sicher, seherisch und in einzigartiger Wandlungsfahigkeit. Und das Österreichische an Kokoschka: darin faBt es sich vielleicht am starksten zusammen- daB trotz der unerhörten Gegenwartigkeit seiner Schöpfung die ganze Macht der Tradition in den künstlerischen Dokumenten steht, daB sie nie den Zusammenhang mit dem Lebendigen der Vergangênheit verlor. Nicht durch bewuBte Negation, nicht in dialektischem Gegensatze zu den malerischen Höhepunkten der groBen Epoche erhob sich die künstlerische Tat Kokoschkas — und warf damit zu eigener Verarmung die Fülle der Erkenntnisse gröBter Individualitaten fort — sondern erhob gerade das Lebendige vergangener Entwicklungsphasen wieder in das Licht einer genial reagierenden Psyche. Kokoschka ist so im Umkreise des deutschen Expressionismus, der zwischen Plakat und Graphik schwankte, der Maler geblieben, der Maler wunderbarer Farben, in denen die differenzierte Kultur von Jahrhunderten österreichischer Kunst liegt, die das AuBerste herausholt an stofflichen dekorativen und metaphysischen Werten, ruhig flieBend oder in stürmischer Geste, in gebandigter Fülle oder in einer Tiefe der Erregung, die nicht mehr überboten werden kann. Die malerischen Probleme weiten sich zu geistigen Entscheidungen, die neben der rein künstlerischen Seite des Dokuments ebenso bestimmend die Erscheinung Kokoschkas umreiBen. Besser: die farbigen Erkenntnisse werden m diesem Maler erst durch die seelischen Anliegen emporgeholt und lebendig. Kein Werk so, das in romanischem Sinne nur schöne Wirklichkeitsmalerei ware. Immer ist die psychische Auswirkung des Individiums unlösbar in der künstlerischen Schöpfung gegeben, nur eine sichtbare Form im malerischen Objekt. In diesem Smn ist Kokoschka deutsch: leidend und denkend, problematisch und J3h, unsicher, immer unfertig und wieder von unerreichter GroBartigkeit, lebendig und grüblerisch tief, bis zum Literarischen Vielfaitig in den wechselvolien Dokumenten seines Schaffens und doch •mmer wieder derselbe Mensch: genial unser Lebensphanomen hinstellend in unvergleichbaren Gleichnissen. Und neben Kokoschka noch.Kolig und Wiegele. Auch sie lebensvollste Züge des Österreichischen an sich tragend, unmittelbare Fnsche des Empfindens sowohl wie dekorativ gebandigte Fülle des 197 Neue Kunst Kolorits, aber starker eingestellt auf den begrenzteren Kreis westlicher Entwicklung. Beide waren in Paris und fanden in der französischen Malerei neue Grundlagen. Die Errungenschaften der groBen malerischen Entwicklung Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert floBen belebend in das österreichische. Sie waren schon von der Generation der Pettenkofen, Jettel und Schindler aufgenommen worden, ein Menschenalter früher. Aber mit dem Unterschied, daB Kolig und Wiegele den fremden Voraussetzungen eine viel starkere Wendung ins Österreichische gaben als die österreichischen Impressionisten. Kolig in der Richtung der dekorativen Kurve des Barocks, Wiegele in der der objektiven Sachlichkeit Waldmüllers. Was beide Maler verbindet ist die prachtvolle farbige Sinnlichkeit, was sie trennt, die Verschiedenartigkeit des Temperaments. Koligs malerische Diktion nimmt in der hinreiBenden Gewalt bewegter Eroberergebarde. Seine malerischen Schöpfungen geben die Sichtbarkeit im Strömen der Erscheinung, Wiegele schildert in zaher Objektivierung langer Arbeit das unbewegte Sein der Dinge und Menschen. Und als die letzte auBerordentliche Begabung Herbert Böckl, neben Kokoschka als die bedeutendste Hoffnung österreichs aufwachsend. Auch an Böckls Schöpfungen ist das österreichische entscheidend: eine seltene Kultur lyrisch flieBender Farbigkeit, eine malerische Sinnlichkeit, die auf das Objekt und seine farbige Bewaltigung unmittelbar gerichtet, doch das Metaphysisch-Symbolhafte des Existenziellen nicht verliert und von dem Gegenpol her das Geheimnis des Lebens zu geben versucht: wahrend Kokoschka von dem Zentrum seiner seelischen Anliegen aus den Kosmos in künstlerische Gleichnisse hebt, wachst bei Böckl das Sichtbare durch absolute Eroberung seiner malerischen und farbigen Erscheinungswerte zu symbolhafter Kraft empor. Kokoschka steht auf der Höhe seines Schaffens, Böckl am Beginn. Hat die magistrale Leistung Kokoschkas weithin spendend und befruchtend wie ein volles Mittagslicht das künstlerische Zeitschicksal überdeckt, so begrüBt die Hoffnung in Böckl einen neuen aufstrahlenden Morgen österreichischer Kunstkraft. 198 Ein Museum österreichischer Barockkunst Bruno Grimschitz Nach dem Zusammenbruch der groBen Donaumonarchie übernahm die Republik Österreich einen Kunstbesitz von einzigartigem Umfang. Aber nicht weniger bedeutsam war die volle Freiheit über das Erbe» das der neue Staat antrat, die allseitige Reorganisationsmöglichkeit dieses Kunstbesitzes. Denn jahrhundertealte Schranken, die einer lebendigen Auswertung der Kunstschatze entgegenstanden, fielen mit dem Zerfall von Österreich-Ungarn. Nicht mehr war die Trennung in Hof- und Staatssammlungen Hindernis für organische Gliederung und Zusammenfassung der riesigen, aufgespeicherten Kunstdenkmaler, nicht mehr stand neben der modernen systematischen Sammlung der historisch erstarrte Komplex des ererbten Hofbesitzes. Sondern : wollte die neue Gegenwart dieses auBerordentliche Erbe zu einem lebendigen Wert des kulturellen ZeitbewuBtseins erheben, so muBte durchaus die neue Einstellung auf die fundamental verSnderten Verhaltnisse versucht werden: aus den Bedürfnissen einer GroBmacht die Umwandlung in die Möglichkeiten eines Kleinstaates zu vollziehen. Nicht, trotz aller Verarmung, auf dem Wege der Verringerung, der Aufgabe auch nur von Teilen des glanzenden Kulturbesitzes, sondern durch innere Konzentration, durch organisch-lebendige Zusammenfassung der zersplitterten Fülle. Die Vereinigung der beiden graphischen Sammlungen, derKupferstichsammlung der ehemaligen Hofbibliothek und der Albertina, zu einer einzigen, groBen graphischen Staatssammlung war der erste Schritt in dem umfangreichen Reorganisationsprogramm des österreichischen Musealwesens. Zwei abgestorbene Körper wurden vereinigt und durch das Freiwerden ausgedehnter Doppelbestande mit einem Schlage in das Stadium lebendiger Entwicklung gehoben. Das Wesentliche : aus dem SchoBe der Sammlung selbst steigen die Möglichkeiten neuen Lebens empor, da der Staat in seiner grotesken Verarmung auch nicht kleinere Opfer für die Sammlungen auf sich zu nehmen vermag. Und aus der- 199 Ein Museum österreichischer Barockkunst selben Not heraus entstand die Idee eines Museums Österreichischer Barockkunst. Die glanzendste Phase in der künstlerischen Vergangenheit österreichs, das groBe Zeitalter des Barocks, das auch Wien den entscheidenden Stempel seiner künstlerischen Eigenart gibt, trat bisher in den Museen kaum fragmentarisch in Erscheinung. So blendend die Fülle barocker Palaste und Kirchen, barocker Denkmaler und Garten das Stadtbild zu jener prunkvollen GroBartigkeit erhebt, die den wesentlichen Ausdruck seiner architektonischen Schönheit bedeutet, so versprengt und unbeachtet standen die Dokumente der barocken Plastik und Malerei inden verschiedenen Sammlungen. Mit dem Fallen der hemmenden Besitzrechte war der Weg der Vereinigung zu einer künstlerischen Einheit frei, um so mehr, als in dem Bau des unteren Belvedères ein idealer architektonischer Rah men für das barocke Museum erhalten war. Die Vereinigung der vielen Denkmaler war die Tat, die Zusammenfassung vorhandenen Materials zu einer künstlerischen Schöpfung von eindrucksvoller Beweiskraft für die GröBe der kulturellen Vergangenheit österreichs. Johann Lukas von Hildebrandts, des groBen Rivalen der beiden Fischer von Erlach, bedeutendster Bau auf dem Wiener Boden war das Belvedère, das in seiner Gesamtanlage fast unverandert, in seinen architektonischen Innenraumen jedoch in stark bruchstückhafter Gestalt auf die Gegenwart kam. Wahrend im HauptschloB nur die Raume des Mittelpavillons in ihrer ursprünglich en Erscheinung erhalten blieben, zeigen die Sale des unteren Belvedères ungleich starker den Charakter der Entstehungszeit. Neben Raumen, deren Decken nur unverandert den malerischen oder plastischen Schmuck des zweiten Jahrzehnts des achtzehnten Jahrhunderts bieten, wieder Sale, die vollkommen die ursprüngliche Erscheinungsform geben. Die architektonische Gesamtheit des unteren Belvedères aber ein Torso, ein Fragment. Diese Fragmente dem vollstandigen Verlust zu überlassen, verboten Gründe der Denkmalpflege. Ihre Wiederherstellung zu dem ursprünglichen Eindruck mit Zeitmobiliar und moderner ErgSnzung hatte nur zu einer entstellenden Verfalschung im Sinne wissenschaftlich-historisierender Treue führen können. So blieb nur die dritte Möglichkeit: die Verwendung der Architektur als Rahmen für eine neue Einheit Nicht in der Richtung der nach dem Aufhören monarchischer Gewalt entstehenden SchloBmuseen — dazu war zuviel des ursprünglichen Raumcharakters verlorengegangen, viel mehr noch verbot die Füllung der Raume mit Prunkmobiliar zu barocken Schauraumen die ungerechtfertigte Oberbetonung 200 Ein Museum österreichischer Barockkunst des Kunstgewerblichen überhaupt — sondern darin bestand der Versuch: künstlerische Objekte, die schon zur Zeit ihrer Entstehung als solche galten und die nun ebenso fragmentarisch, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, wie das Architekturfragment erhalten waren, zu einer im Geiste barocken Gesamtschöpfung zu gestalten, unter starkster Betonung des Lebendigen, dessen, was für die moderne Gegenwartvon künstlerisch wirkenden Kraften erfüllt war. Damit muBte sich die Souveranitat der Auswahl ergeben. Bestimmend für die Aufnahme des einzelnen Objektes werden nicht mehr wissenschaftliche Normen — wenn sie auch unerlaBliche Grundlage aller musealer Arbeit bleiben — sondern die künstlerischeBedeutung erhebt sich zum entscheidenden MaB aller Wertung und Aufstellung. Nur in der höchsten Qualitat strömen, über alle geschichtlicheDistanzhinweg, lebendigeEnergien und so gipfelt der neue Versuch in dem Probletn : der Verlebendigung des Geistigen einiger groBer, entscheidender künstlerischer Individualitaten. Nicht eine systematische Darstellung wissenschaftlicher Vollstandigkeit barocker Denkmaler war zu geben, sondern über dieReihung der einzelnen Objekte hinaus muBte jene groBe Gesamtwirkung von Architektur, Plastik und Malerei angestrebt werden, die auch dem Barock dasWesentliche war. So formuliert dieser einzigartige Versuch — einzigartig, weil er neben Werken der Plastik und Malerei auch die Architektur in den Kreis musealer Darstellung zieht — den Typus eines neuen Museums: des Museums, das nicht mehr von dem Gesichtswinkel wissenschaftlicher Systematik künstlerische Denkmaler derVergangenheit reiht und aufbewahrt, sondern von der schöpferisch-künstlerischen Seite aller Produktion her über das lebendige Einzeldokument hinaus wieder die Totalitat des künstlerischen Lebens einer Zeitphase in nachschaffender Gesamtwirkung aller künstlerischen Energien emporzuholen unternimmt. Um die gröBten Individualitaten muBte sich so die Aufstellung gruppieren. Der Hauptsaal des unteren Belvedères ist eines der schönsten Denkmaler der Raumgestaltung aus Hildebrandts früher Zeit. Seine Decke tragt ein groBes Fresko Martin Altomontes aus dem Jahre 1716 und weitere Denkmaler der barocken Freskenkunst sind in einer zweiten Decke mit Bildem Altomontes wie in dem vollstandig in Groteskenmanier ausgemalten Saai Jonas Drentwetts erhalten. Arcbitekturplastik schmückt eine groBe Marmorgalerie: in Stein und Stuck sind die Raumgrenzen durch Verdrangung der materiell wirkenden Mauer gelockert und ein grofiartiges Beispiel barocker Raumauflösung durch Malerei und Plastik gibt der groBe Marmorsaal. Eine Variation in dem Funkeln von Spiegein und Gold wiederholt ein anderer Raum 201 Ein Museum österreichischer Barockkunst Und in den Reichtum der barocken Architekturphantasie, in jener gianzenden Überwindung aller materiellen Wirkung, in dem gesteigerten Eindruck fessellos-freier Pracht, stehen die Werke der groBen Namen, die österreichs barocke Kunst tragen: Donner, Messerschmidt, Permoser und Moll, Maulpertsch, Troger, Gran und Kremser-Schmidt. Von der Zeichnung bis zum riesigen Altargemalde, vom plastischen Entwurf bis zur Wucht machtvoller GroBplastik durchmiBt die Darstellung barocker Schöpferkraft alle Phasen der künstlerischen Produktion. Donners groBen Mehlmarktbrunnen steilte das Museum der Stadt Wien zur Verfügung. Unvergleichlich wirkt die Schönheit der Bleioriginale in dem groBen Marmorsaale und bildet sich mit dem roten Stein zu einem einheitlichen Gesamteindruck. Hildebrandts kostbare Raumgrenzen umfassen die Werke des groBen Plastikers, mit dem ihm in den Jahren 1725 und 1726 gemeinsame Arbeit im Salzburger Mirabellschlosse verband. Die kühle Kraft des Künstlers vermitteln Reliëfs in Marmor und Bronze und ein groBes Denkmal höfisch reprSsentativer Art ist Donners Apotheose Karls VI. Von Messerschmidt geben die prunkvollen Bleistatuen Franz I. und Kaiserin Maria Theresias, welche in Laxenburg standen, glanzendste Lösungen höfischer Monumentalplastik und die Charakterköpfe aus dem österreichischen Museum für Kunst und Industrie fast zeitlos wirkende Versuche der Bewaltigung physiognomischer Probleme. Permosers Apotheose Prinz Eugens aus dem oberen Belvedère bleibt ein unerreichbares Prunkstück barocker Gestaltungsfülle und technischen Könnens. Und Balthasar Molls unpersönlichere plastische Begabung an Busten und Sarkophagreliefs, die in den Werken der Meytens, Schuppen und Strudel ihre malerische Parallele finden. Kirchliche Holzplastik, von der kleinen Schnitzgruppe bis zu monumentalen Altarfiguren, erganzt und schlieBt den Umkreis, ebenso wie Entwürfe in Ton, Bronze und Wachs die Fülle barocker Gestaltungskraft in immer neuen Lösungen dokumentieren. Oberragend die kirchliche Kraft des Barocks in den Werken der Malerei. Diente die Plastik neben den Aufgaben der Kirche in voller Autonomie auch den Bedürfnissen reprasentativer oder profaner Machtgewalt, so erscheint der Hauptstrom der barocken Malerei österreichs fast durchaus von dem kirchlichen Thema getragen. Der höfischenPortratkunst oder der Landschaftsmalerei fehlen Namen wie Maulpertsch, Troger oder Kremser-Schmidt. Ihre Trager sind sChwachere Naturen, ohne die universale Kraft der Hauptmeister, deren Werk 202 Heiligenkreuz, Kreuzgang Vorhalle der Probsteildrche von Kraig, Karnten Ein Museum österreichischer Barockkunst fast durchaus der Kirche gilt. Maulpertsch und Troger, mit Gran die gröBten Freskanten des österreichischen Barocks, sind mit Skizzen und bedeutenden Altargemaiden aus dem Besitze der Galerie, der Galerien der Akademie und des kunsthfetorischen Museums wie österreichischer Stiftsgalerien vertreten. Nur von Kremser-Schmidt geben Bilder auch mythologische Themen. Vor allem die Skizzen zeigen für das moderne Auge die ursprüngliche Freiheit der barocken Konzeption; ob für Fresken wie Maulpertschs, Trogers, Vischers oder Grans Dokumente, ob für AltargemSlde wie Kremser-Schmidts und Altomontes Entwürfe, immer strömt in hinreiBender Gewalt das farbige Leben. Und die einzelne Schöpfung versinkt in der gemeinsamen künstlerischen Bindung, in der künstlerischen Höhe der allgemeinen Konvention. Farbe und Raum werden zu einer lebendigen Einheit, in der alle Werke mitklingen, steigernd und aufgehend in dem Eindruck einer einzigen künstlerischen Bewegung von unerreichter Fülle und Vollendung. Die gröBte Phase der künstlerischen Vergangenheit österreichs wird in der Erscheinung der glanzenden Denkmaler lebendig und erhebt mit den künstlerischen Ansprüchen zugleich die höchste Forderung: Zeugnis und Ausdruck nationaler schöpferischer Kraft zu sein. C§3 203 Das Volkslied Alfred Wolfram WeiBt du, wo's entsprungen, Wo zum ersten Mal Solch ein Lied erklungen Über Berg und Tal? Ob's ein Bursch der Trauten Vor dem Fenster sang Und mit süBen Lauten Ihr das Herz bezwang ? Ob's in stiller Kammer Ein Poet erdacht, Den des Lebens Jammer Mild und müd gemacht? Wie das Lied geworden Und so hold gedieh? Frag' in Süd und Norden — Du erfragst es niel Wanderburschen bringen's Von der Reise mit, Blonde Dirnen singen's Zu der Sichel Schnitt; Aus der frohen Runde Schallt's in gold'ner Zeit, Wie aus bleichem Munde Aus der Einsamkeit. Macht die Herzen heiter, Macht die Herzen schwer — Jeder gibt es weiter, Keiner weiB: woher ? Ohne Ziel und Namen Kommt's mit leichtem Flug: Ringelblumensamen, Den der Wind vertrug 1 Weht von Schwell' zu Schwefle, Blüht an jedem Ort; WüBtest du die Quelle, WSr' sein Zauber fort! 204 Die Liechtenstein-Galerie und die Albertina Dr. Josef M e d e r. Die groBe Masse der Fremden, die zur Zeit auf den goldenen Schienen ihrer Edelvaluta von Ost und West nach Wien gelangen, in jene Stadt, die noch immer ihren, wenn auch umflorten Glanz und Schimmer in die Welt sendet, diese groBe Masse, von welcher Kulturbeschaffenheit immer, unterliegt hier den überraschendsten Eindrücken, die durchaus nicht den mitgebrachten Vorstellungen entsprechen. Die einen fOhlen sich angenehm enttauscht, daB in den Gassen nicht Hungernde liegen, dagegen aber hinter groBen Spiegelscheiben der Restaurants und Cafés überernahrte Menschen sitzen. Die anderen — und wir nennen beide die Weltlichgesinnten — preisen die gute Kfiche, den verfeinerten Geschmack in Putz und Tracht schöner Frauen und Madchen und meinen Pariser Luft zu verspüren. Die driften wandern mit begeisterten Blieken durch die alten StraBen und Piatze mit ihren Barock-Kirchen und Palasten, Brunnen und Monumenten, versaumen weder .Konzert noch Theater und rufen überlaut: Ja, hier hat man ihn, den historischen Boden!" Wenige einer vierten Gruppe dringen in die wissenschaftlichen Institute, in die Palaste und Sammlungen, um das Beste zu genieBen und als dauernden Gewinn und unvergeBliche Erinnerung mit auf den Heimweg zu nehmen. Dieses kleine, zertrümmerte österreich mit seinen 6,000.000 Einwohnern, das entthronte Wien mit seinen vielgestaltigen reichen Einrichtungen und Sammlungen privater und öffentlicher Natur, mit staatlichen, adeligen und bürgerlichen Schatzen, die ehemals einem groBen Völkerbunde zu dienen hatten, zur Stunde aber ihre konzentrierten Strahlen wie Sonnenglut auf ein Hauflein Menschen auszugiefien scheinen — es lockt heute noch die Kulturfreunde aus aller Herren Lander und erfüllt sie mit Bewunderung. Der Sammeleifer Wiens batte seinen Höhepunkt schon in der zweiten Haifte des achtzehnten Jahrhunderts erreicht. Trotz der vielen 205. Die Liechtenstein-Galerie und die Albertir Kriegsplagen fanden hier alle idealen Bestrebungen die lebendigste Pflege. Kunstfreude, erhöhtes geistiges Leben und ein gewisser Grad von Prunksucht, verbunden mit gegenseitigem Wetteifer, entwickelten den Antrieb zu jenen aufierordentlichen Erscheinungen, die sich auch wirtschaftlich auswirkten, indem Handel und Austausch aufblQhten und sich allerlei Kunstgut in einem engen Umkreis anhSufte. Im AnschluB an das Vorbild des Hofes wuchsen groBe und kleine Galerien und Kabinette aus dem Boden, die sich spezialisierten und ihr besonderes Interesse beanspruchten. Gehörten auch Bilder und Skulpturen zum selbstverstandlichen Dekor der Interieurs, so verdichteten sie sich doch bald durch die Fülle des Materials zu ausgesprochenen Kollektionen und wurden zu glanzvollen Symbolen einer hochstehenden und hochstrebenden Zeit, die den Ruhm der alten Reichshaupt- und Residenzstadt über die Provinzen und ganz Deutschland ausstrahlten. Die verwandtschaftlichen Beziehungen des Habsburgischen Kaiserhauses zu den angrenzenden Kulturstaaten, die politisch-bunte Zusammensetzung des alten Reiches, das unter Karl VI. seine Macht weithin entfaltet und neben Deutschland und den Erblanden Belgien, Mailand, Mantua, Neapel, spater auch Toskana umfafit hatte, führten zu allerlei Möglichkeiten, nach Lust und Liebe einzuheimsen. An die Bilderzimmer schloB sich in der Regel ein reich ausgestatteter Bibliothekssaal, in welchem auBer kostbaren Ausgaben auch Handzeichnungen, Kupferstiche sowie einige Münzen- und Medaillenschranke ihre Aufstellung fanden. Wir nennen neben den vielen kleineren nur die hervorragendsten Sammlungen, wie jene des Prinzen Eugen, der Fürsten von und zu Liechtenstein, der Grafen Harrach, Czernin, Fries und Schönborn, des Fürsten Niklas EBterhazy und des Herzogs Albert von SachseriTeschen, die im edlen Wettkampfe sich gégenseitig zu überbieten suchten. Heute ist manche verschwunden, manche abgewandert oder teilweise verkauft, aber immerhin bergen die altersgrauen Palaste noch ein Kunstmaterial, wie man es kaum reicher zu denken vermochte, abgesehen von den im Laufe des vergangenen Jahrhundèrts neu hinzugekommenen bürgerlichen Gründungen, die vielfach Ersatz gebracht haben. Wie zwei machtige Brillanten aus einer Juwelenkette leuchten heute die Liechtensteinische Galerie und dieAlbertina aus den übrigen ob ihrer Eigenart hervor. Jene eine Sammlung, die wir nur der Galerie Borghese in Rom und der Wallace-Collection in London vergleichen können, diese ein Institut, das in seiner heutigen 206 Wien Liechtensteingalerie Die Liechtenstein-Galerie und die Albertina Gestalt durch seine Schatze an Handzeichnungen und Graphik zu den ersten auf dem Kontinent gezahlt werden darf. Beide schon auBerlich durch monumentale, wenn auch schlicht gehaltene Altwiener Bauten reprSsentiert, verkonden den vornehmen Geschmack jener entschwundenen Zeit. Ihre reich ausgestatteten Gemacher mit Deckenbildern oder Sopraporten, Prunktüren, Kaminen oder goldglanzenden öfen umschlieBen je einen hohen mit Statuen geschmQckten Mittelsaal, der dem Besucher einen stimmungsvollen Ruhepunkt gewahrt. Ehemals Privatzwecken dienend, verlor ihr persönlicher Charakter trotz mancherlei Umgestaltungen auch heute noch nicht die Ursprünglichkeit und unterscheidet diese Bildungsstatten in wohltuender Weise von den modernen zeitlosen Zweckbauten ahnlicher Bestimmung. Ihre Lage schon steigert den Eindruck. Wahrend die Liechtensteinische Galerie inmitten eines mit alten Platanen, Linden und Kastanien bestandenen Parkes lagert, thront die Albertina im Zentrum der Stadt auf einer isolierenden Bastei, dem Auge einen weiten Ausblick gewahrend über die dunkelgrünen Baumkronen des Burggartens hinweg bis zu den Kuppeln der kunst- und naturhistorischen Museen. * Schon zu Lebzeiten des Fürsten Josef Wenzel (1696 bis 1772) hatten sich in den verschiedenen Liechtensteinischen Schlössern so viele Bilderschatze angesammelt, daB sie derselbe nach Wien bringen und hier in dem bereits nach 1700 fertig gestellten Majoratspalais vereinigen lieB, freilich nicht im Sinne einer öffentlichen Galerie. Einer seiner Nachfolger Johann Josef (1805 bis 1836), gleichfalls ein glücklicher Vermehrer, lieB sie in den heutigen Gartenpalast übertragen. Er war es, der 1814 den mit Skulpturen geschmückten französischen Garten in einen englischen Park umwandelte, so wie wir ihn heute sehen und das Eingangstor noch mit den Aufschriften schmückte: „Der Kunst und den Künstlern, Johann Fürst Liechtenstein" (auBen); „Der Natur und ihren Verehrern" (innen). Von dem Geiste solcher Worte ausgehend, findet der Stimmungsgleiche bald zu dem Geist der Sammlungen selbst, in welchem sie geschaffen und erweitert wurden. Und mehr als jeder andere seiner Vorfahren ging der derzeit regierende Fürst Johann II. in demselben auf, der unvergieichliche Mazen, dem nicht nur diese Galerie seit dem Jahre 1840, sondern auch alle Wiener und provinzialen Museen Altösterreichs Entwicklung und Förderung danken. Die Bedeutung und der Ruhm der Liechtensteinischen Galerie ist sein Werk. Bezeichnen auch Gemalde, wie jenes von Leonardo, 207 Die Liechtenstein-Galerie und die Albertina der Deciüs Mus-Ziklus, die beiden Knaben von Rubens und die sogenannte Tassis von Van Dyck oder die Lautenspielerin des Michel Angelo da Caravaggio und der Haarlemer Patrizier Heythuisen von Franz Hals oder gleich vier Meisterwerke von J. B. Chardin altberühmte Inventarstücke, hat er auch sonst ein reiches Erbe übernommen, so wuBten seine geschulten Kenntnisse, sein angeborenes, still schaffendes Kunststreben und der nie erlahmende Opfersinn daraus ein organisches Ganzes zu formen, indem Minderes ausgeschieden und klatfende Lücken nach Möglichkeit ausgefüllt wurden, um eine historische Entwicklung zu erzielen. Die italienischen Gotiker und Quattrocentisten erfuhren erst durch ihn eine würdige Vertretung. Wer vor der Wand mit dem zauberhaften Bildnis der Ginevra Benei verweilend steht, wo ein geschlossenes Arrangement von fünf Bildnissen (Fr. Francia, Franciabigio, Moroni und Bordenone) sich um eine Marientafel von Botticelli reiht, über welchem oben noch ein Mainardi-Tondo thront und das unten eine Luini-Madonna abschlieBt, wird sich der vollen Bewunderung nicht enthalten können. Eine ebenso reiche Vermehrung erfuhren die im gleichen Raume befindlichen Oberitaliener. Marco Palmezzano, Zoppo, Cosimo Tura, Crivelli, Mansueti, Basaiti, Cotignola, Paris Bordone und Muretto sind hiefür wertvolle Beispiele. Ein besondere Ausgestaltung und Bereicherung des Saales mit altniederiandischen und altdeutschen Meistern führt fast zu einer erdrückenden Überfülle. Berühmte Namen, dicht nebeneinandergehangte Qualitaten überraschen Kunstfreund und Forscher. Zwei liebliche Memling-Madonnen, Tafelchen von Hugo van der Goes, wohl das bedeutendste Quentin Massys-Portrat eines Chorherrn, das der Fürst 1889 um dreiBigtausend Franken erworben, eine Kreuzigung desselben Künstlers mit einer duftigen Landschaft von Patinir, das Ehepaar des Meisters des Todes Mariae, der Meister der weiblichen Halbfiguren und das vielbesprochene mannliche Bildnis von J. Fouquet aus dem Jahre 1456 beherrschen die Schaustellüng einer blühenden nordischen Kunstperiode. Dazwischen drangen sich deutsche Maler, wie Barth. Zeitblom, Barthel Beham (zwei reprasentative Portratstücke), Schaufelein, Altdorfer, Lukas Cranach und Aldegrever mit. charakteristischen Werken ihrer Hand. Gerade aus dieser Gruppe haben viele Stücke auf verschiedenen Ausstellungen im Auslande die Feuerprobe der Kritik bestanden und sind auf diese Weise zu einem kunstwissenschaftlichen Gemeingut geworden. Die groBen Maler der Vlamen, Rubens und Van Dyck und deren Schule erscheinen gleich den italienischen Barockmeistern seit altersher 208 Fenstersaule der Renaissance Vorarlberger Bürgerhaus Albertina, Lesesaal Die Liechtenstein-Galerie und die Albertina mit zahlreichen Kompositionen, Bildnissen und Skizzen vertreten. Die Rubens'sche Himmelfahrt Mariens hatte schon Karl Eusebius (1627 bis 1684) erworben. Einen enormen Reichtum gewahren die Sale des ersten und zweiten Stockes, die den Hollandern, vor allem Rembrandt und seinen Nachfolgern gewidmet sind. Wer kennt nicht den „Mann mit dem Federr barett", die „Frau bei der Toilette" und das blühende Gesicht der „Offiziersbraufl Schon langst benennen wir sie anders, es ist Rembrandt selbst aus dem Jahre 1635, seine Schwester Lisbeth, die vor seiner Verheiratung in seinem Hause wohnte, und die Soldatenbraut heiBteinfach „weibliches Bildnis". Leider vermissen wir an der berühmten Wand von den ehemaligen fünf Stücken Rembrandts heute zwei. Die Fruchtbarkeit der hollandischen Landschaftsmalerei und des Sittenstückes tritt in mehreren Raumen prunkend dem Besucher entgegen. Hauptwerke, wie Ruisdael, Hobbema, Rombouts, Wynants, S. de Vlieger, Van Goyen, A. Cuyp markieren die Zentralstellen der dichtbesetzten Fiachen. Und neben ihnen die vielen Kleinen, die heute mehr der Geschichte als der Kunst angehören. Hier kampft der Raummangel mit dem Reichtum. Es darf nicht Wunder nehmen, wenn in dem Kunstfreund der lebhafte Wunsch erwacht und die Phantasie zu der toekenden Vorstellung führt, die Hauptschatze der 16 Sale in einer Art Tribuna vereinigt zu sehen, zu einem Glanzpunkt, der für die kunstsinnige Welt vieles zu bedeuten hatte. Die Wahl ware nicht schwer und der Decius Mus-Saai gabe eine würdige Umrahmung. Noch immer verblieben Objekte genug, die den Wert der geschmalerten Raume aufrecht zu erhalten in der Lage waren. Erlahmt der Bliek an der Gemaldefülle, so bieten die allerorts auf Prunktischen aufgestellten Skulpturen und Reliëfs, die Cassoni und Truhen, Schaukasten mit dem kostbarsten Inhalt anders gerichtete Belehrung und Ablenkung. Ob die letzteren nun kunstvolle Ton- und Glaswaren oder Porzellan chinesischer oder deutscher Herkunft enthalten oder Goldschmiedarbeiten kirchlicher und weltlicher Bestimmung, Waffen, Schatullen und Kofferchen — all überall der gleiche vornehme Geschmack und geschutte historische Kenntnis. Ein Raum edetsten Inhalts bildet das ehemalige, heute hinter dem groBen Festsaal gelegene Eintrittszimmer. Wer letzteren durchschreitet, immer den Bliek hoch zur Decke gerichtet auf das ungeheure perspektivische Bravourstück des Padre Andrea dal Pozzo, gelangt in eine Sphare, deren Zauber er lange nicht los wird, wenn er langst wieder andere Eindrücke empfangen. Antike und antikisierende Kunst sowie echte Renaissance, 14 209 Die Liechtenstein-Galerie und die Albertina groBe und kleine Objekte auf Tischen und in Glasschreinen umdrangen den Besucher. BlauweiBe oder farbige Terrakotten als Altartafeln und Medaillons von dem hundert Jahre lang tatigen Geschlecht der Della Robbia grüBen von den Wanden, vor allen Lucas' Madonna mit dem Kinde, das nach Lilien tastet. Marmoraltarchen in alter Holzumrahmung aus dem Kreise des Mino da Fiesole, Agostino Busti und des Rosselino füllen die Fensterleibungen. Eine dominierende, dunkel chromierte Tonbüste des heiligen Laurentius aus der Nahe Donatellos, eine typische Bronzestatuette des Bertoldo di Giovanni, zwei Tonfigürchen Glaube und Keuschheit von Benedetto da Majano seien aus der Fülle hervorgehoben. Aus intarsierten Schranken schimmern und glanzen Auslesen von Majoliken, eine Serie von Limoger Emailtafeln, Elfenbeinschnitzereien, altvenezianische Gla&er, ein aus Topas geschnittener Prunkpokal von enormer GröBe und hundert andere Werke der Kleinkunst, die zwischen den Hauptstücken fast verschwinden. Hier allein schon eine Schatzkammer, würdig des Charakters der Gesamtkollektion und diese würdig eines ruhmreichen Geschlechtes. * Die heutige Gestalt der Albertina ist ein Werk Neu-Österreichs. Durch die 1919 ministeriell dekretierte Zusammenlegung der alten Sammlung dieses Namens mit der gleichartigen Kupferstichsammlung der ehemaligen Hofbibliothek ergab sich ein ungeheures Stoffmaterial zu einer Art Neugründung, so daB für jeden Meister und jede Schule die denkbar günstigste Ausgestaltung ihrer Werke in Aussicht genommen werden konnte. Die Aufstellung der zahllosen Mappen und Bande mit Handzeichnungen und jeder Art graphischer Blatter sowie einer groBen wissenschaftlichen Handbibliothek erfolgte in den so weitiaufigen wie stilvollen Gemachern des Palais Erzherzog Friedrich. Vorderhand noch lose nebeneinandergereiht und der gründlichen Durcharbeitung narrend, bietet sich der Verwaltung dieser Güter ein Arbeitsfeld für ein halbes Jahrhundert dar, auf dem sich FleiB, Entdeckungsfreude und die Baulust an einem werdenden Kunstganzen betatigen und ausleben können. Aber selbst in ihrer derzeitigen unvollendeten Gestalt prasentiert die Albertina durch ihre vornehme Geraumigkeit und weitgehende Benützungsmöglichkeit eine Statte des Studiums für alte und neue Kunst, einen Quell des Genusses und der Belehrung für In- und Ausland. Die alte Albertina, eine Schöpfung des Herzogs Albert von Sachsen-Teschen, des elften Sohnes des kunstsinnigen Sachsen- und Polenkönigs August II, verlieh dem heutigen Institut nicht nur den 210 Die Liechtenstein-Galerie und die Albertina berOhmten Namen, sondern auch immense Schatze von Handzeichnungen und Druckgraphik (Stiche jeder Art, Radierungen und Lithographien). Die erstere Gruppe dankt ihren alten internationalen Ruf dem Genius Dflrer, der mit der enormen Anzahl von 145 Originalen, Entwürfen und vollendeten Aquarellen, der Sammlung ein besonderes Geprage verleiht. Albertina und Dürer sind dadurch zu zwei sich erganzenden Begriffen geworden, eines fand in dem andern seine geistige Förderung. Von hier aus ging die erste kunstkritische Dürer-Biographie von JVLThausing in die Welt Nicht minder reich an Skizzen und Entwürfen verhalten sich die anderen Schulen. Italiener, Vlamen und Hollander, Franzosen, Spanier und Engiander vermögen nicht nur eine historische Entwicklung der Zeichnung zu geben, sondern bergen gleichzeitig Meisternamen ersten Ranges. Fra Angelico, Leonardo, Raffael, Michelangelo, Tizian, Tintoretto, Tiepolo bedeuten hier Glanzpunkte neben Rubens^ Van Dyck und Rembrandt Die französischen Zeichnungen umfassen' an vierzig Mappen mit Hauptbiattern von Watteau, Boucher, Chardin, Fragonard und Greuze. An die alten Meister schlieBen sich die neuen und neuesten bis zur Gegenwart, so daB sich eine Gesamtsumme von über 23.000 Inventarnummern ergibt, an welche sich noch eine Kollektion von über 4000 Architekturzeichnungen anschlieBt. Die graphische Abteilung, nach Schulen aufgestellt und innerhalb derselben wieder in Originalgraphik und reproduzierende Meister gesondert, füllt sechs Sale und zahlt zur Stunde über 700.000 Blatt Auch hier darf Dürers komplettes Stichwerk hinsichtlich seiner Qualitaten (Probedrucke und Vorzugsdrucke) den ersten Platz vor allen ahnlichen Sammlungen Europas beanspruchen; inmitten eines Gesamtmaterials, das mit kostbaren Einblattdrucken, Niellen, deutschen und italienischen Primitiven einsetzt und sich in den Meistern des Linienstiches bis zu den französischen Virtuosen des siebzehnten Jahrhunderts erhebt. In gleicher Vollendung findet die Radierung ihre Entwicklung bis zur Rembrandtschen Höhe und endet mit der überreichen Graphik der Gegenwart. Zur Erganzung des Studiums gereichen noch eine Portratund Ansichtensammlung sowie eine Theaterkollektion. Wer heute den groBen Studiensaal der Albertina betritt, den lichten und hohen Festsaal, gestimmt in WeiB und Gold, den der belgische Architekt Montoyer um 1808 erbaute und der Wiener Bildhauer Josef Klieber mit zehn überlebensgroBen Sandsteinfiguren, Apollo und die Musen, kunstvoll schmückte, wird sich des weihevollen Eindruckes nicht erwehren können. Ein Raum, der die auf Wunsch vorgelegten Meister alter und neuer Kunst ehrt und in dem Besucher dank- 14* 211 Die Liechtenstein-Galerie und die Albertina bare Gefühle erweckt dafür, daB das zertrümmerte und wirtschaftlich verarmte Neu-Österreich seine geistigen Güter zu schatzen und Fürsorge zu treffen weiB, die alte Edelkultur der Mitwelt und den Nachkommen zu erhalten. Nacht und Morgen Max Morold Abendglocken I Purpurröte! Stiller, heil'ger Glanz der Nacht I Doch des Lebens herbe Nöte Trotzen dieser Wundermacht. Was dich je mit Leid umfangen, Was dich heut' unselig macht, Zweifel, Kummer, Furcht, Verlangen Steigen aus des Busens Schacht Laut und stürmisch grollt dein Wille, Schreckgebilde sind erwacht, Ohne Gnade bleibt die Stille, Ohne Trost der Sterne Pracht Bis du schlafst Und aller Segen Der durchs All ergoss'nen Ruh' Geht nun wie ein süBes Regen Durch dich selbst Sei wieder du i Morgenglocken I Gold'ne Helle, Ausgegossen in dein Herz I Vor des Tages heil'ger Schwelle Weicht das Dunkel und der Schmerz. 212 Kunstgewerbe Eduard Leisching p\as Kunsthandwerk war in österreich zu allen Zeiten eine der wertvollsten LebensSuBerungen, die ganz aus der natürlichen Begabung des Volkes entsprang, und dadurch eine starke Aktivpost im Wirtschaftsleben, das hier mehr als anderwürts auf Pflege und Fruchtbarmachung der Edelarbeit eingestellt ist. Diese Zusammenhange sind so fest begründet durch Rassenveranlagung und Tradition, daB man ohne Übertreibung sagen kann, die Zukunft des deutschösterreichischen Volksstammes wird bestimmt von der Erkenntnis der Eigenart seiner Handwerkskunst und von der Freimachung der Bahn für ihre schöpferische Ausgestaltung. Denn auch in der Vergangenheit, als der deutschösterreichische Stamm das alte Österreich aufbaute und zusammenhielt, waren es immer die gewerblichen Künste, welche Wirtschaft, Kulturstellung, Widerstandskraft und Ansehen des Staates in hervorragendem MaBe mitbestimmt haben. Österreichs Anteil an der gesamtnationalen Kultur des deutschen Volkes ist nicht nur ein Teil des Ganzen, sondern ein besonders gearteter Teil eines unendlich vielgestaltigen Ganzen. Dies gilt vor allem vom Kunsthandwerke. Es gibt keine Einheitlichkeit der deutschen Kultur, wie man etwa von einem einheitlichen Stil des Lebens in Frankreich sprechen kann. Die Kehrseite der tragischen Zerklüftung und Stammesgegensatze, welche die deutsche Geschichte aufweist, ist die Differenzierung und Vertiefung der deutschen Kultur, die ihren Grund in Dezentralisation und zahlreichen Kulturmittelpunkten hat. So hat österreich sein eigenes Kunstproblem und dieses österreichische Kunstproblem ist ein Rassenproblem, bei dessen Untersuchung sich zeigt, wie die bajuvarischen Deutschösterreicher durch Blutmischung mit Franken, Schwaben, Alemannen, Slawen und Italienern, durch Boden, Geschichte und ganz bestimmte Kulturmission ein Stamm eigenster Art geworden sind und eine eigene, durchaus persönliche Note in die gewerbliche 213 Kunstgewerbe Arbeit und Formgestaltung gebracht haben. Dem innerösterreichischen Kunsthandwerke, dessen Bodenstandigkeit ganz bestimmte geschichtliche Ursachen hatte und alle Stürme der Zeiten zu ertragen vermochte, hat zum Beispiel die Internationalitat des Kapitalismus und die durch den modernen Verkehr beeinfluBte Entnationalisierung der stadtischen Kultur weit geringeren Schaden getan als dem der anderen deutschen Lander. Die geographische Lage der Ostmark hat ihr eine Brückenstellung nach Osten und Süden angewiesen und ihrer Bevölkerung eine national- und wirtschaftspolitische Aufgabe gestellt, die im Zusammenhange mit der Aufsaugung und Einordnung fremdnationaler Elemente diesen deutschen Stamm in Struktur und Geistigkeit zu etwas ganz anderem machen muBte als die nord- und mitteldeutschen, ja selbst die nachsten süddeutschen Blutsverwandten. Autoritarer staatspolitischer Eingriff in das gesamte Dasein und Arbeiten war hier strenger und notwendiger als anderwarts und muBte schon den Aufbau des frühmittelalterlichen Wirtschaftslebens eigenartig orientieren. Die Not zwang die Menschen konservativ und beweglich zugleich zu sein, mit zaher Beharrlichkeit immer wieder abgerissene Faden der Entwicklung aufs neue aufzunehmen und sich durch Regeneration überhaupt am Leben und höchst widerstandsfahtg zu erhalten. Eigenbedarf und Anforderungen der Umwelt verlangten neben Bodenkultur und Pflege des Handels hier sehr früh die Ausbildung gewerblicher Tatigkeit, welche durch die Oberlieferung der alten Hausgenossenschaften an den Herrensitzen vorbereitet war. Die staatswirtschaftliche, handelspolitische und politische Bedeutung des österreichischen Handwerks, von den obrigkeitlichen Gewalten richtig erkannt, zwang zu zweckdienlichem Eingriff e in seine Organisation und Entwicklung. Damit hangen die wiederholten MaBnahmen zur Auffrischung und Blutmischung des Volkskörpers in seinen handwerkstatigen Schichten zusammen, welche monopolistische Ausnutzung überlieferter lokaler Vorrechte, Erstarrung und daher Minderung der Qualitat der Arbeit und ihrer Wirtschaftlichkeit zu verhindern bestimmt waren. Ein relativ hochentwickeltes, durch geographische und politische Verhaltnisse beeinfluBtes, gewerbliches Leben können wir für Wien und Niederösterreich, Salzburg und die Knotenpunkte an den alten Salzund EisenstraBen Oberösterreichs und Steiermarks mit einer gewissen Bestimmtheit bereits für das zwölfte Jahrhundert annehmen. Jene manchmal sehr harten, aber immer heilsamen Eingriffe der Staatsgewalt in das gewerbliche Leben und Schaffen erwiesen sich dann 214 Kunstgewerbe notwendig, wenn schwere lokale oder kriegerische Ereignisse die stadtischen Wirtschaftskörper angegriffen hatten und zu vernichten drohten. So hat Ottokar im Jahre 1276, als Wien durch furchtbare Brande gröBtenteils zerstört war und sich aus eigener Kraft nicht rasch wieder hatte erheben können, die Innungen „omnium artificum", also die kunsthandwerklichen, aufgehoben, um den Zuzug arbeitsfreudiger Elemente vom Lande sicherzustellen. Auch Rudolf von Habsburg hat in sein Wiener Stadtrecht diesen Qrundsatz der Freizügigkeit vorübergehend aufgenommen und auf andere österreichische Stadte ausgedehnt. Aber nie griff man die technischen Grundlagen handwerklicher Arbeit, ihren Qualitatsgedanken an, man wahrte sich soweit als nötig Beweglichkeit, bekampfte Verknöcherung, hielt aber den guten Geist und richtigen Sinn des Zunftwesens immer lebendig. Durch den ZufluB tachtiger, mit der Natur des heimatlichen Bodens eng verbundener Elemente von auBen kam immer aufs neue jener nach reifer Gestaltung ringende volkskünstlerische Zug in die stadtische Arbeit, der für die österreichische Formensprache und Technik stets so bezeichnend war. Auch der Umstand, daB der Wiener Bürger, ebenso wie der Handwerksmeister der kleineren Stadte, Felder und Weinberge vor den Mauern der Stadt besaB, aus ihnen Nutzen zog und sie mit den Seinen selbst bebaute, übte auf Natursinn und Urwüchsigkeit der Handarbeit dauernd starken EinfluB. Auch daB der Handel neben der gewerblichen Arbeit ein wesentlicher Faktor im Wirtschaftsleben österreichs war und blieb, hob die schaftenden Menschen über die Beengtheit des mittelalterlichen Gesichtskreises früh hinaus. So vereinigt sich hier feste technische Überlieferung, künstlerischer Ehrgeiz, KraftbewuBtsein mit den aus Natur und Heimatliebe zuströmenden Stimmungen und einem gewissen, durch regen Durchzugsverkehr und die nahe Berührung mit anderen Völkern geführten Weltsinn zu einer Geistigkeit eigentümlicher Art, die in der durch Gefühl und Lebensfrische gehobenen manuellen Leistung sehr deutlich nach Ausdruck ringt. Das wesentliche der Kulturleistung des deutschösterreichischen Stammes liegt vor allem aber darin, daB das Künstlerische hier allzeit nicht Auswirkung des geistigen Vermögens oder Erbteils einzelner, sondern des gesamten mitschaffenden Volkes war, das überhaupt eine Vielseitigkeit und Allseitigkeit künstlerischer Begabung zeigt, wie kaum ein anderer deutscher Volksstamm. In der geschichtlichen Aufgabe dieses Volkes lag es, im viel umstrittenen Grenzgebiete der Nation dessen Gesamtkultur zu schützen, Fremdes aufzunehmen, zu nationalisieren und mit schöpferischer Kraft neue 215 Kunstgewerbe Werte hervorzubringen, welche das Kunstgut aller Deutschen bereicherten. Die geschlossene Eigenart der handwerklichen Kunst österreichs im frühen Mittelalter ist nicht zu verstehen, wenn man nicht in Betracht zieht, was hier damals durch die volkstümliche Dichtung der Sanger und Spielleute, durch Bewahrung und Bearbeitung der alten nationalen Poesie und durch die groBartige Erscheinung Walters von der Vogelweide mit seinem Verhaitnisse zu Natur und Menschentum geleistet wurde und welche Rolle ferner hier schon damals die Musik gespielt hat Der Rhythmus des Lebens ist hier durchaus von Anfang an musikalisch, liederffillt, gefühlsbetont und dies wirkt auf Form und Geist Schwingung und Stimmungsgehalt der bildenden Kunst Die wunderbare Leistungsfahigkeit der Meister und Gehilfen, welche in der Wiener Bauhütte von St Stephan im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert wirksam ist, die auf alter Vorarbeit ruhende Entfaltung der Goldschmiede- und Schmelzkunst des vierzehnten Jahrhunderts, die Werke der Schreinerei und Schnitztechnik, der Glasmalerei und Lederarbeit, wie vor allem auch der Töpferei und Hafnerkunst, die vom frühen Mittelalter bis tief ins achtzehnte Jahrhundert in Oberösterreich und Salzburg so trefflich gepflegt worden ist, sprechen eine deutliche Sprache. Hier herrscht eine Geschlossenheit und Verinnerlichung, eine so merkwürdige Verbindung von Phantasie und technischem Gestaltungsvermögen, von Fröhlichkeit und Ernst, Gemüt und Witz, daB man von einer erarbeiteten und persönlich erlebten Kultur schon auf sehr frühen Stufen des sozialen Daseins breiter Schichten reden kann. Das groBe Verdienst österreichs in seiner Arbeit für die gesamtdeutsche Kultur lag, wie erwahnt, in seiner Grenzschutzwacht, aber darin nicht allein, sondern in seiner Kraft, Anpassung mit schöpferischer Gestaltung zu verbinden. Der eigene Lebensrhythmus, die Einwirkung von Landschaft, Boden und Himmel, die Berge, die rauschenden Waider und satten Fluren, die Ströme und Seen mit dem Zauber ihrer Poesie bannten die Gefahren der Umwelt und hielt die Menschen aufrecht, machte sie empfanglich für Neues ohne sich selbst aufzugeben. Die politischen Gefahren, in denen sie sich immer befanden, hat ihnen nicht Harte und Verwegenheit, sondern Weichhett, Schmiegsamkeit Leichtsinn gegeben, der frankisch-alemannische Einschlag in das bajuvarische Blut dessen gröBere Derbheit gemildert, Rührigkeit und Sinnlichkeit gegeben, wahrend slawisches Blut Geschmeidigkeit und Zahigkeit brachte und italienisches der Handwerkstechnik und einem gewissen Schwunge des Gefühls wertvolle Beitrage lieferte. So ist 216 Kunstgewerbe der österreichische Bajuvare zu allen Zeiten andere Wege gegangen als der rassenreinere Bajuvare in Bayern, die österreichischdeutsche Kunst leichtflüssiger, beweglicher, phantasievoller geworden. Hier war das Schaffen immer zugleich ein GenteBen genuBfroher Menschen, alles DoktrinSre, Pedantische glitt ab, von Gedankenschwere war nichts zu spüren, Gefühl und sicherer Instinkt herrschten vor, über deren Voraussetzungen wurde gar nicht viel spintisiert. Aus all diesen Gründen ist die österreichische künstlerische Kultur, innerhalb der deutschen Gesamtkultur, stets eine Erscheinung sui generis gewesen. War schon das babenbergische Wien eine Statte hoher höfischer Kultur in Dichtung, Musik, Handwerk, Architektur, Malerei und Plastik und war das gleichzeitige Salzburg der Sitz hervorragender kirchlicher Kunstwerkstatten, in denen Geistliche und Laien zusammenwirkten, so zeigt uns das Bild der Wiener Wohnkultur, das Aeneas Sylvius beschrieben hat und der Maler der im Wiener Schottenstifte befindlichen heiligen Darstellung, welche die KarntnerstraBe, mit dem Bliek auf den Stephansdom, eindrucksvoll und gewiB ganz realistisch in der damaligen Stadtanlage wiedergibt, welche wunderbare Schönheit und kraftvolle Eigenart Wien damals besafi. Es ist das gotische, bürgerliche Wien, dessen Kunsthandwerk sich in langer, zaher Arbeit zu reichster Blüte erhoben hatte. Alle Erschütterungen und Kriegsnöte des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts haben den Ernst, die Qualitat und stille Freudigkeit dieser Arbeit nicht zu zerstören vermocht. Der Humanismus übt auch in Österreich seine Wirkung, neue künstlerische Aufgaben, so auf dem Gebiete von Buchdruck und Buchausstattung, der Gerate für Haus und Kirche, Fürsten, Adel, Bürger, werden gestellt und sinnvoll erfüllt. Es verdient Beachtung, daB sich Wien damals zum Beispiel für die Gold- und Silberschmiedekunst als hervorragende Lehrstatte erwies, die sogar aus Augsburg und Nürnberg Gehilfen und Lehrlinge an sich zog. Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts zahlte man in Wien etwa 300 zunftgemaB organisierte, kunsthandwerkliche Betriebe, zu denen zahlreiche, auBer der Zunftordnung stehende Hofhandwerker und selbstandige, mit kaiserlichen Freibriefen ausgestattete Künstler traten. 1572 gab es 70 solcher Freimeister, unter Rudolf II. und Matthias schon mehr als 400, unter Leopold I. bereits an 500. Unter Leopold wird mit staatlicher Aufsicht und Führung in das Gewerbe eingegriffen und nach der Vertreibung der Türken und unter dem Drucke der groBen Aufgaben, welche künstlerisch und staatswirtschaftlich zu lösen waren, diese EinfluBnahme systematisch zu 217 Kunstgewerbe organisieren versucht. Der Merkantilismus erfordert Ausbreitung und Intensivierung der Edelarbeit, da es sich darum handelt, sich in allen Dingen des Bedarfes und des Luxus vom Auslande frei zu machen. Es kommt die Zeit der Errichtung von Manufakturen, Erleichterung des Handelsverkehrs, neuerlicher Hebung der Arbeitsqualitat, der technischen Erziehung weiter Kreise der Handwerker und der immer wiederkehrenden Berufung frischer Krafte, welche neue Gewerbezweige oder bessere Arbeitsmethoden einführen sollen. An besonders tüchtige Leute werden Privilegiën erteilt zur ausschlieBlichen Erzeugung bestimmter Artikel und so wurde schon vor der letzten Türkenbelagerung die Wiener Keramik gehoben, venezianisches Glas gemacht und französische Modeware erzeugt. Die Erneuerung der Stadt nach der siegreichen Abwehr der Türken (1683), die starke Zuwanderung des Adels nach Wien und die Machterweiterung der Kirche bewirkten eine ungeheure Bautatigkeit und Inanspruchnahme aller Gewerbe. So wurde auch die Förderung der Manufakturen auf neue Grundlagen gestellt, es entstanden Seiden- und Samtfabriken, Gold- und Silberspinnereien, 1713 wurde die Spiegelfabrik in Neuhaus, 1718 die Wiener Porzellanmanufaktur, 1726 die staatliche Schafwollenfabrik in Linz errichtet. Die Stadt Wien schuf eine Papierfabrik, zahlreiche neue Kunstgewerbe entstanden, wie die der GelbgieBer, Rahmenmacher, Galanteriewarenerzeuger, Brokat-, Borten- und Fransenmacher, Tapezierer, Spitzenklöpplerinnen, Glasschneider und -schleifer, Vergolder, Lackierer, Graveure. 1736 gab es in Wien und den Vororten ohne Hilfskrafte 12.000 Gewerbetreibende. Immer wieder fand Zuwanderung und Blutmischung statt, 1742 steilte man fest, daB nur ein Viertel der Wiener Meister in Wien geboren war. Unter Karl VI. begann man mit dem fachlichen Unterricht. Der Staat übernahm die bis dahin private Akademie der Künste in seine Verwaltung und begründete dies mit wirtschaftlichen Erwagungen ganz ebenso wie in Frankreich unter Colbert die staatliche Kunstförderung aus ökonomischen Absichten entsprungen war. Bald darauf wurden Lehrlingskurse für die kunstgewerblichen Facher an der Akademie eingerichtet. GroBzügige wirtschaftlich-technische Organisation der österreichischen Arbeit schuf die Epoche Maria Theresias, die im Staatskanzler Fürsten Kaunitz einen Berater und Helfer von gröBter Einsicht, Sachkenntnis und Energie fand. Die beispiellos rasche und umfassende Hebung aller Zweige der österreichischen Edelarbeit im achtzehnten Jahrhundert ist vor allem diesem Manne zu danken. Sein starkes Vertrauen auf die künstlerischen Fahigkeiten des Volkes und auf die ökonomische 218 Kunstgewerbe Bedeutung der vollen Ausnützung dieser lebendigen Krüfte war für sein ganzes politisches und erzieherisches Wirken maBgebend. Niemand hat deutlicher als er den organischen Zusammenhang von Kunst und Handwerk erkannt, alles, was er anstrebte und schuf, geschah für beides zugleich. Er errichtete Spezialschulen für die textilen, graphischen und metallischen Künste, reformierte die Akademie, vereinigte spater jene mit dieser, verbesserte das gewerbliche Bildungswesen und die Meisterlehre, förderte mit all em Nachdruck die 1744 in die Staatsverwaltung übernommene Porzellanmanufaktur, dr3ngte überall auf Prazision und hohe Qualitat der Arbeit und steilte stets die richtigen Manner an die richtige Stelle, wie Schmutzer, Füger, Domanöck und Sorgenthal. Ganz vorurteilslos und durchaus modern brach er bei den Staatsmanufakturen mit dem Prinzipe, an ihre Spitze Bureaukraten oder Fiskalisten zu stellen, sondern er berief technisch und kaufmannisch gebildete Wirtschaftspolitiker und Organisatoren, denen er die gröBte Bewegungsfreiheit lieB. Der künstlerische und materielle Aufschwung der Wiener Porzellanfabrik unter Sorgenthal, der die Wiener Marke zu allgemeiner Geltung brachte, ist dieser glücklichen Wahl des Fürsten Kaunitz zu danken. Welche Summe von Arbeitskraft und Leistungsfahigkeit in solchen Persönlichkeiten vereinigt war, beweist die uns heute unfaBbare Tatsache, daB derselbe Sorgenthal gleichzeitig und mit gleichem Erfolge die Neuhauser Spiegelglas- und Metallwarenfabrik und die Linzer Wollzeugfabrik leitete, der nun auch eine Teppichindustrie angeschlossen wurde. Geradezu beispiellos war die Entwicklung, welche unter staatlicher Förderung die privaten Wiener Textilmanufakturen nahmen, technisch künstlerisch und kommerziell. Ebenso erhob sich aufs Neue die alteinheimische Edelschmiedekunst und nun auch die Bijouteriearbeit zu den glanzendsten Leistungen; im Maria Theresianischen Zeitalter entstand ferner eine Wiener Bronzeindustrie, die sich bald mit der französischen messen konnte, ebenso, unter dem Einflusse technisch gebildeter, weitblickender Aristokraten, wie Graf Rudolf Wrbna, der KunsteisenguB, und auf Grund bürgerlicher Initiative eine Tapetenindustrie. Die Kunsttischlerei, welche im achtzehnten Jahrhundert durch profane und kirchliche Aufgaben aller Art fruchtbarsté Beschaftigung empfing, und zum Beispiel in der Ausstattung der Schönbrunner Prunkraume wahre Meisterwerke schuf, setzte ihre technisch-konstruktive Überlieferung und die Herrschaft über alle Hölzer und Holzbearbeitungsmethoden fort. Die Werkstatt Danhausers in der ersten Halfte des neunzehnten Jahrhunderts war ein Unikum 219 Kunstgewerbe in der Welt. Den höchten Ruhm erntete die österreichische Edelarbeit aber auf dem Gebiete des Kunstglases, das seit Jahrhunderten in Deutschböhmen seine hervorragendste Pflegestatte besaB und dort in Kinsky, Harrach, Bouquoi, spater in Fr. Egermann, aber auch in Wiener und niederösterreichischen Werkstatten, in Künstlern wie Mildner, Mohn, KothgaBner hochbegabte, stets neue Wege weisende Förderer fand. Die furchtbaren ErschOtterungen der Napoleonischen Kriege vermochten die gesunde natürliche Grundlage der österreichischen Edelarbeit zwar zu gefahrden, aber nicht zu zerstören. Die Biedermeierepoche vereinfachte und demokratisierte die Kunst, doch ihre Technik, ihr Geschmack und ihre Soliditat erhielten sich unvermindert. Heute erkennen wir deutlicher als es noch vor 40 Jahren geschah, welche Fülle künstlerischen Vermogens in dieser Biedermeierkunst ruhte, im Möbel, wie im Glase, und in den Textilien. Aber es war allerdings eine Epoche des Überganges, hervorgerufen durch das Eintreten kapitalistischer Machte in das Gebiet der Arbeit und Arbeitskultur, und durch den beginnenden Kampf der Maschine mit der auf persOnlicher Fahigkeit beruhenden handwerklichen Arbeit. Ursache und Wirkung dieser Erscheinung ist unter sozialem und sozialwirtschaftlichem Gesichtspunkte zu betrachten. Viele von denen, die bisher mitgewirkt hatten, so vor allem manche technisch gebiidete, lange mit der kunsthandwerklichen Manufaktur verbundene Adelsfamilien ziehen sich nach der Revolution von 1848 von dieser Arbeit zurück und überlassen das Feld anderen Machten, schon deshalb, weil es ihnen an Kapital und regerem Geschaftssinn fehlt Viele Angehörige alter Familien hatten sich unter den Studierenden der polytechnischen Schulen befunden, um spater ihre vaterlichen Betriebe zu leiten, jetzt wenden sich die jungen Aristokraten, welche nicht Anwarter auf Fideikommisse waren, dem Militar, der Politik und dem Dienste der Kirche zu. Damit scheidet aus weiten Gebieten aufbauender Arbeit ein Element aus, das seit den Tagen Maria Theresias an der Erhaltung überlieferter Kultur besonders interessiert war. Die Zeit verlangte aus ökonomischen Gründen Veründerung der Gütererzeugung und Geldwirtschaft, und eine kommerziell ins GroBe gehende Ausnützung der verteuerten Arbeitskraft. Die seit dem achtzehnten Jahrhundert neben dem Kleingewerbe bestehenden Manufakturen wiesen auf Industrie hin, waren aber noch nicht Industrie im modernen Sinne und hatten viele Beziehungen zum Gewerbe, vor allem durch die Heimarbeit und ihre Formen. Der Mechanisierung und Typisierung der Arbeit in den Manufakturen waren enge Grenzen 220 Kunstgewerbe gezogen, von kapitalistischer Krafteausbeutung war man noch weit entfernt gewesen, auch stand die volkskünstlerische Arbeit, so lange die Stadte kleiner waren und das Verkehrswesen beschrankt blieb, noch in vielen Gebieten in Blüte. Mit dem Aufkommen der Maschinen und des Industrialismus wurden die alten durch ganz neue Arbeitsmethoden verdrangt, der lebendige Zusammenhang der Schaftenden mit denen, für welche sie arbeiteten, wie mit dem Nationalen und Volkskünstlerischen wurde gelockert, an die Stelle des aus Geist und Gefühl der Zeit erwachsenen ursprünglichen Lebensstils trat die Mode, an Stelle der natürlichen Vielgestaltigkeit individuelier Arbeit die Massenerzeugung von Gleichartigem. Diese Erscheinung zeigte sich keineswegs nur in österreich, sondern überall in der Welt, denn sie beruhte auf allgemeinen Zustanden wirtschaftlich-technischer und geistiger Umorientierung, die ihre Gebrechen erst deutlich machen muBte, ehe ein rückiaufiger Neuaufbau der Kultur wieder versucht werden konnte. Bekanntlich ging sehr bald eine Reaktion gegen die Verarmung und Verfiachung des damaligen Lebens von England aus, wo vor allem die schwungvolle Ideologie Ruskins es unternahm, der Ethik persönlicher Kultur den Boden zurückzugewinnen. Der Kampf galt der seelenlosen Maschine, welche die Persönlichkeitswerte durchgeistigter, gefühlsbetonter Arbeit aufhob. Man übersah zunachst, daB der zur Herrschaft gelangte wirtschaftlich-technische EntwicklungsprozeB nicht aufgehalten werden konnte, daB es sich vielmehr darum handle, Maschine und Industrialismus in den Dienst neuer Ideen und demokratischer Forderungen zu stellen, das was jene leisten können oder nicht, gegenüber dem Handwerk und seinem Gebiete abzugrenzen, dieses aber mit neuem Leben und neuen Zielen zu erfüllen und die alte Handwerkskultur auf moderner Grundlage und mit modernen Ausdrucksmitteln wieder aufzurichten. österreich gehörte zu jenen Landern, wo dieser Kampf besonders lebhaft und mit guter Aussicht auf Erfolg geführt wurde, weil hier das, worauf es nun ankam, einsichtsvolle Beeinflussung der Edelarbeit durch die Staatsgewalt, zur bewahrten Überlieferung Österreichs gehörte. Es ist eine der überraschenden Erscheinungen in der Geschichte des von immer gröBeren auBeren und inneren Gefahren umdrohten und ihnen schlieBlich erlegenen altösterreichischen Staatsgebildes, daB hier, gerade in den kritischesten Zeiten, auf dem Gebiete der Kultur der Edelarbeit frischere impulsive Krafte und tiefere Einsichten als anderwarts am Werke waren. Das hatte seine guten Gründe: die künstlerische Fahigkeit und instinktive kulturschaffende Zielsicher- 221 Kunstgewerbe heit, aitvererbt und stets fruchtbar fortentwickelt, war hier immer stSrker als die politische Begabung und Voraussicht; hilfloser Schwache oder unorganisierter, daher zweckwidriger Qewalt der Staatskunst stand hier Unerschöpflichkeit und organische Widerstandskraft der Volkskunst gegenüber. Insoferne es sich um die Zusammenfassung und Ausbildung der kOnstlerischen Arbeit handelte, zeigte sich in österreich sogar die Bureaukratie bereit, schöpferischen und zeitgemSBen Ideen Eingang zu gewahren und ihre Auswirkung zu fördern. Zu den Einrichtungen österreichs, welche diesem Ziele dienstbar gemacht wurden, gehörte die Gründung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (1864) und der Kunstgewerbeschule dieses Museums (1868). Der Beginn der Tatigkeit dieser Institute fiel mit der Schaffung NeuWiens, mit dem Ausbau der RingstraBe und der Durchführung zahlreicher architektonischer Werke zusammen, welche dem Kunstgewerbe eine Fülle interessanter, technisch und wirtschaftlich bedeutender Aufgaben steilte. Allmahlich wurde hier auf Grund fortschreitender Erkenntnis der technischen und geistigen Grundlagen aller Edelarbeit, die viel zu eng gefaBte Begriffsbestimmung des Kunstgewerbes zu der des Werkschaffens erweitert, worunter man heute jede schöpferische persönliche Handwerksleistung, jede durchgeistige Prazisionsarbeit, jede hochwertige Materialbereitung versteht. Der starken, organisatorisch hochbegabten Persönlichkeit des Gründers von Museum und Schule, Rudolf Eitelberger, ist es zu danken, daB die Einsicht und Tatkraft des Maria-Theresianischen Zeitalters, die künstlerische Begabung des österreichischen Volkes für die Gesamtkultur und Wirtschaft fruchtbar zu machen, neu belebt und neuen Zielen dienstbar gemacht wurde. Eitelberger und seine Mitarbeiter waren aber machtlos geblieben, wenn ihnen nicht die Stimmung der Zeit und ein neuer Aufschwung des bürgerlichen Gemeinsinns und Verantwortlichkeitsgefühls zu Hilfe gekommen ware. Keineswegs war alles, was man anstrebte, erreichte und ernst nahm, von bleibendem Werte; der sogenannte „volkswirtschaftliche Aufschwung" unseligen Andenkens, der in der Wiener Weltausstellung (1873) seinen Triumph finden sollte und gerade damals in allem, was in ihm faul war, zusammenbrach, hatte den begonnenen Kampf um Erringung neuer Lebenskultur durch die in dieser Zeit zur Vorherrschaft gelangte Kulturlosigkeit kapitalistischer Machte sehr erschwert und vielfach eine Scheinkunst gefordert und durchgesetzt, die viele tüchtige Krafte auf neue Abwege brachte. Aber alle, mit ungeheuren Ansprüchen auftretenden Bedürfnisse der Zeit, auch jene, die keine innere Berechtigung hatten, dienten 222 Kunstgewerbe doch der Wiedereroberung alter verloren gegangener Techniken und der ins GroBe gehenden Schulung zahlloser Krafte; durch die Neuorganisation des gewerblichen Bildungswesens, durch unaufhörliche Ausstellungen und die nie ermüdende Aktivitat des österreichischen Museums, das überall führend, belehrend, ratend, helfend eingriff, wurde Wollen und Können ganz auBerordentlich gesteigert und die Wirtschaftlichkeit von Kunstindustrie und Kunsthandwerk gehoben. österreich machte sich unabhangig vom Auslande und fing wieder an, in gröBerem Umfange künstlerische Arbeit zu exportieren. In Wien und bald auch in den Kronlandstadten standen viele Hunderttausende von qualifizierten Kraften in Tatigkeit; durch Zuwanderung aus den Landern der Monarchie ergab sich, wie ehedem, eine stete, wohltatige Auffrischung des Blutes und der Arbeitsgesinnung der Gesamtheit der Schaftenden. Die österreichische Organisation der Edelarbeit, bei welcher Kunst, Wissenschaft, Technik zusammenwirkten, wurden vorbildlich, das österreichische Museum mit seiner Schule stand im Mittelpunkte des Interesses der Künstler, Kunstfreunde und Kulturpolitiker der Welt und griff weit über Tatigkeit und EinfluB des Londoner Kensington-Museums hinaus, nach dessen Muster man in Wien, als erster Stadt auf dem Kontinente, das kunstgewerbliche Museal- und Bildungswesen ins Leben gerufen hatte. Das Deutsche Reich orientierte sich lange Zeit auf diesem Gebiete nach Wien, ohne es ihm in der Beeinflussung der Produktion so bald gleich tun zu können; auch das „Musée des Arts décoratifs" und das „Conservatoire des Arts et Métiers" in Paris haben in viel geringerem MaBe auf die zeitgenössische Edelarbeit eingewirkt, als dies in Wien der Fall war und im Wechsel der Zeiten und politischen Anschauungen hier stets aufrecht erhalten worden ist. Die Arbeit galt nicht nur dem Technischen in ihr, sondern vor allem dem Stile der Lebenskultur. Hierin ging österreich, stufenweise alle Vorbilder von der italienischen Renaissance durch Barocke und Klassizismus hindurch nachahmend, dieselben Wege wie die anderen Lander in der zweiten Halfte des neunzehnten Jahrhunderts, um dem Programme seiner Führer entsprechend, den in den Fünfzigerjahren abgerissenen Faden der historischen Entwicklung wieder aufnehmend und fortspinnend, endlich zu dem Versuche zu gelangen, der neuen Zeit die ihr entsprechende Ausdruckskultur zu erobern. Es war ein nahezu vierzigjahriges Ringen, viele Irrtümer wurden begangen, aber auch sie und ihre Überwindung gereichten der Sache zum Vorteil. Die Wiedergewinnung aller technischen Errungenschaften der Ver- 223 Kunstgewerbe gangenheit galt dem weiten Gebiete der Holzbearbeitung (Möbelkunst, figuraler und ornamentaler Schnitzerei), der Textilkunst in allen ihren Zweigen (Weberei, Wirkerei, Stickerei, Stoffdruck und Spitzenarbeit); dem Metallkunsthandwerk (Silber- und Goldschmiedearbeit, Email, Bronze, Kupfer, Eisen); dem Einbinden des Buches, wie der Buchausstattung, den graphischen Künsten und der Lederbearbeitung, der Keramik, dem Glase. Und da alles kunstgewerbliche Gerate, alle Arbeit, die der Lebenskultur dient, Wohnkultur und den Gesetzen der Architektur unterworfen ist, so war die Entwicklung des kunsthandwerklichen Schaffens nicht nur von Bedeutung für die Ausstattung der Hauser, sondern auch für deren Herstellung, ging Hand in Hand mit ihr und empfing vom Wohnhaus und seinem Organismus Richtung und Ideen. Wie der Wohnhausstil in der zweiten Halfte des neunzehnten Jahrhunderts sich in österreich durch GrundriB, AufriB und Formensprache des italienischen und deutschen Renaissance- und Barockpalastes erst hindurcharbeiten muBte, um zur Erkenntnis seiner eigenen Zeitbestimmung zu gelangen, so durchlief das Kunsthandwerk parallel alle Stadiën dieser Stilerneuerung, um, erst allmahlich sich auf sich selbst besinnend, Gegenwartskunst zu werden, die den Sinn der Zeit, ihre Bedürfnisse und ihre besondere Geistigkeit erfaBte. Die Empfindlichkeit des österreichischen Naturells ffir künstlerische Werte, seine instinktmSBige Begabung ffir Form, Farbe, Harmonie, die feste Oberlieferung in allem Technischen, sinnvoller Materialbehandlung und Auswirkung der stofflichen Qualitaten bewahrte die moderne Kunst österreichs vor Sichverlieren an Zwiespaltigkeiten und Widersprüche und brachte aus dem alten Kulturboden eine unendliche Fülle schöpferischer Begabungen hervor, die dem Suchen und Sehnen der Zeit Richtung und Inhalt gaben. Wie im achtzehnten Jahrhundert und in der Zeit der Neo-Renaissance trat österreich auch innerhalb der Gesamtleistung der modernen deutschen Arbeit sehr rasch an erste Stelle und bewahrte sich durch Lehre und Leistung, durch Kühnheit des Wollens und Unerschöpflichkeit des Könnens, das auch im Kampfe nie die edle Linie vermissen lieB, seinen alten, tief begrfindeten Ruf urwfichsigen, vom Geiste des Volkes getragenen Schaffens. Von den Tagen der denkwfirdigen Wiener Weltausstellung 1873, wo Neu-Österreich die Augen der ganzen Welt auf den Ernst und Gehalt seiner neuorganisierten, kunstindustriellen und kunsthandwerklichen Arbeit und die Schulung seiner Krafte lenkte, hat es in allen nationalen und internationalen Wettbewerben stets triumphiert. Das Ansehen Wiens als des glanzvollen Mittelpunktes deutscher kfinst- 224 Kunstgewerbe Batik Entwurf und Ausführung: EUe Stübchen-Kirchner Tapete Entwurf: Architekt Dagobert Pêche Ausführung: Max Schmidt Kachelofen in Majolika Ausführung: Robert Sommerhuber, Steyr Goldkette mit Elfenbein Entwurf: Prof. Josef Hoffmann Ausführung: Wiener WerkstStte Vase, Silber, handgetrieben Entwurf: Künstler Dagobert Pêche Ausführung: Wiener Werkstatte Krug, Silber, handgetrieben Entwurf: Künstler Dagobert Pêche Ausführung: Wiener Werkstatte Deckelgefafl mit reicher Gravierung und Gemmenschnitt Entwurf: Prof. Michael Powolny Ausführung: J. und L. Lobmeyr Teeservice, Silber, handgetrieben Entwurf; Prof. Dr. Josef Hoffmann Ausführung: Wiener Werkstatte KristallgefaB mit Schmuckfiguren in Gemmenschnitt Entwurf: Prof. M. Powolny Ausführung: J. und L. Lobmeyr Kristallvase mit leichten Hohlformen von J. und L. Lobmeyr Trinkglas Entwurf: Prof. M. Powolny Ausführung: J. und L. Lobmeyr Silberdose Entwurf: Dagobert Pêche Ausführung: Wiener Werkstatte „Das Feuer", Original-Keramik Entwurf: R. Schaschl Ausführung: Wiener Werkstatte Keramik Entwurf: Vally Wieselthier Ausführung: Wiener Werkstatte Kunstgewerbe lerischer Kultur der Vergangenheit wurde ergfinzt und erhöht durch die unerhörte Intensitat und Extensitat des Schaffens im neuen Wien. Die Welt gewöhnte sich daran, von Wien nicht nur als von der Stadt des schönsten gotischen Domes, der herrlichsten Bauten der Barocke, des besten Theaters und der strengsten und reichsten Pflege der Musik im deutschen Kulturbereiche zu sprechen, sondern als von dem Zeatrum und Ausgangspunkte der edelsten Leistungen des neuen Kunsthandwerkes, das auf nie versiegender Kraft der Erfindung von ZeitgemaBem und ihrer Auswirkung durch Arbeitende beruhte, von denen ein jeder ein Kunstier war. So erlangte das moderne Werkschaffen des deutschen Volkes eine feste Stütze in Österreich, von hier traten die neuen Ideen und die führenden Geister in die Welt; österreich produzierte im Laufe der letzten Jahrzehnte so viele tüchtige Menschen, daB es, ohne zu verarmen, in alle Lander von diesem Überflusse abgeben konnte. Nun hangt seine Zukunft davon ab, daB es seinen Reichtum an Talenten in vollem MaBe zum Wiederaufbaue seiner eigenen Wirtschaft auszunützen versteht, denn die Erkenntnis ist allgemein, daB seine Edelarbeit zu den wenigen Aktivposten gehört, die ihm verblieben ist. Welche Bedeutung der vollen, uneingeschrankten Nutzbarmachung dieser Krafte innewohnt, hat sich erst kürzlich auf der deutschen Gewerbeschau in München wieder erwiesen, wo das niedergebrochene und ausgeraubte österreich, dessen Tage gézahlt zu sein scheinen, seinen Arbeitswillen und seinen Arbeitsgeist abermals aufs Starkste bekundet und die gröBten Erfolge erzielt hat. Ein Volk, das imstande ist, Glaskunstwerke wie die Lobmeyrschen hervorzubringen, einen Betrieb von der unerhörten Vielseitigkeit und Kultur wie die „Wiener Werkstatten" zu führen, die Hafnerkeramik mit solcher Vollendung zu pflegen, wie es in Wien und Oberösterreich der Fall ist, und in Möbeln, in der Lederarbeit und Schnitzerei, im Email, in jeglichen Dingen der Mode, in Buch- und Kunstdruck, in den metallischen Künsten, kurz nahezu in allem, was zur Edelarbeit zu rechnen ist, seine Tradition aus der erfolgten grundstürzenden Veranderung aller sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhaitnisse fast unversehrt zu retten, ein solches Volk hat Hilfsquellen in sich, welche die höchste Beachtung verdienen. Und so ist denn in diesen für Österreich so furchtbaren Zeiten auch die Umwelt sich erst klar geworden über die Rolle, welche die mit der Geschichte des deutschösterreichischen Stammes so eng verbundene Edelarbeit auch für die Zukunft von Land und Volk spielen wird. Man wuBte in der Welt seit langen Zeiten, daB die österreichische Arbeitskultur von hohem Werte sei und hat sie geschatzt und sich daran 15 225 Kunstgewerbe erfreut; aber daB von ihr nicht nur die Hervorbringung für die Welt wünschenswerter Dinge abhange, sondern daB sie tatsachlich eines der Fundamente des Wirtschaftslebens und überhaupt die natürliche Arbeitsform Österreichs ist, das ist der Welt doch erst jetzt ganz zum BewuBtsein gekommen. Oberall weiB man heute, daB das treue, hingebungsvolle, gefühlsbetonte Schaffen in allen Zweigen des Edelgewerbes so ganz und gar zur Natur des österreichers gehort, wie das Musizieren und die unverwüstliche Lust am Fabulieren und Tanzen. Das moralische Schicksal dieses kleinen Volkssplitters hangt davon ab, daB seine künstlerische Eigenart fruchtbar erhalten bleibt, denn wenn sie verkommert, dann verliert der Deutschösterreicher allen inneren Halt, die Freude am Leben und die Kraft zurAblehnung oder zur Assimilierung volksfremder EinflQsse seiner Umgebung in dem politischen Wetterwinkel, in den ein hartes Schicksal ihn hineingestellt hat. Dann aber würde national- und kulturpolitisch auch das groBe deutsche Volk schwer leiden, weil ihm die Grenzwacht und der wichtige Brückenkopf nach Osten und Südosten verloren ginge, die im zehnten Jahrhundert zum Schutze Deutschlands aufgerichtet wurde und sich in den Türkenkriegen so glanzend bewahrt hat. Da die Österreichische Kulturarbeit sonach nicht nur schützend, sondern auch aufbauend stets ein wesentlicher Bestandteil der Geistigkeit und Wirtschaftlichkeit Europas war, so würde die Welt verarmen an wertvollen Gütern, die zu einem Leben, das lebenswert ist, gehOren, wenn dieser tüchtige, arbeitserprobte Stamm verkümmerte, wenn er zersplittert und entnationalisiert würde, wenn Wien zu einem Venedig oder Konstantinopel herabsanke und nicht bliebe oder erst recht aus sich machte: ein Hamburg des Ostens, das nicht nur eine regsame Stadt des Handels ist, sondern zugleich eine Statte fruchtbarer, edler kunsthandwerklicher Arbeit, geboren aus der unverwüstlich reichen, natürlichen und einzigartigen Begabung seines Volkes. Wenn von der politischen Wichtigkeit der Erhaltung österreichs gesprochen wird, so kann darunter vernünftigerweise nur die Erhaltung eines Österreich gemeint sein, das sein nationales Leben rein zu bewahren vermag. Zu diesem deutschen Österreich gehört die Fortsetzung seiner auf Stammesart beruhenden künstlerischen Kultur, die ein Teil des Ganzen der gesamtdeutschen Kultur ist, aber eben in diesem Gesamtbilde ein reichhaltiges und eigenartiges Leben führt. Wiederaufrichtung und Zukunft Deutschösterreichs liegt nur auf diesem Wege. Jede Versklavung und Entseelung der Republik würde ihr auch die Freiheit und geistige Kraft rauben, auf denen ihr Kunsthandwerk beruht. 226 Das Lichtbild im Dienste der Kunst Rudolf Guby Kunstfreunden unserer jetzigen Zeit, denen ein Vortrag mit Lichtbildern oder ein gut illustriertes Buch als eine Selbstverstandlichkeit erscheint, kommt die groBe Bedeutung des Lichtbildes im Dienste der Kunst heute gar nicht mehr so recht zum BewuBtsein. Es ist aber nicht allzulange her, noch in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts war es, da hatte der Kunsthistoriker für seine Forschungen, wenn er ein Denkmal für spatere Untersuchungen seinem GedSchtnis einprSgen wollte, kein anderes Mittel als sein Skizzenbuch und seinen Zeichenstift, mit deren Hilfe er sich mit groBem Zeitaufwand ein meist höchst subjektiv erfaBtes Erinnerungsbildchen schuf, das weit davon entfernt war, ein objektives und untrügerisches Tatbestandsdokument zu sein wie es heute das Lichtbild ist. VortrSge über Kunst waren in der Art, wie wir sie heute gewohnt sind, undenkbar. Der Vortragende muBte entweder an die Erinnerung seiner Zuhörer appellieren oder sich mit meist schlechten Wandtafeln, die auch nur in den seltensten Failen vorhanden waren, behelfen oder aber er muBte Zeichnungen, Stiche und andere Arten von Bildern unter seinen Zuhörern zirkulieren lassen, wobei meist der Vortrag zu Ende, bis das erste Bild in die letzte Bankreihe gekommen war. Und gar erst das illustrierteBuch! Wie wenig Begriff von dem mit Worten Beschriebenem konnte doch damals ein Holzschnitt und selbst das beste Kupfer geben 1 Man nehme Bücher dieser Zeit, die heute noch in der Bibliothek fast jedes Kunstfreundes zu finden sind, zur Hand, wie etwa Sigharts Bayrische und Atz' Tiroler Kunstgeschichte, um zu sehen, wie schwer es dem Autor damals war, sein Werk zu verdeutlichen, seine Beweisführung zu unterstützen, seinen Leser zu begeistern, wie schwer es auch dem Leser wurde, dem Wort des Autors zu folgen, gar nicht zu reden von der Unmöglichkeit der Befriedigung einer edlen Schaulust, wie sie das heutige, gerade in den letzten Jahren so beliebt gewordene 15* 227 Das Lichtbild im Dienste der Kunst kunsthistorische Bilderbuch, etwa in der Art der weltbekannten „Blauen Bücher", vermittelt. Seitdem die Photographie Gemeingut aller Gebildeten geworden ist, seitdem ein Kunstforscher ohne Photographenapparat und ein Vortragender ohne Bildwerfer und Projektionsbilder undenkbar wurden, seitdem mit der Erfindung der photomechanischen Reproduktionsarten, der Autotypie, des Lichtdruckes, des Kupfertiefdruckes, die Photographie in allen feinen Einzelheiten durch die Druckpresse wiedergegeben werden kann und ein Buch das andere an Reichtum und Schönheit der Illustrationen übertrifft, seitdem freilich hat man die Bedeutung des Lichtbildes im Dienste der Kunst beinahe vergessen, weil eben das Gute und Angenehme nur allzuleicht zur Selbstverstandlichkeit wird, die man nicht mehr wertet. Der Kunstforscher und der Vortragende allerdings und gar oft auch der Kunstfreund, die bekommen aber auch heute noch fast taglich den Mangel eines Lichtbildes und den Dornenweg, der zur Erlangung des ersehnten Lichtbildes oft führt, zu spflren und sie können daher auch manches Kapitel schreiben von der unabsehbaren Bedeutung des Lichtbildes im Dienste der Kunst. Die moderne Kunstforschung hat aus dem Kunstdenkmal ein geistesgeschichtliches Dokument gemacht, das nicht minder wichtig ist als jene Dokumente und Urkunden, aus denen die Weltgeschichte bisher berausgelesen wurde. Sie hat uns in dem Kunstdenkmal das Empfindungsleben, die Lebensauffassung, die Gottvorstellung einer Zeit herauslesen gelehrt, sie hat uns in dem Kunstwerk die Seele des Künstlers zu finden gezeigt. Alles dies war aber nur möglich mit der vergleichenden Gegenüberstellung der Kunstwerke verschiedener Lander, verschiedener Landschaften, verschiedener Künstler, mit der Gegenüberstellung der Kunstwerke ein und desselben Künstlers aus verschiedenen Schaffen sperioden, mit derVergleichung gleicher Darsteilungsprogramme aus verschiedener Zeit usw. Damit erst hat die moderne Kunstforschung das Gleiche erkannt, das die Kunstwerke verbindet, und das Trennende gesehen, das sie von einander scheidet, da erst hat sie nach den inneren Gründen für Gleichheit und Verschiedenheit geforscht und hat in konsequenter Entwicklung allmahlich der Geschichtsforschung Dokumente. für das innerste Seelen- und Gefühlsleben der Völker und des Einzelmenschen eröffnet, die ihr kein Archiv, kein Druckwerk in solcher Deutlichkeit hatte verm i tteln können. Diese vergleichende Kunstforschung war aber erst mit der Einführung des Lichtbildes möglich. Erst da waren für den Kunstforscher zum ersten Male die raumlichen Schranken, die ihn vom Kunstwerk trennen, überwunden, da war das Trügerische 228 Das Lichtbild im Dienste der Kunst der bloBen Erinnerung ausgeschaltet, da war das Kunstwerk zur Stilanalyse geeignet, denn der Mensch ist nicht an raumliches Sehen gewöhnt, erst bei der Projektion des dreidimensionalen Kunstwerkes auf die Flache vermag das menschliche Gehirn die Eigenart der künstlerischen Schöpfung ganz zu erfassen. Mit Hilfe des Lichtbildes vereinigt der Forscher die Kunstwerke der ganzen Welt auf seinem Schreibtisch, er kann sondern und schichten, nach allen möglichen Gesichtspunkten gruppieren und zeitlich ordnen, er kann ein und dasselbe Werk von verschiedenen Seiten, bald ganz, bald nur in einer Einzelheit betrachten, kann vergleichen und prüfen und so seine Schlüsse und Folgerungen ableiten. Ohne Lichtbild ware die heutige Kunstforschung unmöglich. Ebenso unmöglich ware natürlich auch die mündliche und schriftliche Berichterstattung über Kunst und Künstler. Das Kunstwerk ist an den Boden, auf dem es steht, gebunden; wir müssen zur Kirche und zu dem Palast, die wir sehen wollen, hinreisen; und auch das bewegliche Kunstwerk, so manches Gemalde, manche Bronze, die Zymelien der Weltbibliotheken und anderes sind faktisch unbeweglich, denn sie bilden den wohlgehüteten Schatz der Museen, Kirchen, privaten Kunstsammlungen, und wer sie sehen will, muB zum Aufbewahrungsort pilgern, um nach Oberwindung noch mannigfacher gröBerer und kleinerer Hindernisse das nur in der Theorie „bewegliche" Kunstwerk zu Gesicht zu bekommen. Erst mit Hilfe des Lichtbildes vermag der Kunsthistoriker bewegliche und unbewegliche Kunstwerke aller Herren Lander auf der Projektionswand oder in seinem Buche zu vereinen. Auch der schaffende Künstler kann des von ihm allerdings viel geiasterten Lichtbildes nicht entraten, denn wie könnte in die groBe Allgemeinheit, in den Palast des Reichen bis in das schlichte Bürgershaus die Kunde von seinem Schaffen getragen werden, wie könnte sein Werk Gemeingut der kunstliebenden Welt werden, wenn ihm das Lichtbild nicht als Trager seiner Gedanken dienstbar ware. Und wie könnte der Künstler aus dem Jungbrunn der klassischen Kunst, ohne an Zeit und Ort gebunden zu sein, schöpfen, stünde ihm nicht das Lichtbild in allen seinen Erscheinungsarten, als Photographie, als Kunstblatt, als Buchillustration jede Stunde zur Verfügung. Die Vorlagensammlungen des Kunsthandwerkers und Kunstgewerblers waren ohne Lichtbild kaum denkbar. Denkmalschutz, Heimatschutz, Heimatkunde können des Lichtbildes für ihre Arbeit nicht entbehren. Die schöne alte Stadt, ein Nürnberg, Rothenhurg, Heidelberg, ware nicht in die Herzen von Millionen Menschen gewachsen und zum Wallfahrtsort schönheitsdurstender Menschen aus aller Welt geworden, wenn nicht 229 Das Lichtbild im Dienste der Kunst das Lichtbild die Kunde von ihrer Kunst und ihrer Schönheit in die Welt getragen hatte. Gilt ein groBer Teil des internationalen Fremdenstromes heute der Wanderung nach den berühmtesten Kunststatten der Welt, so kann ruhig behauptet werden, daB das Lichtbild zu den motorischen Kratten zahlte, welche das SchleuBentor hoben, durch welches sich der Fremdenstrom über die Welt ergoB. Die Beistellung der Lichtbilder, welche im Dienste der Kunst benötigt werden, blieb bis in die jüngste Zeit fast ausschlieBlich der privaten kaufmannischen Initiative überlassen. Die Arbeit dieser Photographen und Kaufleute muBte sich aber bei allem Idealismus doch in erster Linie auf Verdienst einstellen. Auf eine systematische photographische Inventarisation aller bedeutenden Kunstdenkmaler eines Landes, auf die Herstellung von Lichtbildern ffir gemeinnützige Zwecke ohne jedes Entgeit kann und konnte sich natürlich der private Unternehmer in den seltensten Fallen einlassen. So kam es, daB verhaltnismaBig bald in den Kreisen der Kunstforscher und Kunstfreunde der Wunsch nach staatlicher EinfluBnahme auf das Lichtbildwesen im Dienste des gemeinen Wohls, vor allem im Dienste der Kunst, laut wurde. Freilich glaubte man ursprünglich, es ware alles damit getan, wenn der Staat die vorhandenen photographischen Aufnahmen von Kunstdenkmalern eines Landes in einem Archiv sammle und ffir den Bedarf bereit halte. Jeder Versuch der Aktivierung staatlicher Bildstellen auf diesem engen und kurzsichtigen Programm hatte natürlich, auch wenn er einmal in Angriff genommen worden ware, zum MiBerfolg führen müssen. Dem Neuen österreich blieb es vorbehalten als erster in den Reihen der Kulturstaaten der Welt den Gedanken der Schaffung einer staatlichen Lichtbildstelle in lebens- und entwicklungsfahiger Form aufgegriffen und mit durchschlagendem Erfolg verwirklicht zu haben. lm Frühjahr 1919 trat die österreichische Bundeslichtbildstelle auf Grund des von mir der Regierung des Kanzlers Dr. Renner vorgelegten Organisationsplanes ins Leben. Die Geldmittel, welche der Staat zur Gründung leihweise unter der Bedingung der Rückzahlung binnen Jahresfrist zur Verfügung steilte, waren zwar auBerst bescheiden (nach heutigem Kursstand 1 Dollar 50 Cents!), aber er gab mir dafür unbeschrankte, fast durch gar keine bureaukratischen Schranken eingeengte Handlungsfreiheit, und das war für die Durchsetzung der Idee wichtiger und wertvoller als das gröBte Budget. Die Tatigkeit der österreichischen Bundeslichtbildstelle umfaBt zwar das gesamte Lichtbildwesen im Dienste des gemeinen Wohls, doch bildet natürlich 230 Das Lichtbild im Dienste der Kunst das Lichtbild im Dienste der Kunst einen sehr wesentlichen Teil ihres Arbeitsprogrammes. Nach zwei Richtungen ging die österreichische Bundeslichtbildstelle sofort über die jahrzehntealten Bildstellenplane hinaus. Sie schuf zwar das verlangte und gewünschte Zentralarchiv aller erlangbaren photographischen Negative, daneben aber auch sofort eine ausgedehnte Abteilung fürNeuaufnahmen, in welcher ein Stab der tüchtigsten Photographen Österreichs tatig ist, um die Lücken des Archives zu füllen und allen Wünschen des gemeinnützigen Lichtbilderbedarfes gerecht zu werden, und sie schuf auBerdem noch den groBen Staatsverlag, der unter Ausnützung der unübertrefflichen technischen Einrichtungen der weltberühmten österreichischen Staatsdruckerei die restlose Auswertung und Verbreitung des Lichtbildes zu besorgen hat. Gegen jede Bureaukratisierung des jungen Staatsamtes war im vorhinein ein Riegel vorgeschoben, denn die Bundeslichtbildstelle hatte sich in ihrem Organisationsstatut selbst das Gesetz gegeben, sich aus eigenen Mitteln aufbauen und bis zur letzten Konsequenz, das heiBt einschliefilich der Bezahlung der Gehaiter der Staatsbeamten, sich auch aus eigenen Mitteln erhalten zu müssen. In einem Staatsamt aber, das sich die Mittel seines Unterhaltes und die Millionen, welche für die Arbeit am gemeinen Wohl bereitgestellt werden müssen, aus eigener Arbeit schaffen muB, haben St. Bureaukratius und seine heiligen Mitgeschwister keinen Platz. In dreijahriger Tatigkeit hat die österreichische Bundeslichtbildstelle nun eine Viertelmillion photographische Negative in ihrem Archiv angehauft. Die Ateliers der Bundeslichtbildstelle stellen nicht nur an GröBe, sondern auch nach technischer Vollkommenheit das Beste und ZweckmaBigste dar, was auf diesem Gebiet zu schaffen war. Das schöne Atelier im Hause der Nationalbibliothek ist ausschlieBlich der Reproduktionsphotographie gewidmet; von dort aus gehen die mit Hilfe von Spezialapparaten hergestellten Schwarz-WeiBphotographien der berühmten Handschriften der Nationalbibliothek an die Gelehrten der ganzen Welt hinaus. In jüngster Zeit wurde dieses Atelier noch durch eine Sonderabteilung für Palimpsestphotographie erganzt und vollendet. Fachleute beurteilen dieses Atelier übereinstimmend als das schönste Bibliotheksatelier der Welt. Die in ihrem AusmaBe noch gröBeren Ateliers im Gebaude des Bundesministeriums des AuBeren am Minoritenplatz umfassen die Kopier- und Diapositivabteilung, eine weitere Abteilung für Reproduktionsphotographie und dann vor allem die Abteilung für Farbenphotographie nach Dr. Traubes Uvachromverfahren, dem vollendetsten farbenphotographischen Verfahren der 231 Das Lichtbild im Dienste der Kunst Jetztzeit. Die Photographen der Bundeslichtbildstelle haben in den letzten drei Jahren nicht nur unentwegt an der photographischen Inventarisation österreichs, insbesondere seiner Kunstdenkmaler, gearbeitet, sie haben auch weit über die Grenzen österreichs gewirkt; so zum Beispiel haben sie in London im Palast des Lordmayors photographiert, haben in Holland als erste die Hauptwerke des Rijksmuseums in Farbenaufnahme mit Hilfe des Uvachromverfahrens reproduziert und die erste Serie hollandischer Architekturaufnahmen hergestellt, sie haben die Kunstdenkmaler Südtirols photographiert, in Bayern und in manchem anderen Land gearbeitet und sichtbare Bande neuerwachter internationaler Solidaritat in der Arbeit am Gemeinwohl geknüpft. Der Staatsverlag der Bundeslichtbildstelle, welcher das reiche Bildmaterial der Lichtbildstelle auswertet, hat sich in den drei Jahren seines Bestandes besonders durch seine heimatkundlichen Publikationen, bei welchem wieder dem Lichtbild im Dienst der Kunst die bedeutendste Rolle zufallt, hervorgetan. Die Seriën „österreichische Kunstbücher", „Kunst in Tirol", „Kunst in Holland", „Nordische Kunstbücher", aus welchen diesem Aufsatz einige Illustrationen beigegeben wurden, sind heute ahnlich wie die „Blauen Bücher" in jedem Hause bekannt, die Monumentalwerke „Die Wiener Gobelinsammlung" und das „Bruegel-Werk" waren sofort nach dem Erscheinen vergriffen. Die Lichtbildstelle und ihr Verlag sind heute auch die materiellen Stützen der österreichischen Denkmaierinventarisation. Es ist nicht Aufgabe dieses Aufsatzes, erschöpfenden Bericht über die österreichische Bundeslichtbildstelle zu geben; wenn sie im Rahmen dieses Aufsatzes erwahnt werden muBte, so geschah es nur darum, weil sie eine der sichtbaren Errungenschaften des sich erneuernden österreichs ist, weil sie das Lichtbild im Dienste der Kunst und darüber hinaus das gesamte Lichtbildwesen im Dienste des Gemeinwohls auf eine völlig neue Basis steilte und weil damit aus dem neuen österreich heraus ein Gedanke mit vollem Erfolg in die Tat umgesetzt wurde, welcher vielleicht beitragen wird, in seiner Wirkung nach AuBen der Völkerverstandigung, in seiner Wirkung nach Innen aber der nationalen Erstarkung eines heimatbewuBten bodenstandigen Volkes zu dienen. 232 Aus der „österreichischen Kunsttopographie" Melk: Marmorsaal Schulwesen Viktor Belohoubek pvie alte österreichische Monarchie besaB ein in allen seinen Teilen U hochentwickeltes Schulwesen, ja man kann sagen, daB das alte Österreich in manchemZweige bahnbrechendeTaten zuverzeichnen hatte. Auf dem Gebiete der Volks(Elementar)schule konnte Österreich mit Stolz auf das Werk Leopold Hasners, das „Reichsvolksschulgesetz" vom Jahre 1869 hinweisen, in welchem allen europaischen Staaten voran eine für alle Kinder des Volkes verbindliche „Volksschule" geschaffen und der achtjahrige Schulzwang eingeführt wurde. Auf dem Gebiete des mittleren Schulwesens hatten Franz Exner und Hermann Bonitz schon 1849 den „Organisationsentwurf für die Österreichischen Gymnasien" entworfen, welcher bis heute in seinen Grundzügen in Geltung steht und auf welchem alle spater eingerichteten oder ausgebauten Typen der allgemein bildenden Mittelschulen (Realschule, Realgymnasium, Reform-Realgymnasium) aufgebaut wurden. Unter den fachlichen Mittelschulen standen die Staatsgewerbeschulen auf hoher Stufe und entsendeten ihre Absolventen in alle Welt hinaus, besonders nach Deutschland, wo ihre Schüler wegen ihrer praktischen Ausbildung vielfach den Absolventen der technischen Hochschulen vorgezogen wurden. Der Ruf der Wiener Universitat, einer der ersten auf deutschem Boden überhaupt, ist im Auslande zu bekannt, als daB darüber viele Worte zu verlieren waren. Das heutige österreich hat an dieser Entwicklung des altösterreichischen Schulwesens den Hauptanteil, indem von ihm als dem Zentralpunkt der Monarchie die wichtigsten gröBeren MaBnahmen auf dem Gebiete des Schulwesens ihren Ausgang nahmen. Und dennoch erschallte der Ruf nach einer Schulerneuerung nach dem Umsturze unter allen Forderungen nach Neugestaltung in dem jungen Freistaate vielleicht am lautesten, und zwar aus allen 233 Schulwesen beteiligten Kreisen, Lehrern, Eltern und Unterrichtsbehörden, und zwar sowohl in der Richtung des Schul aufbau es als auch in bezug auf die innere Erneuerung durch Verbesserung der Lehr- und Lernmethoden. Wiewohl einzelne Manner, wie der damalige Unterstaatssekretar für Unterricht, Nationalrat Otto Glöckel, sowie einzelne Parteien, vor allem die sozialdemokratische, und grosse Lehrergruppen als Trager dieser stürmisch hervorbrechenden Bewegung nach auBenhin erschienen, liegen ihre Ursachen viel tiefer. Schon jahrzehntelang hatte der Kampf um die Schulerneuerung in beiden oben angedeuteten Richtungen in den Landern deutscher Zunge hin und her gewogt. Soweit auch die Schulerneuerer in den vorgeschlagenen Wegen voneinander abwichen, hatten sich doch schon vor dem Kriege gewisse Grundforderungen als das Ziel aller dieser Bestrebungen herausgebildet. Soweit der auBere Aufbau des Schulwesens in Betracht kommt, waren alle Vertreter des Reformgedankens der Meinung, daB das Schulwesen zu einem ein heit 1 ich en in sich geschlossenen Organismus neu zu gestalten sei, der es ermöglicht, auf breitester Grundlage die Auswahl der Tüchtigsten zu treffen und jedem jene Schulbahn zu weisen, welche seinen Fahigkeiten am besten entspricht, so daB er spater im Leben für das allgemeine Wohl auch die gröBtmöglichste Leistung vollbringen kann. Was den inneren Schulbetrieb anlangt, wurde anstatt der Lernschule, in welcher die Schüler hauptsachlich rezeptiv tatig sind, die A r b e i t s s c h u 1 e gefordert, welche dieproduktive Tatigkeit des Schülers und seine Schulung fürs praktische Leben in den Vordergrund stellt. Ober die grundsatzliche Notwendigkeit einer solchen Umgestaltung bestand unter den Reformern kein Zweifel. Die altösterreichischen Schulbehörden, ihrer Natur nach konservativ, hatten die immer wieder von Lehrern und Elternkreisen verlangten, oft in die Irre genenden Reformwünsche mit Anderungen im kleinen zum Schweigen gebracht, zu einer durchgreifenden Anderung aber nicht den Mut gefunden. Bei dieser Situation ist es nur erklarlich, daB im Augenblicke des Zusammenbruches des Alten, als noch frohe Hoffnungen auf den Aufbau eines neuen Staatswesens die Brust eines jeden für sein Volk und sein kleines aber schönes Vaterland schwellten, mit elementarer 234 Schulwesen Gewalt die im BewuBtsein der fortschrittlich denkenden Lehrer und eines groBen Teiles des Volkes festgesetzte Meinung von der Notwendigkeit einer radikalen Erneuerung des Gesamtschulwesens hervorbrach und nach Tatwerdung verlangte. So kam die in der Geschichte des Schulwesens seiten beobachtete Erscheinung, daB, als Otto Glöckel als Unterstaatssekretar in das Unterrichtsamt einzog, jene Reformbestrebungen vom Unterrichtsamt selbst als Programm aufgestellt und mit groBer Tatkraft und Begeisterung in Angriff genommen wurden. Soviel Gutes und Schönes das altösterreichische Schulwesen geleistet hatte, so konnte es den oben aufgestellten Grundsatzen der Reformer weder in seinem auBeren Aufbau, noch in seiner Methode genügen. Es war kein geschlpssener Organismus der oben geschilderten Art, vielmehr waren die verschiedenen Teile einzeln nach und nach hinzugewachsen, ausgestaltet worden, die Leitung vielfach in verschiedenen Ressortsministerien, Lander, Gemeinden verteilt, so daB der innere Zusammenhang im Sinne der Reformer nicht gegeben war, der allein die richtige Hinleitung in die der Begabung entsprechende Schulbahn und damit in den Beruf gewahrleisten kann. Zum richtigen Verstandnis des folgenden sei ganz kurz der Aufbau des altösterreichischen Schulwesens skizziert: Die Grundlage, auf welcher das ganze Schulwesen ruht, ist die fünfklassige Volksschule als Pflichtschule, auf welche eine dreijahrige Bürgerschule oder eine entsprechende Zahl von AbschluBklassen der Volksschule folgt; aus der vierten oder fünften Volksschulklasse ist jedoch gegen Aufnahmsprüfung ein Übertritt in eine allgemein bildende Mittelschule möglich, welche aus einer vierjahrigen Unterstufe und einer vier-, beziehungsweise dreijahrigen Oberstufe besteht und die Vorbedingung für das Hochschulstudium ist. Aus der Untermittelschule ist der Übertritt in verschiedene höhere fachliche Mittelschulen möglich, die meist auf vier Jahre berechnet, unmittelbar in den Beruf führen. Das Madchenschulwesen ist, was die Pflichtschule anlangt, mit den für Knaben identisch, für die mittleren Lehranstalten ganz ahnlich aufgebaut. Der Fehler dieses Schulsystems von dem Standpunkte der „Auswahl der Tüchtigsten" ist nun, daB schon nach vier oder langstens fünf Schuljahren im zehnten bis elften Lebensjahre die Entscheidung darüber fallen muB, ob das Kind seiner bis zum vierzehnten Lebensjahre wahrenden Schulpflicht bloB in der Volks- oder Bürgerschule 235 Schulwesen genügen, oder aber durch den Eintritt in eine Mittelschule einem höheren Studium und damit einem höheren Berufe zugeführt werden soll; eine Entscheidung, die in diesem Lebensalter auf Grund der üblichen Aufnahmsprüfung in die Mittelschule auf keinen Fall getroffen werden kann, ganz abgesehen davon, daB sie auBerdem durch Zufalligkeiten, wie die finanzielle und soziale Stellung der Eltern, das gesellschaftliche Milieu der Kinder, Entfernung des Wohnortes vom Schulorte noch weiter ungflnstig beeinfluBt und verfaischt wird. Wenn man nun bedenkt, daB nach angestellten Berechnungen überhaupt nur sieben Prozent aller Schulkinder der vierten und fünften Volksschulklasse in Mittelschulen aufgenommen werden, also nur einem verschwindenden Bruchteil die Möglichkeit geboten ist, in weiterer Folge zu erweisen, ob sie zu einem höheren fachlichen oder wissenschaftlichen Studium befahigt sind oder nicht, kann wohl von einer „Auswahl der Tüchtigsten" bei unserem gegenwaTtigen Schulaufbau keine Rede sein. Dasselbe wiederholt sich beim Austritt aus der Unter mittelschule, wo die Wahl der weiteren Schulbahn ebenfalls all diesen Zufalligkeiten anheim gegeben ist, und setzt sich auch beim Eintritt in die Hochschule fort, wobei noch der Gegensatz zwischen der unbedingten Gebundenheit der Schuier bis in die obersten Klassen der Mittelschulen und der vollkommenen Freiheit auf den Hochschulen die verhangnisvollsten Wirkungen auf Studiën und Lebensbahn ausflbt. Verscharft wird die Wirkung dieser lockeren Organisation noch dadurch, daB nicht alle Schulen dem Unterrichtsamt unterstehen, vielmehr die meisten Fachschulen von den Ressortministerien verwaltet werden. Dadurch wird eine Überleitung von einer in die andere Schulbahn sehr erschwert, jedenfalls nicht gefördert. Was nun den inneren Betrieb der Schulen anlangt, so war bis vor kurzem offiziell die Lernschule in Geltung, deren Charakteristikum es ist, daB die Bewaltigung des sich immer mehr haufenden Lehrstoffes als Hauptaufgabe gilt, was naturgemaB nur im Wege der Rezeption geschehen kann (Nacherzahlen, Nachzeichnen, Einlernen vorgezeigter Beweise und Experimente usw.). Nicht zuletzt wurde auf die Gewöhnung an gröBtenteils rezeptive Lernarbeit in der Schule bei der ohnehin zur Bequemlichkeit und Beschaulichkeit neigenden Natur des österreichers der Mangel der österreichischen Intelligenz an Selbstandigkeit, Tatkraft, Verantwortungsfreudigkeit zurückgeführt, so daB der Durchschnittsösterreicher noch immer in der infolge der Unzahl einengender Vorschriften 236 Schulwesen meist mit geringer Verantwortung belasteten „sicheren" Staatsbeamtenstelle das Ideal sieht und, mehr als dem Staate zutrSglich ist, auch gefunden hat. Dadurch ist auch der ungeheure Zudrang zu den Mittelschulen in Altösterreich zu erklaren, der bei der Unmöglichkeit einer sicheren Auswahl der Begabten das Niveau der Mittelschulen bestandig herabdrflckte und flberflQssiges, geistiges Proletariat erzeugte, da infolge des losen Zusammenhanges der Fachmittelschulen und der allgemein bildenden Mittelschulen ein Ablenken der für das höhere wissenschaftliche Studium ungeeigneten Schülermassen in praktische Berufe auf dem Wege über die Fachmittelschulen als Deklassierung empfunden wurde und infolgedessen undurchsetzbar war. Unter diesen Umstanden ist es erklarlich, daB die bald nach dem Umsturz von dem damaligen Leiter des Unterrichtsamtes ausgegebene Parole einer vollstandigen Neugestaltung in weiten Kreisen der Beteiligten tronen Widerhall fand, wenn auch bei vielen Freunden der Reform das revolutionare Tempo (wie sich jetzt zeigt, nicht unbegründete) Zweifel an der Durchführbarkeit des Reformplanes erzeugte, der nun in einer kurzen Übersicht entwickelt werden soll. Ein Bild dessen, was bisher wirklich durchgeführt wurde, das darauf folgen soll, wird zeigen, wie viel das neue österreich seiner Not zum Trotz auf dem Gebiete der Schule geleistet hat Leider hat auch hier das Goethesche Wort recht behalten: „Eng ist die Welt und das Gehim ist weit — Leicht beieinander wohnen die Gedanken, Doch hart im Raume stofien sich die Sachen." Zur Ausarbeitung der Reformplane wurde im Unterrichtsamte eine eigene Abteilung, sowohl für das Gebiet der Volks- als auch der Mittelschule, aus praktischen, reformfreundlichen Schulmannern aller Parteirichtungen gebildet Das amtliche Verordnungsblatt des Unterrichtsamtes wurde durch AnschluB eines „Padagogischen Teiles", aus einem rein amtlichen Nachrichtenorgan zu einem padagogischen Fachblatt, „Volkserziehung8, umgeschaffen, in welchem die Entwürfe der Reformabteilung und in die Reform einschlagige Aufsatze veröffentlicht und unter Mitarbeit aller Fachkreise kritisiert werden. Eine Lehrerkammer für Volks-, Mittel- und Hochschullehrer sowie ein aus ganz österreich beschickter Erziehungs- und Unterrichtsbeirat (hauptsachlich aus Ntchtfachleuten bestehend) sollen die Vorschiage der Reformabteilung begutachten und die so unter Mit- 237 Schulwesen wirkung von Lehrern, Eltern entstandenen Entwürfe sollten dann von den rechtskundigen Beamten des Unterrichtamtes in Gesetzesform gebracht und in der Nationalversammlung vorgelegt werden. Der Erziehungsbeirat ist bisher leider nicht zusammengetreten. Hingegen sind die Reformabteilung und die Lehrerkammer seit dem Jahre 1919 in voller Tatigkeit. Das von der Reformabteilung ausgearbeitete Programm bezieht sich zunachst auf den auBeren Aufbau des gesamten Schulwesens. Abgesehen von den (schon bestehenden) „Kindergarten" für Kinder im vorschulpflichtigen Alter soll es für das schulpflichtige Alter (6 bis 14 Jahre) nur eine für alle gemeinsame Schule geben, die sich in zwei Stufen zu je vier Schuljahren aufbaut, und zwar der „Grundschule", 6. bis 10. Lebensjahr (erstes bis viertes Schuljahr) und der „Allgemeinen Mittelschule", 11. bis 14. Lebensjahr (fünftes bis achtes Schuljahr). Die letztere spaltet sich in zwei parallel nebeneinander geführte Klassenzüge, von denen der eine der gegenwartigen Untermittelschule entsprechenden Lehrstoff enthalt und zu höheren Studiën hinführen soll, wahrend der zweite Klassenzug einen geringeren Lehrstoff hat und die Kinder entweder unmittelbar oder über niedere Fachschulen ins Berufsleben entiaBt; bei letzteren ist, wie bisher, der Besuch gewerblicher, landwirtschaftlicher und anderer fachlicher Fortbildungs(Abend)schulen Pflicht. Dadurch, daB die Auswahl der Schüler für den ersten (höheren) Klassenzug nicht durch eine Prüfung, sondern durch Erprobung erfolgt (wobei in jeder Klasse Schüler, die sich befahigt erweisen, in den höheren Klassenzug versetzt, oder solche, die dort versagen, in den zweiten Klassenzug verwiesen werden können), glaubt man richtigere Entscheidungen darüber treffen zu können, wer zum höheren wissenschaftlichen Studium taugt, als heute, wo eine Augenblicksprüfung im 10. bis 11. Lebensjahr den Ausschlag gibt. AuBerdem soll im Verlaufe der vier Schuljahre der „Allgemeinen Mittelschule" auch die spezielle Begabung der Schüler beider Klassenzüge festgestellt und gefördert werden, so zwar, daB am Ende der vierten Klasse mit ziemlicher Sicherheit behauptet werden kann, ob der Betreffende für ein humanistisches oder ein realistisches Studium oder für ein spezielles Fachstudium (Gewerbe, Kunst, Handel, Landwirtschaft) tauglich ist. Die richtige Schulbahn, beziehungsweise Berufswahl soll durch entsprechende Berufsberatungsstellen an allen Schulen erleichtert werden. Die Förderung besonderer Einzelbegabungen ist so gedacht, daB in den wichtigsten für die Bildungs- 238 Schulwesen richtung mafigebenden FSchern ein Pflichtstoff und ein erweiterter Lehrstoff besteht, welch letzteren der hiefür besonders Begabte wahlen kann, wahrend er in Fachern, für die er weniger Begabung zeigt, nur den Pflichtstoff zu absolvieren gezwungen ist. Diese Einrichtung findet ihre Fortsetzung in den auf die allgemeinen Mittelschulen aufgebauten vierjahrigen Oberschulen, welche teils allgemein bildender, teils fachlicher Art sind. Allgemein bildende Oberschulen nehmen nur die durch die „Allgemeinen Mittelschulen" zu dem betreffenden Spezialstudium qualifizierten Schüler auf und führen zu den betreffenden Hochschulen. In Aussicht genommen sind erstens: eine „Althumanistische Oberschule" mit Latein und Griechisch, wobei die Absolvierung des wahlfreien Lateinunterrichtes in der driften und vierten Klasse der „Allgemeinen Mittelschule" Voraussetzung ist; dann eine „Neuhumanistische Oberschule" mit Französich und Englisch, wobei der Besuch des wahlfreien Unterrichtes in Französich in der dritten und vierten Klasse der „Allgemeinen Mittelschule" Voraussetzung ist. Die dritte Gattung der Oberschule ist die „Naturwissenschaftlichmathematische" mit Englisch als Fremdsprache und einen erganzenden Unterricht in Latein für solche Schüler, welche sich dem medizinischen Studium zuwenden wollen. Endlich die „Deutsche Oberschule", welche stark auf Gegenwartswissenschaften wie Volkswirtschaft, Gesellschaftslehre usw. eingestellt, ihren Hauptbildungsstoff aus dem deutschen Kulturgut zu schöpfen sucht, wobei Englisch als Fremdsprache gelehrt wird. Die fachlichen Oberschulen (im Gegensatz zu den niederen zweijahrigen Fachschulen) sind auf vier Jahre berechnet, die Haupttypen sind seit langem vorhanden (Handelsakademie, gewerbliche Lehranstalten, Handelslehranstalten, landwirtschaftliche, forstwirtschaftliche Mittelschulen und Kunstgewerbeschulen usw.). Bei diesen Typen, die schon bestehen und gut bewahrt sind, würde sich die Reform vor allem auf ihre Unterstellung unter das Unterrichtsministerium und weitere Ausgestaltung des praktischen fachlichen Unterrichtes — beides um diese bis jetzt „getrennt marschierenden" Fachschulen in die notwendige enge Wechselbeziehung zu den Pflichtschulen und den allgemein bildenden höheren Schulen zu bringen — beziehen. Seine Krönung findet dieser Aufbau des mittleren Schulwesens naturgemaB in den Hochschulen. Es wird verlangt, daB jede von den vier beschriebenen Typen der allgemein bildenden Ober- 239 Schulwesen schulen das Recht der Imatrikulation als ordentlicher Hörer an jeder Hochschule gewahrleistet, wobei für Spezialstudien erforderiiche fehlende Kenntnisse vor Zulassung zu den Prüfungen an den Hochschulen selbst nachzuweisen waren. Unter Voraussetzung solcher ErgSnzungsprüfungen sollen auch die Absolventen der fachlichen Oberschulen die Berechtigung zum Studium an den entsprechenden Hochschulen haben. Durchgreifende Reformen in der Organisation der Hochschulen sind bisher nicht vorgeschlagen worden, wiewohl nicht von der Hand zu weisen ist, daB besonders bei den Universitaten jahrhundertalte Einrichtungen bestehen, welche zwar vom rein wissenschaftlichen Standpunkt untadelhaft, bezüglich der Beruf sstudienordnung dem Gebote der Zeit und der Not der Umstande in Österreich nicht mehr entsprechen. Als einziger gröBerer Reformvorschlag, welcher die Organisation der Universitat berührt, kommt nur die Reform der Lehrerbildung in Betracht. Sie ist der Grundpfeiler des Reformwerkes, das (besonders in Hinsicht der inneren Reform des Schulwesens, die im folgenden noch nahei beleuchtet werden soll) ohne eine besondere Ausbildung der Lehrer undurchführhar ist Jetzt werden die Lehrer der Volks- und Bürgerschulen in österreich an den sogenannten Lehrerbildungsanstalten ausgebildet, welche vier Jahrgange umfassen und wohl eine genügende methodische Ausbildung bieten, aber in wissenschaftlicher und allgemein bildender Richtung für die Anforderungen der neuen Schule unzuianglich sind. Die Lehrer der Mittelschulen, an der Universitat, beziehungsweise technischen Hochschule herangebildet, genieBen zwar eine gediegene wissenschaftliche Fachausbildung, hingegen laBt der bisher vorgeschriebene Studiengang eine gründliche padagogische und methodische Schulung auBer acht und überlaBt sie, obwohl die Einrichtung des sogenannten „Probejahres" an einer Mittelschule theoretisch gefordert wird, in Wirklichkeit ganz dem Zufall und der eigenen Schulung der jungen Lehrer in der Praxis. Der richtige Weg scheint in der Mitte zu liegen. Es besteht daher die Absicht, samtlichen Lehrern zunachst eine gediegene allgemein e Bildung durch eine beliebige Oberschule angedeihen zu lassen und dann alle Lehrer, auch die der Grundschule (Elementarlehrer), in einem eigenen padagogischen Institut an der Universitat in zwei bis drei Jahren padagogisch auszubilden und erst dann für die Fachlehrer der Mittel- und Oberschulen die speziellen Fachstudien nachfolgen zu lassen. 240 Linoleumdruck Arbeit eines 13jahrigen Schuiers Volksbildung Volksheim, Wien XVI. Siedlungsbauten Entwurf: Prof. Dr. J. Frank Wohnküche für eine Arbeiterkolonie Ausführung: Wiener Bau- und Möbeltischlerei Volksleben Bauernhaus, Vorarlberg Bauernhaus in Sistrans, Tirol Burgenlander Karntner Volkstrachten Lechtalerin, Tirol Lechtalerin, Ehrwald, Tirol Ober-Inntaler, Tirol Wegkreuz Soziales Arbeitsfeld Lainzer (Jubileums-) Spital der Gemeinde Wien Schulwesen Allerdings wird noch (besonders von konservativen Kreisen) die Erweiterung der (vierjahrigen) Lehrerbildungsanstalt auf sechs Jahre oder eine auf zwei Jahre berechnete, auf eine Oberschule folgende Lehrerakademie mit Hochschulcharakter, aber auBerhalb des Verbandes der Universitat, vorgeschlagen. Der im vorstehenden charakterisierte Schulaufbau kann in seiner Ganze und Differenziertheit natürlich nur in gröBeren Stadten voll durchgeführt werden; für das Land sind erganzende Einrichtungen beabsichtigt. Wo heute nur niedriger organisierte (ein- bis vierklassige) Völksschulen bestehen, soll der Lehrplan der allgemeinen Mittelschule im Abteilungsunterricht annahernd durchgeführt werden, hingegen besteht die Absicht, an Stelle aller jetzigen Bürger- und Untermittelschulen die allgemeine Mittelschule zu setzen, so daB jede gröBere Marktgemeinde eine solche besitzen würde. In gröBeren Orten sollen allgemeine Mittelschulen als Sprengelschulen errichtet werden, welche die begabten Schüler des Sprengels aufnehmen. Die Oberschulen sollen in kleineren Stadten nicht parallel nebeneinander, sondern als Abteilungen einer Oberschule geführt werden, wobei die gemeinsamen Gegenstande gemeinsam gelehrt und nur für die spezifischen Gegenstande der verschiedenen Typen eine Trennung der Schüler in Parallelabteilungen stattfindet. Als Voraussetzung dafür, daB die beschriebene Schulorganisation wirklich annahernd den Zweck der Auswahl der Tüchtigsten erreicht; ist die Einrichtung der Staatserziehung gedacht. Staatserziehungsanstalten sollen begabte Kinder aus allen Bundeslandern und allen Schichten des Volkes aufnehmen, welche aus irgend einem aufierlichen Umstande (familiare und pekuniare Verhaltnisse, Milieu, Entfernung vom Schulort) sonst eines höheren Unterrichtes nicht teilhaftig werden könnten. Auch an kleinere Schülerheime und staatlich subventionierte und überwachte Kosthauser für schulortfremde begabte Kinder, insbesondere aus den Alpengebieten, wird dabei gedacht. Zu diesem neuen Schulaufbau kommt nun die Erneuerung der Schule von innen heraus; die Umwandlung der Lernschule in die Arbeits- und Erziehungsschule. Als methodisches Prinzip der Arbeitsschule gilt der Grundsatz, daB möglichst viel vom Kinde selbst „erarbeitet", gefunden werden soll und der Lehrer nur so viel mitteilt, als eben notwendig ist, um das Kind in der Problemfindung und Problemlösung zu führen; wo es die Natur des Gegenstandes zuiaBt, soll das Kind 16 241 Schulwesen im Material selbst arbeiten (Handfertigkeit, praktische Übungen). Damit im Zusammenhange steht die Ausbildung samtlicher An lagen des Kindes, nicht nur der geistigen, sondern auch der körperlichen, daher starke Betonung der körperlichen Erziehung. Dazu kommt die wichtige Forderung nach Bodenstandigkeit des Unterrichtes und psychologisch begründeter Aufbau in der Darbietung des Stoffes, wodurch der wissenschaftlichen Systematik, welche in der Lernschule bis in die untersten Stufen hinein dem Lehrenden und Lernenden die Zwangsjacke anlegt, ein Riegel vorgeschoben wird. Damit im Zusammenhange steht die Einführung des „Gesamtunterrichtes" in der Qrundschule. So wie das Kind im vorschulpflichtigen Alter am Gegenstande selbst zum gröBten Teile durch Sammlung von Erfahrungen unter tatiger Mithilfe Erwachsener alle Beziehungen zu seiner Person und zur AuBenwelt erlernt, so soll es auch beim Kinde in der Schule fortgesetzt werden. Weder die stundenweise verabreichten Abstraktionen, Rechnen, Zeichnen, Schreiben usw, noch die Systematik der Sprachlehre ist der kindlichen Psyche angemessen. Im Gelegenheitsunterrichte will es von einem Gegenstande, der ihm interessiert, alles auf ihm bezügliche hören, sehen, erfahren, ihn zeichnen, darüber schreiben usw. Die Kunst des Lehrers ist es, auf Grund eines solchen Gelegenheits- und Gesamtunterrichtes den Lehrstoff zu meistern, das Kind allmahlich zur Abstraktion und zur Systematik zu führen, was erfahrungsgemaB erst nach dem Pubertatsalter ernstlich in Angriff genommen werden kann. Erst in den obersten JahrgSngen der zum Hochschulstudium führenden Schulen kann und soll die wissenschaftlich systematische Behand lung des Stoffes, und zwar gröBerer Stoffgebiete als jetzt üblich, voll in ihre Rechte treten. Dadurch wird gieichzeitig ein zwangloser Obergang von dem schulmaBigen zu eng gebundenen Betrieb der Oberklassen der jetzigen Mittelschule zum freien (für den Neuling viel zu freien) wissenschaftlichen Studium an den Hochschulen geschaffen werden. Diese Überlegung gipfelt schlieBlich in der Forderung der Reformer, daB endlich auch der Hochschulpadagogik, welche in der wissenschaftlichen Literatur nur da und dort andeutungsweise berührt wird, in der Praxis aber ganz auf die Lehrerpersönlichkeit gestellt bleibt, die ihrer Bedeutung gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden muB, wenigstens soweit, als die Berufsausbildung an den Hochschulen in Betracht kommt. Es heiBt die Tatsachen absichtlich oder unabsichtlich verkennen, wenn man heute, wie es noch vor hundert Jahren möglich war, die 242 Schulwesen Universitat bloB als Pflegestatte freier Wissenschaft ansieht und eifersüchtig Ober Lehr- und Lernfreiheit und Autonomie der Universitat wacht. Die Hochschulen, die Universitat inbegriffen, sind durch die Entwicklung der Zeit zum guten Teil Berufshochschulen geworden und haben sich infolgedessen nach dieser Seite ihrer Wirksamkeit und Organisation in den allgemeinen Schulorganismus einzufügen und solche Einrichtung zu treffen, daB Studiengange für die verschiedenen Berufsstudien ausgearbeitet und von Lehrenden und Lernenden streng eingehalten werden. Was die Methode anlangt, so muB die überlebte Einrichtung der „Vorlesungen" in den Berufstudien, als im Verhaltnis zum Effekt viel zu zeitraubend, fallen gelassen und der seminaristische Betrieb an deren Stelle treten, wo Lehrer und Lemende in enger Verbindung die jeweiligen Probleme gemeinsam erarbeiten. Mit der Umstellung der Lernschule auf die Arbeitsschule ist das Programm der inneren Schulerneuerung noch nicht erschöpft. Die neue Schule muB noch eine weitere Aufgabe erfOllen. Sie muB nicht nur Arbeits-, sondern auch Erziehungsschule werden. Die Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens, insbesondere in GroBstadten, bringt es mit sich, daB die Eltern (wenn sie überhaupt zur Erziehung ihrer Kinder fahig sind, was vielfach zu bezweifeln ist) durch Berufstatigkeit an der Ausübung ihrer Erziehungspflicht gehindert werden. Hier muB die moderne Schule auf allen Stufen in die Bresche treten. Die Erziehungswerte des Lehrstoffes müssen voll ausgenützt, die Erziehung des Charakters und Willens mit allen Mitteln, insbesondere auch auf dem Geblete der körperlichen Ausbildung gefördert werden, die in unseren Schulen bisher nur zu sehr vernachiassigt warde. Unter den Begriff körperlicher Ausbildung fallen aber nicht nur die körperlichen Übungen, die wir als Turnen und Sport kennen, sondern auch die Handbetatigung in den verschiedenen, der Schule zuganglichen Zweigen, welche bezweckt, nicht nur Hand und Auge zu schulen, sondern auch zur Ausdauer, Willensstarke, Achtung vor Arbeit zu erziehen. Dies sind in groBen Zügen die Grundf orderungen der österreichischen Schulreform. Wenn wir nun gefragt werden, was von diesen hochgesteckten Zielen derSchulreformer Österreichs in unserem jungen Staatswesen wirklich ins Werk gesetzt wurde, so müssen wir antworten: Unendlich viel, gemessen an den ungeheuren Schwierigkeiten, welche die durch 16' 243 Schulwesen die Friedensvertrage verursachte Not des Staates und Volkes der Entwicklung entgegenstellt, sehr wenig jedoch im Verhaltnis zu den Hoffnungen, welche in dieser Beziehung von den Reformern an die Errichtung der Republik geknüpft wurden. Die erste wirkliche Tat war die Errichtung von mehreren Staatserziehungsanstalten, welche begabten und bedürftigen Kindern des Volkes aus allen Schichten, besonders aber Kriegswaisen und solchen, die aus irgendwelchen famili&ren, örtlichen oder materiellen QrUnden einer höheren Ausbildung sonst nicht teilhaftig werden könnten, Unterkunft und Ausbildung bieten sollen. Zum erstenmal hat es hier ein Staat, noch dazu ein aufs Haupt geschlagener, von allen seinen lieben Nachbarn getretener Staat unternommen, in bewuBter und groBzügiger Weise die Begabtesten und Armsten seiner Kinder aus den Niederungen der Armut heraus zu heben, um sie auf seine Kosten den letzten Höhen der Bildung zuzufQhren. Wir haben sechs solcher Anstalten (jetzt gemaB der neuen Verfassung Bundeserziehungsanstalten genannt), vier für Knaben (in Wien XIII, Traiskirchen, Wiener-Neustadt und Liebenau), zwei für Madchen (in Wien III und Wien XVII), eine siebente für das Burgenland bestimmt, konnte nicht mehr errichtet werden, da die Volksvertreter nicht in der Lage waren, die dafür erforderlichen Mittel zu bewilligen. Die vier Knabenanstalten sind ehemalige Militaranstalten, welche beim Umsturz ais „Staatsstiftungsrealschulen" in Zivilschulen umgewandelt, im Sommer 1919 durch den damaligen Unterstaatssekretar für Unterricht Otto Qlöckel in Staatserziehungsanstalten umgestaltet wurden. Dadurch gelang es, Milliardenwerte aus dem Chaos der zwar unblutigen, aber für das Volksvermögen trotzdem verhMngnisvollen Umwalzung zu retten und einem produktiven Zweck, der Erziehung und Bildung bedürftiger und begabter Kinder, zuzuführen. Wenn es ein unvergSngliches Verdienst Glöckels bleibt, den Gedanken gefaBt und in die Tat umgesetzt zu haben, so muB es als ein besonderer Glücksfall bezeichnet werden, daB es ihm gelungen ist, für die Durchführung MSnner zu finden, welche nicht nur das nötige Wissen, die Tatkraft und den Idealismus besaBen, die ungeheure Aufgabe zu bewaltigen, sondern die buchstablich ihr persönliches Interesse, ihre Gesundheit und ihre Familien nicht achteten, um das groBe Werk in Gang zu bringen. Da die Anstalten mit ihrer Errichtung unmittelbar dem Unterrichtsamt unterstellt wurden, wurde dort als besondere Geschaftsgruppe 244 Schulwesen die „Zentraldirektion der Bundeserziehungsanstalten" eingerichtet und an die Spitze der damalige Sektionsrat Paul Scapinelli, ein Mann von für österreich ungewöhnlicher Arbeitskraft und Zühigkeit, gestellt Als bezeichnend für den Geist des nur auf das ins Auge gefaBte groBe Ziel gerichteten Idealismus der Arbeit an den Bundeserziehungsanstalten sei angemerkt, daB da in einer Zeit, wo die Wogen der sozialen Revolution am höchsten gingen, einem Abkömmling einer alten, mit dem Herrscherhaus und der Kirche aufs engste verbundenen hocharistokratischen Familie, der aus seiner Gesinnung kein Hehl machte, von einem sozialdemokratischen Minister ein Werk anvertraut wurde, das diesem und seiner Partei wie wenig anderes nuf dem Herzen lag. In kaum drei Monaten wurden in der Zentraldirektion die notwendigen Gesetze und Verordnungen, besonders die „Schul- und Hausordnung für die österreichischen Bundeserziehungsanstalten", ausgearbeitet und die materiellen und ideellen Grundlagen geschaffen, auf denen nun die Direktoren der Anstalten, ohne Parteiunterschied aus den fahigsten Köpfen der österreichischen Mittelschulwelt erwahlt, mit ihrer Mitarbeiterschar an Lehrern, Erziehern, Beamten und Hilfskraften ihre schwere Arbeit beginnen konnten. Es würde kein richtiges Bild des von ihnen aufgerichteten Werkes und der dabei geleisteten Arbeit geben, wenn nicht ein kurzer Rückblick auf den Zustand geworfen würde, in dem sie die Anstalten übernehmen muBten. Wie überall, wo nicht glückliche Umstande das Unheil zu verhüten oder zu mildern vermocht hatten, fanden die Direktoren der Bundeserziehungsanstalten ein auf den ersten Bliek unentwirrbares Chaos vor. Die Anstalt ausgeraumt bis fast an die Wande, die vorhandene Einrichtung, soweit sie nicht in dem vorhergegangenen schrecklichen Winter verheizt worden war, zerbrochen, die oft kiaglichen Sammlungen der Unterrichtsmittel, kunterbunt ohne brauchbare Inventare, in Kisten irgendwo unsachgemaB verstaut, Fensterscheiben zu Hunderten zerbrochen, Instrumente (darunter Klaviere), wertvolle Einrichtungsgegenstande verkauft und in die Umgebung der Anstalt verschleppt. Noch gröBer aber und verhangnisvoller war die moralische Verwüstung; die Zöglinge, meist Söhne von Offizieren, die im Kriege getallen oder gefangen waren oder aber durch den Umsturz stellen- und heimatlos irgendwo herumirrten, hatten vielfach, da sie keinen anderen Zufluchtsort fanden, in der Anstalt verbleiben müssen und hatten so durch Wochen, ja Monate mit den zurückgebliebenen Soldaten gehaust; ganze Börsen für Ausrüstungen und sonstige Gegen- 245 Schulwesen stande wurden in benachbarten Kaffeehausern entdeckt, Madchen zweifelhaften Rufes trieben sich vielfach in den Schlafsaien oder sonst irgendwo herum, in den Speisesalen war in der ersten Zeit kein Löffel, keine Serviette vor Entwendung sicher, da jeder, der eine Militaruniform trug, ein- und ausgehen konnte wie er wollte, und niemand wuBte, wer zu Recht oder Unrecht in der Anstalt schlief, aB und trank (denn auch der Alkohol war zu dieser Zeit nicht verpönt). Eine Kontrolle fiber die Zöglinge war infolgedessen unmöglich, sie kamen und gingen wann sie wollten, viele durch die geöffneten Fenster, fiber die Mauern, von einer Disziplin im schulmaBigen Sinne war natürlich keine Spur. Die Befehlsgewalt der noch zurückgebliebenen Offiziere war praktisch beseitigt, jede Autoritat der Lehrer unterwfihlt, eine autoritative Entscheidung, von welcher Seite immer, ausgeschlossen. Wenn auch diese Verhaltnisse nicht überall gleich trostlos, bei den Madchenanstalten sogar im allgemeinen geordnete waren, so treffen sie doch ffir den groBen Teil der Knabenanstalten zu und es war ein toHkühnes Wagnis, auf diesem Boden Erziehungsanstalten aufzubauen, welchen die Bestimmung zugewiesen wurde, neben versuchsweiser Durchführung des neuen Schulaufbaues „befahigte und bedfirftige Kinder, besonders Kriegerwaisen, ffir höhere wissenschaftliche und fachliche Studiën oder ffir den unmittelbaren Übertritt ins Leben vorzubereiten und sie zu tachtigen, an Leib und Seele gesunden Menschen zu erziehen". Aus diesem Chaos sollten die Anstalten entstehen, denen „der Geist sittlicher Tüchtigkeit und wahrer Menschbildung, der zu pflichtbewufiter Tatigkeit von Wahrhaftigkeit, Entschlossenheit, selbstlosem Gemeingefühl, aber auch zu aller Begeisterungsfahigkeit für alles GroBe und Schöne führt, sein Geprage verleiht". Und dieses Wagnis ist, man kann es heute nach knapp drei Jahren keek behaupten, so unglaublich es klingen mag, in der Zeit würgender Lebensnot und atemraubenden seelischen Druckes, wie kaum ein Volk in der Weltgeschichte sie zu erdulden hatte, der im Auslande oft getadelten Schlappschwanzigkeit undWohllebigkeit des österreichers zum Trotz in österreich gelungen. Heute stehen die sechs Bundeserziehungsanstalten padagogischerziehlich und verwaltungstechnisch geordnet da, geleitetvon erfahrenen Padagogen, welche die unterrichtlichen und erziehlichen Aufgaben, unterstützt von einem Direktorstellvertreter und dem Erziehungsleiter mit Hilfe eines akademisch gebildeten Lehr- und Erziehungskörpers ebenso meistern, wie die ausgedehnten ihnen ursprünglich fremden 246 Schulwesen Verwaltungsarbeiten, zu deren Bewaitigung ihnen ein durch die Not der Zeit bis aufs auBerste zusatnmengeschmolzener Stab vonVerwaltungsbeamten mit den unumganglich notwendigen ArbeitskrSften zur Verfügung steht Die Anstalten bestehen aus dem Schüler(Erziehungs)heim der Schule und den Anstaltsbetrieben, unter denen jedoch das Schülerheim mit seiner Erziehungsarbeit die erste Stelle einnimmt so daB Schule und Betrieb nicht allein ihren besonderen Zwecken sondern in hervorragendem MaBe auch der Erziehung zu dienen haben Es ist nicht so, daB Schule und Heim ein getrenntes Leben führen und das letztere etwa nur eine Art Kosthaus für die Schüler bildet sondern die ganze Anstalt ist als ein Ganzes aufzufassen. Das Arbeitsfeld der Erziehung ist das ganze Anstaltsgebiet mit allen dazugehörigen Einrichtungen. Die Anstalt bildet einen kleinen Staat für sich, in dem der Schulbürger, bei dessen Verwaltung entsprechend beteiligt, unter Einbeziehung der nachsten Umgebung im kleinen möglichst alles kennen lernen soll, was notwendig zum Leben gehört. Das wird nicht etwa durch bloBe Unterweisung, sondern soweit als möglich, durch selbstandige Arbeit im gesamten Anstaltsbetrieb bewirkt wobei den Erziehern (akademisch gebildeten Mittelschullehrern), welche bei allen Beschaftigungen jederzeit mit den Zöglingen bei der Arbeit wie in der Musezeit, beim Lernen und Spielen, Singen und Wandern, Mahlzeit und Erholung zusammenleben, die allerwichtigste und schwierigste Aufgabe zufailt. Die Hauptsache dabei ist, daB die Zöglinge selbst schaffend an dem Auf- und Ausbau der Anstalt mitwirken, ob es sich nun um Ausschmückung ihrer Aufenthaltsraume, Herstellung einfachen Hausrates Vorbereitung von Veranstaltungen oder aber Anlage und Pflege des Gartens, Einbringung der Ernte, Erdarbeiten, Pflege der Haustiere oder Aufstellung des Speisezettels handelt - Beschaftigungen welche mit Begeisterung ausgeführt werden und bestimmt sind, die Wertschatzung der Handarbeit zu erhöhen, den Bildungsdünkel zu unterdrücken und so in spaterer Auswirkung beim Ausgleich mancher Gegensatze im öffentlichen Leben mitzuwirken. -„ ,.Dafi Spjel "nd SP°rt ira "«hen MaBe gepflegt werden und'den Zöglingen jede Gelegenheit zur Kunstübung und KunstgenuB gegeben wird, kann wohl als selbstverstandlich gelten, nicht aber die in so kurzer Zett errungenen Erfolge. Aufführungen von Hofmannsthals „Jedermann , Goethes „Tasso", Jphigenie", Shakesoeares „KaUfmflnn 247 Schulwesen von Veriedig", Lessings „Emilia Galotti", mustergültige Darbietungen schwerer klassischer Tonwerke durch die Schülerorchester und Schülerchöre der Anstalten haben davon Zeugnis gegeben. Dabei ist jedoch der immerhin achtenswerte Enderfolg weder für die Leitung noch für die Schüler das MaBgebende, sondern die gemeinsame Arbeit, die von einer zu dem besonderen Zwecke gebildeten Arbeitsgemeinschaft von Lehrern und Zöglingen geleistet wird, da grundsatzlich schon aus der Not der Zeit heraus, so zu sagen aus dem Nichts, geschaffen werden muB. So wurde die gesamte Bühneneinrichtung an einer Anstalt von den Zöglingen aus Altmaterial hergestellt und eingebaut. Dieselbe Bedürfnislosigkeit und eine fast spartanische Abhartung wird im ganzen Anstaltsleben, insbesondere auch bei Wanderungen, Bergfahrten usw. verlangt und geübt Die Liebe zum Volke und zur Heimat, Veredlung von Gemüt und Charakter, Vertiefung echt religiöser und sittlicher Gefühle werden zwanglos gefördert. Besondere Anlasse, Gedenktage usw. bieten hiezu Gelegenheit, im Alltagsleben die sogenannten Feierabende, ebenso wie eine Zeit der Sammlung nach vollbrachtem Tagewerk, in welcher Kunstübung, Vortrag, Vorlesung oder freies Gesprach ohne parteipolitische oder konfessionelle Farbung die Seele von allem Kleinlichen loslösen und auf die groBen Angelegenheiten der Menschheit hinlenken soll. AuBere Zucht- und Zwangmittel werden in der Erziehung nur dann angewendet, wenn sie im Interesse des Einzelnen und der A1Igemeinheit unbedingt notwendig sind; daB es gelungen ist, innerhalb dieser Jahre diese Notwendigkeit auf eine verhaltnismaBig kleine Anzahl von Fallen zurückzudrangen und die Aufrechterhaltung der Ordnung auf den unmittelbaren EinfluB der Erzieherpersönlichkeit in Verbindung mit der Schulgemeinde beschranken zu können, ist angesichts der ursprünglichen Verwahrlosung der Zöglinge ein besonderes Ruhmesblatt der Entwicklung der Anstalten. In den so gestalteten Erziehungsplan fügt sich als ein vorherrschender Teil der Unterricht ein, welcher stofflich und methodisch dem eigentlichen Ziel der Anstalten, dem Erziehungsziel nutzbar gemacht wird. Der Unterricht ist da auf eine harmonische Durchbildting von Körper und Geist gerichtet und bezweckt, nicht bloB theoretisch wissenschaftliche Bildung, sondern auch praktische Schulung fürs Leben zu vermitteln. Hiebei wird die eingangs skizzierte Arbeitsmethode als Unterrichtsprinzip erprobt, welche darauf abzielt, die Schüler von der aufnehmenden zur schaftenden Tatigkeit auch im 248 Wien: Kobenzl Schulwesen Unterricht zu erziehen. Das geschieht in den rein geisteswissenschaftlichen Unterrichtsfachern durch Anleitung zur Findung und Führung der jeweils auftauchenden Probleme (das Wort nicht im hochwissenschaftlichen, sondern im weitesten Sinne genommen) und in jeneh FSchern, wo es die Natur des Gegenstandes zulaBt, auBerdem durch praktische Arbeit am Material durch die Schüler selbst Darum sind in den Naturwissenschaften die üblichen amphitheatralischen Lehrsaie durch Arbeitsraume mit möglichst vielen Arbeitsgelegenheiten für die Zöglinge ersetzt Was hier geleistet wird, ist oft erstaunlich und dient vielfach auch den praktischen Bedürfnissen der Anstalt; so wurden in der Chemie Farben für den Zeichenunterricht hergestellt, Nahrungsmittelproben gemacht usw. Eine besonders erziehliche Note erhait der Unterricht an den Bundeserziehungsanstalten im Sinne der eingangs beschriebenen Reformbestrebungen durch den pflichtmaBigen Besuch des Handfertigkeitsunterrichtes bei den Kleinen, des handwerklichen Unterrichtes bei den GroBen, der einerseits ebenfalls wieder in den Dienst der praktischen Bedürfnisse gestellt wird, anderseits einen kunstgewerblichen Anlauf genommen hat, dessen Ergebnisse, oft vollendete Werke gediegener Jugendkunst so recht das Wort von dem besonderen Geschmack und Kunstbegabung des Österreichers erwiesen haben. Die Zweige, auf die sich der Handfertigkeitsunterricht erstreckt, sind Papp-, Kleb- und Schnitzarbeiten, besonders bei den Kleinsten, dann Modellieren, Gipsschnitt, Linoldruck, Metalltreibarbeiten, Keramik] Photographie; von handwerklichen Arbeiten wird insbesonders Buchbtnderei, samt Herstellung von Buntpapieren für Einband und Vorsatz, Tischlerei, Schlosserei und Gartnerei eifrigst betrieben. Bei den Madchenanstalten kommen auBer dem Handfertigkeitsunterricht wie bei den Knaben die weiblichen Handarbeiten in Betracht, wobei jedoch nicht nur die technische Ausführung gelehrt wird, sondern der eigene Entwurf und die Wahl des Materials und der Technik eine Hauptrolle spielt. Wie weit die Erfolge in der Handfertigkeit gediehen sind, beweist das Ersuchen eines Experten der japanischen Regierung und zahlreicher anderer auslandischer Besucher, eine Auswahl solcher Arbeiten in ihre Heimat zu senden. Für das Handwerk mag der Hinweis genügen, daB von den Zöglingen einer Anstalt unter Anleitung sieben tadellose Hobelbanke aus einer alten Wascherolle hergestellt wurden, da der Ankauf unerschwinglich war. Auch der Stundenplan ist den Bedürfnissen des Schülerheimes angepaBt. Ver- 249 Schulwesen schiedene Versuche haben eine Form als die beste erwiesen, bei welcher der Unterricht in den wissenschaftlichen Gegenstanden doppelstündig erteilt wird, und zwar so, daB auf die erste Doppelstunde eine Einzelstunde in körperlicher Betatigung oder sonst einer geistig weniger anstrengenden Beschaftigung und eine halbstQndige Pause folgt, worauf ein zweites wissenschaftliches Fach wieder in einer Doppelstunde den Vormittagsunterricht beschlieBt. Übrigens können wissenschaftliche Stunden am Spatnachmittag angesetzt werden, da zwischen Vormittag und Nachmittag eine vollkommene Ruhe von 1 bis l1/* Stunden angeordnet ist. Dabei werden in der ersten Wochenhaifte vorwiegend humanistische und in der zweiten Halfte vorwiegend realistische FScher gelehrt. So wird erreicht, daB die bei Einzelstunden unvermeidliche, taglich mehrmalige (bis sechsmalige) Umschaltung des Schülers im Unterricht und Studium von einem zum anderen Gegenstande vermieden und er sich taglich nur mit zwei wissenschaftlichen Fachern zu beschaftigen hat, welche beide verwandt (entweder humanistisch oder realistisch) sind. AuBerdem wird dadurch erst ein gedeihlicher Betrieb der oben beschriebenen Arbeitsmethode ermöglicht, der in Einzelstunden, besonders bei Arbeiten im Laboratorium, unmöglich ist. Neben dem auf Erziehung und Unterricht gerichteten individuellen Zweck haben die Bundeserziehungsanstalten auch eine allgemein gerichtete Bestimmung, namlich als Versuchsschulen für den Neuaufbau des mittleren Schulwesens in österreich im Sinne der oben ausgeführten Richtlinien und auBerdem als Mittelpunkte für die Lehrerfortbildung und Volksbildung zu dienen. DemgemaB besteht die Unterstufe der Schulen der Bundeserziehungsanstalten die vierklassige sogenannte „Deutsche Mittelschule" (5. bis 8. Schuljahr), in welche begabte und bedürftige Kinder durch eine besondere Begabungsprüfung nach der vierjahrigen Grundschule (1. bis 4. Schuljahr) aufgenommen werden. Sie stellt sich im groBen ganzen als selbstandiger erster (höherer) Klassenzug der beschriebenen „Allgemeinen Mittelschule" dar und heiBt Deutsche Mittelschule, weil in der ersten und zweiten Klasse von Sprachen nur das Deutsche in einer groBen Stundenanzahl gelehrt wird, und erst in der 3. und 4. Klasse wahlfrei Fremdsprachen (Latein und Französisch) hinzukommen. Deutsche Mittelschule aber auch deshalb, weil das volks- und heimatkundliche Element in allen Gegenstanden, besonders aber in der Sprache, Geschichte und Erdkunde, den Ausgangspunkt bildet und immer im Blickpunkte des 250 Schulwesen Unterrichtes bleibt. Deutsche Mittelschule endlich auch deshalb, weil zur Wahl der Fremdsprache in der 3. und 4. Klasse kein Zwang besteht; vielmehr statt dessen ein erweiterter Deutschunterricht und ein erganzender Handfertigkeitsunterricht eintreten kann, eine Einrichtung, die insbesondere für diejenigen Schüler bestimmt ist, die keine spezielle klassische oder moderne Sprachstudien erfordernde Oberschule besuchen wollen. Auf diese einheitliche Mittelschule sollen nun vom Jahre 1923/24 an die vier Arten der vorerwahnten Oberschulen, auf die verschiedenen Anstalten verfeilt, aufgesetzt werden. In diesen in der Unterstufe durchgeführten, in der Oberschule erst beabsichtigten Schulaufbau stellen die Bundeserziehungsanstalten sohin einen Mikrokosmus des Aufbauens des mittleren Schulwesens in österreich dar, soweit allgemein bildende, zum Hochschulstudium führende Schulen in Betracht kommen. Diese Organisation der Oberschulen an den Bundeserziehungsanstalten sollte jedoch nach dem ursprünglichen Plane eine Erganzung nach Seite der Berufsfachschulen erfahren, indem neben den allgemein bildenden Oberschulen solche technisch-gewerblicher, landwirtschaftlicher, künstlerischer und kommerzieller Richtung an den Bundeserziehungsanstalten eingerichtet werden sollten. Leider ist an die Ausführung dieses Gedankens gegenwartig nicht zu denken, da die Errichtung solcher Schulen im Rahmen der Erziehungsanstalten Summen verschlingen würde, welche der arme österreichische Staat jetzt unmöglich aufbringen kann. Die Vorsorge für die Ausbildungsmöglichkeit der Zöglinge der Bundeserziehungsanstalten nach der praktisch beruflichen Seite hin fehlt daher bis jetzt, mit Ausnahme der schon vorhanden gewesenen zweiklassigen Handelsschule für Madchen an der Bundeserziehungsanstalt in Wien, XVII. Wenn auch im Rahmen der Bundeserziehungsanstalten die Errichtung höherer Berufsfachschulen jetzt nicht möglich ist, wurde der Gedanke nicht aufgegeben, sondern nur auf eine sehnlichst erhoffte bessere Zukunft verschoben. Unterdessen wird versucht, einen Ersatz zu schaffen für diejenigen aus der Deutschen Mittelschule abgehenden Zöglinge, welche mehrNeigung und Fahigkeit zur Handarbeit als zu geistiger Betatigung zeigen, indem innerhalb einer Erziehungsanstalt handwerkliche Lehrgange eingerichtet werden sollen, welche die Zöglinge so weit führen, daB sie den Lehrbrief und die Ausübungsberechtigung in einem der Gewerbe erhalten, welche volkswirtschaftlich und nach den vorwiegenden Anlagen des österreichers zukunftsreich sind, so zwar, 251 Schulwesen daB diese Ausbildung im Handwerke nicht wie bei der groBen Masse der Zöglinge als harmonische Erganzung der Geistesbildung nach der körperlichen Seite hin betrieben wird, sondern zu dem Zweck, diesen Zöglingen einen Lebensberuf zu sichern. Dabei handelt es sich zunSchst um Tischlerei samt Vollendungstechnik jeder Art, Feinbuchbinderei, Ledergalanterie, allenfalls Erzeugung feiner Spielwaren und Keramik. Die Lehrgange sind auf etwa drei Jahre berechnet und die Zöglinge sollen neben den für ihr Fach notwendigen Unterrichtsgegenstanden auch in der allgemeinen Bildung, voraussichtlich durch einen konzentrierenden Deutschunterricht Qber das Niveau gewöhnlicher Handwerker herausgehoben werden und einen Grundstock von Pionieren spezifisch österreichischer Kunstfertigkeit bilden, welche in weiterer Folge das ihrige zum wirtschaftlichen und ideellen Wiederaufbau des Lebens beitragen sollen. Doch sind dies ebenso wie die erwahnten Oberschulen erst Plane, deren Ausführung im Jahre 1923/24 beginnen soll. Gegenwartig werden die Oberstufen der Knabenanstalten noch von den auslaufenden Realschulklassen der ehemaligen Militarzöglinge, die der Madchenanstalten von Lehrerinnenbildungsanstalten gebildet, welch letztere noch so lange bestehen bleiben sollen, bis die Lehrerbildung, wie beabsichtigt wird, an die Universitaten verlegt ist. Dann sollen auch dort neue Oberschultypen auftreten, unter denen die Frauenoberschule eine wichtige Rolle einnehmen dürfte, welche den Versuch einer Synthese der Allgemeinbildung und der Ausbildung für den Beruf der Hausfrau und Mutter darstellt, von deren Einrichtung noch spater gesprochen werden soll. Ihrem Berufe, als Mittelpunkte der Lehrerfortbildung und Volksbildung zu dienen, sind die Bundeserziehungsanstalten vollauf gerecht geworden. Lehrerfortbildungskurse haben alljahrlich abwechselnd an zwei Anstalten stattgef unden. Volksbiidungskurse, ja an einer Anstalt eine Volkshochschule, sind an allen Knabenanstalten aufsteigender Entwicklung, so daB sich die Anstalten auch für die umwohnende Bevölkerung SuBerst segensreich erweisen. Um das Bild, das ich von den österreichischen Bundeserziehungsanstalten zu geben versuch te, vollstandig zu machen, ware es wohl noch nötig, die Zöglinge beim Tagewerk, vom Aufstehen mit den Frühübungen bis zum Feierabend und Schlafengehen, beim theoretischen Unterricht, bei der Arbeit im Laboratorium, in den Freiluftklassen, am lauschigen Platzchen des Anstaltsparkes bei Spiel und Arbeit im Garten, Hof und Feld, Wald und Bauplatz zu verfolgen. Leider gestattet es 252 Schulwesen der Raum nicht und ich kann nur mehr, nachdem ein ungefahres Bild des bisher Erreichten und des für die Zukunft Erstrebten dem Leser vor Augen steht, ihn einladen, nochmals seinen Bliek zu jenen Anfangen zurückzulenken, die ich anfangs angedeutet habe und deren Bild jetzt auch dem nflher Eingeweihten nur mehr wie ein banger Traum dunkel und unwahrscheinlich in der Erinnerung schwebt. Und ich kann ihn nur weiter einladen, zu überdenken welche unerhörte Leistung hier vollbracht wurde, innerhalb einer Zeitspanne die in Zeiten ruhiger Entwicklung kaum eine Veründerung an Menschen und Dingen merkUch werden laBt. Hier ist ein Werk entstanden, dem hervorragende Besucher aus den meisten europaischen Kulturlandern ihre volle Anerkennunggezollt haben und von dem der höchste Würdentrager unseres Staates das ermutigende Wort gesprochen hat, daB es einen Aktivposten des an Gütern so armen Staates darstellt. Es sind meist die Erziehungsgedanken, nicht die Unterrichtsorgamsation, welche das Werk so groB erscheinen lassen. Sie alle sind nicht Erfmdung derSchöpfer, sondern Erzeugnisse der padagogischen Arbeit von Geschlechtern und durchgeführt im Kleinen in den Landerziehungsheimen Lietzischer Art, in groBen Erziehungsanstalten Deutschlands, wie Dahlem bei Berlin, Godesberg am Rhein und manchen anderen. Aber daB ein Staat, und zwar ein Staat, der taglich um seine Existenz kampft, in dem jeder ehrlich Arbeitende taglich und stündhch dem Nichts gegenübersteht, bewuBt und systematisch es untermmmt, aus dem allgemeinen Chaos das Kostbarste, das Einzige herauszureiBen, was ihn in Zukunft retten kann, die Blüte seiner weiblichen und mannlichen Jugend, nach dem modernsten Grundsatz zu erziehen und zu lehren, zu harmonisch durchgebildeten, charakterfesten Arbeitsmenschen zu machen, ohne daB er, wie die französischen Staatsinternate, in eine öde, die Erziehung schematisierende Kasernmethode verfailt, daB er Manner findet in einer Zeit, wo Arbeit Hohn, Spott und Elend Schieben und Spekulieren Ehre, Beifall und Reichtum einbringt nicht' wenige Manner, sondern Dutzende solcher Manner, welche bereit smd diese ideale Tat, die nur mit auBerster Selbstaufopferung vollbracht werden kann, zu unternehmen und innerhalb dreier Jahre trotz Unverstandnisses, MiBgunst und Behinderung von mancher Seite die verstehen, helfen und fördern sollte, auf die Beine zu stellen da's ist, wie zwei auslandische Kenner der Verhaitnisse unabhangig vonêinander versichert haben, eine europaisch vorbildliche Tat. 253 Schulwesen Hier aber zeigt sich auch so recht in seiner ganzen traurigen GröBe das Schicksal österreichs. Nicht nur, daB die Ausgestaltung und Erwerterung, wie gezeigt wurde, aus elender Geldnot sich nicht voll auswirken konnte; aus demselben Grunde ist heute auch ihre ursprüngliche Bestimmung, nur bedürftige, begabte Schüler aufeonehmen und frei vom Staate zu erhalten and unterrichten zu lassen, unter der Gewalt der furchtbar hohen Kosten in sich zusammengesunken, indem unter dem Drucke der Finanzverwaltung immer mehr Zahlplatze der verschiedensten Abstufungen eingeführt und die Zahl der Freiplfitze auf ein Minimum beschrankt werden muBte. Und nicht genug daran, unter dem Drucke des Genfer Abkommens fanden sich für das Volkswohl verantwortliche Beamte dieses unseligen Staates, die den Gedanken fassen konnten, d i e s e s Werk auf den Abbauetat zu stellen und so die bedürftigsten und begabtesten Kinder dieses bis zum Irrsinn geschlagenen Volkes in das Elend und die Not zurückzustoBen, wenn nicht die Gnade eines volksfremden über uns gesetzten Vogtes das stolze Gebaude in letzter Stunde noch vor dem Abbruch rettet. Nicht weniger verhangnisvoll ist die katastrophale Wendung der österreichischen Dinge für die anderen Teile der Reform geworden, deren Tatwerdung in Angriff genommen wurde. Es ist ohneweiters klar, daB ein so umfangreiches und in seinen Wirkungen tiefgreifendes Werk wie die österreichische Schulreform nicht ohne Widerstande und nicht über Nacht ins Werk gesetzt werden kann. Es gibt viele, welche die beabsichtigte Neuordnung der Dinge als gefahrlich ansehen; kein Wunder, in einer Zeit der Unruhe und Aufregung der Geister, die einer objektiven Beurteilung nicht zutraglich sind. Da jedoch dem demokratischen Grundzuge des ganzen Planes folgend ein Oktroi unmöglich war, vielmehr eine AnnSherung der gegenseitigen Standpunkte gesucht werden muBte, vergingen kostbare Monate und Jahre wahrend deren das ganze Staatswesen tiefer und tiefer sank, bis die trüben Wogen einer neuen noch schrecklicheren wirtschaftlichen Umwalzung drohend heranbrandeten. Was vor Monaten mit einigen Millionen ins Werk gesetzt werden konnte, ist heute mit ebenso vielen Milliarden nicht zu machen. Beides, die Schwierigkeit einer völligen Einigung über die beste Lösung der durch die Reform aufgeworfenen Probleme, finanzielle Imraöglichkeit der Durchführung in einem Wurfe, dritagte zum Wege" der allgemeinen Reform ab und dem Wege des auf einzelne Teile des Schulwesens beschrankten Versuches zu. 254 Schulwesen Tatsachlich haben sich alle berufenen Stellen, die Unterrichtsbehörde, die Lehrerkammern und die politischen Parteien im grollen und ganzen im Wege langwieriger Verhandlungen darauf geeinigt zunSchst durch umfangreiche Versuche die Reformvorschlage praktisch zu erproben, im allgemeinen aber vorlaufig die Schulorganisation nicht abzuandern. • Hiezu wurde ein eigenes Versuchsschulgesetz erlassen und eine Stelle im Unterrichtsamte geschaffen, bei welcher alle Angelegenheiten des Versuchsschulwesens zusammenlaufen und die Ergebnisse der Versuche für die endgültige Reform allgemeiner ausgewertet werden sollen. Für die Stürmer und Dranger unter den Reformern bedeutet diese Lösung natürlich einen Rückschritt, zumal die Reform ja von vornherein auf eine gründliche Vorbereitung durch Teilversuche aufgebaut war. Dafür kann die Zulassung von Versuchsklassen und Versuchsschulen an Volks- und Bürgerschulen angeführt werden, welche schon für das Schuljahr 1919/20 angeordnet war. Einzelnen Lehrern welche sich dazu meideten, wurde gestattet, bei gleichem Klassenzlele den Unterricht nach den Grundsatzen der Arbeitsschule und der Bodenstandigkeit zu führen. Dazu kam als Haupterrungenschaft die Erlaubnis, den Sachunterricht als Gesamtunterricht zu führen. Ein eigener Bezirksschulinspektor wurde für die Versuchsklassen in Wien bestellt die Versuchsklassenlehrer bildeten Arbeitsgemeinschaften, welche in Besprechungen ihre Erfahrungen auszutauschen hatten, wozu die Vorschnft des gegenseitigen Hospitierens sehr dienlich war. Die so gewonnenen Erfahrungen waren überraschend günstig Der Erfolg der Versuchsklassen überwog bei weitem die der Normalklassen. Es ergaben sich viel weniger Schulversaumnisse, das SelbstbewuBtsein und daher auch der Erfolg der schwachen Schüler schien gehoben durch die psychologische Wertung der Leistungen an sich und durch die Freude, welche die Kinder an dem zwanglosen und natürlichen Gesamtunterricht fanden; und die Wirkung des neuen Unterrichtes auf die Lehrer laBt sich in die Worte zusammenfassen : „Weniger Arger, viel mehr Befriedigung." Die Einrichtung der Versuchsklassen wurde durch den Auftrag an den Lehrer aller Kategorien unterstützt, Sammlungen bodenstandigen Unterrichtsstoffes in Angriff zu nehmen. Auch hier wurden Arbeitsgemeinschaften gegründet, welche die Aufgabe hatten, den Untemchtsstoff nach den Grundsatzen der Bodenstandigkeit zusammen- 255 Schulwesen zustellen und nach Altersstufen zu ordnen, die Heimat nach heimatkundlichen Gesichtspunkten zu erforschen, die Sammlungen in dieser Richtung zu erganzen und als Endergebnis eine Obersicht über den heimatkundlichen Unterrichtsstoff zu verfassen. Wenn auch diese Arbeit natürlich nicht lückenlos sein konnte, so war doch die Vorstufe für den heimatkundlichen Unterricht und eine sichere Grundlage für die weitere Etappe, die Erprobung des von der Reformabteilung ausgearbeiteten Lehrplanes für die Grundschule, hiedurch geschaffen worden. Es galt nun noch, möglichst viele Lehrer mit den neuen Methoden und den Erfahrungen bekannt zu machen und sie praktisch einzuführen, da entsprechend vorgebildete Lehrer nicht zur Verfügung standen. Dies geschah durch eine unermüdliche Versammlungstatigkeit, auf den amtlichen Bezirkslehrerkonferenzen, durch die Einrichtung der sogenannten Hospitièrklassen, welche von Lehrern gruppenweise besucht wurden und durch Lehrerfortbildungskurse, welche seit den Sommerferien von 1919 an regelmaBig in mehreren Bundeslandern, wie oben erwahnt, zumeist an den Bundeserziehungsanstalten veranstaltet werden, wobei der Andrang so groB ist, daB nur der geringere Teil der Anmeldungen berücksichtigt werden konnte. Auch alljahrlich abzuhaltende Beratungen aller LanJes- und Bezirksschulinspektoren wurden angeordnet, von denen leider aus finanziellen Gründen nur eine stattfinden konnte. Auf diese Vorversuche gestützt glaubte der damalige Unterstaatssekretar für Unterricht den Versuch wagen zu können, den von der Reformabteilung ausgearbeiteten Lehrplan für die in der oben beschriebenen Schulorganisation beabsichtigte vierklassige Grundschule (samt Übergangslehrplan für die bestehende fünfte Volksschulklasse) allgemein versuchsweise einzuführen, nach dem die Mittelstufe des neuen Schulaufbaues, wie oben ausgeführt, in den Bundeserziehungsanstalten als „Deutsche Mittelschule" teilweise verwirklicht war. Um diesen neuen Grundschullehrplan dem Verstandnis AuBenstehender deutlich zu machen, halte ich es für das beste, die „Allgemeinen Grundsatze" hieher zu setzen, welche dem Lehrplan voran- gestellt sind: . 1 Die Anforderungen, die an die Schüler gestellt werden, sind so bemessen, daB ihnen normal begabte Kinder entsprechen können. 2 Der Lehrplan verlangt, daB das Lehrgut unter Heranziehung der Sinne, der Hand und der Sprache selbsttatig erarbeitet werde. 256 Wien: Karlskirche Schulwesen 3. Aller Unterricht geht von der Umwelt der Sr-hnw engeren und weiteren Heimat und vom LebL L rï ' T und bezieht sich immer auf sie zurück G^wart aus Der Unterricht in der Grundschnip iet rw. * in einzelne Unterrichtsgegenstande getrennt war vorn<*erem Der Ubergang von einem Arbeitsgebïete zum andern hat sirh nicht mechanisch nach Stundenplan unciStundenschlazu UI en Beil !Cher ^logischer NotwendgigkeiI ' Be, der Aufteilung der Zeit auf die einzelnen Arbeitsgebïete muB im Rahmen der verfügbaren Arbeitszeit jeder Woche ebTLZl entsprechendes Verhültnis gefunden werden wobefS e Not^endS; ausreichender Obungen (vor allem Lesen, Schreiben RechnT^Tnflrf! von Handgriffen und anderes) jederzeit vol. b^SfiS^S? D.eBefremng von der Bindung durch den Stunde^n vêrianS Trbeitf ?rHa r°rbereitUng die Ausar^itung eines wcStefiSS Arbeits- und Konzentrationsplanes, der für denLehrenden keinesweS eine Fesse sondern eine notwendige Hilfe sein soll, die se ne S vor Zersphtterung schützt und ihm das erfolgreicheFortkommen au dem Wege des Gesamtunterrichtes wesentlich erleichtTrt 4. Die Auswahl des Lehrstoffes im einzelnen bleibt innerhalb des durch den Lehrplan gegebenen Rahmens der Leh ersraft^es betreffenden Heimatgebietes überlassen. ^nrerseftaft des unri VKüttttTIeSthaltmg des «^«ndsatzes, daB Übung der GeistesSÏT^T^'EÏ* ^ -h A"«aufung von" WissSo f, wird das AusmaB des gedSchtnismSBig zu behaltenden Unterrichts"°tWend,'geS Minde«tmaB beschrankt, dieses aber durch be tandige und von verschiedenen Gesichtspunk en aus erfolgenae Ubung zum unveiherbaren Besitz gemacht enoigende 257 Schulwesen Gesamtunterricht veranschauiicht, von Nutzen sein, wie es der frühere Unterstaatssekretar Glöckel in der Sitzung des Unterrichtsauschusses der österreichischen Nationatversammlung vom 23. Juli 1919 gelegentlich der Einführung der oben erwahnten Versuche auseinander gesetzt hat. Als Unterrichtsmittelpunkt für eine ziemlich ausgedehnte Zeit wird zum Beispiel etwa „der Bach" vorausgesetzt. „Der Lehrer bespricht den Weg von der Schule bis zum Bach. Dabei wird erarbeitet: die geographische Orientierung nach dem Sonnenstand die Benützung des Kompasses und der Uhr, die rechnerische Erfassung des Weges, Schritte, Meter, Kilometersteine. Die Kinder werden aufgefordert, mit offenen Augen den Weg zu gehen, zu berichten, was sie auf den Wegen gesehen haben, zum Beispiel Pflanzen, Tiere, Geschafte, Verkehrsmittel, beruflich tatige Menschen. Alles wird um eine Sache gruppiert. Ferner Beschreibung nach der Natur- Woher das Wasser kommt, möglicherweise Aufsuchen der Quelle, wohin das Wasser flieBt, Ufer, Breite, Tiefe, Beschaffenheit des Wassers, Wasserstand zu verschiedenen Zeiten, dessen Ursache, Gefaile. Nun tritt der Handfertigkeitsunterricht ein. Ich kann Papierschiffchen erzeugen, sie werden dem Bach übergeben und es wird beobachtet, wie sie fortgetrieben werden. Ich kann über die Begriffe Kraft sprechen, über Geschiebe und Gerölle, über Uferpflanzen, Wassertiere (Fische, Frösche, Insekten) also naturkundlicher Stoff. Gesprachstema: Was kann uns veranlassen, den Bach zu übersetzen? Wie macht man es? Probleme des primitiven Brückenbaues. Der Bach, ein Arbeitsgehilfe des Menschen (Mühle, Verfertigung eines Mühlrades im Handfertigkeitsunterricht, Wascheschwemmen, Reinlichkeit usw.). Der Bach, ein Zersörer von Menschenwerk, der Bach im Winter (Aggregatzustande des Wassers). Erstarren, Schmelzen, im heiBen Sommer verdunsten, Nebel, Wolke, im Sommer baden. Der Weg zum Bach und der Bach selbst auf dem Sandtische dargestellt (Reliëf) von der Sandtischdarstellung eine Skizze abgenommen (Kartenverstandnis). Im Sprachunterricht: Mündliche und schriftliche Berichte, einschiagige Lesestücke, Memorieren. Gesanguntemcht: Das Lied vom rauschenden Bachlein. Handfertigkeitsunterricht: Fischchen, Wasserrader und Mühlen erzeugen. Turnen: Uebersetzen des Baches, Weitspringen." Ich glaube nicht, daB das Wesen des neuen GrundschuIIehrplanes, dessen versuchsweise Einführung mit Beginn des Schuljahres 1920/21 verfügt wurde, auf dem zur Verfügung stehenden Raume deutlicher gemacht werden könnte. 258 Schulwesen Erfolg und Wirkung dieser MaBnahme war, wie sich unschwer voraussehen lieB, verschieden, insoferne, als sie unbedingt von der Befahigung der Lehrer abhangen, welche naturgemSB in den Kulturzentren, besonders Wien und deren EinfluBsphSre in der überwiegenden Mehrzahl der Falie vorhanden war, wahrend insbesondere in den weit abgelegenen Alpenbezirken sich das umgekehrte Verhaitnis herausstellt. Auch die beklagenswerten Gegensatze zwischen Wien und den übrigen Bundesiandern und politische Beweggründe spielten hiebei eine groBe Rolle, so daB trotz des allgemeinen Auftrages der neue Lehrplan besonders in den Alpeniandern vielfach gar nicht durchgeführt wurde. Die Folge dieses Verhaitnisses in Verbindung mit dem politischen Umschwung des Oktober 1920, welcher die konservativ gerichteten Parteien ans Ruder brachte, bewirkte eine amthche Auslegung des grundlegenden Erlasses, mit welchem der Grundschullehrplan versuchsweise eingeführt worden war, dahingehend, daB der Versuch nur an jenen Schulen weitergeführt wird bei denen gewisse Bedingungen erfüllt, insbesondere die geeigneten Lehrkrafte vorhanden sind und daB bei Neueinführung des Grundschullehrplanes Bezirks- und Landesschulbehörden ein entscheidender EinfluB eingeraumt wird. Damit wurde allerdings praktisch nicht viel geandert da der gröBere Teil der österreichischen Schulen im Bereiche des Wiener Gemeindegebietes liegt, das, nach dem Verfassungsgesetze von Niederösterreich getrennt, ein eigenes Land darstellt und sich im Stadtschulrat" eine Einrichtung geschaffen hat, in welchem die Rtformfreunde die Mehrheit haben, wodurch wenigstens für Wien die Weiterentwicklung der Reform, und zwar auf der Basis des erwahnten Versuchsschulgesetzes, gesichert ist. In der Tat hat das Land Wien von dieser Möglichkeit neuerdings weitgehenden Gebrauch gemacht, indem es in mehreren Wiener Bezirken, wo vorher wenige Mittelschulen bestanden, versuchsweise die „Allgemeine Mittelschule" eingeführt hat, die für alle Schüler des Sprengels vom fünften bis achten Schuljahr, die nicht in eine Mittelschule alten Stils (Gymnasium, Realschule usw.) eintreten, Pflichtschule ist. Zumeist wurden diese „Allgemeinen Mittelschulen" an Stelle der jetzigen Bürgerschulen errichtet, in der Art, wie sie in den allgemeinen Ausführungen über die Grundzüge der Reform kurz dargestellt ist. Daraus ergab sich eine Schwierigkeit, die darin bestand daB, an den Bürgerschulen akademisch nicht gebildete Lehrer wirken.' 1T* 350. Schulwesen wahrend die „Allgemeine Mittelschule" solche mit akademischer Befahigung voraussetzt: Es ist jedoch gelungen, durch ein KompromiB gemischter Lehrkörper mit einem akademisch geprüften padagogischen Leiter an der Spitze und dem nicht akademischen Direktor der Bürgerschule als administrativen Leiter die Frage voriaufig zu lösen. Da, wie oben erwahnt, die akademisch geprüften Mittelschullehrer bei uns im allgemeinen wissenschaftlich sehr gut, die Fachlehrer der Bürgerschule methodisch besser geschuif sind, dürfte ein Zusammenarbeiten gedeihliche Früchte tragen können, da der Versuch eben beginnt und der Erfolg abgewartet werden muB. Die „Grundschule", die „Allgemeine Mittelschule" und die „Bundeserziehungsanstalten" sind die drei gröBten Schrittmacher der Reform, „Versuche", welche, streng genommen, die lebenswichtigsten Teile der vorne umrissenen Schulerneuerung umfassen. Ganz besonders erfreuliche Erfolge in der Durchführung der Reform sind in der körperlichen Ausbildung zu verzeichnen. Diesem Zwecke dient der Unterricht in der Handfertigkeit und die körperliche Erziehung im engeren Sinne. In der ersteren Hinsicht brauche ich nur auf das für die Bundeserziehungsanstalen Gesagte hinznweisen; ahnliche Erfolge weisen alle nach den neuen Grundsatzen eingerichteten Grundschulen und die Versuchsklassen der Bürgerschulen und einzelne Mittelschulen auf, insbesondere in Wien, wo die Stadtschulbehörde diesem Unterrichtszweig ihre besondere Aufmerksamkeit angedeihen laBt. Die Notwendigkeit der Handarbeit in der Schule ist heute schon so ziemlich Gemeingut aller Lehrer geworden, wenn auch die Einführung durch die hohen Kosten schwer beschrankt ist. Trotzdem gibt es Schulen, wo die Schüler und Lehrer aus eigenen Mitteln Erkleckliches in Tischlerei, Buchbinderei und sogar, der Not der Zeit gehorchend, in der Schusterei geleistet haben. In der körperlichen Erziehung im engeren Sinne wurde aber im Geiste der Reform wirklich GroBes geleistet, ein Verdienst, das zum. überwiegenden Teile dem ebenso tüchtig gebildeten wie unermüdlichen Referenten für körperliche Erziehung im Unterrichtsamte, Professor Dr. Karl Gaulhofer, zu danken ist Die körperliche Ausbildung der Jugend war zwar auch schon im alten Österreich seit dem letzten Jahrzehnt des verflossenen Jahrhunderts durch einzelne MaBnahmen gefördert worden, aber erst ungefahr seit dem Bestande der Republik wurde die Ausgestaltung dieses wichtigen, früher recht stiefmütterlich behandelten 260 Schulwesen Demselben Bestreben entsprang auch die kürzlich verfügte Neuordnung, Verlangerung und Vertiefung der Vorbereitung zur Prüfung fflr das Lehramt für Turnen und Neugestaltung der Prüfungsordnung, welche schon auf die Bedürfnisse des geschilderten modernen Turnunterrichtes Rücksicht nimmt. Um aber den schon im Amte befindlichen Turnlehrern der Volksund Mittelschulen Gelegenheit zur Weiterbildung zu geben, werden regelmaBig Turnfortbildungskurse veranstaltet, in welchen die Teilnehmer in die modernen Prinzipien der körperlichen Erziehung eingeführt werden. Als wichtigstes Fortbildungsmittel für die Turnlehrer ist das Büchlein von Professor Dr. Karl Gaulhofer und Dr. Margarete Streicher (Lehrerbücherei, Deutscher Verlag, Wien), „Grundzüge des österreichischen Volksschulturnens", anzumerken, dem ein solches für die Mittelschulen folgen wird. Der Lehrplan für die „Allgemeine Mittelschule" ist auf der neuen Methode des Schulturnens aufgebaut und setzt die Lehrerschaft ih Stand, die von Dr. Gaulhofer vertretenen Ideen in die Tat umzusetzen. In allen neuen Lehrplanen wird der körperlichen Erziehung ein entsprechend groBer Raum zugewiesen und als Grundsatz aufgestellt, daB überall je eine Stunde des Tages der körperlichen Erziehung gewidmet werden soll. AuBerdem wurde das sogenannte Zehnminutenturnen zwischen und wahrend einzelnen Unterrichtsstunden besonders für die untersten Schuljahrgange anempfohlen. AuBer den lehrplanmaBigen Turnstunden wurde ein sogenannter „Freiluftnachmittag" angeordnet, der von den Turnlehrern abgehalten wird, und der körperlichen Erziehung, besonders dem Spiel und Sport, gewidmet ist. Dazu kommt noch der allmonatliche Wandertag, an welchem Lehrausflüge und Wanderungen stattfinden. Eine standige Einrichtung ist das Mittelschüler-Turn- und Sporttest geworden, daB alljahrlich in den gröBeren Stadten für die Mittelschulen veranstaltet wird und bei dem sich die einzelnen Schulen miteinander an Sport und Spiel messen können. Auch hier ist eine Neuerung im Zuge; wahrend bisher die Spitzenleistungen, ahnlich wie bei allgemeinen Sportkonkurrenzen, für den Sieg ausschlaggebead waren, wodurch körperliche und moralische Nachteile erwuchsen, sollen jetzt die sogenannten „Leistungsprüfungen", wie sie schon bei den Bundeserziehungsanstalten bestehen, eingeführt werden; diese sind so eingerichtet daB nicht die Leistungen einzelner, sondern die 262 Schulwesen Durchschnittsleistungen der betreffenden Altersgruppen und daher gleichmaBig hohe Durchbildung der ganzen SchÜIermasse die Entscheidung herbeiführt Wie groB die auf diesem Gebiete erzielten Erfolge sind, ist daraus zu ersehen, daB Professor Munk von der Gymnastikhochschule in öllerup in Dünemark, einer Hochburg der modernen körperlichen Erziehung, seiner Bewunderung über die Leistungen der österreichischen Turnlehrer, deren er kürzlich einige besuchte, Ausdruck gegeben* hat. Das Bild der Entwicklung des Schulwesens in Deutschösterreich seit dem Umsturze wSre nicht vollstandig, wollte man sich auf diese bisher beschriebenen, ins GroBe gehenden Einführungen und Versuche beschranken. Denn auBer diesen groBzügigen MaBnahmen wurden im Verlauf des dreijahrigen Bestandes der Republik, dort wo eine durchgreifende Neugestaltung nicht möglich war, im Rahmen des Bestehenden (insbesondere in den Jahren 1919 und 1920) eine groBe Menge von Verfügungen getroffen, welche alle auf eine Modernisierung des Schulwesens hinzielen und trotz ihrer Geringfügigkeit im einzelnen, zusammengenommen einen tüchtigen Schritt nach vorwarts im Sinne der Reform bedeuten. Leider gestattet der mir zugewiesene Raum nur, diese Dinge ganz kurz zu streifen. Gewisse Gegenstande wurden in ihrem Stoffgebiet und in der ideellen Einstellung durch den Umsturz besonders betroffen, und zwar naturgemaB am meisten Deutsch, Geschichte und Geographie. Da der Druck neuer Lehrbücher zu Beginn des neuen Aera aus Materialmangel schwierig war und heute wegen der enormen Kosten undenkbar ist, muBten für diese Facher Richtlinien ausgegeben werden, welche es ermöglichen sollten, auch auf Grundlage der alten Lehrund Lesebücher den Unterricht zeitgemaB zu gestalten. Insbesondere ware hervorzuheben, daB in der Geschichte an Stelle reiner Kriegsund Dynastiengeschichte Wirtschafts- und Kulturgeschichte in den Vordergrund gestellt wird. Die österreichische Vaterlandskunde verzichtet naturgemaB auf die bisher übliche ausführliche Behandlung der Nachfolgestaaten und legt das Hauptgewicht auf den Zusammenhang mit Deutschland. GroB ist die Anzahl der Verfügungen auf methodischem Gebiete und solcher, welche die Intensivierung, Individualisierung und psychologische Einstellung des Unterrichtes zum Zwecke haben. 263 Schulwesen Ein wichtiges Organ in dieser Richtung ist das Amtsblatt des Unterrichtsamtes, die „Volkserziehung", das, wie erwShnt, mit einer regelmaBigen padagogischen Beilage versehen ist und allmonatlich Beitrage über Reformfragen aller Art bringt So wurde zum Beispiel in mehreren Abhandlungen das Thema der „Schülerbeschreibung" mit konkreten Vorschlagen von Verschiedenen behandelt, eine Frage, der von den Reformern die gröBte Bedeutung beigemessen wird. Sie soll die heute übliche Beurteilung mit Noten ersetzen und durch alle Schuljahre hindurch geführt, ein möglichst genaues Bild der gesamten psychologischen und physiologischen Entwicklung und der Leistungen des Schülers geben. In dieselbe Linie gehört die Verminderung der schriftlichen Arbeiten überhaupt besonders der Hausarbeiten für Volks- und Bürgerschulen ; gleichzeitig wurden Richtlinien für ihre psychologische Auswertung ausgearbeitet. Zur Intensivierung des Unterrichtes soll die Verminderung der Aniasse zum „Prüfen und Klassifizieren* dienen, welche durch Herabsetzung der Klassifikationsperioden in allen Schulkategorien und die Herabsetzung der Höchstzahl der Schüler einer Klasse auf dreiBig, den allgemeinen Vormittagsunterricht, den erweiterten Unterricht für Begabte gefördert werden soll. Auch durch die Verminderung der Klassifikationsperioden soll die Aufmerksamkeit mehr dem Unterricht zugewendet und die Lehrer durch Vereinfachung der Schreibgeschafte ihrer eigentlichen Aufgabe zugeführt werden. Auf eine neue Grundlage wurde auch die nach dem gegenwartigen System notwendige Aufnahmsprüfung in die Mittelschule gestellt, indem sie aus einer reinen Wissensprüfung mehr zu einer psychologisch begründeten Begabungsprüfung umgewandelt wurde. Ahnliches bezwecken auch die erflossenen Abanderungen der Reifeprüfungsordnung der mittleren Lehranstalten, durch welche das Schwergewicht der Kenntnisprüfung in die Schuljahrsklassifikation verlegt und die Prüfung selbst auf die Feststellung der geistigen Reife im allgemeinen eingeschrankt wird. Verschiedene Anordnungen dienen dazu, den Lehrern, Eltern und Schülern einen ihrer Stellung zur Schule entsprechenden EinfluB auf die Schule zu sichern. Eine gewisse eng umgrenzte Mitwirkung bei den Angelegenheiten der Schule ist den Schülern durch die Schulgemeinde eingeraumt. Die Einrichtung wurde allen Schulen empfohlen und soll hauptsachlich 264 Schulwesen der Selbstverwaltung und Selbsterziehung dienen. Die Satzungen der Schulgemeinde sind vielfach an Stelle der veralteten bloB auf Autoritat gegründeten Disziplinarordnung getreten. Der Erziehungsbeirat, der hauptsSchlich auch den Elternvertretern Gelegenheit geben sollte, auf die Schule EinfluB zu nehmen, ist zwar, wie oben erwShnt, bisher nicht ins Leben getreten, doch wurde die Einrichtung von Elternvereinen an allen Schulen geschaffen, welche sich, wenigstens in den Stadten, besonders in Wien, vollkommen eingelebt und auch schon zu groBen Gruppen zusammengeschlossen haben. Das Recht eines unmittelbaren Einflusses auf Verwaltung der Schule, Lehrplan oder gar Lehrerernennung haben sie zwar nicht und ihre Wirksamkeit bezieht sich vor allem auf Förderung der Erziehung und des Unterrichts im Vereine mit den Lehrern der Schule durch alle tauglichen Mittel, doch werden ihre Wünsche auch in anderen Belangen gehört und nach Möglichkeit berücksichtigt GröBer sind die Rechte, welche den Lehrkörpern eingeraumt wurden. Sie haben nicht nur EinfluB auf die Lehrfacherverteilung Stundenplan usw., sondern auch das Recht, bei Stellenbesetzung (auch der Direktorstellen) Dreiervorschiage zu erstatten. AuBerdem ware zu erwahnen eine demokratische Qualifikations- und Disziplinarbehandlung, Aufhebung des Eheverbotes für Lehrerinnen, EinfluB der Lehrer auf die Schulorganisation im Wege der Lehrerkammern, Vertretung der Lehrer in den Schulaufsichtsbehörden, im Unterrichtsamt, in der neu geschaffenen Lehrbücherapprobationskommission und anderes mehr. Dies ist nur ein Teil der den Lehrern gewahrten dienstrechtlichen Begünstigungen, welche unmittelbar auch auf die Schule und den Unterricht günstig einwirken. Die österreichische Unterrichtsverwaltung hat richtig erkannt, daB ein materiell und rechtlich sichergestellter, seiner wichtigen Funktion im Staatsganzen entsprechender Lehrerstand fahig ist, die ihm gestellten hohen Aufgaben zu erfüllen. Leider ist es mehr als wahrscheinlich, daB die allgemeine Staatskrise auch hier verhangnisvoll werden wird. An materiellen Vorsorgen für die Schulkinder des Schulpflichtalters ware die Schulausspeisung zu erwahnen, welche auf Grund eines Gesetzes eingerichtet wurde und in Wien bereits in Wirksamkeit getreten ist. Die Durchführung obliegt dem durch dieses Gesetz geschaffenen „Amerikanisch-österreichischen Kinderhilfswerk" (sogenannt zum dankbaren Andenken an die von der American Reliëf Administration den österreichischen Kindern geleistete Hilfe). Die Kosten werden zum Teil vom Bund, zum Teil von dem betreffenden Bundesland getragen. 265 Schulwesen Für schwachliche und tuberkuloseverdachtige Kinder wurde die Waldschule bei Wiener-Neustadt und für Wien mit Hilfe der Amerikaner eine solche in der Lungenheilanstalt Alland geschaffen. Leider fehlt es an Mitteln, solche in der nötigen Anzahl einzurichten. Als Ersatz dienen, besonders bei Wien, Tagesheimstatten, wo sich die Kinder wenigstens übertags in der Freiheit der Natur erholen können. Die bisherigen Ausführungen haben das Fachschulwesen aufier Betracht gelassen. Soweit es die höheren Fachschulen, die in österreich vier Jahre umfassen, anlangt, sind tiefergreifende Reformen bisher nicht erfolgt. Als eine der gröBten Errungenschaften mag die Neuerrichtung der „Technisch-gewerblichen Staatslehranstalt in Mödling" (mit Schülerheim) gelten, an welcher als Neuerung auch eine Tiéfbauabteilung eingerichtet wurde. Auch wurde an den Staatsgewerbeschulen Fremdsprachunterricht als Freifach mit pflichtmaBigem Besuch nach erfolgtem Eintritt eingerichtet Die den gewerblichen Staatslehranstalten angegliederten Spezialkurse wurden den geanderten Bedürfnissen der Zeit entsprechend ausgestaltet und vermehrt. Die Handelsschulen, sowohl die niederen zweiklassigen wie die höheren vierklassigen (Akademien), wurden in ihrem Lehrplan modernisiert und an den letzteren eine obligatorische Reifeprüfung eingeführt Eine nützliche Einrichtung ist der sogenannte „Wirtschaftliche Nachrichtendienst", durch welchen die Lehrer der Handelsfacher fortlaufend von den VorgSngen des Wirtschaftslebens unterrichtet werden, um sie in der Schule verwerten zu können. Ferner wurde die Prüfungsordnung für das Lehramt für Stenographie erneuert und eine solche für Maschinschreiben erlassen, Den Absolventen obiger Fachschulen sowie denen der mittleren landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Lehranstalten wurde. unter gewissen Einschrankungen das Recht zuerkannt, als ordentliche Hörer an den betreffenden Hochschulen (Technische Hochschule, Handelshochschule, Hochschule für Bodenkultur) zu studieren. Starke Ansatze hat die Ausgestaltung der Fortbildungsschulen für die schulentwachsene, unmittelbar in den Beruf eintretende Jugend, deren Besuch verpflichtend ist, gemacht; so wurden auf Grund verschiedener Landesgesetze land- und forstwirtschaftliche Fortbildungsschulen geschaffen, die es bisher nicht gegeben hat Zur Förderung der Ausbildung der Fortbildungschullehrer finden alljahrlich in den Hauptferien an der „Technisch-gewerblichen Lehranstalt in Mödling", welche infolge des angegliederten Schülerheims 266 Schulwesen Ansatze, welche die junge Republik gemacht hat, um die Sünden der Monarchie halbwegs gut zu machen, wurden durch die Finanzkatastrophe im Keine erstickt. Abgesehen von den MSdchenschulen fOr das schulpflichtige Alter, also Volks- und Bürgerschule, und die Lehrerinnenbildungsanstalten, den gesetzlichen Fortbildungs- und gewerblichen Frauenberufsschulen, war das Madchenschulwesen bis zum Umsturz fast ganz der privaten Initiative Qberlassen. Die ursprOnglich verbreitete höhere Madchenschultype, das sechsklassige Lyzeum, hat sich schon vor dem Kriege flberlebt und war durch achtklassige Typen ersetzt worden, die denen der Knabenschulen entsprachen; auf den besonderen Entwicklungsrhythmus der Madchen wurde keine Rücksicht genommen und trotz dieser Gleichheit hatten die Madchen bezüglich des Übertrittes an die Hochschulen nur beschrankte Berechtigung. Die Unterrichtsverwaltung der Republik hatte gleich in den ersten Monaten die Verstaatlichung der höheren MSdchenschulen ins Au ge gefafit. Aber die Nachkriegsverhaitnisse verhinderten radikale MaBnahmen und der Staat muBte sich mit fallweisen Subventionen und teilweiser Zulassung der Madchen in die Knabenmittelschulen begnügen. Die Gefahr der Sperrung der meisten Madchenmittelschulen infolge der immer schwerer werdenden Finanzlage hat aber trotz der Notlage des Staates dazu geführt, daB die Rettung eines namhaften Teiles doch ins Auge gefaBt wurde, und zwar in der Form, daB der Staat den Sach- und Personalaufwand für einzelne Klassen aufsteigend übernimmt, gegen die Verpflichtung, daB in diesen nur das niedrige staatliche Schulgeld eingehoben wird. Die Subventionen werden nun nicht mehr in Form von einzelnen Betragen, sondern durch Obernahme einzelner Lehrkrafte in den Staatsdienst erteilt. Wenn auf diese Weise der Bestand der notwendigen Anzahl von Madchenmittelschulen auch gesichert ist, so ist die Differenzierung der Lehrplane für Knaben- und Madchenmittelschulen bisher nicht durchgeführt worden und auch die Madchenschulen, welche nach dem Lehrplan der „Deutschen Mittelschule" oder „Allgemeinen Mittelschule" eingerichtet werden, müssen sich mit dem für Knaben ausgearbeiteten behelfen. Der einzige, allerdings bedeutungsvolle Fortschritt ist die Einführung einer sogenannten „Frauenoberschule", deren Normallehrplan im Juli 1921 ausgegeben wurde und nach dem schon einige Schulen eingerichtet sind. Charakterisch für ihn ist eine Verbindung theoretischer Ausbildung mit der Ausbildung für Hauswirtschaft 268 Schulwesen Kinderpflege, Hygiëne und soziale Erziehung, wie überhaupt die Abkehr von der rein intellektuellen Ausbildung der Madchen deutlich sichtbar wird und die Erziehung zu praktischen Frauenberufen immer mehr an Boden gewinnt. Allerdings v/erden die schönen AnsStze zum groBen Teil durch die katastrophalen, wirtschaftlichen Verhaitnisse zunichte gemacht. Von den beschriebenen Frauenschulen soll der Weg unmittelbar in das Lehrerseminar für hauswirtschaftlichen Unterricht und die Kurse für praktische Hauswirtschaft führen. Gegenwartig findet ein erweiterter zehnmonatlicher Kurs dieser Art an der Kinderklinik des Professors Dr. Pirquet statt, an dem auch Kinderpfiege, Ernahrungskunde und Hygiëne theoretisch und praktisch gelehrt wird und dessen Teilnehmerinnen meist Lehrerinnen sind. Dieser wurde jedoch nur dadurch möglich, daB er von dem amerikanischen Jugend-Rotkreuz erhalten wird. Hauswirtschaftlicher Unterricht in den letzten Bürgerschul- und AbschluBklassen der Volksschule, also für schulpflichtige Madchen, ist theoretisch eingeführt, kann aber mangels finanzieller Mittel oft nicht fortgeführt werden. Die sozialen Berufsschulen, in welchen Fürsorgerinnen für alle Gebiete (Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Trinker, SMuglinge etc.) ausgebildet werden, nahmen zu Beginn der republikanischen Aera einen schönen Aufschwung, müssen zum Teil nun aber sperren, denn die Absolventinnen finden wegen des Abbaues der sozialen Einrichtungen, infolge der Geldnot des Bundes, der Lander und Gemeinden, keine Stellen. Aus demselben Grunde kampft auch das hauswirtschaftliche Bildungswesen mit den gröBten Schwierigkeiten, ohwohl es schon vor dem Kriege eine erfreulich hohe Stufe der Entwicklung erreicht hatte. Wer die Entwicklung des österreichischen Schulwesens seit der Errichtung der Republik unter dem vorangehenden Gesichtswinkel betrachtet, wird zugeben müssen, daB hier AuBerordentliches geleistet wurde. Wie es aber geleitet werden muBte, unter welchen Schwierigkeiten und Entbehrungen, bei mangelhafter Kost, im Winter in ungeheizten Raumen mit nierenden Kindern, das laBt sich nicht beschreiben, das wissen nur die, die es mitgemacht oder wenigstens mitangesehen haben. DaB ihr Werk kein Werk aus einem GuB geworden ist, daran sind die Verhaitnisse Schuld. Obermenschliches wurde geleistes, um das Ganze zu retten, die Zukunft des Volkes und Staates: die Schule und die Jugend. 269 Volksbildung Volksbildung Heinz Kindermann Schon im alten österreich hatte man sich bestrebt, weiten Kreisen der schaftenden Bevölkerung Wege zu ihrer Weiterbildung zu eröffnen. Ja, diese Bestrebungen waren sogar sowohl für das übrige deutsche Sprachgebiet Europas, als auch ffir die übrigen Nationen des alten österreich vorbildlich. Einrichtungen, wie die bereits seit 27 Jahren bestehenden „Volkstümlichen Universitatskurse" — die nach dem Muster der englischen Universitatsausdehnungs-Bewegung geschaffen wurden — und das Wiener „Volksheim", waren weit über die Grenzen des alten österreich hinaus in der Kulturwelt Europas bekannt Nach dem Zusammenbruche und der Aufrichtung des neuen österreich war die Volksbildungsarbeit allerdings vor ganz neue Aufgaben gestellt. Wahrend bisher die Erwachsenenerziehung als eine fakultative Angelegenheit des Einzelnen gelten konnte und daher lediglich als eine privat zu fördernde Frage betrachtet wurde, muBte man sich nun auf den Standpunkt stellen, daB die demokratische Verfassung des neuen Staates dem Einzelnen viel gröfiere Verantwortungen auferlege, als dies früher der Fall war und daher tunlichst jeder Staatsbürger in die Lage kommen müsse, an sich selbst weiterzuarbeiten, um den an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Zudem kam, daB nunmehr aus dem Völkerstaate ein Nationalstaat geworden war und infolgedessen die gesamte kulturelle Einstellung jedes Einzelnen eine vom Grund aus andere werden muBte. Dies war die Ursache, daB nun vor allem der österreichische Staat selbst—der bisher nur einzelne private Volksbildungseinrichtungen gefördert und die volkstümlichen Universitatskurse erhalten hatte — führend an die Spitze trat und zu diesem Zwecke im Rahmen seines Unterrichtsministeriums das schon zu Zeiten der Monarchie von den verschiedensten Seiten erwünschte „Volksbildungsamt" einrichtete. Diesem wurde in erster Linie die Aufgabe zuteil, die Volksbildungsarbeit in den österreichischen Landern organisatorisch, finanziell und insbesondere sachlich zu fördern. Der besonderen Schwierigkeit, daB der Volkscharakter der Bewohner der einzelnen österreichischen LSnder gemaB der landschaftlichen und damit nicht nur stammes- 270 Volksbildung maBigen, sondern auch volkswirtschaftlichen Verschiedenheit in vieler Hinsicht ein grundverschiedener ist und dementsprechend die volksbildnerisch in den einzelnen Landern einzuschlagende Vorgangsweise diese Eigenarten berücksichtigen muB, wurde dadurch begegnet, daB dem Volksbildungsamt in jedem der österreichischen Lander ein Landesreferent für das Volksbildungswesen beigegeben wurde, der zwischen den Volksbildungseinrichtungen und dem Volksbildungsamt zu vermitteln hat, beziehungsweise die Förderung des Volksbildungswesens innerhalb des Landes durchführt Die oben angeführten Gründe waren aber auch der AnlaB, daB die Volksbildungsbestrebungen, die sich bisher nur auf die ganz groBen Stadte bezogen, nunmehr auch auf kleinere und kleinste Orte übergriffen. Nicht nur entstanden nun in einzelnen Landeshauptstadten Volkshochschulen, sondern auch in kleineren Orten wurden teils neue Volksbildungseinrichtungen geschaffen, teils übernahmen Vereinigungen mit ahnlichen Zielen die Arbeit, teils wurden eigene neutrale „Ortsbildungsrate" — in Niederösterreich allein über 70 — geschaffen. In bauerlichen Orten schlieBlich ist in den meisten Fallen die Schule zugleich auch das Zentrum der Volksbildungsarbeit: die fast überall schon bestehende Elternvereinigung gibt den Grundstock des Publikums, die Lehrer, die Geistlichen, der Arzt, der Richter sind die Vortragenden. Es ist auBerordentlich interessant, zu sehen, wie sich nun im Laufe der letzten Jahre — vielfach sogar unabhangig voneinander — eine Reihe von typischen Formen der Volksbildungsarbeit herausgebildet haben. Das schon erwahnte Wiener „Volksheim" erwuchs seinerzeit aus der Notwendigkeit, 'den Hörern der volkstümlichen Universitatskurse erganzende seminaristische Übungen zu schaffen. Diese Übungen (Fachgruppen) stellen auch noch heute den Hauptbestandteil des „Volksheims" dar und sind nichts anderes als die heute als „Arbeitsgemeinschaften" bezeichneten Lehrkreise. Daneben gibt es dort Kurse und an Samstagen und Sonntagen Einzelvortrage und Konzerte. Die Zahl der regelmaBigen Fachgruppen- und Kursteilnehmer des „Volksheims" zahlt nach vielen Tausenden, so daB auBer dem schönen Volkspalast im Koflerpark auch noch zwei groBe staatliche Mittelschulen in anderen Stadtteilen (Leopoldstadt und Simmering) in den Nachmittags- und Abendstunden herangezogen werden muBten. Dabei muB es der Leitung des „Volksheims" hoch angerechnet werden, daB aus alledem keine Massenbildungsstatten im schlechten Sinne des Wortes wurden, sondern daB alle die Bildungs- 271 Volksbildung eifrigen dennoch in kleine Gruppen zusammengefaBt und streng individuell behandelt werden. Bemerkenswert für den Ernst der Beteiligten erscheint vielleicht noch, daB die einzelnen Fachgruppen ihre eigenen Fachbibliotheken und Sammlungen besitzen, die von den Teilnehmern selbst erhalten werden. Auch unterscheiden sich die Fachgruppen von den landlaufigen Arbeitsgemeinschaften dadurch, daB deren Teilnehmer der betreffenden Fachgruppe meist durch eine ganze Reihe von Jahren angehören und so ein umfangliches Stoffgebiet mit gröBter Intensiteit behandelt werden kann. Das gleiche Kurs- und Fachgruppensystem hat sich in ahnlicher Weise bei den Veranstaltungen des Wiener Volksbildungsvereines (der ein eigenes groBes Volksbildungshaus besitzt) durchgesetzt. Doch liegt die Starke dieses Vereines in vieler Hinsicht auch bei seinen vielen, auf eine Reihe von Wiener Bezirken verteilten Volksbüchereien. Gerade das Volksbüchereiwesen wird ja nach kurzem Stillstand wieder in hohem MaBe aufgenommen. In Wien selbst pflegt es noch der Verein „Zentralbibliothek" mit einer ganzen Anzahl von Filialen und der katholisch orientierte Verein „Volkslesehalle". Neuerdings beginnt auch die Wiener Urania sich dem Büchereiwesen zuzuwenden. Letztere stellt einen eigenartigen, in den übrigen europaischen Staaten so gut wie gar nicht bekannten Typus der groBstadtischen Volkshochschule dar. Sie galt zunachst als Parallel-Unternehmen zur Berliner Urania; doch schon bald ging der Kreis der Veranstaltungen Qber das von dieser Gebotene hinaus: man beschrankte sich nicht mehr allein auf das naturwissenschaftlich-geographische Gebiet, sondern ging auch ins Literarisch-Historische über und begann allmahlich neben den Lichtbilder- und Einzelvortragen Kurse zu veranstalten, denen man schlieBlich seit einigen Jahren Arbeitsgemeinschaften in groBer Zahl beifügte. Daneben hat die Urania in dankenswerter Weise durch ihre vorbildlichen Filmaufführungen und Volksunterhaltungsabende den erfolgreichen Kampf gegen die Auswüchse des Kinos aufgenommen. Der Zulauf der Urania aus allen Kreisen der Bevölkerung hat sich so auBerordentlich gesteigert, daB nicht nur mehrere Mittelschulgebaude in den Nachmittags- und Abendstunden herangezogen werden müssen, sondern die Urania auch darangeht, auf einem von der Gemeinde Wien unentgeltlich beigestellten Grunde in Mariahilf (Geschaftsviertel) ein groBes, schönes Zweighaus (siehe Abb.) zu erbauen. Das Vorbild der groBen Wiener Volksbildungseinrichtungen beeinfluBte naturgemaB auch die Neugründungen in den einzelnen gröBeren Stadten der österreichischen Lander. Vor allem war es der Typus der 272 Aus der „Österreichischen Kunsttopographie" Salzburg: Stift Nonnberg, Altar im Nonnehchor Volksbildung österreichischen Landern etwa 30 Musealarbeitsgemeinschaften veranstaltet. Wie aber die Musealarbeitsgemeinschaften die Sammlungsbestande als Zentrum des volksbildnerischen Vorgehens in den Mittelpunkt stellen, so stellt eine andere volksbildnerische Durchführungsform, die sich vor allem in den kleinen Siedlungen der österreichischen Alpen vielfach einbürgerte, die Bestande der Volksbüchereien in den Mittelpunkt: es ist die Form des Lesekreises. Der Lehrer, der Arzt oder der Pfarrer versammelt in einem gemütlichen Raum, in dem womöglich die Volksbücherei untergebracht ist, die lesefreundlichen, nach Weiterbildung sich sehnenden Bewohner abends um sich; da wird ein gutes Buch — sei es aus der schönen Literatur oder aus dem einen oder anderen Wissensgebiete—vorgenommen und gemeinsam gelesen. An die Lektüre aber schlieBen sich eingehende gemeinsame Besprechungen, die durchaus in jenem Ton gehalten sind, den die Menschen auch sonst in ihrem Leben gewöhnt sind. Und bei diesen Besprechungen werden die einzelnen Möglichkeiten, das vorliegende Buch als Zentrum zu benützen, von dem aus eine strahlenförmige ErschlieBung eines Weltbildes aufdammern kann, vom Volksbildner gar wohl gewertet. Freilich erscheint es dazu notwendig, daB das Volksbüchereiwesen auf einer gesunden Qrundlage beruhe. Wahrend früher auch in österreich das System des „Hinauflesens" üblich war, demzufolge man in die Bibliothek ebenso eine Eschtruth oder Karl May, wie einen Gottfried Keiler einstellte und glaubte, der Benützer werde sich von May zu Keiler „emporlesen", hat man nun allmahlich einsehen gelernt, daB dies einen FehlschluB bedeutet und genau das Gegenteil der Fall ist. Deshalb gehen die österreichischen Volksbüchereien über Anregung des Volksbildungsamtes nunmehr fast durchwegs über zum Hofmannschen System, das seinen Namen von seinem Begründer, dem Leiter der Leipziger Bücherhallen, hat Diesem zufolge werden in die Volksbücherei ausschlieBlich wertvolle Bücher eingestellt, so daB dem falschen Publikumsgeschmack von vornherein keine Konzessionen gemacht werden; doch erfahrt der Komplex des Wertvollen von vornherein auch eine Grenze nach oben; auch das zu Hohe muB ausgeschaltet werden, um dem Leser keine unnötige Enttauschung zu bereiten oder ihn keinen MiBverstandnissen auszusetzen. Ein weiterer Grundsatz des Hofmannschen Systems, der sich in österreich bereits starke Geltung verschafft hat, ist die obligatorische Entlehnberatung und damit im Zusammenhange die Pflicht persönlich zu entlehnen. Dadurch, daB der Bibliothekar in 274 Volksbildung jedem einzelnen Falie mit dem Entlehner Rücksprache pflegt, wird gewahrleistet, daB das richtige Buch in die richtige Hand kommt. Solche Volksbüchereien gibt es in Österreich etwa fünfhundert. Sie werden meist von Vereinigungen geleitet die sich — wie etwa der Niederösterreichische, Oberösterreichische, Salzburger Volksbildungsverein — über ein ganzes Land, oder von solchen, die sich — wie etwa die „Südmark" — über den ganzen Staat erstrecken. Daneben bestehen noch viele Pfarrbüchereien und allmahlich auch eine Reihe von Gemeindebtichereien. Sowohl im Volksbüchereiwesen, als auch in der ganzen übrigen Volksbildungsarbeit in Österreich kommt — bei der Mehrzahl der Veranstaltungen, vielleicht nur abzusehen von einzelnen ausschlieBlich parteimaBigen Bildungseinrichtungen — ein Moment zum Ausdruck, das bei den Volksbildungseinrichtungen der übrigen europaischen Staaten fehlt: die Betonung des Heimatlichen. Der Deutschösterreicher hangt mit allen Fasern seines Herzens an seiner Scholle, Hebt seine Walder, seine schneebedeckten Berge, seine milde, 'ruinenreiche FluB landschaft, seine romantischen Seen und aber auch seine'vielen reizvollen Ortschaften mit all ihren künstlerischen Denkmaiern vergangener Zeiten. österreich war ja der Boden, den das Barockzeitalter mit Reichtümern an künstlericher Produktion gesegnet hat. Deshalb beginnt sein Schauenlernen, seine WelterschlieBung allemal bei heimischer Landschaft, bei heimischem Schaffen, bei heimischer Sitte, Die viele Jahrhunderte alten Volkskulturtraditionen des deutschösterreichischen Bürger- und Bauerntumes tun dazu ein Übriges. In wievielen österreichischen Alpentaiern leben nicht noch die schönen alten Volkslieder, Volksschauspiele, Volkstanze! Gerade die Zeit nach dem Kriege hat die Österreicher wieder besinnlicher gemacht und gerade jetzt leben alle die Brauche der Vergangenheit wieder auf und schaffen eine Kulturatmosphare, die bei Gott nichts treibhausmaBiges an sich hat, sondern, wie es eben bei einer wahren Volkskultur immer sein sollte, als organisch gewachsen gelten kann. Nach einem organischen, volksgeborenen Wachstum der österreichischen Volksbildungsarbeit liegen aber auch alle jene Hilfen hin, durch die das Volksbildungsamt die österreichische Volksbildungs-' arbeit zu stützen sucht. Eigene Volksbildnerkurse, die landerweise getrennt abgehalten werden und bei denen auf die Besonderheiten des stadtischen und landlichen Bildungswesens besonders Bedacht genommen wird, trachten die Lehrer, Geistlichen, Arzte, Richter Ingenieure, Rechtsanwaite usw. einzuführen in die methodischen 18" 275 Volksbildung Grundlagen der Kulturarbeit an Erwachsenen. Eigene Volksbüchereileiterkurse dienen zur Heranbildung geschulter Volksbibliothekare. Eine offizielle Monatsschrift „Volksbildung" (Verlag BraumOller, Wien, IX ) stellt die geistige Verbindung der österreichischen Volksbildner her und unterrichtet über Erfolge und Neuerungen. Eine im österreichischen Schulbücherverlage (Wien, L) erscheinende Sammlung von Heften, die den Titel „Führer für Volksbildner" führt, unterrichtet über besonders wichtige Arbeitsgebiete des Volksbildungswesens mit spezieller Berücksichtigung der österreichischen Verhaitnisse. Weiters hat das Volksbildungsamt am Sitze jedes Landesreferenten für das Volksbildungswesen eine für die Volksbildner des Landes als Entlehnbibliothek zu benützende, eigene volksbildnerische „Fachbücherei" eingerichtet. Ein groBes Lichtbilderreservoir, das auf vier Lichtbildleihstellen verfeilt und nach sachlichen Reihen (mit Vorbereitungsbehelfen) geordnet ist, steht zugebote; Lichtbilderapparate werden gegen geringes Entgeit verliehen. Weiters stehen den Volksbildnern Wanderausstellungen und binnen kurzem auch Wan derkoffer für bildende Kunst zur Verfügung. SchlieBlich aber trachtete das Volksbildungsamt angesichts der schwierigen valutarischen Verhaitnise das Volksbüchereiwesen durch Herausgabe einer eigenen „Deutschen Hausbücherei" zu fördern (erscheint im Schulbücherverlag, Wien, I.). Hier erscheinen Novellen, Romane, Dramen, aber auch allgemeinverstandliche Bücher über einzelne Wissensgebiete, über technische, naturwissenschaftliche, historische Fragen; hier erscheinen Biographien bedeutender Künstler ebenso, wie Monographien über einzelne Stande. Von hier aus wandert das gute Buch in die breitesten Volkskreise — und nicht nur durch die Volksbücherei, sondern auch infolge des billigen Preises als Eigenbesitz. Hiedurch wird es mit ein Helfer zur notwendigen Wiederaufrichtung eines wahren Familiengeistes und einer wahren Heimkultur, die auch durch die den Österreichern eigene musikalische Begabung (Hausmusik) eine vielfaltige Förderung erfahrt So wird im neuen österreich rastlos an dem Neubau und der Wiederaufrichtung einer echten, volkstreuen und heimatbewuBten Volkskultur geschaffen, auf daB kommende, schönere Zeiten ein Österreichertum voll ethischer Kraft und voll des geistigen und seelischen Reichtums finden mögen, die es befahigen, seine europaische Sendung in Würde zu vollführen. 276 Österreichs kulturelle Sendung Anton Reichel Dis nach dem unglücklichen Ausgange des Krieges die alte Habs| l burger Monarchie zerfallen war und das Friedensdiktat von Saint Germain das Gebiet der neu geschaffenen Republik Österreich so knapp umrissen hatte, daB trotz jahrhundertelanger kultureller, ethnischer und politischer Zusammengehörigkeit gerade solche Gebietsteile abgetrennt und glücklicheren Sieger- und Nachfolgestaaten zugewiesen worden waren, die durch ihre Lage, Produktivitat und durch den Wert ihrer Bodenschatze den wirtschaftlichen Bestand des Landes gewahrleistet hatten, da wurde die Frage, ob die junge Republik überhaupt lebensfahig sei, von berufener Seite des öfteren aufgeworfen und alle Anzeichen lieBen befürchten, daB jene Recht behalten sollten, die die Lebensfahigkeit entschieden verneinten. Indessen sind drei lange, sorgenvolle Jahre ins Land gezogen. Trotz der unerhörten Anstrengungen, die das Land macht, um so weit als möglich aus eigener Kraft die wirtschaftliche Lebensfahigkeit zu erweisen, ist es seitdem wohl jedem Einsichtigen, der guten Willens ist, klar geworden, daB auf die Dauer Österreich nur durch die Angliederung an ein gröfieres Wirtschaftsgebiet wird bestehen können. Da nun einerseits eine Angliederung an das deutsche Kultur- und Wirtschaftsgebiet — die einzige sachlich begründbare Lösung des Problems — aus politischen Gründen derzeit nicht durchführbar erscheint, andererseits auch in Deutschland dermalen warnende Stimmen laut geworden sind, die den AnschluB eines finanziell völlig herabgekommenen Staates an das ebenfalls mit schwersten Nöten kampfende Reich mit begreiflicher Sorge betrachten, so wird es gerechtfertigt erscheinen, sich über zweierlei Fragen Klarheit zu verschaffen : Zum ersten, welche positiven Werte besitzt österreich heute noch, die geeignet erscheinen, im Leben der Nationen Österreichs Geltung durchzusetzen und zum anderen sind diese Werte die ge- 277 Österreichs kulturelle Sendung eignete Grundlage, um die von einer deutschen Bevölkerung bewohnten Gebiete, die durch den Friedensvertrag von Saint Germain zur Republik Österreich vereint sind, eine staatliche Sonderexistenz zu sichern ? Die letzte Frage schlieBt die Möglichkeit einer Aufteilung der österreichischen Lander in sich. So schmerzhaft dieser Gedanke allein schon dem österreicher sein muB, so scheint mir doch im gegenwartigen Augenblicke die Erörterung desselben gerechtfertigt. Der Hauptgrund, weshalb eine Aufteilung österreichs nicht erfolgte, ist nicht die Achtung vor österreichs geschlossener ethnischen und kulturellen inneren Einheit, sondern die Uneinigkeit der Nachbarstaaten, die sich gegenseitig in Schach halten. Die Möglichkeit derselben ist aber dauernd vorhanden. Sollte sich eine „Sanierung" der Republik als dauernd undurchführbar erweisen, können Ereignisse eintreten, deren Tragweite nicht abzusehen sind. Gerade aber das Vorhandensein einer Mentalitat, die eine ZerreiBung der österreichischen Lande in Frage zu stellen bereit ist, rechtfertigt unsere Besorgnisse, daB jene Machte, die im Inlande wie im Auslande über die Geschicke österreichs entscheiden, weder von der politischen noch von der kulturellen Bedeutung österreichs eine klare Vorstellung zu besitzen scheinen. Faktoren, die weit entfernt nur eine innere Angelegenheit des Landes zu sein, letzten Endes ein Problem der Weltkultur darstellen. Um diese hart erscheinende Anschauung zu verdeutlichen, wird es wünschenswert sein, etwas weiter auszuholen. österreich wurde, wie der Name — Ostmark — schon besagt, gegründet als das weitest nach dem Osten vorgeschobene Bollwerk abendlandischer Kultur und Gesittung. Der unmittelbare AnlaB zu dieser vorerst rein politischen Gründung war der, daB Karl der GroBe nach der Niederwerfung der A var en, die sowohl Deutschland als auch Italien durch wiederholte Plünderungen und Einfalle beunruhigt hatten, gegen weitere Fahrnisse von dieser Seite eine feste Grenzwehr schaffen wollte. Als spater, zu Beginn des zehnten Jahrhunderts, wieder die Einfalle der noch nicht seBhaft gewordenen Magyaren immer drückender wurden, erneuerte Kaiser Otto 1. nach dem Siege am Lechfelde über die Magyaren die Ostmark. Im Jahre 976 wurde dann durch Otto II. das Land, das urkundlich schon im Jahre 996 als „Ostarichi8 bezeichnet wurde, an Leopold 1. aus dem Hause Babenberg verliehen, dessen Nachkommen ihre Residenz nach Wien verlegten und bis zum Jahre 1246 in der Ostmark herrschten. 278 Österreichs kulturelle Sendung Seit den Tagen der Gründung ist österreich seiner Aufgabe, die Grenzwache des Abendlandes gegen den Osten zu bilden, treu geblieben. Zweimal brachen sich im Herzen des Landes die die europSische Zivilisation bedrohenden türkischen Heereszüge, die zweimal — 1529 unter Soliman II. und 1683 unter dem GroBvezier Kara Mustapha — bis Wien vorgedrungen waren. Der Fall Wiens hatte die politische Entwicklung Europas in wesentlich andere Bahnen gelenkt, die abendlandische Gesittung aufs schwerste bedroht. Das letztemal erfüllte das allerdings zum groBen Reiche gewordene Österreich seine Sendung, als es zu Beginn des Weltkrieges (1914) den unaufhaltbar scheinenden Vormarsch der Russen in langwierigen Kampten Halt gebot, die Blüte seiner Jugend hinopfernd. Nicht Aufgabe dieser Skizze kann es sein, zu berichten, wie aus der kleinen Ostmark sich im Laufe der Jahrhunderte die Donaumonarchie entwickelte. Eines muB aber betont werden: die Mission, die dem Lande bei seiner Gründung zugewiesen wurde, hat sie bis auf den heutigen Tag getreu erfüllt; es blieb das südöstlich weitest vorgeschobene Bollwerk abendlandischer Gesittung. Der Oriënt umfangt uns, lenken wir ostwarts über die Grenzen des Landes unsere Schritte. Nach und nach, als sich die politischen Verhaitnisse in Osteuropa zu stabilisieren begannen, ein ProzeB, an dem österreich entscheidend mitgewirkt hatte, trat die politische Aufgabe österreichs zurück gegenüber der kulturellen: der Verbreitung westlicher Kultur in den östlichen Gebieten des Kontinents. Ober das hinaus aber wurde das Land der Vermittler jener Werte, die der Osten und der Oriënt geschaffen; die Eingangspforte, durch die der Osten den Kuituren des Westens nahe gebracht wurde. Als deutsche Gründung blieb Österreich aber ein organisches Glied des deutschen Volkes, das, Mitteleuropa umfassend, der Hauptfaktor politischen wie kulturellen Lebens des nördlichen Europas wurde, dem im Süden des Kontinents in mannigfachen geistigen, politischen und wirtschaftlichen Wechselbeziehungen die italienische Welt gegenüberstand, wahrend der slawische Osten noch kaum zu eigenbewuBtem Leben erwacht war. Deutschland und Italien geben im wesentlichen der europaischen Kultur ihr Geprage. Als Fürsten aus dem Hause Habsburg die deutsche Kaiserwürde erhielten, wurde die Bedeutung der „österreichischen Erblande" vertieft, da sie zum politischen wie geistigen Zentrum des Reiches wurden. Zur Zeit der gröBten Ausdehnung der Habsburgerherrschaft 279 Österreichs kulturelle Sendung unter Kaiser Karl V., als die Sonne in österreichs Landen nicht unterging, als auBer den deutschen Landen Spanien und die Niederlande und überseeische Besitzungen Teile des österreichischen Weltreichs waren, da war Wien ein Vorort der Welt. Dieses unnatürliche Gefüge, das keine innere Berechtigung besessen hatte, zerfiel gar bald. Die deutschen Lande und die Gebiete, die die österreichische Hausmacht darstellten, also vor allem Böhmen, Ungarn, Teile von Italien und die AlpenlSnder schlossen sich enger zusammen. Wieder war es Wien und das engere österreich, wo die weitverzweigten Füden politischer wie kultureller und wirtschaftlicher Bindungen zusammenliefen. Das achtzehnte Jahrhundert, die Zeit Kaiser Karl VI. und der Kaiserin Maria Theresia, dürfen als die Glanzzeit politischen und kulturellen Geschehens bezeichnet werden. Nach den napoleonischen Kriegen lockerten sich die Bande zwischen dem deutschen Reiche und den österreichischen Gebieten. Das letztemal erstrahlte Wien in altem Glanze, als nach dem Sturze Napoleons am Wiener Kongresse (1815) alle Vertreter der Macht, des Geistes und der Gesellschaft in Wien zusammenströmten, als die Neuordnung Europas hier durchgeführt werden sollte. Die gelockerten Bande zwischen dem Deutschen Reich und österreich wurden vollends zerrissen durch den für Österreich unglücklich endenden Bruderkrieg von 1866; österreichs Vormachtstellung im Deutschen Reich ging verloren; die kulturelle Einheit blieb aber aufrecht, ja die neu aufflammende nationale Idee schlang die Bande enger und enger und Bismarcks politisches Genie wuBte die getrennten deutschen Staaten in einem Bündnisse auf Leben und Tod zu vereinen. Erst als der Popanz von der „Selbstbestimmung der Nationen" die deutsche Mentalitat für die Gewaltfrieden von Versailles und Saint Germain gefügig gemacht hatte, wurde sinnlos auseinandergerissen, was organisch zusammengehört und was durch jahrhundertelange Zusammengehörigkeit aufeinander eingestellt war und naturnotwendig zueinander strebt: das Deutsche Reich und das seiner ertragreichsten Gebiete beraubte kleine österreich. So waren die zu vier Fünfteilen von dem Wall der Alpen bedeckten, an Bodenschatzen armen, engeren österreichischen Lande bis in die Tage- des politischen Zusammenbruches im Jahre 1919 ein geistiger Mittelpunkt von europaischer Bedeutung gewesen. In jahrhundertelanger Tradition wurden aber auch hier jene Anlagen und FShigkeiten geübt und ausgebildet, die jene zentrale Stellung erheischte. 280 Aus der „Österreichischen Kunsttopographie' Salzburg: Residenz, Weifier Saai österreichs kulturelle Sendung Trotz der Fülle der sowohl aus dem Süden als auch aus dem Osten eindringenden Kulturströmungen blieben österreich und Wien sich stets ihrer deutschen Sendung bewuBt. Die natürliche Lage des Landes aber brachte es mit sich, daB hier die deutsche Welt mit fremden, zum Teil hochstehenden Kuituren in enge Berührung kam, deren Fremdartigkeit und deren Farbenpracht dem Nordlander gleich anziehend wie bedrückend erscheinen. Die dauernde Vertrautheit mit diesen Werten drückte aber dem Deutschtum Österreichs eine besondere Note auf. Erinnern wir uns doch, daB heute noch dér Name Wien dem Reichsdeutschen, namentlich dem Norddeutschen, mehr bedeutet als einen bloBen geographischen Begriff, als eine der vielen deutschen Provinzen: er scheint mit einem Gefühlswert verbunden, der schwer zu definiëren ist, der aber die Besonderheit österreichs zum Inhalt hat. DaB der angeführte AssimilationsprozeB aber in der Weise vor Sich gehen konnte, das scheint nicht nur durch die besondere geographische Lage der österreichischen Lande und seine politische Weltgeltung allein bedingt zu sein, sondern auch in einer ganz eigenartigen Veranlagung der deutschen Psyche seinen letzten Grund zu haben. Es ist eine nicht zu verhehlende Tatsache, daB kaum ein anderes Kulturvolk, so wie das deutsche, geneigt ist, eigene Leistungen zugunsten fremdlandischer zu unterschatzen. Andere Nationen, und zwar gerade die, die bezüglich ihrer Weltgeltung einen weiten Bliek bekunden, bezeugen in ihrem Geistesleben eine alles Fremde ausschlieBende Beschrankung, die dem Deutschen oft kaum verstandlich sein mag. Gerade das Gegenteil charakterisiert jedoch die Wesensart des Deutschen: Schon das Sprichwort halt bei uns bezeichnenderweise von dem nicht viel, was „nicht weit her" ist und berührt damit einen Gedankengang, der jedem Auslander, namentlich dem Romanen und Englander ganzlich unverstandlich bleiben muB. Diese Geistesrichtung brachte es aber mit sich, daB überragende Persönlichkeiten im eigenen Lande spat oder gar nicht jene Beachtung und jenen EinfluB auf das kulturelle und politische Leben des Volkes erlangten, der ihnen zü Nutz und Frommen der Nation zugekommen ware. , Immer bereit, den plumpsten Tauschungen zu erliegen, hat die deutsche Welt nach Heldenleistungen, die die vielbesungenen Taten der Antike in Schatten steilten, mit einer wahren Wollust des Selbstherabsetzens den „sacro egoismo" der Selbsterhaltung aufgegeben — und ist unterlegen. Mag dies furchtbare Geschehen auch weiten Kreisen 281 Osterreichs kulturelle Sendung unseres Volkes die Augen geöffnet haben, so erleben wir es dennoch nach wie vor, Tag für Tag, daB der kaum der deutschen Zunge machtige, eingewanderte Fremde, der ganzlich unbeschwert von der im UnterbewuBtsein des Deutschen verankerten stammesgeschichtlichen Entwicklungsreihe in nomadenhafterUnverantwortlichkeit dem deutschen Volke das vorzuschreiben sich unterfangt, was nur ihm selbst förderlich sein kann, von weiten Kreisen des Volkes zum Propheten erhoben wird, wahrend der im Lande Geborene und Gewordene, der mit seinem Volke lebt und leidet, ungehört bleibt, verlacht, ja sogar verdachtigt wird. Eine Folge des unheilvollen Kosmopolitismus, der in der Wesensart des Deutschen fest verankert ist. Sehen wir aber ins Ausland und fragen nach jenen deutschen Geistesheroen, die auch dem Auslande die Anerkennung abzuringen vermochten, so finden wir, daB es gerade jene waren, die bewuBt und unbekümmert ihr Deutschtum bekannten. So haben zum Beispiel Richard Wagner undBismarck, um nur zwei auffallende zu nennen, nicht zuletzt sich die Welt erobert, weil sie als bewuBte Deutsche das Ausland in die Schranken forderten. Der Kosmopolitismus, der hierzulande hoch im Kurse steht, wird im Auslande nicht hoch notiert! So übersehen oft geistig hochstehende, von deutscher Kultur erfüllte Juden, daB ihr meist stark betonter Intetnationalismus nur eine verschleierte Form des Nationalismus darstellt, denn ihr Auditorium ist eben auch im Auslande, und dort vielleicht mehr als in der Heimat, eben nur das Ausland, soweit es von ihrer eigenen Rasse reprasentiert wird. Also ein weltumspannender Nationalismus! Und doch: So beklagenswerte Folgen aus der Neigung zum Kosmopolitismus für den Deutschen erwuchsen und taglich neu erwachsen, er gehört zum Bilde. Wir können ihn uns nicht aus der Wesensart der Deutschen wegdenken, ohne bedeutungsvolle Züge zu verlöschen. Der Kosmopolitismus bedeutet auch eine Starke der Nation. Ihm verdankt sie unendlich viel da er den Gesichtswinkel bedeutungsvoll geweitet hat Richard Wagn er, einer jener GroBen, die als geistige Führer noch viel zu wenig gekannt und gewürdigt werden, streift gelegentlich dieses Thema. Er schreibt: „Es ist das Besondere des deutschen Bildungsganges, daB er Motiv und Form seiner Bildung sich meist von auBen entnimmt, daB er somit einen Bildungskomplex sich anzueignen sucht, dessen Elemente nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit, ihm ursprünglich ferne liegen. Wahrend die romanischen Völker einem bedenklichen Leben auf den Augenblick hin sich überlassen und eigentlich nichts recht empfinden, als was die unmittelbare 282 österreichs kulturelle Sendung Gegenwart ihnen bietet, baut der Deutsche die Welt der Gegenwart sich aus den Motiven aller Zeiten und Zonen." Ein Bliek auf die deutsche Kunst beleuchtet uns diese tiefinnerst empfundene Beobachtung. Dürer, ein Vertreter des Volkes, dem es heilig ernst war um die Kunst seiner Nation und der in seinen Vi er Aposteln der Münchener Pinakothek ganz bewuBt seiner Nation ein Vermachtnis hinterliefi, in dem er als Künstler Wegweiser sein wollte gerade in jenen Fahrnissen, die dem Deutschen eh und je so gefahrvoll werden soll ten: der Hingabe an falsche Propheten und falschangebrachter Beharrlichkeit. — Dürers eigene Entwicklung lehrt uns jenes eigentümliche, allumfassende Streben erkennen. Aus nordischem, gotischem Kunstempfinden herausgewachsen, drangt es ihn schon in jungen Jahren nach den neuen künstlerischen Offenbarungen, die dem Süden wie ein StrauB voll aufgeblühter Rosen in den SchoB fielen — den Schöpfungen der italienischen Renaissance. Er bemachtigt sich leidenschafilich aller in seine Heimat dringenden AuBerungen der neuen Kunst, zieht dann selbst über die Alpen und nimmt Form, Farbe und Geist der neuen Kunstweise begierig in sich auf. Heimgekehrt, innerlich von all' den unerhörten künstlerischen Eindrücken bereichert, in seinem KünstlerbewuBtsein gehoben, mit erweiterten Bliek begabt, die groBen Formen beherrschend, schafft er das deutscheste Werk, das wie eine Offenbarung der deutschen Seele, Fühlen und Sehnen der Nation zusammenfassend zum Ausdruck brachte: diegroBe Holzschnittfolge der Apokalypse, ein Werk, das ganz Dürer einen Gegenpol zur Renaissance darstellt. Und dreihundert Jahre spater zogen wieder deutsche Künstler über die Alpen und in Rom erwuchs jene keusche und innige Kunst der Nazarener, die, wenn auch nicht in so elementarer Wucht wie Dürers weltumspannendes Genie, deutsche Denkungsart in malerische Formen goB. An den edlen groBen Linien der römischen Landschaft geschult, erschloB sich noch spater einer jüngeren Generation der Sinn für die heimatliche Natur. Wenn deshalb ein durchaus ernst zu nehmender französischer Gelehrter, Emile Male, in einer wahrend des Krieges entstandenen Schrift, „Studiën über die deutsche Kunst", der deutschen Nation die Kraft originellen Schaffens rundweg abspricht, so darf uns das nicht wundernehmen. Es kann uns ganz im Gegenteil als neuer Beleg für die besprochene Erscheinung dienen. Male beobachtete sehr richtig den den Deutschen eigentümlichen Zug, die Gegenwart aus den Motiven aller Zeiten und Zonen aufzubauen. Dürfen wir ihm aber als echten 283 Osterreichs kulturelle Sendung Franzosen es verargen, daB er übersah, ja Qbersehen muBte, daB gerade das, was er zur Verkleinerung deutscher Wesensart anzuführen sich berechtigt hielt, deren GröBe, deren Weite ausmacht? Die Fahigkeit, Stofte und Motive aller Zeiten und Zonen zum Stoffe eigener künstlerischer Schöpfungen zu machen, sie durchaus im deutschen Sinne umzudeuten und seelisch zu verlieten, so daB sie als dessen ureigenste, nur sein Empfindungsleben widerspiegelnde Werke neu geboren werden. Wer diesen ins Weite gehenden Zug deutschen, germanischen Fühlens nicht zu erfassen mag, wer nicht aus dem Rahmen nationaler Begrenztheit herauszutreten vermag, der ist ferne davon, die deutsche Seele zu verstehen. Der Deutsche ist Kosmopolit. Ein einzigartiges Denkmal seines Kosmopolitismus ist die in ihrer Art beispiellose Erscheinung der „deutschen Weltliteratur", jene von Herder angebahnte Sammlung von Übertragungen der besten auslandischen literarischen Werke ins „geliebte Deutsch", der keine andere Nation etwas Ahnliches gegenüberstellen kann. Ganz besonders stark tritt nun diese Eigenart deutschen Fühlens in Österreich in Erscheinung; einem Lande, das durch seine Lage geradezu berufen erscheint, fremde Einflüsse aufzunehmen. Seine Stellung an der Schwelle des Orients, als Grenznachbar Italiens, verlieh dem Deutschtum der Ostmark von jeher innerhalb des Gesamtdeutschtums eine besonders stark ausgeprSgte Sonderfarbung. Hier in Österreich wurden viele dieser südlichen Kulturwerte dem deutschen Wesen in Jahrhunderte langer Berührung assimiliert. Wie die Biene aus den verschiedensten Blüten nascht und daraus den Honig erzeugt, der zwar ihr ureigenstes Werk ist, an einem schwer beschreibbaren Dufte aber noch die Blumen ahnen laBt, die ihr den Stoft geliefert — so saugte sich das Deutschtum Österreichs an seinen von betaubendersinnlicher Pracht überquellenden Nachbarkulturen test und baute daraus jene leichtbeschwingten Schöpfungen, die als solche etwas völlig Neues und Einzigartiges, zu den liebenswürdigsten Erzeugnissen deutschen Geistes gehören. DaB eines der gröBten Sagengefüge, das Nibelungenlied, in österreich seinen Sanger fand, daB ein Ulrich von Liechtenstein hier seinen Minnedienst ins Abenteuerliche steigerte, darf nicht als Zufall gewertet werden, so wenig, wie daB hier die groBen Meister der modernen Tonkunst, Haydn, Mozart, Schubert, dann Liszt, Hugo Wolf und Anton Bruckner, um nur die allergröBten zu nennen, geboren wurden und wirkten, daB Beethoven und Brahms und manch anderer hier seine zweite Heimat fand. Und 284 Österreichs kulturelle Sendung des weiteren darf es nicht als Zufall gewertet werden, daB hier in jüngster Zeit die bahnbrechenden Vertreter jüdischen Musikschaffens, Gustav Mahler und Arnold Schönberg, in ihren Schöpfungen ihre nationale Sonderart mit germanischem Ethos verkonden. Wie tief im österreichischen Volke aber die musikalische Veranlagung verankert ist, das mag aus einem charakteristischen Beispiele, dem „Karntnerliede", hervorgehen: Der Karntner ist sangesfreudig; was sein Herz bewegt, Liebe oder Sehnsucht, Scherz und Ernst, alles findet in seinem Liede charakteristischen Ausdruck. Von der Art des Volksliedes im allgemeinen abweichend ist jedoch die althergebrachte Fahigkeit von Alt und Jung, Stadter und Landbewohner völlig improvisierend polyphon — und zwar fünfstimmig — zu singen. Nicht unsere Aufgabe kann es sein, auch die bodenstandigen Werke der deutschen Literatur aufzuzahlen — Grillparzer und Lenau gehören zu den gröBten der Nation, und gerade der letztere darf wieder als Zeuge fifr die Assimilationstheorie aufgefaBt werden, denn er vermittelt uns „deutsch" die Schwermut und das jah übersprudelnde Gefühlsleben der magyarischen Seele —, aber die phantasievollen Schöpfungen eines Ferdinand Raimund, die klassische Posse Nestroys, kann nicht verschwiegen werden, wollen wir des musikfrohen Empfindens unseres Volkes gerecht werden. Wer würde es da auch wagen, Lanner und StrauB ungenannt zu lassen? Mag heute auch die Nennung der „Wiener Operette" begreiflicherweise das Nasenrümpfen manches ernsten Musikfreundes erregen, das dürfen wir doch nicht vergessen, daB Österreich, und im besonderen Wien, jene Meister der heiteren Tonkunst hervorbrachte, die dem deutschen Volke — und mit ihm der ganzen Welt — die klassischen Vorbilder schenkte. Johann StrauBens „Fledermaus", Millöckers „Bettelstudent", um nur ein paar zu nennen, gehören so wie die unabsehbare Menge von melodisch einzigartigen Schöpfungen der Tanzmusik sowohl den musikalischen Feinschmeckern, wie auch der breiten Masse des Volkes an, und dürfen deshalb nicht geringer geschatzt werden, weil ihrer Ahnen unwürdige Epigonen heute aus ihrer Kunst zuweilen ein eintragliches Geschaft gemacht haben. „Was Wien... ganz von sich aus auch für die Kunst hervorzubringen vermag", sagt Richard Wagner in seinem Organisationsplan der Wiener Hofoper, „bezeugen zwei der originellsten und liebenswürdigsten Erscheinungen auf dem Gebiete der öffentlichen Kunst: Die Rai- 285 Österreichs kulturelle Sendung mundschen Zauberdramen und die StrauBisehen Walzer. Wollt ihr nicht Höheres, so laBt es bei diesem bewenden: es steht an und für sich bereits wahrlich nicht tief, und ein einziger StrauBischer Walzer überragt, was Anmut, Feinheit und wirklichen musikalischen Gehalt betrifft, die meisten der oft tnühselig eingeholten auslandischen Fabriksprodukte, wie der Stephansdom die bedenklichen, höhlen Saulen zur Seite der Pariser Boulevards." Der Umstand, daB Wien durch Jahrhunderte der Sitz eines kunstfreudigen, reichen Hofes war, kam dem Gange der Kunstentwicklung sehr entgegen und brachte manche Knospe rascher zur Entfaltung. Die Sammelfreude der Monarchen, des hohen Adels und des Klerus lieB hierzulande eine Reihe von groBen Kunstsammlungen erstehen, die heute zu den bedeutendsten ihrer Art gehören. Die höfische Kunstpflege darf aber auch nicht überschatzt werden. Sie bildet doch nur eine Seite jener reichen künstlerischen Entwicklung, die sowohl auf Grund einer angeborenen Begabung, als auch durch in jahrhundertelanger Obung ausgebildeten, auf das Künstlerische hin gewendeten Geistesrichtung der Bevölkerung erklart wird. Als deshalb im Banne der Vorstellung eines prachtig aufrauschenden Gesamtkunstwerkes baulustige Monarchen, Abte und begüterte Burger eine reiche Tatigkeit entwickelten, als Künstler aus dem Auslande in den österreichischen Landen sich zu gemeinsamen Tun zusammenfanden, da feierte der Geist des Barocks eine Auferstehung im neuen Gewande: österreichische Sonderart pragte ihr den Stempel auf. — Nun noch einen Bliek auf die Altwiener Malerei: Mag die Freude an der Landschaft sich auch an den Veduten Piranesis u. a. entzündet haben, so feierte im neunzehnten Jahrhundert die österreichische Malerei in Rudolf Alt ihren Vollender, der vorbildgemaB von der gegenstandlichen Anregung ausgehend seine Themen immer starker künstlerisch durchdrang und zu einzigartigen, in sich geschlossenen Schöpfungen gestaltete. Der dekorative Zug, der die neuere österreichische Kunst durchzittert und wohl schon in Schwind, dem österreichischesten der alteren Wiener Maler, anklingt, bricht sich im zwanzigsten Jahrhundert in den Werken Gustav Klimts mit elementarer Wucht Bahn. Dieser Meister wird zum Vollender jener Richtung, die dem Fühlen einer anderen Zeit gerecht werdend, Makart in seinen Schöpfungen verkörperte. Und mögen die Werke des Belgier Minne, des Franzosen Rodin, oder mag die gedampfte Farbenpracht alter Mosaikkunst, die in strengen Formen mit der Gegenwart so seltsam kontrastiert, auf Klimts Kunst eingewirkt haben: 286 österreichs kulturelle Sendung Aus Motiven aller Zeiten und Zonen baute auch er seine neue Weit, die bodenstandig und wurzelecht, Ausdruck modernen österreichischen Fühlens wurde. Führwahr, kein kleiner Ausschnitt deutschen Kunstgeschehens spielt sich im kleinen österreich ab! Nur wenige der groBen Namen konnten wie im Fluge angeführt, Bahnbrecher auf dem Gebiete der Wissenschaft und Technik, jedoch überhaupt nicht genannt werden. GewiB, die norddeutsche, herbere Art ist dem weicher organisierten österreicher an Zielstrebigkeit und an mannlichem Ernste überlegen; doch tauscht der deutsche Süden, dem Norden die Hand reichend, jene Anmut und Leichtbeschwinglichkeit der Gestaltung und des Lebens ein, die dem Gesamtbilde deutscher Kultur einen so wesentlichen und charakteristischen Zug verleiht und die das deutsche Geistesleben auch fürderhin nicht missen kann, will es mit seinen von einer südlicheren Natur glücklicher bedachten Rivalen mit Erfolg in die Schranken treten. Dürfen wir uns angesichts dieser Fülle arm nennen? Ist aber österreich sich auch seines Reichtums bewuBt? Die auf kulturell-künstlerischem Gebiete ausgeprSgte Begabung der österreichischen Bevölkerung, die, wie wir gesehen haben, bedingt erscheint einerseits durch die dem Deutschen überhaupt innewohnende Neigung, die Welt der Gegenwart jeweils aus Motiven aller Zeiten und Zonen aufzubauen, das Fremde aber nicht als rein Fremdes anzustarren, sondern es „deutsch" zu verstehen, anderseits durch die vorgeschobene Lage des Landes, deren Bevölkerung in enger Verbindung mit fremdartigen, aber von glühender Pracht erfüllten Kuituren in Jahrhunderte wahrender Assimilationstatigkeit aus jenen Kreisen Krafte zog, die die eigene Schaffenskraft nach einer ganz bestimmten Richtung hin befruchteten, schuf eine charakteristische Kultur, die durchaus deutsch, innerhalb des Gesamtdeutschtums eine besondere Rolle spielte und einen wesentlichen Teil zur deutschen Eigenart in seiner Gesamtheit beisteuerte. Dazu kommt, daB die Stellung Wiens als Residenz eines machtigen Fürstengeschlechtes durch Jahrhunderte ein Mittelpunkt traditioneller Kunstpflege gewesen war. Eine Fülle von Kunstgut aller Art floB hier zusammen, teils gesammelt, teils selbstgeschaffen, das in Form bedeutender Bauanlagen, Denkmaler, öffentlicher und privater Sammlungen, Bibliotheken, wissenschaftlicher und kultureller Institute und Anstalten das Land, vor allem seine Hauptstadt Wien, zu einer Hochburg kulturellen und künstlerischen Lebens machte, in der die ausgepragte Veranlagung 287 österreichs kulturelle Sendung der Bevölkerung immer aufs neue befruchtet, und ihr Geschmack, wie ihre künstlerische Leistungsfahigkeit höher gezüchtet wurde. Blieken wir heute auf österreich! Ein kleines, bedeutender Bodenschatze ermangeldes Land, das die nackten Lebensbedürfnisse seiner Bewohner selbst nicht decken kann; eine Millionenstadt als Zentrum, deren Organismus seit Jahrhunderten darauf zugeschnitten ist, das Hirn eines Weltreiches zu sein. — Ein MiBverhaltnis, unter dem gar Mancher bange verzagte. GewiB, wer mit dem MaBstabe weltwirtschaftlicher Erw8gungen an unser kleines Land herantritt, wird Österreichs Not als Quantité négligeable belacheln. Besinnen wir uns aber auf unsere Eigenart, auf unsere Leistungen auf kulturellen und künstlerischen Gebieten, auf denen wir nicht nur im Rahmen deutschen Kunstgeschehens richtunggebend wirkten, sondern — es sei nur an die Musik erinnert — zum deutschen Anteil an der Weltkultur einen entscheidenden Anteil beitrugen, so wird es uns nicht schwer werden, ein Urteil zu fallen, welche Rolle österreich auch in der Zukunft zu spielen berufen sein kann. österreich wird — treu seiner Tradition — auch fürderhin in der Gemeinschaft der Völker seinen Platz behaupten, wenn es sich darauf beschrankt, was seine Eigenart bedeutet: wenn es seiner kulturell-künstlerischen Sendung bewuBt ist. Eine der vorzüglichsten Sorgen des Staates als auch berufener privater Persönlichkeiten wird es deshalb sein, die Höhe der kulturellkünstlerischen Leistungsfahigkeit der Bevölkerung mit allen erreichbaren Mitteln zu erhalten. Die öbsorge für alle künstlerischen Einrichtungen, Sammlungen, Lehranstalten und wissenschaftlichen Institute wird deshalb nicht nur zur selbstverstandlichen Pflicht, sondern zum notwendigen Akt staatlicher Selbsterhaltung. An die Bewahrung der hochgezüchteten Befahigung der Bevölkerung ist die Existenz des Landes vorzüglich gebunden, denn sie bedeutet die Basis der ureigensten Produktivitat der Nation. Nichts ware verfehlter, als eine übel angebrachte Sparsamkeit in jenen Belangen, die der dauernden Förderung der natürlichen Begabung und deren zielbewuBten Ausbildung dienen. DaB Wien zum Beispiel eine Oper sein Eigen nennt, die in vorbildlicher Weise Aufführungen deutscher und auslandischer Meisterwerke herausbringt, daB es in den „Philharmonikern" eine Orchestervereinigung besitzt, der eine qualitativ gleichartige in der ganzen Welt nicht gegenübergestellt werden kann, das sind positive 288 Aus der „Österreichischen Kunsttopographie" * Österreichs kulturelle Sendung Werte, die nicht hoch genug eingeschatzt werden können und die sich endlich und schieBlich auch als wirtschaftlicher Faktor bemerkbar machen. Waren nun, um bei diesem Beispiele zu bleiben, diese beiden Institute aus wirtschaftlichen Gründen genötigt, Einschrankungen vorzunehmen, die ihre künstlerische Leistungsfahigkeit herabdrücken, so bedeutet dies nicht nur für Österreich, sondern für die Welt kultur einen nicht ersetzbaren Verlust: denn gerade die einzigartige Vollendung ist die Besonderheit der genannten Institute; ein auch nur geringfügiges Herabgleiten von der künstlerischen Höhe bedeutet, daB sie eben auch nicht mehr und nicht weniger sind, als irgendein anderes gutes Orchester, eine andere gute Oper. Wenn aber die beiden Kunstinstitute nicht mehr bedeuten, als ahnliche Anstalten, die wir in den meisten GroBstüdten vorfinden, so haben sie für uns ihre innere Berechtigung verloren, werden zum Luxus, und die Frage, ob unser armer Staat dafür seine kargen Mittel zu bewilligen habe, wird Beantwortung heischen. Wahrhaft produktive Finanzpolitik wird aber betrieben, wenn den Instituten die Mittel gewahrt werden, ihre Sonderheit zu bewahren, auch weiter die „Einzigen" zu sein: Faktoren der Weltkultur, deren flnanzielle Rückwirkung nicht ausbleiben kann. Die Höhe der künstlerischen Vollendung ist aber mit dem genius loei verknüpft; sie besteht in der bodenstandigen Begabung, in der fortwahrend tatigen Auslese der Besten. Aber auch in der auf tiefem Verstandnisse beruhenden Wechselbeziehung zwischen den Ausübenden und Aufnehmenden, GenieBenden. Die künstlerische Höhe, von der wir hier sprechen, ist als dauernder Zustand nur dann möglich, wenn in der breiten Masse der Bevölkerung Verstandnis für diese Höhe vorhanden ist, wenn der geringste Abstieg gefühlt und getadelt wird, wenn eben das lebendig gewordene Kunstwerk nicht einer Zivilisation aufgepfropft ist, sondern in der mittatigen Begabung der Allgemeinheit wurzelt. Dasselbe gilt auch auf anderen Gebieten künstlerischer Betatigung: der bildenden Kunst, des Kunstgewerbes, der graphischen Industrie, die in Wien eine vorbildliche Höhe erreichte, der Mode; es wird aber auch für eine Reihe von Feingewerben, die, wenn auch schlieBlich einen Teil handwerklichen und industriellen Schaffens ausmachend, doch nur auf dem Boden künstlerischer Einstellung und Schulung zustandekommen können. Die Pflege und Ausbildung der künstlerischen Veranlagung der österreichischen Bevölkerung, die einerseits — zu individuellen Höchstleistungen überragender Persönlichkeiten, anderseits zu künstlerischen » 289 Osterreichs kulturelle Sendung Organismen führt, wie zum Beispiel der Oper, oder den Philharmonikern, oder aber die Nutzbarmachung der reichen Begabung auf kunstgewerblichen oder industriellen Gebieten gewShrleistet, bedeutet die Pflicht der Selbsterhaltung österreichischer Sonderheit. Hoch zivilisierte Nationen, wie zum Beispiel Nordamerika, glauben vielleicht, kraft ihrer finanziellen Oberlegènheit, ahnliche Kunstinstitute zu besitzen; sie geben sich aber einer Tauschung hin, denn diese Institute sind nicht bodenecht. Das Wesentliche der österreichischen Kunstinstitute besteht darin, daB sie ihre Lebenskrafte taglich und stündlich aus dem Heimatboden saugen. Sie sind nicht Sensationen einer materiell bevorzugten Klasse, sondern lebendiger Besitz des Volkes. österreichs Zukunft liegt in seiner kulturellen und künstlerischen Sendung. Mögen die berufenen Führer im Lande, wie seine Freunde im Auslande erkennen, daB hier, und nur hier, jene Krafte verborgen liegen, die auch unter den neuen Verhaltnissen österreichs Weltgeltung gewahrleisten. Sonett Oswald Menghin Nun ziehn die Jahre stiller ihre Kreise. Wein ist geworden, was einst brausend gor, schlafschwerer Wein. Wir nippen ihn nur leise und achten, daB kein Tropfen sich verlor. Als edles Glas, wie bessres nie zuvor mit bessrem Trunk das Schicksal füllte, preise ich unser Sein: an Klarheit gleich dem Eise birgt es im Klange vollen Glockenchor. Nie können Stunden in dem Nebelmeere, das Zeit wir nennen, schattenhaft versinken, in denen dieses Bechers Ton erklang: sie werden blinken, abendgolden blinken durch alle Zeit — bis zu dem Tag der Leere, an dem das Glas in tausend Stücke sprang. 290 Österreichs führende Stellung auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre Jakob Baxa pvie österreichische Volkswirtschaftswissenschaft ist nur ein Zweig lf und ein Glied der groBen deutschen Volkswirtschaftslehre. Die tausendjahrige Kulturgemeinschaft zwischen der Ostmark und dem deutschen Stammland tritt auch auf diesem sehr jungen Wissensgebiet klar in Erscheinung. Wahrend man in der Kunst und im schöngeistigen Schrifttum immerhin von österreichischen Eigentümlichkeiten sprechen kann, die vielfach auf das jahrhunderrlange Zusammenleben mit den fremden Volksstammen im alten Österreich-Ungarn zurückzuführen sind, so liegen die Verhaitnisse auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaft wesentlich verschieden. Die Bekanntschaft mit den groBen wirtschaftlichen Lehrgebauden des neunzehnten Jahrhunderts ,tluauM verreien nur aer aeutschen Wissenschaft. Die fremden anderssprachigen Volksstamme der alten Monarchie, die auf einer erheblich niedrigeren Kulturstufe standen, haben überhaupt keine selbstandigen wirtschaftlichen L.ehrmeinungen entwickelt. Dazu kommt, daB vor dem Weltkrieg zwischen Deutschland und Österreich ein reger Austausch von Lehrkraften an den Hochschulen stattfand, so daB das geistige Band des Kulturzusammenhanges mit dem Deutschen Reiche nie gelockert wurde. Die Volkswirtschaftslehre beginnt erst am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland eine eigene Wissenschaft zu werden, und zwar unter dem übermachtigen EinfluB der Theorien von Adam Smith. Durch Deutschlands Vermittluna r,™™™ h.» Smithschen Ideen auch in Österreich ein, freilich machte sich gerade «tfiCU uc" "uwausmus ein krattiger Widerstand geltend. In den Jahren 1811 bis 1829 beherbergte österreich das Haupt der romantischen Volkswirtschaftslehre, den erst heute voll gewürdigten Gesellschaftslehrer und Staatswirt Adam MülIer (1779 bis 1829), der es 291 österreichs führende Stellung auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre als erster wagte, das als göttliche Weisheit verehrte Werk des Adam Smith einer ebenso tiefgründigen als vernichtenden Kritik zu unterziehen. In einer auch von Friedrich List nicht übertroffenen glanzenden Art und Weise zeigt Adam Müller, auf welch tönernen FüBen der eherne KoloB des wirtschaftlichen Liberalismus ruht. Alle von der heutigen Wissenschaft gegen Adam Smith erhobenen Einwande führen letzten Endes auf Müller zurück, so die Erkenntnis, daB die Smithschen Grundsatze lediglich auf englische Verhaitnisse zugeschnitten sind und auf dem Gebiete der Landwirtschaft keine Anwendung finden können. Auch den Reichtums- und Kapitalsbegriff von Adam Smith hat Müller wesentlich verbessert: Durch die Einführung des Begriffes der „idealischen Produktion" hat Adam Müller die Legende von der wirtschaftlichen Unfruchtbarkeit und dem Drohnendasein der geistigen Arbeiter für immer zerstört. Auch unsere heutige Zeit sollte ihm dafür Dank wissen 1 In der Geld- und Kreditlehre, in der Preis-, Wert- und Zinstheorie ist Müller durchaus eigene Pfade gewandelt und hat die Wirtschaftslehre um fruchtbare Erkenntnisse bereichert Seine gröBte Leistung ist jedoch, daB er bei allen seinen Untersuchungen immer die Gesellschaftlichkeit der Wirtschaft und die notwendige Verknüpfung von Wirtschaft und Gesellschaft betont. Wahrend Adam Smith und seine deutschen Jünger bei ihren wirtschaftlichen Betrachtungen immer nur einen einzelnen, von seinen ichhaften Sonderinteressen geleiteten Wirtschafter vor Augen haben, reift bei Adam Müller die groBe Wahrheit, daB das wirtschaftliche Handeln nur im Rahmen der Gesellschaft möglich ist, daB die Wirtschaft ein organisches Ganzes darstellt Adam Müller war der erste deutsche Gelehrte, der das gesellschaftliqhe (soziologische) Verfahren in der Wirtschaftswissenschaft anwandte. In spateren Schriften bekampft Adam Müller immer nachdrücklicher die durch Smith groBgewordene Wirtschaftsart des Kapitalismus. Zwei volle Jahrzehnte vor Engels und Marx legt er schon dessen schwere Schaden bloB und verlangt Abhilfe dagegen durch eine Wiederbelebung der dahinsiechenden Stande und Zünfte, durch eine zweckmaBige Organisation der Wirtschaft. Der liberale Zeitgeist dankte ihm dafür mit Hohngelachter und Verachtung; erst unserer Zeit blieb es vorbehalten, die überragende GröBe Adam Müllers als Gesellschaftslehrer und Volkswirt zu erfassen. Sein Name wird immerdar unter den übrigen Geisteshelden unserer vateriandischen Geschichte ergianzen!*) •) Wer sich mit den Gedankengangen Müllers naher vertraut machen will, lese O. Spanns Abhandlung .Vom Geist der Volkswirtschaftslehre", Jena, Verlag 292 österreichs führende Stellung auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre In den Vierzigerjahren beginnt die Einsicht von der Unhaltbarkeit der liberalen Wirtschaftsmeinungen immer mehr um sich zu greifen, freilich schiagt das Pendel sofort nach der anderen Seite aus. In Frankreich und England regen sich die ersten sozialistischen Strömungen. Hier ist nun wieder ein groBer österreichischer (wie Müller aus Norddeutschland stammender) Gelehrter zu nennen, Lorenz von Stein, der sich die Erforschung des französischen Sozialismus zur Aufgabe machte. Durch sein Werk „Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich", 1842, wurde die deutsche Wissenschaft mit den sozialistischen Theorien und Bewegungen seit dem Weltereignis der französischen Revolution erst naher bekannt. Lange vor Marx spricht Stein, der gleichfalls ein Schüler des Philosophen Hegel ist, vom Klassenkampf und beschaftigt sich in seiner „Gesellschaftslehre" nachdrücklich mit dem Wesen und Begriff der Gesellschaft, wobei er allerdings in einer individualistischen Betrachtungsweise stecken bleibt. Der Ruhm Lorenz von Steins wurde freilich durch den von Karl Marx und Lass al le verdunkelt, welche durch eine machtvolle Werbetatigkeit die groBe Bewegung des deutschen Sozialismus entfachten. Dieser überflutete auch die Grenzen Österreichs, wo er aus einer weltbeglückenden Erlösungstheorie, ahnlich wie in Deutschland, zum Program m einer politischen Partei wurde. Unter den österreichischen Marxisten gibt es jedoch keinen Gelehrten, dessen Ruhm sich mit dem von Marx und Lassalle, geschweige mit dem Lorenz von Steins messen könnte, dessen Bedeutung für die deutsche Gesellschaftswissenschaft erfreulicherweise gerade in den letzten Jahren gegenüber Marx mehr gewürdigt wird.*) Die führende Stellung auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre eroberte österreich jedoch in den Siebziger- und Achtzigerjahren, als Karl Menger in den „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen ökonomie insbesondere" (1883) der geschichtlichen Schule der Volkswirtschaftslehre den Fehdehandschuh hinwarf und den sogenannten Methodenstreit herauf- Gustav Fischer, 1919, ferner die von mir besorgte Ausgabe von „Adam Müllers AusgewShlten Abhandlungen", ebenda 1921. Ein eingehenderes Studium erfordert das gleichfalls von mir neu herausgegebene Hauptwerk Müllers „Die Elemente der Staatskunst", Wien, 1922, Wiener literarische Anstalt, sowie seine „Versuche einer neuen Theorie des Geldes", ebenda, herausgegeben von Dr. H. Lieser. *) Als Neuausgabe erschien im Dreimasken-Verlag zu München: „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich 1789 bis 1850" von Lorenz von Stein. 3 Bande. Herausgegeben und eingeleitet von Dr. Gottfried Salomon. 293 Osterreichs führende Stellung auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre beschwor. Die Gelehrten, die sich um sein Banner scharten (Wieser, Böhm-Bawerk, Sax u. a.), wurden spater, da sie vorwiegend Österreicher sind, unter dem Namen „Die österreichische Schule der Volkswirtschaftslehre" weit über die Grenzen ihres engeren Vaterlandes hinaus berühmt. Es handelt sich jedoch auch hier nicht etwa um eine österreichische Eigentümlichkeit und Besonderheit, sondern um einen reinen wissénschaftlichen Gegensatz. Wahrend die im Reiche herrschende geschichtliche Schule der Ansicht ist, daB die Volkswirtschaftslehre für sich allein, ohne bestimmte geschichtliche und gesellschaftliche Tatsachen, nicht bestehen kann, das heiBt ihre Gesetze nicht aus sich selbst erzeugt, sondern in ihrer Gestaltung streng von den allgemeinen gesellschaftlichen und geschichtlichen Verhaltnissen abhangig ist, so lehrt die österreichische Schule, daB die Volkswirtschaftslehre eine Wissenschaft ist, deren Gesetze, unabhangig von bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen, aus gewissen obersten wirtschaftlichen Grundsatzen gewonnen werden können. Wahrend daher die geschichtliche Schule trotz ihrer hervorragenden Leistungen bei ihrer „induktiven Methode", das heiBt bei dem Sammeln einzelner wirt schaf tl ich er Tatsachen und Ereignisse immer mehr zu einer beschreibenden Wissenschaft herabsank, hat sich in der von der österreichischen Schule angewandten, sogenannten „deduktiven Methode" der Geist wahrer und echter Wissenschaft erhalten. Die gröBte wissenschaftliche Leistung der österreichischen Schule ist die Lehre vom Grenznutzen, die, von Karl Menger begründet, von Friedrich von Wieser und Böhm-Bawerk ausgebaut und verfeinert wurde. Gegenüber der Kostenwertlehre des Ad. Smith, Ricardo und Karl Marx stellt sie eine Nutzenwertlehre dar. Ihre wesentliche Erkenntnis lautet: Wir schatzen die Güter nicht nach den Kosten, die sie uns verursachen, sondern nach dem Nutzen, den sie uns stiften; die GröBe des Wertes eines Gutes bestimmt sich nicht nach der darauf verwendeten Arbeitszeit, sondern nach dem Nutzen, den der jeweils kleinste verfügbare Teil einer Gütermenge hervorruft, nach dem sogenannten Grenznutzen. Hiemit wurde der Marxschen Mehrwertstheorie, die im Werte ein quantitativ meBbares Stück gefrorener Arbeit erblickt, der Boden abgegraben. Ober die Grenznutzenlehre, die hier nur in aller Kürze gestreift werden konnte, gibt es ein ausgedehntes Schriftturn, das sich in jedem gröBeren wirtschaftlichen Geschichtswerk verzeichnet findet. Neben Menger und Wieser muB insbesonders auf Böhm-Bawerk hingewiesen werden, der in der Lehre vom Kapital und Kapitalzins höchst beachtenswerte und durchaus ursprüng- 294 österreichs führende Stellung auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre Iiche Theorien aufstellte, die seinem Namen gleichfalls europaische Berühmtheit verschafften.*) Ferner zahlen zur Grenznutzenschule Eugen von Philippovich,**) der lange Zeit an der Wiener Universitat wirkte und Schumpeter, der, als Anhanger der sogenannten „mathematischen Schule", die volkswirtschaftlichen Gesetze auf einfache mathematische Formeln zurückzuführen sucht, dabei allerdings fremden Vorbildern folgt.***) Die Grenznutzentheoretiker hatten vor dem groBen Kriege die unbestrittene Führung in der Volkswirtschaftswissenschaft inne. Durch den Krieg und den seelischen sowie wirtschaftlichen Zusammenbruch österreichs und des Deutschen Reiches trat jedoch eine völlige Umgestaltung und Umbildung unseres gesamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Erscheinung, neben der ungeheuren Auflösung und Zersetzung aller Verhaitnisse machte sich ein machtvolles Streben nach Erlösung aus der Not unserer Zeit geltend und immer starker erscholl der Ruf nach einer neuen Wissenschaft und einer neuen Wahrheit. Die Grenznutzenschule, von den Sozialisten als „bürgerliche" Richtung verspottet, war, da sie sich bei ihren wenn auch höchst wertvollen Forschungen über den Gesichtskreis der Einzelhaftigkeit kaum erhob, den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen. Denn letzten Endes war es ja immer noch der allmachtige Zauberer Adam Smith, den sie als ihren Herrn und Meister verehrte. Auf der anderen Seite vermochte je( Kleinen rund 90%; wobei bemerkt werden muB, daB die Kinder verschieden lange Zeit bei den Pflegeeltern geweilt hatten und daB, eine sehr wichtige Anmerkung, nur jener Teil der Schar untersucht werden 340 Im sozialen Arbeitsfelde konnte, welche der privaten Aufforderung der Arztin entsprochen hatte. Dieser Prüfung Ende Oktober anfangs November 1920 folgte Ende janner eine zweite Konstatierung, die ergab, daB jene im Herbst heimgekehrten Kinder viel von der Besserung ihres Befindens verloren, viel vom Plus der Auslandsreise abgegeben hatten, einzelne Kinder von 11 bis 12 Jahren 4 bis 5 leg. Der SchluBfoIgerung der Arztin, daB die Früchte eines ausgesprochenen Luxuskonsums rasch verloren gehen, hatte auch diese Einschrankung des Wertes ihrer Arbeit beigesetzt werden müssen: Die Ernahrungsverhaltnisse im Winter 1920/21 waren in österreich so bekümmernd-trostlos, die körperliche Verelendung der Jugend schritt so arg vorwarts, daB ein starker Gewichtsverlust der Aufgefütterten nicht verwunderlich ist. Wertvoller in dieser Hinsicht waren medizinische Arbeiten der Wiener Kinderklinik, die im letzten Kriegsjahre der Entsendung von 71.851 österreichischen Kindern in Ferienkolonien, und zwar den Wirkungen der sehr guten und reichBchen Kost in Ungarn galten: Die Kinder, die wahrend ihres Sommeraufenthaltes in Ungarn durchschnittlich 3*2 leg zugenommen hatten, verloren nach der Heimkehr in das hungernde Wien in den ersten sechs Wochen a/t leg. Zur hohen Zahl der Erkrankungen wahrend des Ferienaufenthaltes (3125 gemeldete Falie) und den 127 Todesfallen. (= Oi8%o) bemerkte das arztliche Referat: Es dürfte sich zum gröBten Teil um schwere Darmerkrankungen handeln, die bei den durch mangelhafte Ernahrung erheblich und arg geschwachten Kindern infolge der überaus reichlichen und ungewohnten Kost in Ungarn verursacht worden waren. Nach der Einstellung der Kinderzüge in die Schweiz hat das „Zentralkomitee für notleidende Auslandskinder" in Bern auf jenes vorerwahnte holiandische Beispiel gegriffen und mit den verfügbaren Geldern in österreichischen Ferienheimen viele Piatze für österreichische Kinder der Not gestiftet, doch ist es zur Errichtung eigener schweizerischer Ferienheime schon aus dem Grunde nicht gekommen, weil jenes Land in der Betatigung der Charitas zu sehr erschöpft war. Die Hauptjahre der Kinderreisen waren 1919 und 1920, sie sind dann rasch abgeflaut, 1922 fuhrten fast nur mehr holiandische Komitees dieses Liebeswerk durch. In den beiden Jahren des Anfanges und der schnell erreichten vollen Expansion hat österreich nicht weniger als 276 Kinderzüge expediert, wobei die übrigens ganz wenigen Züge für iniandische Ferialaktionen inbegriffen erscheinen. Die Trains benötigten von Wien nach Holland 29 Stunden 50 Minuten, Schweden 35 Stunden 27 Minuten, nach Jütland 40 Stunden und 50 Minuten, und es muBte füf die lange Fahrt allerlei vorgekehrt werden — der sprichwörtliche 341 Int sozialen Arbeitsfelde Schutzengel der Kinder hat bei so vielen und weiten Reisen nicht einen einzigen nennenswerten Unfall zugelassen. Jenen Kindern, die für eine weite Auslandsfahrt zu schwach waren, den Kranken, Tuberkulosen, widmete sich eine, von den auslandischen Hilfsmissionen unterstützte, von der Wiener Stadtverwaltung angeregte iniandische Aktion. Im Jahre 1920 begann das „niederösterreichische Jugendhilfswerk" als neue Vereinigung der Behörden und Vereine in Niederösterreich mit der Entsendung von Stadtkindern in iniandische Ferienkolonien, vorzüglich in die bereits bestehenden standigen Ferienheime der niederösterreichischen Landesverwaltung und einzelner Vereine, dann in neu geschaffene Ferienheime in Klöstern und Schlössern, wo Raume zur Verfügung gestellt wurden, in Turnsale der Ortsgemeinden; in diesem letzten Falie war die Verpflegung der Ferialkinder, und zwar solcher vorgeschrittenen Alters, bei Landwirten vorgesehen, in deren Wirtschaftsbetrieb sich die Stadtjugend nützlich machen konnte. Genaue statistische Angaben über den Effekt des „Jugendhilfswerkes" liegen vor, beispielsweise über die Gewichtsverbesserungen von 6344 Wiener Arbeiterkindern in 223.753 Verpflegstagen bei Ernahrung nach dem System Pirquets, das jedoch nicht strikte befolgt worden ist; die Gewichtszunahme der auBerordentlich schlecht genahrt gewesenen, vielfach kranken Kinder besserten sich in den einzelnen Heimen um 132 bis 235 hg im zweimonatigen Aufenthalte. Manche fremdiandische Hilfsaktionen haben in origineller Art auBer der allgemein üblichen Verteilung von Paketen mit Lebensmitteln, Kleidern, Sauglingswasche, von Spenden an Geld, Kohle, Holz usw. sich betatigt. Joint Distribution Comitee", die über reiche Mittel verfügende Hilfsorganisation für jüdische Kriegsbetroffene, verteilte Nahrungsmittel und Kleider, errichtete Küchen für verarmte Angehörige des Mittelstandes, Hochschüler, Milchtrinkhallen für Kinder; besorgte die Heimkehr von Gefangenen, die Rückkehr der zu Kriegsanfang aus der Kampfzone an der russischen Front nach Österreich gebrachten Juden, sie errichtete in Wien den hieher geflüchteten armen Juden eine Schlosserwerkstatte auf genossenschaftlicher Basis, beschaffte deren Werkzeug, ferner Dutzende von Nahmaschinen. Der Milchnot in Wien zu steuern, bemühte sich in origineller Weise „Society of friends". In Friedenszeiten hatte die 2,000.000 zahlende Bevölkerung Wiens mit rund 900.000 / taglicher Milchzufuhr und der Milch von rund 15.000 Kühen in Wien rechnen können. Der weitaus gröBte Teil der auswartigen Zufuhren stammte aus M3hr?n, 342 Im sozialen Arbeitsfelde dessen Grenzen nach der Einverleibung dieses Landes in den neuen Staat Tschecho-Slowakei abgesperrt wurden, die Kühe in Wien wurden, wie dies in einer belagerten Stadt geschehen ware, wahrend des Krieges fast alle geschlachtet; nach Kriegsende zahlte man deren 1067. So kam es, daB durch Jahre die Wiener Schulkinder im Alter von 6 bis 14 Jahren keinen Tropfen Milch von den Behörden zugewiesen erhielten, die geringen Quantitaten von 80.000 bis 90.000 l taglich, anfangs 1919 gar nur 30.000 l — bei 1,800.000' Einwohnern! — beschlagnahmt, staatlich bewirtschaftet nur an Personen im Greisenalter, Schwerkranke und Kleinkinder verfeilt wurden; auf die Kinder bis zu 4 Jahren entfiel höchstens eine Quantitat von 3/* l per Tag, jenen von 4 bis 6 Jahren gab man zuweilen Kondensmilch, doch die Schuljugend ging völlig leer aus. „Society of friends" war erfolgreich bemüht, aus der Schweiz und aus Holland eine gröBeie Anzahl von Milchkühen nach österreich zu bringen, namentlich holiandische Tiere, wie es im Referate der Gesellschaft der Freunde heiBt, wegen der Quantitat der Milch, worin diese gegenüber den Schweizer Kühen überlegen sich zeigen. (Das Referat der „Society of friends" bemerkte, die aus Holland exportierten Kühe seien erstklassig gewesen, es sei ganz offenkundig, daB die niederlandische Regierung hiebei interessiert und auch bei diesem speziellen AnlaB einen Beweis ihrer hochherzigen Gesinnung für die leidende österreichische Bevölkerung geboten habe.) Die Kühe wurden irgendeinem Wohlfahrtsvereine übergeben, welcher den Preis durch die Mich zu bezahlen hatte, die er den Kindern ablieferte; waren die vollen Kaufkosten durch die abgegebene Milch bestritten, gingen die Kühe in den Besitz des Vereines über. Von gröBtem Werte für die lahmgelegte, iniandische soziale Fürsorge waren die reichen Mittel, welche Amerika, Holland, Schweden, Noxwegen, Schweiz, England und noch andere Staaten geboten haben, um den Betrieb in den groBen und kleinen Wohlfahrtsanstalten aufrecht zu erhalten. Nachdem der Friedensvertrag die Landkarte für Zentraleuropa so sehr umgestaltet hatte, war österreich von den vorzüglichen Lungenheilstatten im milden Klima von Südtirol und von den Kinderheilanstalten, welche die Stadt Wien am Adriatischen Meer eingerichtet hatte, abgeschnitten; um so wichtiger wurden die Tuberkulosenheime im Gebirge, deren gröBtes in Niederösterreich gerettet und erhalten zu haben Hauptverdienst der schwedischen Hilfsaktion war. Dem argen Mangel an Heizmaterial, Wasche, Lebensmitteln und Medizinen in den Spitalern zu steuern, war die Aufgabe einer von fast allen hilfsbereiten Landern gebildeten Zentralorganisation „Internatio- 343 Im sozialen Arbeitsfelde nale Spitalhilfsaktion". Ganz besonders galt es, Medikamente herbeizuschaffen, Lebertran, Cocaïn, Pyramidon, Aspirin, gar viele Gegenstande der Sauglingspflege, es mangelte an Gummisaugern, an warmen Badern, an Linnen, so daB man Papierhüllen als Waschestücke verwendete. Zur Zeit des Abschlusses dieses Referates arbeitet der Völkerbund an der langst inaugurierten Wiederaufrichtung Österreichs. Frische Hoffnung erfüllt die Gemüter dieser wahrhaft heroisch in einem Meere von Not und Elend ausharrenden Bevölkerung, die rühmenswerte Beweise ihrer hohen Kultur im Ertragen von unsaglicher, lange wahrender Pein dem Auslande geboten, den ernsthaften Willen zur Selbsthilfe im sozialen Arbeitsfelde unter den schwierigsten Verhaltnissen einer hoffentlich zur Vergangenheit verabschiedeten Periode tatkraftig bewiesen hat. Auf freigewordener Bahn, mit wiedergegebener Kraft soll Gutes und Edles zum Wohl eines sich wieder aufrichtenden braven Volkes geleistet und stets in Anerkennung und Dankbarkeit der Nationen und Staaten gedacht werden, die im Zeichen einer rührenden, ans Herz fassenden, menschlichen Hilfsbereitschaft den österreichern in schweren Stunden zur Seite gestanden sind. 344 Zu dem Auf s at ze: Theifi Siejrfned, Sie dl ungs wesen (S. 345) Siedlungswesen Siegfried TheiB Wenn im nachstehenden einige Streiflichter Ober das österreichische Siedlungswesen gebracht werden, so erheben diese Erörterungen kelnesfalls einen Anspruch auf Vollstandigkeit. Das Gebiet ist zu umfangreich, als daB es mit einigen Bemerkungen abgetan werden kann. Die geschichtliche Entwicklung, die gesetzgeberischen MaBnahmen, die organisatorischen Fragen, das Baugenossenschaftswesen, die bautechnischen und baukünstlerischen Erwagungen sind alles Gebiete, welche einzeln einer umfassenden Behandlung bedOrften. Geschichtlich soll, von früheren AnsStzen abgesehen, der Kolonisation aus theresianischer Zeit gedacht werden, welche ihre Parallele in den mustergültigen, noch für heute sehr beachtenswerten Anlagen Friedrichs des GroBen in PreuBen besitzen. Diese nüchternen, anspruchslosen, auf ZweckmaBigkeit gerichteten Bestrebungen dieser Zeit ergeben in ihrer Erscheinung auch stadtebaulich auBerst befriedigende Lösungen. Um eine solcher Anlagen herauszugreifen, sei die Ortschaft „Theresienfeld" bei Wiener-Neustadt genannt. Noch heute erregt ein Durchwandern dieses aus nur einer HauptstraBe bestehenden Ortes wohlgefalliges Empfinden und überragt in vieler Beziehung so manche Siedlung der Neuzeit. Es würde zu weit führen, wenn man sich über die Satzungen naher auslassen wollte, welche diesen Widmungen zugrunde liegen. Nach diesen Beispielen können wir eigentlich erst im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts wieder die Anfange einer zielbewuBten Siedlungsbewegung feststellen. Das vorbildliche Beispiel des englischen Siedlungswesens drang befruchtend über Deutschland bis Österreich vor, konnte sich aber iange nicht durchringen. Allenthalben entstanden in den Industrieorten Arbeiterwohnungen tn Zinskasernenform, öde, mehrgeschossige Gebaude, oft wahllos ins 345 Siedlungswesen Gelande gestellt. Ab und zu sind auch Einfamilienhauser anzutreffen. Solche Beispiele kann man unter anderem in Zeltweg, im jetzigen SiedlungsgelMnde der österreichischen Alpinen Montangesellschaft, ungefahr aus dem Jahre 1870 antreffen. Doch auch die Gesetzgebung blieb nicht zurück und wenn auch das Arbeiterwohnungsgesetz vom Jahre 1892 einschlieBlich seiner Erganzung vom Jahre 1902 lediglich nur als Steuerbegünstigungsgesetz anzusehen war, so bildete dasselbe doch die Grundlage für die weitere Entwicklung. Vielleicht als Markstein in der österreichischen Wohnkultur ist die im Jahre 1907 erfolgte Gründung der „Zentralstelle für Wohnungsreform" zu werten. Sie steilte sich zur Aufgabe, durch wissenschaftliche Tatigkeit, Aufkiarung und Werbung eine Verbesserung der Wohnungsverhaltnisse zu erwirken. Den rastlosen Bemühungen dieser Zentralstelle war es dann gelungen, die Regierung mehr als bis dahin für die Siedlungsfrage zu interessieren. Das Jahr 1910 hat wieder wichtige Ereignisse zu verzeichnen, und zwar den in Wien tagenden Neunten internationalen WohnungskongreB, der vielleicht nicht wenig dazu beitrug, daB der Reichsrat im Dezember dieses Jahres das Gesetz, betreffend die Errichtung eines Wohnungsfürsorgefonds, beschloB. Das Wesentliche dieses Gesetzes ist, daB Darlehen bis zu 90'/o des Schatzwertes der Hauser verbürgt oder unmittelbar gegeben werden und zur' Sicherstellung der Darlehen eine Staatsgarantie bis zu 200,000.000 K geleistet wird. Der gemeinnützigen Bautatigkeit wurde hiedurch der Boden geebnet und es entstanden unzahlige gemeinnützige Baugenossenschaften, welche eine mehr oder minder ersprieBliche Bautatigkeit entfalteten. DaB bei diesem Anlasse oft mehr gegründet wurde als tatsachlich dann durchführbar war, ist begreiflich. Diese kleinen Entgleisungen können jedoch die Erfolge gut gegründeter Genossenschaften nicht schmalern. Als eine der erfolgreichsten Bauvereinigungen schon aus dieser Zeit ware die „Einfamilienhauser-Baugenossenschaft für Eisenbahner", spater „Gemeinnützige Ein- und Mehrfamilien-Baugenossenschaft G. m. b. H." genannt, zu erwahnen. Diese und auch einige andere gröBere Siedlungsgenossenschaften, wie etwa auch teilweise die „Ostmark" in Wien, bevorzugten die Schaffung von Einfamilienhausern. Der Weltkrieg setzte diesen verschiedenen guten Ansatzen einen Riegel vor. Wohl wurde gegen Ende des Krieges der Versuch gemacht, durch Aufteilung der Kosten des sogenannten verlorenen 346 Siedlungswesen Bauaufwandes auf Staat, Land und Gemeinde die Bautatigkeit zu beleben, er scheiterte jedoch zumeist an den bedrangten Finanzen des Landes und der Gemeinden. Wahrend also auf die Dauer des Krieges die gemeinnützige Bautatigkeit gröBtenteils ruhte, wurde seitens der verschiedenen Industrien immerhin eine Siedlungstatigkeit für Arbeiter und Beamte entwickelt. Im Jahre 1918 wurden noch vor dem Umsturze einige gemeinnützige Bauvorhaben in Angriff genommen, darunter eine gröBere Anlage des stadtischen Wohnungsfürsorgefonds in Wiener-Neustadt sowie Kriegerheimstatten in Wiener-Neustadt und Jedlersdorf bei Wien. Das Bundesgesetz vom 15. April 1921 zur Schaffung eines „Bundes-Wohn- und Siedlungsfonds" eröffnete neue staatliche Geldquellen. Da aber die standige Geldentwertung jedwede Darlehensvermittlung durch Kreditinstitute unmöglich machte, muBte der Bundes-, Wohn- und Siedlungsfonds unmittelbar als Darlehensgeber auftreten, wodurch selbstverstandlich eine Inanspruchnahme erfolgte, die über die Krafte desselben ging. Durch die verschiedenen Unternehmungen der Gemeinde Wien zur Linderung der Wohnungsnot, durch Einhebung besonderer Steuern, wie beispielsweise die Wohnbausteuer, wurde auch von dieser Seite nach Kraften Abhilfe versucht. Eines steht fest, daB unmittelbar nach dem Umsturze eine auBerordentliche Werbetatigkeit zur Behebung und Linderung der Wohnungsnot einsetzte. Wahrend die bereits bestandenen gemeinnützigen Baugenossenschaften ihre Arbeiten fortsetzungsweise betrieben, nahm nunmehr, von Deutschland übernommen, eine neue Siedlerbewegung ihren Anfang. Um die überaus teuren Gestehungskosten zu vermindern, sollte durch „Selbsthilfe", also durch tatsachliche manuelle Arbeitsleistung der Siedler selbst, wenigstens an Arbeitslohn gespart werden. Unter der organisatorischen EinfluBnahme des neugeschaffenen Siedlungsamtes der Gemeinde Wien entstanden nunmehr in der Umgebung von Wien umfangreiche Siedlungen, wo dieses System praktisch erprobt wurde. Gleichzeitig setzten aber auch weitere neu gegründete Bauvereinigungen in den verschiedenen Orten der Bundesiander mit einer regen und erfolgreichen Tatigkeit ein. Ein GroBteil der Industrie österreichs, insbesondere die Montan- und Metallindustrie, die durch die Einführung des Achtstundentages mehr Arbeitsschichten einstellen muBte, sah sich plötzlich vor die Aufgabe gestellt, neue Unterkünfte für ihre Arbeiter zu schaffen. 347 Siedlungswesen Mit einem Worte, das aller Lebensbedingungen beraubte kleine Österreich schaffte mit Obermenschlicher Anstrengung durch Zusammenfassung aller wirksamen Krafte. Nun ware wohl Einiges über die bautechnischen und baukünstlerischen Eigenheiten des österreichischen Siedlungsbaues zu erwahnen. Wohl ist es das westliche Vorbild, das zu meist den Anstofi zu den verschiedenen Gestaltungen gab, doch kann dies nur ganz allgemein gelten, da die österreichischen Witterungsverhaitnisse, das zum GroBteil gebirgige Gelande dieses Alpenlandes, ganz andere Vorbedingungen schaffen. Diese „anderen Vorbedingungen" lassen sich kurz in einen allgemeinen Vergleichsbegriff zusammenfassen, der lautet: Teuere Bafuweise. Wahrend in Deutschland zum Beispiel in den meisten Gegenden mit einfachen Fenstern das Auslangen gefunden werden kann, ist dies in österreich ganz ausgeschlossen und müssen stets doppelte Fenster die hier rauhen Witterungseinflüsse abhalten. Wenn die Bauten vor dem Kriege mit den üblichen Baustoffen zum Beispiel unter anderem mit gebrannten Ziegeln für das Mauerwerk, errichtet wurden, so muBte man, wie dies auch anderwarts geschah, nach dem Umsturze Umschau nach wohlfeileren Baustoffen halten. Es muBten mit einem Worte die überteueren Gestehungskosten durch alle erfaBlichen MaBnahmen herabgedrückt werden. Der in Deutschland erfolgreich verwendete Lehmbau konnte in österreich, trotz verschiedener Versuche, nicht heimisch werden. Hingegen bewahrten sich die mannigfaltigsten Betonhohlsteinsysteme sehr gut. Hand in Hand mit der Verwendung dieser neuartigen Baustoffe muBte auch seitens der zustandigen Baubehörden die in den verschiedenen Bauordnungen der Bundeslander nicht vorgesehenen Bauerleichterungen für Siedlungsbauten nachtraglich zugestanden werden. Diese Bauerleichterungen beziehen sich auf Zugestandnisse für geringere GeschoBhöhen, auf geringere Abmessungen von Aufbauelementen, Stiegenstufenhöhe und — wie bereits erwahnt — aus zuiassiger Verwendung von bisher nicht zugelassenen oder unbekannten Werkstoffen. Wenn vor dem Kriege in dieser Beziehung schwer Erfolge aufzuweisen waren, so vollzog sich nach dem Umsturze die behördliche Bewilligung solcher Bauerleichterungen zwangslaufig ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Die Gemeinde Wien schritt mit bestem Beispiele voran, indem sie sogleich bei Einsetzen der Siedlerbautatgkeit solche Bauerleichte- 348 Siedlungswesen rungen als ErgSnzung zur bestehenden Bauordnung kundgab. GroBe Schwierigkeiten bereitete die Einführung der Erkenntnis der Vorteile des Einfamilienhauses. Dem entwerfenden Architekten wurden stets die EinwSnde der zu teuren Gestehungskosten gemacht. Es laBt sich aber in vielen Fallen der Nachweis erbringen, daB das Einfamilienhaus, wenn es als Reihenhaus ausgebildet ist billiger zu stehen kommt, da an GeschoBhöhe und einfacherer Ausführungsart der Decken, welche zum Beispiel ohne Beschüttung hergestellt werden können, gespart werden kann. Wenn man dann noch die sozialen Vorteile des Einfamilienhauses sowie die Hebung der Wohnkultur in Betracht zieht, so ist der Vorteil ins Auge springend. Meine Erfahrung lehrt aber, daB ein starres Festhalten nur etwa am Einfamilienhaus allein auch nicht das für österreichische Verhaitnisse einzig richtige ist. Vielmehr ist es bei gröBeren Arbeitersiedlungen für die Industrien immer zweckmaBig, wenn verschieden gestaltete Einfamilienhausarten in ein und derselben Siedlung wechseln und auBerdem auch Mehrfamilienhauser eingesprengt sind. Die Bedürfnisse des einzelnen Siedlers sind so verschieden, daB nur auf diese Weise seinen Wünschen Rechnung getragen werden kann. Das Mehrfamilienhaus soll aber grundriBlich so gestaltet sein, daB die Wohnungen durch ganz getrennte Zugange auch die Eigenart von Einfamilienhausern erhalten, das geht aber nur dann, wenn zum Beispiel in einem Hause höchstens nur vier Wohnungen untergebracht sind. Eine Verbilligung der Gestehungskosten der Siedlungen besteht aber nicht nur allein darin, daB man wohlfeile Baustoffe zur Verwendung bringt, sondern auch sehr wesentlich darin, daB man durch die Vereinheitlichung (Normung) aller wesentlichen Baubestandteile Serienarbeiten herstellen lassen kann. Die österreichische Hochbaunormung hat in dieser Beziehung einvernehmlich mit der deutschen Reichshochbaunormung sehr ersprieBliche Arbeit geleistet und kommen die genormten Türen und Fenster, Holztreppen und dergleichen ohne Beeintrachtigung der schöpferischen sonstigen Lösung des Baues seitens des Architekten sehr umfangreich zur Anwendung. Welche Vorteile darin bestehen, daB zum Beispiel durch die genormten Fenster auch Glasscheiben genormt sind, also der Glaser nie MaB nehmen braucht, sondern nur für Normenfenster Nummer soundso viel die bereits zugeschnittenen Scheiben verwendet, braucht nicht erst besonders erörtert werden. Die groBzügigen Bauvorhaben verschiedener Siedlungsgenossenschaften sowie jene der österreichischen Industrien, brachten es mit 349 Siedlungswesen sich, daB oft in schwierigsten, gebirgigen Gelanden ganze Siedlungsdörfer entstehen. Welch' schönen und schwierigen, stadtebaulichen Aufgaben der Architekt da oft gegenübersteht, laBt sich mit keinem anderen Land als höchstens mit der Schweiz vergleichen. Es gibt für den Architekten keine schönere Aufgabe, als Siedlungen, als ganze Stadte zu bauen. Bei dieser Aufgabe empfangt er erst den MaBstab, den er seinen Schöpfungen anzulegen hat. In Stil und Anlage besonders eigenartig sind die neuesten Siedlungsbauten von Architekt Professor Dr. Josef Frank. Kennzeichnend für seine Hausarten ist die Verwendung von einfachen Trakten, wodurch die Gebaude etwas mehr in die Breite gezogen werden und dadurch auch breitere Garten entstehen. Besonders zweckentsprechend und wohnlich wirkt die abgebildete Wohnküche eines Hauses der Arbeitersiedlung in Ortmann. Des interessanten Baugelandes halber will ich den Lageplan der Knappensiedlung der Österreichisch Alpinen Montangesellschaft in Hüttenberg bringen, welche nach dem von mir und meinem Kollegen Jaksch gemeinschaftlich verfaBten Entwurf in Ausführung begriffen ist Das Baugelande befindet sich in 1000 m Höhe und ist ziemlich steil abfallend. Durch Schonung und Mitbenützung des Baumbestandes gelang es, wie aus dem gebrachten StraBenbilde ersichtlich ist, raumliche StraBenabschlüsse zu erwirken. Das steile Gelande erforderte auch teilweise die Errichtung von Stützmauern, welche in billigster Weise mit an Ort und Stelle gewonnenen schiefrigen Steinen hergestellt wurden. Den Witterungsverhaitnissen im Gebirge wurde der Baustoff angepaBt. Der Unterbau wurde in Hohlbetonsteinen, der Oberbau in Holzblockwanden errichtet. Als dort einzig entsprechende Dacheindeckung erschien uns das Holzschindeldach. Um gegen Feuersgefahr gesichert zu sein, erfolgte die Trankung der Dachschindel vorher in einer chemischen Lösung. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daB die ganze bisherige Siedlungsbewegung in österreich das erfreuliche Ergebnis zeitigte, daB die allgemeine Wohnkultur auf eine höhere Stufe gebracht wurde. C§3 350 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich Hermann Leiter Innerhalb der von Menschen gezogen en Staatsgrenzen ist die Wirtschaft durch eine Reihe von natürlichen Gegebenheiten bestimmt, deren starkere oder geringere Nutzung in der Hand der Bevölkerung liegt und in deren Meisterung die Wohlfahrt des Gebietes beruht. Im Weltkriege haben drei europaische GroBmachte ihre Weltgeltung eingebüBt. Auf dem Boden von zweien derselben: Österreich-Ungarn und RuBland entstanden mehrere Klein- und Mittelstaaten, von Deutschland wurden Gebiete abgetrennt. Unverkennbar tritt die Absicht der Westmachte hervor, Mitteleuropa in möglichst viel Kleinstaaten aufzuteilen, das nationale Moment unterstreichend, im eigenen Staatsgebilde aber nicht bloB verschiedene Völker, sondern verschiedene Rassen zusammenzufassen und zu einem möglichst einheitlichen Wirtschaftsgebiete zu vereinigen. Die Hauptursache der groBen Schwierigkeiten im Wirtschaftsleben und der Verzögerung des Wiederaufbau es ist die Zersplitterung in Mitteleuropa. Die neuen Staaten machen nun nach vierjahrigem Bestande nicht den Eindruck, daB Kleinstaaten eine besondere Lebenskraft innewohne, wie Rudolf Kjellén behauptet. Das jahrhundertelange Zusammenleben im gröBeren Verbande hatte zahlreiche wirtschaftliche Beziehungen entstehen lassen, deren ZerreiBung 1918 wohl nirgends genügend in Rechnung gestellt worden ist. Die Gründung der neuen Staaten hat gewiB auch Freude ausgelöst, die aber bald, besonders in österreich, Bestürzung und Verwirrung gewichen ist. Alles war plötzlich anders geworden, das Vertrauen zu den bisherigen Stützen desstaatlichen Lebens erschüttert, aufscheinende Rettungsmöglkhkeiten verschwanden gSnzlich oder rückten in immer weitere Fernen. Kein Wunder, wenn in der groBen Masse der Bevölkerung Österreichs der Gedanke der Lebensunmöglichkeit des Staates sich festgesetzt hat. 351 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich jeder einzelne ohne Rücksicht auf das allgemeine Wohl seinen Vorteil suchte, wobei nur wenige dauernden Gewinn erzielen können. Allmahlich kommt wohl auch in solchen Zeiten die Einsicht wieder zur Geltung, man besinnt sich auf die eigene Kraft auf den Wert gegenseitiger Unterstützung und sieht sich um, wie sich das Wirtschaftsleben anders wo, unter ahnlichen natürlichen Gegebenheiten, gestaltet hat Dabei zeigen sich mehrfach Vorbilder für österreich, deren Nachahmung berechtigte Hoffnung auf eine bessere Zukunft gabe. österreich besitzt gar mannigfaltige Aktivposten in seinem Boden und in seiner Bevölkerung, die in den folgenden Abschnitten naher dargestellt werden sollen. Die Flache von Österreich kann mit rund 84.000 km* (83.911 km*) angegeben werden, die Einwohnerzahl mit ungefahr 6,500.000 Köpfen. Die Republik österreich besteht aus folgenden neun Bundeslandern, die ihre eigenen Landtage haben: Flache Bevölkerune Zahlungsjahr Be^fch™ngs~ Wien 278 hm' 1,841.326 1920 6625 Niederösterreich-Land . . . 19297 „ 1,457.335 1920 75 Oberösterreich 11.982 „ 858.795 1920 72 Salzburg 7.153 , 214200 1920 30 Steiermark 16.375 „ 953.684 1920 58 Karnten 9.551 „ 366.589 1920 38 Tirol 12.645 „ 306.304 1920 25 Vorarlberg 2.602 „ 133.212 1920 51 Burgenland . 4.028 „ 292.795 1910 77 83.911 hm' 6,424.240 77 Die Flache von Bulgarien, Ungarn und Portugal ist ziemlich dieselbe; die Bevölkerungszahl aber stimmt nur in Portugal gleichfalls öberein, wahrend jene Ungarns etwas gröBer ist, die Bevölkerung Bulgariens aber nur etwas mehr als die Halfte jener Österreichs ausmacht. Die gleiche Volkszahl wie in österreich wohnt in Belgien und in Holland auf einem Areal, das etwa drei Achtel unseres Staatsgebietes miBt In der Schweiz, deren Bodenflache nur der Halfte der österreichischen entspricht, ist die Volkszahl etwas mehr als halb so groB wie in österreich, ein Ahnlichkeitsmoment mehr zwischen den beiden Staaten (österreich 77 Einwohner, Schweiz 93 Einwohner pro 1 km*). Mit der Schweiz, mit Ungarn und mit der Tschecho-Slowakei hat Österreich die Binnenlage gemeinsam; die direkte Berührung mit dem Meere fehlt. Die Binnenlage birgt Nachteile in sich gegenüber den Staaten am Meere, aber im heutigen Verkehrsleben mit dem regen Personen- und Güteraustausch muB die Lage österreichs, auf dessen Boden sich zwei Hauptrichtungen des Verkehrs in Europa vom Westen 352 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich nach Osten und vom Süden nach Norden kreuzen, wirtschaftlichen Vorteil bringen. In der Kreuzung der Hauptverkehrsrichtungen ahnelt österreich gar sehr Holland, Belgien und der Schweiz. Die wirtschaftliche Spannung, die sich zwischen Nordwesteuropa und den pontischen LSndern ergibt, findet ihren Ausgleich im Güteraustausch, der am leichtesten durch österreich möglich gemacht werden kann. österreich und sein Donauhafen Wien gleicht für den Verkehr in vieler Hinsicht Holland und Rotterdam, deren Aufgaben an der Nordseeküste jene nach dem Südosten Europas erfüllen. Der Umfang Österreichs ist, im Verhültnis zu seiner Flache betrachtet, groB und berührt fünf (sechs) Staaten: Deutschland, TschechoSlowakei, Ungarn, Italien und die Schweiz (Liechtenstein). Die nordsüdliche Erstreckung ist an der breitesten Strecke etwa 240 hm, die westöstliche aber 580 hm. Ahnliche Konfiguration zeigt nur noch die Tschecho-Slowakei. Der mittlere Breitenparallel ist in österreich ungefahr derselbe wie in der Schweiz, der 47° 30' nördlicher Breite. Das Land nimmt also sowohl zwischen Pol und Aquator wie zwischen See- und Landklima, die im Osten österreichs ineinandergreifen, eine Mittellage ein; die Zwischenlage aber wird durch die Höhenverhaltnisse abgeandert. Österreich ist wie die Schweiz ein Gebirgsland. Die mittlere Höhe Österreichs wurde zu rund lOOOw berechnet, jene der Schweiz zu 1300w, Ziffern, die die Schwierigkeiten andeuten, die die Landwirtschaft überwinden muB, die aber österreich gegenüber der Schweiz bevorzugt erscheinen lassen. Zum Vergleiche sei hier die mittlere Seehöhe Belgiens mit 150 m herangezogen jj die der Niederlande betragt nur ganz wenige Meter. Wie der Schweiz die Westalpen, so geben österreich die Ostalpen, die das Land zum weitaus überwiegenden Teil erfüllen, das Geprage. VerhaitnismaBiger Armut an landwirtschaftlichem Kulturgebiet steht betrachtlicher Reichtum an Forsten und Almen, an Mineralschatzen und Wasserkraften gegenüber. Das Gebirge ist hier breiter und besser gegliedert als in der Schweiz. Es steigt aus dem Alpenvorlande, dessen Südrand eine Reihe langgestreckter Seen begleitet, in immer höher ansteigenden Ketten empor; gegen Osten breitet es sich facherförmig in das ungarische Tiefland hinein (Rosaliengebirge, Günser Bergland), dessen Begrenzung durch zahlreiche Bruchlinien gegeben ist. Von der Donau gegen Süden vorschreitend, zeigt sich im Aufbau eine zonale Gliederung: die Sandsteine der Flyschzone, an die sich die nördlichen Kalkalpen schlieBen, 23 353 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich welche wieder eine Unterteilung in einen Vor- und Hochalpenzug gestatten, dann ein bald breiteres, bald schmaleres Band palaozoischer Schiefer, die massige Urgesteinszone und jenseits der Drau wieder ein Schieferband in inniger Durchdringung mit Kalken (Drauzug), wahrend in der Steiermark die Grenze in der Urgesteinszone nördlich der Drau verlauft. Hauptsachlich tektonisch bedingt sind die weiten, die Durchgangigkeit fördernden Langstaler, deren Flucht von Feldkirch (Vorarlberg) über Inn, Salzach, Enns bis zum Semmering die Nordalpen von den Zentralalpen scheidet, wahrend die Drau auf dem Boden Karntens letztere von den Südalpen loslöst Die Sandsteinzone, der sich in Vorarlberg noch Kalke zugesellen, ein wenige Kilometer breiter Streifen, verbreitert sich in ihrem östlichen Streichen jenseits der Traisen und schwenkt nordwarts. Mafiig hohe, sanft gerundete Rücken an deren Hangen, Gehöfte, Acker, Wiesen und Walder wechseln, und meist breite Taler geben der Landschaft ein freundliches Geprage. östlich der Salzach erreichen ihre Höhen nur ausnahmsweise noch 1000 m. Die betrachtiich steileren Kalkvoralpen mit gröBerem Waldreichtum, aber entt>prechend dünnerer Besiedlung, bilden 1200 bis 1600 m hohe, lange schmale Kamme, die ein Netz dichter besiedelter Langs- und Quertaler einschlieBen. Aus dem dichten Waldkleide ragen einzelne besonders. widerstandskraftige Gesteine als schroffe Felsformen (Sengsengebirge, Traunstein und andere) hervor. Die Kalkhochalpen reichen über die Waldgrenze hinaus in die Almenregion empor. In der Höhe zeigt sich auf weniger geneigten Flachen die Bildung von Karsterscheinungen. Nur die Taler haben groBen Wasserreichtum. Langgezogene, bis auf die obersten Kammteile wenig gegliederte, schmale, nach beiden Seiten schroff abfallende Ketten, kulissenförmig angeordnet, streichen von Vorarlberg bis zum Inn: „Die Lechtaler Alpen mit der vergletscherten Passeierspitze (3038 •/»), die Nordtiroler Kalkalpen mit Zugspitze (2968 m bayerische Grenze) und Solstein (2641 m). Nur wenige Lücken wie der FernpaB, der Seefelder Sattel, das Achen Tal und besonders der Inndurchbruch bei Kufstein gestatten eine Querung des Gebirges, in dem, wenig abseits der Verkehrswege, die Siedlungsdichte unter 20 sinkt." Machtige, meist gegen Norden geneigte, wegen ihrer Verkarstung schwer wegsame Plateaus, mit überaus steilen Abfallen, bilden die groBen Kalkstöcke der Salzburger- und österreichischen Alpen, deren höchste Gipfel, wie der Hochkönig (2938 m) in der Gruppe der Obergossenen Alm und der Dachstein (2996 »<). noch Gletscher tragen. 354 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich Mit 2075 m treten die österreichischen Alpen im Wiener Schneeberg bis an die Bruchlinie (Gloggnitz—Wien-NuBdorf) heran, die die Alpen gegen das Wiener Becken abschneidet. Bewegliche Schuttriesen an den Gehangen und Schutthalden zu deren FüBen, verstarkt durch die groBe Wasserarmut in den bedeutenderen Höhenlagen, drücken die Vegetationsgrenze oft tief herab. Tiefeingeschlossen in wildromantische Schluchten (PaB Lueg, Gesause) queren die Flüsse die Plateaus, wahrend in Langstalzonen und Talkesseln grünende Wiesen ihre Ufer saumen und zahlreiche Seen (Salzkammergut) den Reiz des anmutigen Landschaftsbildes noch erhöhen. Von den südlichen Randhöhen der Hochfiachen überblickt man die sanftgerundeten, vegetationsreichen Berge der Schieferzone. Im Westen noch über 2000 m ansteigend, reichen sie vielfach in die Almenzone hinein. Wald- und ödland, das charakteristische Landschaftsbild in den Kalkalpen, weicht hier auf dem wasserundurchlassigen Boden weiten Grasflachen, die den Almenreichtum der Allgauer und der Kitzbühler Alpen und deren überragende Vi'ehzucht bedingen. Kitzbühlerhorn und Schmittenhöhe bieten wundervolle Gebirgsausblicke. In dem östlichsten, niedrigsten Teile, der Eisenerzer Alpen, nimmt der Wald wieder weite Flachen ein. Der geringe Widerstand, den die hier vorherrschenden Tonschiefer der Verwitterung entgegenstellen, bedingt die bessere Ausgestaltung der Taler, deren gröBere Fruchtbarkeit und intensivere Besiedlung, nicht nur der Langstaler des Inn, der Salzach und der Enns, sondern auch der Quertaler, wie der Ziller und das untere Wipptal. Auch das Mur- und Mürztal, aus der Vereinigung mehrerer Becken entstanden, sind fruchtbar. Ersteres birgt im Aichfeld bei Judenburg auch reiche Braunkohlenlager, die, wie alle bedeutenden Erzlager der Nordseite, die Kupfererze Nordtirols und des Pongaus, die Eisenerze Obersteiermarks, an die Schieferzone gebunden sind. Diese Braunkohlenvorkommen und die Nahe des Erzberges mit der ringsum blühenden Eisenindustrie bedingen die dichte Besiedlung des Talzuges. Im gröBten Teile der Norischen Alpen mit Höhen von 2200 bis 1500 m, die auBerhalb des Vergletscherungbereiches der Eiszeit lagen, herrschen wenig gegliederte, reich bewaldete Mittelgebirgsrücken vor, die schmale Almenzonen saumen. An den sonnseitigen Gehangen klimmen Felder und Siedlungen weit empor. Das Rosaliengebirge, der östlichste Vorposten, ist in Wald gehüllt, aber in der Buckligen Welt, wie auch in der Umrahmung des Grazer Hügellandes, steigen die Siedlungen bis zu den Rückenplateaus hinan. 23* 355 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich Niedere Tauern, Seetater und Qurktaler Alpen mit ihren frogförmigen, die Gehange stSrker gliedernden Seitentalern und Karen, die die RQcken in scharfe Grate wandeln, bilden den Obergang zum Hochgebirge. Neben den reichen Landschaftsformen eiszeitlichen Ursprungs treten jene stark zurück, die die Bedeutung der Gesteinsunterschiede ffir Kamm- und Talbildung erkennen lassen. Die Gebirgsstöcke der Rhatischen, ötztaler und Stubaier Alpen (Wildspitze 3774 m, Zuckerhütl 3511 m) zeigen von einem kurzen Mittelstück radial auslaufende Seitenkflmme, die die Entwasserung des Gebietes beeinflussen. Weite Gebiete ragen über die Waldgrenze hinaus und tragen Vergletscherung, aber, wie in allen massigen Gebirgen, steigen alle Kuituren ziemlich hoch empor. östlich des Brenners dagegen, die Zillertaler Alpen (Hochfeiler 3523 m), die Höhen Tauern (GroBvenediger 3660 tnt GroBglockner 3778 m) und die Niederen Tauern (Hochgolling 2863 m) werden von Parallelketten gebildet, die durch LangstaMer und deren rechtwinkelig einmündende, gleichfalls parallel verlaufende Seitentaler fiederförmig gegliedert sind. Nicht seiten tragen die SeitenkSmme die höchsten Gipfel (GroBglockner). Auch sie sind stark vergletschert und wenig gangbar. — Wenige hochgelegene Joche knapp an der Staatsgrenze (Reschenscheidek 1490 m, Brenner 1370 m und andere) vermitteln den Verkehr über das Gebirge. Charakteristisch ist der groBe Wasserreichtum bis in betrachtliche Höhen und das Abfallen der Taler zum Haupttale in gewaltigen Stufen, deren Hintergrund saftige Matten einhüllen (Gasteiner Tal, Fuscher, Kapruner Tal) und die heute günstige Voraussetzungen für die Umwandlung der Wasserkraft in Elektrizitat bilden. Die dauernde Besiedlung reicht bis 1700 m, im Ötztalergebiet ausnahmsweise sogar bis 1900 m empor. Infolge des milderen Klimas ist hier die Besiedlung in den Talern dichter als in den Kalkalpen und nur die bedeutende Erhebung des Gebirges über die Siedlungsgrenze hinaus, drückt die Siedlungsdichte auf die niedrigsten Werte herab. Von den südlichen Kalkalpen fallen nur die Nordabdachung der Karnischen Alpen und der Karawanken, die die Drau von lnnichen (Italien) in östlichem Streichen bis zum Bachergebirge (schon südslawisch) begleiten, auf österreichisches Gebiet. Sie zeigen eine innige Verbindung von Kalk- und Schiefergestein. Die weiBen Mauern am Südrande des Klagenfurter Beckens erinnern in den Talformen an jene Nordtirols. An die zwischen den Kalken der Karawanken durchziehenden Granite knüpfen sich die Mineralquellen bei Villach und Eisenkappel. Drau- und Gailtal, noch im Urgestein eingeschnitten, 356 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich sind auBerhalb der versumpften Gebiete fruchtbar und dicht besiedelt lm Klagenfurter Becken tauchen hin und wieder die Schiefer empor. Seewannen und Moranenwalle, Zeugen einstiger Vergletscherung, fruchtbare Landstriche, bewaldete Kuppen und Sumpfniederungen gestalten das Landschaftsbild mit seiner Gebirgsumwallung besonders reizvoll. Das Klima aber ist hier kontinental. Die beiden Buchten des Grazer Hügellandes und des Wiener Beckens sind Auslaufer des ungarischen Ti et landes. Das Grazer Becken wird im Osten halbkreisförmig von Urgebirge umschlossen, freundliches, fruchtbares 300 bis 500 m hohes Hügelland mit reichem Gebreide und Obstbau, das als köstlichstes Kleinod, zwischen Gebirge und Ebene eingebettet, Graz, die Hauptstadt der grünen Steiermark, birgt. An das Auftreten jungvulkanischer Kuppen nachst der ungarischen Grenze knfipfen sich die Mineralquellen von Gleichenberg. Das Wiener Becken mit seinem südlichen Auslaufer, dem Steinfeld, dessen Norden und Osten noch fruchtbares Ackerland erfüllt, hat sich mehr und mehr zu einem Industriezentrum entwickelt. Vor dem Ausgreifen der stark anwachsenden Textil-, Eisen- und Mühlenindustrie in der Mitte und im Westen besonders wich der Feldbau zurück. An der Bruchlinie, welcher RebengelSnde folgen, reiht sich ein Kranz vielbesuchter Badeorte: Mödling, Baden, Vöslau, Fischau, Deutsch-Altenburg und andere und eine Reihe stadtischer Siedlungen, die den Lebensbedingungen des benachbarten Wien unterworfen sind. Selbst bei AusschluB Wiens, ist hier das Gebiet intensivster Besiedlung (etwa 200 pro 1 hm1), wahrend das industriearme Grazer Becken einschlieBlich der stadtischen Siedlung nur 125 erreicht. Jenseits des Leithagebirges,der Ostbegrenzung des Wiener Beckens, und nördlich vom Günser Sporn haben wir gleichfalls ein Senkungsfeld, das zur oberungarischen Tiefebene abbricht. Einen guten Teil dieser Landschaft nimmt der Neusiedlersee ein, der groBe Wasserschwankungen zeigt, und der Heideboden, den die Donau und ihre Nebenflüsse aufgeschüttet haben. Der östlichste Teil des Burgenlandes hat schon Anteil am Moorgebiet des Hansag. Durch eine Scheinabstimmung hat Österreich das ihm ursprünglich zugesprochene deutsche Siedlungsgebiet um ödenburg eingebüBt und das Burgenland wird so durch eine künstliche Einschnürung in zwei Teile geteilt, die nur schwer miteinander in Verbindung treten können. Das Gebiet nördlich der Alpen bis zur Donau, ein überwiegend fruchtbares Gelande von 500 bis 200 m Höhe, das Alpenvorland, im westlichen Oberösterreich etwa 70 hm breit, verengt sich gegen Osten 357 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich bis auf rund 10 hm (bei St Pölten), wo ihm die breite FluBebene des Tullnerfeldes ein Ende setzt Tone und Sande, eines den Nordrand der Alpen umspülenden jungtertiaren Meeres und marine Formationen eines einst die ganzen Donauiander erfüllenden Meeres, lagern in verschiedener Machtigkeit (bei Bad Hall in Oberösterreich 1037 m) über demselben Urgestein, das 20 hm nordwarts am Südrande des böhmischen Massivs wieder hervortritt Den marinen Schichten sind die kontinentalen Schichten des Braunkohlenflözes des Hausruck aufgelagert, den 800 m machtige, grobe FluBgerölle begruben, die den dichtbewaldeten Hausruck aufbauen. Moranenwalle eiszeitlicher Gletscher am Ausgange des Salzach-, Traun- und Kremstales und weite Schotterflachen der Gletscherwasser auf der Hochflache zwischen Traun und Enns drückem diesem Gebiete ihren Charakter auf: waldige Kuppen und gut bebaute HOgelwellen wechselnd mit versumpften Seewannen und kleinen Seen — altere und jüngere Schotterterassen (meist auf gröBere FluBlaufe beschrankt), die obersten mit fruchtbaren LöB bedeckt, die unterste steinig, waldreich, die verkehrreichsten Hauptsiedelungen und industriellen Anlagen tragend. Von flach eingeschnittenen Talern reich gegliedert, ist die Tertiar-Hügellandschaft ein sehr fruchtbares Getreide- und Gartenland mit reicher Viehzucht. Die landliche Siedlungsform ist der Einzelhof. — Aber die Donau begleitet den Rand des Alpenvorlandes nur streckenweise. Durch die StoBkraft der Wasser der ihr zuströmenden Alpenflüsse nordwarts gedrangt schnitt sie, als sie ihren Lauf tiefer legte, auf einigen Strecken in das granitische Gestein des böhmischen Massivs ein, so daB in ihrem Laufe Talweitungen mit Engtalstrecken wechseln. Oberhalb Passau tritt die Donau in die harten Granit- und Gneisgesteine der böhmischen Gebirgsmassen ein, hat sich darin ein tiefes Bett gegraben bis Eferding und Linz und bleibt in einem, wenn auch unterbrochenen, felsigen Bett gefangen bis zum Ostrande des böhmischen Urgebirges bei Krems, schneidet also ganze Teile von der Hauptmasse los. (Höhen südlich von Linz, Felsen von Melk, Göttweih und andere); und heute noch setzt der Strom am Struden bei Grein seine Arbeit fort, soweit sie nicht durch Menschenhand vollendet oder unterbrochen wurde. Bei Krems veriaBt der Strom das Urgebirge und tritt die Sandsteinzone der Alpen querend, bei Klosterneuburg wieder in ein Engtal ein, das durch eine Senkung des Gebirges entstanden ist, der auch das inneralpine Becken von Wien seinen Ursprung verdankt Zwischen Leopoldsberg und Hainburg, ehe die Donau die nachste Enge erreicht, vollzieht sie eine Wendung 358 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich nach rechts. Sie unterspült das rechte Ufer und bildet einen langen Steilrand (Wagram) von NuBdorf bis Deutsch-Altenburg (Karnuntum), wo sie das Absinken der Lagermauern von der Pratorialfront des einstigen römischen Standlagers verursachte. Der linke Steilrand liegt weit nördlich vom Strom, dessen Ufer hier wildreiches, oft überschwemmtes Auenland begleitet, hinter dem sich das Marchfeld weitet. Und in einem neuen Durchbruch muB sich der Strom zwischen Hainburger Bergen und Karpathen den Weg nach Ungarn bahnen. Das Gebiet nördlich der Donau, das oberösterreichische MÜhlund das niederösterreichische Waldviertel, gehört zur böhmischen Masse; sie bilden eine aus Gneis und Granit aufgebaute 400 bis 700 m ansteigende Hochflache mit reichem Waldkleide, in das durch Rodung betrachtliche Lücken gerissen wurden, welche die Siedlungen mit den sie radial umschlieBenden Kulturflachen füllen. Tausende ausgewitterter Granitblöcke überragen den Granitboden. Die Flüsse (Mühl, Aist, Krems. Kamp, Thaya) streben, in steilwandige Taler gebettet, nach Süden, beziehungsweise nach Osten. Das Klima ist rauh, im Winter besonders kalt. Textil- und Glasfabrikation, die sich hier festsetzten, erhöhten die Siedlungsdichte. Das Waldviertel bricht mit einem 200 bis 300 m hohen Steilrand zu einem breiten Hügellande ab, das seinem Aufbaue nach als Fortsetzung des Alpenvorlandes zu betrachten ist. Jungtertiare marine Ablagerungen, die mit der sie überziehenden LöBdecke fruchtbares Acker- und Gartenland (Weinbau) bilden, breiten sich aus, doch treten in ihrer Mitte auch schon Glieder des Karpathensystems als isolierte Berggruppen hervor, Glieder des auBersten Karpathenbogens: Bisamberg und Rohrwald sowie die Leiser Berge in der Gegend von Ernstbrunn, letztere aus Jurakalken aufgebaut. Im Osten haben wir das Marchfeld, einen bis auf einige trockene Schotterflachen und die versumpften Auenniederungen fruchtbaren Landstrich, der buchtenförmig an den den WeiBen Karpathen entströmenden Gewassern ostwarts ausgreift, innerhalb dessen aber die March zwischen österreich und der Tschecho-Slowakei die Grenze bildet. Auf die Mittellage Österreichs zwischen Aquator und Pol einerseits und zwischen dem See- und Landklima Europas anderseits wurde schon hingewiesen. Diese Zwischenlage kommt im Osten österreichs auch recht deutlich in dem Ineinandergreifen der baltischen und pontischen Flora zum Ausdruck. In niederen Lagen haben wir für die Nutzpilanzen der mittleren Breiten vorzügliche Voraussetzungen im Klima, das sich hier frei von Extremen zeigt. österreich ist aber 359 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich zum gröBten Teil Gebirgsland und die Erhebungen verandern nun Warme und Feuchtigkeit und ihre Verteilung. Als mittlere Jahrestemperatur kann für das schmale Land, auf den Meeresspiegel zurückgeführt, 10° C. angegeben werden. Die Temperatur nimmt mit der Höhe ab; im Winter, wenn der Boden in den langen Nachten am starksten Warme ausstrahlt, ist die Abnahme nach der Höhe langsamer als im Sommer. Am raschesten erfolgt sie mit der Höhe zur Zeit des Frühsommers, wenn die Warme in den höheren Lagen zur Schneeschmelze verbraucht wird. Im Jahresmittel betragt die Temperaturabnahme mit der Höhe 058° C. für je 100 m. An den Randern der Alpen ist die Abnahme etwas starker als in den massigen Teilen im Innern, so daB hier mit den Isothermen auch einzelne Höhengrenzen emporrücken. Mit der Abnahme der Temperatur nach der Höhe wird auch der Wasserdampfgehalt der Luft ein geringerer und damit die Lichtsterke vermehrt. Die gröBere Intensitat der ultravioletten Strahlen übt ihre chemische Wirkung auf die Pflanzen wie auf die Haut des Menschen. Mit ihrer starkeren Trockenheit und der Lichtfülle ahnelt die Höhenluft der Atmosphare in subtropischen Breiten und die Pflanzen zeigen nicht nur ahnliche satte Farben wie die des Mediterrangebietes, sondern sie sind auch vielfach mit den gleichen Schutzmitteln gegen zu starke Verdunstung geschützt. Die starke Einstrahlung der Warme auf den Höhen hat eine hohe Bodentemperatur zur Folge, so daB Roggen und Gerste in den Hochtaiern rascher reifen als unten. Durch die hohe Bodenwarme und die Lichtfülle unterscheidet sich das Gebirgsklima wesentlich von dem der polaren Regionen. Für das Klima unserer Gebirgsgegenden sind ferner Exposition und Beschattung noch von gröBerer Bedeutung. Der Neigungswinkel, unter dem die Sonnenstrahlen einfallen, vergröBert sich noch um den Betrag des Böschungswinkels auf der Sonnenseite. Bei einem Böschungswinkel von 20° wird im Sommer in unseren Breiten ein fast senkrechtes Einfallen der Sonnenstrahlen erzielt, wahrend sich der Einfallswinkel derselben auf der Schattenseite um den Böschungswinkel verringert. Für einzelne Stellen im Gebirge wird das Sonnenlicht durch hohe Berge abgehalten und damit die Tagesdauer empfindlich gekürzt. Mit der Höhe vermindert sich die jahrliche Warmeschwankung; das Gebirgsklima nimmt einen ahnlichen Verlauf wie das der Küstengegenden. Beiden ist eine Verspatung der Extreme gemeinsam. Die fietsten Monatsmittel fallen in den höheren Lagen erst in den Monat Februar, die höchsten in den August. Der Herbst ist in den gröBeren 360 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich Höhen warmer als der Frühling. In den geschlossenen Beckenlandschaften in den Alpen tritt im Winter in langeren Kalteperioden bei hohem Barometerstand eine Temperaturumkehrung ein, indem der Boden viel Warme ausstrahlt, die erkalteten Luftschichten dann an den Gehangen abwarts flieBen und sich nach ihrem spezifischen Gewicht, also die kaltesten zu unterst, lagern. Daher findet man am Boden die tiefsten Wintertemperaturen, wahrend Gehange und Terassen warmer sind. Besonders tiefe Temperaturen gegenüber ihrer höher gelegenen Umgebung sind charakteristisch für das Klagenfurter Becken, für Pinz- und Pongau, den Lungau und das obere Murtal. Die Erhebungen verursachen eine ungleiche Verteilung der Niederschlage. Die den Winden ausgesetzten Vorderseiten der Gebirge sind niederschlagreicher als die im Windschatten befindlichen. Mit der Höhe des Gebirgszuges wachst die Niederschlagsmenge, weil die Luft zum Aufsteigen in immer kühlere Gegenden gezwungen wird, aber von 2000 *»» an findet man die Niederschlagsmenge ziemlich konstant, es lafit sich vielmehr in den noch höher gelegenen Teilen eine Abnahme feststellen. Im Allgemeinen ist die Luvseite der Gebirge im Winter milder, im Sommer gemaBigter, kühler, weiBt also ein gemaBigteres Klima auf als die Leeseite, deren Temperaturunterschiede wahrend des Jahres gröBer sind. Da man darangeht, die Wasserkrafte für die Elektrizitatserzeugung zu nutzen, werden die Niederschlagsund AbfluBverhaitnisse immer genauer untersucht. Das abflieBende Wasser hat heute viel gröBere Bedeutung wie in früheren Zeiten. Seit langem schon werden Alpenbache und Flüsse zum Transport von Holz benützt. Der Donaustrom ist ein uralter Verkehrsweg. Es sei hier nur noch daran erinnert, daB unsere Alpenbache zahlreichen Gewerben Betriebsstoff (die Kraft) liefern, wie auch für einige, zum Beispiel Textilwarenveredlungsgewerben und Papiererzeugung einen unumganglichen Rohstoff. Diese Werte bestehen in erhöhtem MaBe weiter und zu ihnen gesellt sich nun das Bestreben, aus der Wasserkraft Elektrizitat zu gewinnen, die die mangelnde Kohle wenigstens zum Teil zu ersetzen vermag, wobei ein möglichst gleicher WasserabfluB wahrend des Jahres erforderlich ist. Es ergibt sich aber, daB unsere Flüsse dann Niederwasser haben, wenn der Bedarf an Elektrizitat in den kurzen Wintertagen am gröBten ist. Eine Rettung aus dieser Not sind die Alpenseen, die das nötige Wasser dann liefern, wenn es im Hochgebirge als Schnee und Eis festgehalten wird. Die Trockenheit im Sommer im Flachlande kann da nicht weiter schaden, weil die Bache und Flüsse dann von in Gletschern 361 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich aufgespeichertem Wasser gespeist werden. In Mitteleuropa gibt es nur in der Schweiz noch gunstigere natürliche Voraussetzungen für Hydroelektrizitatserzeugung. Hier sei auch auf den EinfluB des Waldes auf den AbfluB der Regenmengen hingewiesen. In waldreichen Gegenden ist die Wasserführung der Bache und Flüsse eine gleichmaBigere als in waldarmen, in denen, besonders nachiangererTrockenheit, auf dem hartgewordenen und im Gebirge steilen Boden der Regen sehr rasch der nachsten Tiefenlinie zuflieBt, wahrend der lockere Waldboden ihn aufschluckt und erst allmahlich abgibt. Der Wald schützt die Gehange vor Abschwemmen der Bodenkrume und sichert so den Bestand der Wirtschaft, ja selbst das Leben von Mensch und Tier vor Lawinen, Geröllmassen und Murbrüchen. Der Wald übt auch eine kleine ausgleichende Wirkung auf die Temperaturgegensatze zwischen Tag und Nacht, Sommer und Winter, ahnlich wie wir die Abkühlung der Luft an heiBen Sommertagen knapp am Ufer der Alpenseen wohltuend empfinden, in geringer Entfernung davon aber nichts mehr spüren Gibt es im Alpengebiet reichliche Niederschlage, so zeigt sich nach dem Osten österreichs hin eine starke Abnahme. Im nördlichen und östlichen Niederösterreich werden an einzelnen Orten hin und wieder ahnlich geringe Niederschlage im Verlaufe des Jahres gemessen wie in der ungarischen Tiefebene, 300 bis 400 mm. * Ist der Boden dabei locker und undurchlassig, sickert das Wasser rasch ein. wird die Wirkung des Regens noch vermindert. Hier leidet die Bodenbestellung unter dem Wassermangel; der viele Regen im Gebirge, bis über 2000 mm, bedingt die Bevorzugung der Feldgraswirtschaft gegenüber dem Getreidebau. Nach diesen Erörterungen über Boden und Klima ergibt sich eine Einteilung österreichs in ein Alpen- und Donauland, wobei ersteres Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Karnten und Steiermark umfaBt, also die hochgelegenen, weniger fruchtbaren Teile, letzteres die ebenen Gebiete am groBen Strome: Oberösterreich, Niederösterreich und das Burgenland. lm Alpenlande laBt sich leicht ein westliches und ein östliches unterscheiden: Vorarlberg, Tirol, Salzburg, die hohen, am wenigsten fruchtbaren Gebiete — an einzelnen Stellen, wie in den ötztaler Alpen, in den Hohen Tauern, im Steinernen Meere, erreicht die ödlandausdehnung 50 bis 60 % — und Karnten und Steiermark mit geringeren Höhen mit viel Wald und ausgedehnteren Ackerflachen. Eine Tabelle zeigt die Verteilung des nutzbaren Bodens und des Ödlandes in diesen groBen Unterscheidungen, und die von Weingarten, 362 Die geographischen Grundlagen der wirtschaft in Österreich Garten, Ackern, Wiesen, Weiden und Waldern auf der nutzbaren Flache. Setzen wir die Hundertanteile in Quadratkilometer um, so ergibt sich bei einem Vergleich mit der Schweiz ffir österreich eine nicht unwesentlich günstigere Lage. Nutzbare Flichen und Ödland in Prozenten I von der nutzbaren Flache entfallen Prozente auf "bar Ödland ^t'"n Oirten Acker Wiesen Weiden Walder Donauland 941 5'9 13 18 434 145 3 8 352 Alpenland 864 136 02 05 133 106 282 47*2 westliches 80*2 198 — 03 7-3 92 42-2 410 östliches 917 8-3 0-3 07 17-8 116 1T7 519 österreich 897 10 3 I 07 li 26*8 123 172 419 Schweiz 776 22 4 | 07 16 5 . 28*0 Die Flachen in Quadratkilometern: österreich 75 5201 8.39011 500 I 810 20.400 9 300113.300131.600 Schweiz 32029 9.269 225 . 5.000 17 500 9.034i Niederlande 24.008 8.282 — 740 8.841 11.826 2.6011 In Österreich ist die ackerfahige Bodenflache weit gröBer als In der Schweiz; berücksichtigt man die Bewohnerzahl, so kann man dieselbe noch immer als doppelt so groB bezeichnen. Gelingt österreich die Rückkehr zur Friedenserzeugung in der Landwirtschaft, so ist österreichs Erzeugung von Getreide aller Art dreimal so groB wie in der Schweiz, die im Frieden 76 hg auf den Kopf der Bevölkerung errechnet wurde, ffir österreich in seinen heutigen Grenzen etwa 225 hg betrfige. Damit waren bei uns noch keine Höchstleistungen erzielt, denn pro Hektar wurden nur 13 q geerntet, wahrend in Deutschland doppelt so hohe Ertrage gewonnen worden waren. Wohl sind die Verhaitnisse bei uns weniger gfinstig wie im Deutschen Reiche, aber bei guter Bestellung der Felder, Bewasserung im trockenen Wiener Becken, Entwasserung in den groBen Alpentalern und bei guter Dflngung ist eine Steigerung fiber die Friedensproduktion mit der Zeit wohl möglich. In den höheren feuchten Gebieten bleibt die Eggartenwirtschaft bestehen, die die Felder ein bis zwei Jahre bestellt, dann aber zehn Jahre als Wiesen nutzt. Diese Art der Landwirtschaft nimmt im Pinzgau und im Pongau bis zu 60% der Kulturflache ein. Unter Berficksichtigung der Friedenserzeugung ergaben sich ffir österreich ffir die Einfuhr von Brotgetreide und Hülsenfrüchten als Kopfquoten ungefahr die halben Summen wie in der Schweiz, etwa 363 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich 30 Goldkronen. Diese Bilanz muB durch einen Hinweis auf die Verhaitnisse in Holland und Belgien gewertet werden, deren Landwirtschaft auf der Fiacheneinheit die höchsten Ertrage erntet, kaum neues Ackerland gewinnen kann und pro Kopf der Bevölkerung einen EinfuhrüberschuB für Getreide aller Arten von 290 hg, beziehungsweise 315 kg im Fünfjahrmittel 1909 bis 1913 verzeichnet. An industriellen Rohstoffen kann die österreichische Landwirtschaft nicht viel liefern, zumal alle Anstrengungen gemacht werden müssen, die Ernahrung, so weit es geht, zu sichern. Gemüse- und Obstbau wird jetzt mehr gepflegt wie im Frieden, besonders rund um die gröBeren Siedlungen und selbst im Weichbilde von Wien bleibt kein Fleckchen unbebaut. Der Weinbau, dessen Erzeugnis nun viel umstritten ist, wird ja ebenfalls im Abschnitte Landwirtschaft wie Zuckerrübe und Getreide eingehender erörtert. Der Kartoffelbau bleibt weit hinter dem Bedarfe zurück. Die pflanzlichen Textilrohstoffe sind nur mit sehr beschetdenen Flachsmengen vertreten, trotzdem hier bis in die jüngste Zeit berühmter Leinbau betrieben wurde. Weberkarden aus Oberösterreich zum Herrichten besonderer Gewebe sind auch ein Gewachs, das aus der Landschaft verschwinden wird. Im Wiener Becken und im Burgenland finden Weichselstöcke Pflege, die in der Drechslerei geschatzt werden. In der Viehzucht muB österreich die Schweiz zu erreichen trachten. Grasland ist in jeder Höhenzone vorhanden. Bergwiesen durchsetzen den Waldgürtel und die Hochmatten reichen bis 2000 m und darüber hinaus. An den steilen Hangen ist die Heugewinnung mit viel Mühe verbunden; das Heu wird mit Steigeisen zur nachsten Sennhütte und im Winter dann auf Schlitten zu Tal gebracht In vielen Alpentalern führt der Mensch mit dem Vieh noch ein Nomadenleben. Er zieht im Frühling vom Tal zur Unteralm und steigt dann im Sommer zur Oberalm empor, um mit der vorgeschrittenen Jahreszeit allmahlich wieder zu Tal zu ziehen. Die Abwanderung zahlreicher Landbewohner in den vergangenen Jahrzehnten zur Stadt brachte der intensiven Almwirtschaft Schaden, denn die zur Verfügung stehenden Leute reichten nur mehr zu einer extensiven Viehzucht Den Bauer verbekten die hohen Fleischpreise zum frOhzeitigen Verkauf des Viehs, die Milchwirtschaft ging zurück. — Die Pferdezucht liefert auf den feuchten Almen der Zentralalpen, auf den Moorwiesen im Klagenfurter Becken, im Enns- und Salzachtal schwere Zugtiere, in Steiermark und in Karnten auch leichtere Schiage. Seit der Kriegszeit hat die Ziegen- und auch die Schafzucht sehr zugenommen. Von mancher Seite wird österreich zum Vorwurf gemacht, daB es in jüngster Zeit 364 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich zu viel Futtermittel, die der Bevölkerung direkt zugeführt werden sollten, fOr die Schweinezucht aufwende. Doch eine BevölkerungsanhSufung wie Wien braucht viel Fleisch, auch ohne daB die Fleischverbrauchsverhaltnisse Wiens der Vorkriegszeit so bald wieder hergestellt werden könnten, zumal sich die Lebenshaltung der Landbewohner gegenüber jener der Stadter sehr verbessert hat. Die Zahl der Haustiere in österreich wie in der Schweiz ist nicht allzu verschieden, wenn man in österreich die Friedensbestande zum Vergleich heranzieht, die Nutzung aber ist in der Schweiz eine viel bessere. Sie kann einen ExportflberschuB ausweisen, wahrend österreich trotz der jetzt bescheidenen Lebenshaltung seiner Bewohner eine nicht unbeMchtliche Einfuhrbelastung verzeichnet. Das gute Beispiel des Westens wirkt fördernd auf den Osten österreichs, wo der bajuvarische Bauer bisher an der überkommenen Wirtschaftsweise festgehalten hat. Die verhaltnismaBig mühelose, leichtere und vielfach geförderte GeflQgelzucht kann Österreich auch eine kleine Entlastung bringen, In der Tabelle der Verteilung der nutzbaren Flachen failt der groBe Anteil an Wald auf. österreich besitzt über 3,000.000 ha Wald. Die Halfte davon gehört zu GroBgrundbesitz, Staat, ehemaligem Adel und Kirche, die andere Halfte ist mittel- und kleinbauerlicher Besitz. Der GroBgrundbesitz hat der Waldverwüstung der Sechziger- und Siebzigerjahre des verflossenen Jahrhunderts Einhalt getan und der heutigen bedrangten Wirtschaft ein sehr wertvolles Kapital überliefert. Auf die wichtigen Aufgaben des Waldes gegenüber der heutigen Wirtschaft wurde zum Teil schon bei Besprechung des Klimas hingewiesen. Im Wechsel der Zeiten hat sich eine Anderung in der Zusammensetzung der Waldbestande vollzogen. Die rascher wachsende Buche hat vielfach die Eiche verdrangt, muBte aber selbst haufig wieder Nadelbaumen weichen. Am Ostrande der Alpen wird auf den trockenen Böden der pontischen Flora zu die Schwarzföhre haufiger, und einzelne Vorkommen der eBbaren Kastanie verraten Warmeinseln im Osten österreichs. In den niederen Lagen sind die Bestande starker gemischt als in den höheren, die meist von Fichten eingenommen werden, deren obere Grenze Zirbelbaume saumen. Die Vorkommen von Alpenrosen darüber hinaus sind Restbestande alter Waldungen, die Ménschenhand vernichtet hat. Der groBe voikswirtschaftliche Wert der Walder fordert die SchlieBung der Lücken im Waldkleide, die natürliche Gewalten, Lawinen und Steinschiage, aber auch die Bewohner gerissen haben. Ein spater Baumzuwachs in der Flora der Landschaft um Wien ist die die 365. Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich StraSenzOge saumende Robinia pseudoacacia, die den lockeren LöBboden festhalten hilft und deren stark duttende Blüten emsigen Bienen reichlich Nahrung bieten. Das Streben reicher Industrielier und Bankleute nach groBen Jagdgebieten hat die Waldareale seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auf Kosten des anbaufahigen Bodens anwachsen lassen, doch haben weder der Ertrag der Jagd noch jener der Fischerei nennenswerte Bedeutung für die Fleischversorgung der Gesamtbevölkerung. Durch die zahlreichen Bauernjagden ist die Fauna der Alpen schon eine recht einförmige geworden. Der jahrliche Holzzuwachs kann mit 10,000.000 ms angegeben werden, eine Menge, die für die holzverarbeitende Industrie als Bau- und Brennholz ausreicht. Die reichen Fichtenbestande liefern Rohmaterial für die Papiererzeugung und auch für hochwertige Ware, wie Kunstseide. Für das Kunstgewerbe müssen wohl geringe Mengen von Qualitatshölzern eingeführt werden, dafür kann aber das heimische Holz, möglichst weit verarbeitet und dann ausgeführt, einen Teil unserer Einfuhr aufwiegen. Neben dem Walde liefert die Bergwirtschaft der Industrie groBe Mengen von Rohstoffen. AnschlieBend an die Bergwirtschaft soll auch die Kraftwirtschaft eine knappe Schilderung finden. — Die verschiedenartigen Gesteine, die den Boden österreichs aufbauen, gestatten eine recht mannigfaltige Bergwirtschaft, deren Ertrag ein wichtiger Teil unserer Volkswirtschaft werden kann. Wiederholt hat in früheren Zeiten die Bergwirtschaft Anreiz zur Besiedlung einzelner Gegenden gegeben, so der Salzbergbau am Hallstatter See, die Kupfererzlager am Mitterberg in Salzburg in keltischer und römischer Zeit norisches Gold und Eisen, lockte die Römer an. Die Edelmetallvorkommen in den Tauern boten die Mittel zu einer Glanzzeit in Gastein und Salzburg, die Eisenwerke im Mur-, Mürz- und Ennstale brachten viel Geld in die Gegend. Im Laufe der Jahrhunderte anderte sich so manches unter Beziehung zu ferneren Gegenden, was nicht ausschlieBt, daB heute so mancher verlassene Betrieb wieder aufgenommen wird. Als jüngster Zweig sei der Abbau der Phosphatlager in den Höhlen der Kalkalpen erwahnt, die unserer Landwirtschaft die teueren auslandischen Kunstdüngemittel ersetzen sollen und uns so mit dem gesteigerten Ernteertrag vom Auslande weniger abhangig erscheinen lassen. Vergleichen wir den Ertrag von österreichs Bergwirtschaft mit jenem der Schweiz, so ist er ein Vielfaches desselben, ebenso des hollandischen — wie auch der des südslawischen Staates bleibt hinter ihm zurück. — An Metallen besitzt österreich 366 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich sehrbekannte Lagerstatten an Eisen: der Erzberg in Steiermark und der bei Hüttenbergin Karnten, neben welchen sich aber noch viele kleinere reihen, die sich von Niederösterreich bis nach Tirol erstrecken und das Eisen linsenförmig, bald auf einer Unterlage von devonischen Gesteinen (Kalken), bald auf kristallinen Schiefern zeigen. österreich besitzt in Bleiberg in Karnten ein gröBeres Bleibergwerk und noch einige kleinere, abbaufahige Vorkommen (Gruben, Radnig, Kolm, Schleinitzen in Karnten, Türnitz in Niederösterreich, am Arlkogl bei Steg in Oberösterreich, Deutsch-Feistritz und Guggenbach in Steiermark, im Tannengebirge in Salzburg und bei Imst in Tirol), die wahrscheinlich aus heiSen Quellen (vulkanischen) stammen und weit in die Tiefe reichen. Gleichzeitig werden Zinkerze gefördert, die aber im Inlande nicht verhüttet werden können. Vielversprechend scheinen die Kobald- und Nickelvorkommen in der Schladminger Gegend und bei Leogang. Antimon wird in kristallinen Schiefern bei LeBnig im Drautale und bei Pinkafeld im Burgenlande gewonnen. Kupfererze werden am Mitterberg, in den Radstatter Tauern und in Tirol abgebaut. Die Kupferhütte in AuBerfelden ist ein moderner Betrieb, aber die hochentwickelte Metall- und Maschinenindustrie in österreich verbraucht mehr Kupfer als der Bergbau liefert. In AuBerfelden ergibt die elektrolytische Kupfergewinnung als Nebenprodukt einige Kilogramm Gold, wahrend der unmittelbare Bergbau auf Gold in den letzten Jahren ruhte. Die Hohen Tauern enthalten aber zahlreiche, ehemals recht ergiebige Goldlager, von denen das Goldfeld am Rathausberg neben dem siebenbürgischen als bedeutendstes in Europa genannt wird. Auch hier fehlte bisher das nötige Kapital, um die von bewahrten Geologen verzeichneten Erze aus der Tiefe zu holen. Die Regierung beteiligt sich in der Zukunft an diesem Bergbau. Aktivposten unserer Bergwirtschaft sind ferner Graphit, Magnesit und Salz. Der Graphit aus den alpinen Fundstatten erfreut sich seit den Kriegsjahren einer gröBeren Verwendungsmöglichkeit und steht in groBen Mengen zum Export zur Verfügung. Oft genannt sind die österreichischen Magnesitvorkommen in Steiermark (Veitsch) und Karnten, die von keiner anderen, derzeit bekannten Lagerstatte, fibertroffen werden, weshalb die Magnesiterzeugnisse im Auslande sehr begehrt sind. Die Salzlager in österreich geben bei genfigender Brennstoffversorgung der Sudwerke, Exportmengen. Das Salz ist auch Rohstoff ffir die chemische Industrie, in den verschiedenen Solen sind Heilmittel. Die Solbader österreichs erfreuten sich in normalen Zeiten eines starken Besuches. Neben der Sole ist zugleich die 367 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich würzige Alpenluft ein wertvoüer Förderer angegriffener Gesundheit. Der Aufbau unserer Alpen bedingt stellenweise das Hervorquellen von Mineral- und Thermalwassern, deren Zusammensetzung haufig die der Wasser weltberühmter Kurorte erreicht oder doch nahe kommt: Gleichenberg in Steiermark hat ahnliche Wirkung wie die Emser-Quellen, Grubegg bei Aussee wie Nauheim. Zahlreich sind die schon erwahnten Schwefelbader am Ostabfalle der Alpen, die bis in das Weichbild von Wien reichen, weltberühmt die belebende Kraft der Gasteiner radioaktiven Thermalquellen. Wie die Schweiz, Ungarn und Italien ist österreich aber arm an Kohle. Einige kleine Steinkohlenlager sind in Niederösterreich wohl vorhanden, aber deren jahrlicher Abbau betragt nur etwa 100.000 t; würde er vergröBert, erschöpfen sich die Vorrate noch früher. Die Braunkohlenvorkommen sind reichlicher, aber selbst eine Förderung, die auf den Bestand der Wirtschaft wenig Rücksicht nimmt, liefert im Jahre etwas mehr wie 4,000.0001, die 2,000.0001 Steinkohlê gleichzusetzen sind. Nach dieser Umrechnung steht uns im eigenen Kohlenbergbau nur ein Siebentel unseres Kohlenbedarfes zur Verfügung, sechs Siebentel müssen eingeführt werden. Dem örtlichen Bedarf dienen wohl noch eine Zahl von Torflagern. Die Kohlenwirtschaft wird aber durch immer rationellere Ausgestaltung zu sparsameren Methoden und dadurch zur Verminderung unserer Einfuhrmengen an Brennstoff gelangen. Leider waren die bisherigen Bohrungen auf Erdöl und Naturgas, die beide nach der Analogie des Schichtenbaues am AuBenrand der Karpathen und Alpen vorhanden sein müssen, im Alpenvorland nicht so ergiebig, als man gehofft hatte, doch sind sie eine Hoffnung der Wirtschaft der Zukunft. Der Kohlenbedarf kann einmal zur Halfte durch die Elektrizitat, gewonnen aus Wasserkraft, ersetzt werden. In österreich sind rund 4,000.000 PS an Wasserkratten vorhanden, von denen, nach Abzug der bereits ausgenützten Kraftstufen und unter Ausscheidung unvermeidlicher Gefallsverluste sowie unrationeller Gefallsstufen mindesten 2,000.000 PS als gunstig ausbauwürdige Kraftstufen betrachtet werden können. Die erwahnten Kraftleistungen sind für Niedrigwasser ermittelt worden, entsprechen daher der geringsten Dauerleistung für das Gesamtjahr. Eine Berechnung der Jahresdurchschnittsleistung der auszubauenden Wasserkrafte ergibt rund 3,700 000 PS, also eine weit gröBere als die Bedarfsziffer, die mit 1,200.000 bis 1,500.000 PS geschatzt wird. Die Elektrizitat setzt österreich in den Stand, seine Verkehrsmittel auszugestalten, schienenlose Oberland- und Stadtbahnen zu bauen, die groBe Steig- 368 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich fahigkeit besizten und dem jahreszeitlichen Bedarf eines Gebirgslandes in vieler Hinsicbt besser angepafit sind als kostspielige Schienenwege. Sehen wir weiter, ergibt sich vielleicht die Möglichkeit einer Ausfuhr von elektrischer Energie aus Karaten nach Süden, aus Vorarlberg nach der Schweiz, aus Tirol nach Deutschland, die sehr begehrt ware, eine Ausfuhr, die die Gütermenge des eigenen Landes nicht mindert und doch viel auslandisches Geld in das Land brachte. Für das Inland zeigen die in Bau befindlichen groBen hydroelektrischen Anlagen eine UmschlieBung der groBen Industriegebiete in Steiermark, Oberösterreich und Niederösterreich, und es wird aller Voraussicht nach auch davon noch Strom für Wien übrig bleiben, das selbst ein groBes Donaukraftwerk im Marchfelde plant. Bewahrte Techniker arbeiten an Planen für ein GroBkraftwerk in der Nahe von Wien, das gleichzeitig auch die Bewasserung eines Teiles des Marchfeldes übernahme und doch keine Gefahrdung für die Schiffahrt im Strome bedeutet. GroBe Bahnlinien werden schon in nachster Zeit mit elektrischen Lokomotiven betrieben werden. Hydroelektrizitat ist aber auch für viele Zweige der heutigen chemischen Industrie, wenn sie auch nicht ganz auf Kohle verzichten kann, eine unumgangliche Voraussetzung. Infolge des Kohlenmangels muBte Österreich in den letzten Jahren oft gegen seinen Willen untatig bleiben und erfuhr dadurch eine Steigerung seiner Not. Die weiBe Kohle soll uns einem neuen, günstigeren Lose zuführen und dabei werden die weitesten Schichten des Volkes aus Liebe zur alpeniandischen Heimat und im Vertrauen auf die Zukunft werktatig mithelfen. Gab die bisherige Darstellung eine Schilderung der durch die Natur gegebenen wirtschaftlichen Voraussetzungen, so mögen die folgenden über die Bewohner des Landes berichten, schafft doch der Mensch die Wirtschaft. Den Grundstock der heutigen Bevölkerung der österreichischen Lander gab das frühe Mittelalter. Im sechsten Jahrhundert besetzten die aus Resten der Markomannen und anderen Stammen hervorgegangenen Bajuvaren Bayern und Oberösterreich bis südlich der Donau und drangen in den angrenzenden Alpentalern nach Tirol und Salzburg vor, wahrend Alemannen das heutige Vorarlberg und die angrenzenden Teile Nordtirols besiedelten. Im Schutze des Avarenreiches, in den weiten Gebieten zwischen den Karpathen und den Auslaufern der Alpen, zogen slawische Stamme von der unteren Donau, deren Nebenflüssen stromaufwarts folgend, in die Alpeniander Karaten, Steiermark, Nieder- und Oberösterreich und lieBen sich hier nieder. 24 369 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich Dauernde staatliche Einrichtungen haben sich auf dem alpeniandischen Boden selbstandig nur zu geringem Teile ausgebildet; sie kamen ihm vom Westen her aus dem frankischen, beziehungsweise Deutschen Reich. Es ist hier nicht der Raum, ausführlich auf die Staaten und staatlichen Gebilde der Ostalpenlander einzugehen. Die kirchliche und staatliche Organisation, die Karl der GroBe seinem ganzen Reiche gab, umschloB auch die zwei Grenzprovinzen (Markgrafschaften) Ostmark und Friaul. Den Verheerungszügen der Magyaren folgte 955 nach Otto des GroBen Sieg auf dem Lechfelde die Wiederherstellung dieser Einrichtungen im allgemeinen, doch ohne genauere dauernde Abgrenzung gegen Böhmen und Ungarn, die erst allmahlich im Verlaufe des elften und zwölften Jahrhunderts erfolgte. Von den deutschen Königen begünstigt, entwickelten sich aus dem bayrischen Herzogtum heraus mehrere kleine eigene Verwaltungsbezirke : die babenbergische Ostmark, das Karnten, Krain, Teile von Steiermark und Istrien umfassende Herzogtum Karantanien und an dessen Ostgrenze die Karantanische Mark, die spatere Steiermark, die als eigene Markgrafschaft eingerichtet wurde. Salzburg und Tirol entstanden als PaBlander, als Lehensbesitz der Bistümer Trient und Salzburg. Die Verschieden heit der einzelnen Alpenlandschaften blieb aber auch dann noch erhalten, als das Haus Habsburg alle wichtigen Ostalpenlander als gemeinsames Lehen trug und bekundete sich immer wieder in den verschiedentlichen Teilungen des habsburgischen Besitzes in der eigenen Familie. Erst 1665 starb die letzte tirolische Linie aus, doch führte die Einigung aller Nebenlinien auch jetzt nicht zur Gründung eines einheitlichen Alpenstaates, blieben ja selbst die zwischen den einzelnen Erblandern bestehenden Maut- und Zollschranken bis 1775 bestehen. Wie tief die Trennung wurzelte, zeigen die Landtage der Alpeniander bis zur Gegenwart. Wie einst Westungarn mit der Ostmark Karls des GroBen verbunden war, so kehrte wenigstens ein Grofiteil des von Deutschen besiedelten westungarischen Gebietes durch die Bestimmungen der Friedensschlüsse von Saint Germain und Trianon in den Verband mit österreich zurück, der erst unter ferdjnand III. trotz des Protestes der Landstande Niederösterreichs und der Bevölkerung der betroffenen Gebiete selbst gelöst worden war. Stephan der Heilige (um das Jahr 1000) hatte die Grenzen des Magyarenreiches bis an die Leitha vorgeschoben und die Besiedlung Westungarns mit deutschen Kolonisten lebhaft gefördert. Durch Schenkungen ungarischer Könige an das Zisterzienserstift Heiligenkreuz kam das weite Gebiet zwischen Leitha und Neusiedler- 370 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich see und spater auch vom Ostufer des Sees bis Zurndorf in deutsche Hande. Zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts waren alle Ortschaften Westungarns deutsch, deutsch auch alle FluB- und Flurnamen. Erst nach dem Mongolensturm macht sich trotz der Wiederbesiedlung des Gebietes durch deutsche Kolonisten, aber nur in den amtlichen Kreisen, eine gewisse Magyarisierung geltend, die Verwendung magyarischer neben deutschen Namen, aber das Volk blieb deutsch und in steter Berührung mit den Stammesbrüdern jenseits der Leitha, ja kam wiederholt teilweise wieder unter österreichische Herrschaft. Erst als die Magyaren 1867 ihre eigene Staatlichkeit erhielten, setzte rücksichtslose Magyarisierung ein. Die heutige Sprachgrenze in den Alpen und im Westen Ungarns verdankt somit der bajuvarischen Kolonisation des achten bis zwölften Jahrhunderts ihre Entstehung, die donauabwarts gegen Osten und in sudlicher und südöstlicher Richtung in die Alpen vordrang, so in Tirol bis zur Talenge von Salurn im Etschtal und den Talengen der Lienzer Grafschaft im Pustertal, wo die Sprachgrenze schon seit tausend Jahren liegt, und fast ebenso schart im gröBten Teile der Karnischen Alpen verlauft, wahrend die Staatsgrenze im Friedensdiktate auf die Wasserscheide zwischen Inn und Etsch verlegt wurde. In Karnten selbst aber drang das deutsche Volkstum vom Westen, Nordwesten und Norden her gegen das Klagenfurter Becken vor, ohne es jedoch ganz zu erfüllen, so daB das untere Gailtal, Gebiete südlich des Wörthersees und östlich von Klagenfurt slowenisch blieben; aber Deutsche und Slowenen haben sich hier, wie es der Landesnatur entspricht und in der Volksabstimmung trotz der ungehinderten groBen Agitation des südslawischen Staates zum Ausdruck gebracht wurde, andern gegenüber stets als Einheit gefühlt. Im steirischen Hügelland blieb die deutsche Kolonisation wohl im Posruck und in den Windischen Büheln stecken, aber die Stadte waren deutsch und der südslawische Staat griff da nach deutschem Gebiet. Ostwarts flutetedie deutsche Kolonisation überall über den Gebirgsrand hinaus. So sitzen, wie schon angedeutet, die den bajuvarischen Siedlern von Oststeiermark verwandten Heanzen im starker gewellten Hügelland Westungarns und an den Gebirgsspornen bei Güns, ödenburg und im Leithagebirge, wahrend die walddrmeren Ebenen die Magyaren beherrschen. Die. früher sehr scharfe Sprachgrenze (Donauarme, Sumpfniederungen) wurde im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert durch Kroatensiedlungen und, wie schon erwahnt, seit 1867 durch die Magyarisierung in den Stadten stark vermischt. 24* 371 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich Das deutsche Volkstum Österreichs schiebt sich auf dem Boden der früheren Monarchie wie ein Keil in 300 km Lange und fast 250 km Breite in den Raum zwischen Karnischen Alpen und Nordrand des Böhmerwaldes, von der Drau bis nördlich der Thaya in Mahren, dessen Rander im Süden, Osten und Norden aus dem Verbande mit dem deutschen Volke gelöst wurden. Dichte Besiedlung haben allerdings nur Donautal, Alpenvorland, Wiener Becken, das niederösterreichische Weinviertel und die Randgebiete des ungarischen Tieflandes, wahrend das oberösterreichische Mühl- und das niederösterreichische Waldviertel ihrem Hochlandscharakter entsprechend dunner besiedelt sind; in den Alpen stehen gut besiedelten Talgronden sehr schotter besiedelte Gebirgslandschaften gegenüber. Wien zahlt ungefahr 1,800.000 Einwohner, eine Ziffer, die sich in der Obergangszeit noch ein wenig durch Abwanderung vermindern dürfte; das Leben auf dem Lande übt heute wieder mehr Anziehung aus, zumal die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft den Errungenschaften der Fabriksarbeiter angepafit wurden, ja denen gegenüber weitere Vorteile besitzen. Acht andere Siedlungen (Graz 158.000 Einwohner, Linz 94.000, Innsbruck 56.000, Salzburg 37.000, Wiener-Neustadt 35.000, Klagenfurt 26.000, St. Pölten 23.000, Steyr 20.000 Einwohner) zahlen etwa 500.000 Einwohner. In den Niederlanden leben in neun Siedlungen auch etwa 2,000.000 Leute und ahnlich auch in Belgien. Die Entwicklung der Industrie dieser Orte lafit eine gröfiere Verminderung der Bevölkerungszahl nicht mehr zu. Die Bevölkerung ist zu 95 % eine national einheitliche. Von Minderheiten wurden die Slowenen in Karnten, die sich mit den Deutschen als Karntner fQhlen und sich in der Mehrzahl für österreich entschieden haben, schon erwahnt. Im Burgenlande leben unter ahnlichen Verhaltnissen Kroaten, die seit jeher wirtschaftlich auf Niederösterreich und Wien angewiesen sind. Die meisten Fremdsprachigen leben in Wien; sie haben auch den Wiener Dialekt angenommen, ohne ihre Abstammung verleugnen zu können oder heute zu wollen, und betrachten Wien als ihre Heimat. Ein Teil der Fremdsprachigen in Wien, die erst in der letzten Zeit zugewandert sind, wird wohl nach der Klarung der Verhaitnisse wieder zurückwandern. Durch Boden und Geschichte und ganz bestimmte Kulturmission sind die bajuvarischen österreicher durch Blutmischung mit Franken, Schwaben, Alemannen, Slawen und Italienern ein Stamm eigener Art geworden, zu dessen hervorragendsten Eigentümlichkeiten eine sehr auffallige Mischung zahen Festhaltens an der Oberlieferung mit Welt- 372 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in Österreich sinn und der Gabe des Einfühlens in Neues, das aber in ganz persönlicher Weise verarbeitet wird, zahlt. Dies üuBert sich in besonderem MaBe in der Entwicklung, die die Kunst und das Kunsthandwerk in österreich genommen haben, die infolge der Fruchtbarkeit des österreichischen Talents, eine ausbaufahige Quelle des Wohlstandes sind. Das Bodenstandige der österreichischen Kunst liegt, wie Leisching ausführt, in dem nahen Verhaltnis der Künstler zur Natur. Weltsinn und Beweglichkeit vermittelt der rege Handelsverkehr durch österreich, der die schaftenden Menschen über die Beengtheit des Gesichtskreises hinaushob. Machtig beeinflussend wirkte aber auch die Fahigkeit des österreichischen Bodens nicht nur fremde Ideen, sondern auch fremde Individualitaten sich zu assimilieren. Eine groBe Zahl künstlerischer Krafte kam erst in Österreich, wo künstlerisches Schaffen eigentlich immer zugleich auch ein GenieBen war, zu voller Entfaltung. Die Ausbreitung, Intensivierung und Organisierung der österreichischen kunsthandwerklichen Arbeit im Zeitalter Karls VI., Maria Theresias (Kaunitz) und in der franziszeischen Zeit sowie im Laufe der letzten 70 Jahre zahlen zu den wertvollsten Erscheinungen der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Altösterreichs. Dank der Einwirkung von Museen und Schulen, der Wissenschaft und der Technik, unter dem EinfluB ausgezeichneter Künstler und weitblickender staatlicher MaBnahmen hat das österreichische Kunsthandwerk (Porzellanmanufaktur, Metalltechnik, Textilkunst, Glaserzeugung, Edelschmiedearbeit, Bronze-, Möbel-, EisenguB-, Leder-Manufaktur, Buchdruck, Tapetenerzeugung und Tapeziererarbeit) wieder alles zurückerobert, was durch die Herrschaft des Kapitalismus auf dem Gebiete des Kunstgewerbes vernichtet schien. Die Werkkunst ist wiedererstanden auf dem Reichtum an Talenten und Geschmack, Phantasie und Farbenfreude, Geschicklichkeit und Liebe zu künstlerischer Arbeit, und ist gerade durch das Festhalten an dem österreichischen Geiste in aller Welt wertvoll und trotzdem allen Aufgaben gewachsen geblieben. Die österreichischen Reproduktionsgewerbe erfreuen sich einer besonderen Wertschatzung. Ihr hoher Stand wurde miterreicht, daB die Intelligenz vieler Völker in Wien zusammenströmte und sich hier fortbilden konnte. In diesen geographischen Ausführungen sei noch darauf hingewiesen, daB die Kartographie Altösterreichs die führende Europas war, daB die jüngsten Neuerungen wie die Stereophotogrammetrie und die Arophototopographie von Wien aus groBzügig gestaltet wurden. Dieser Geist wirkt neben den groBen auch in kleinen Anstalten fort und muB zum Wohle der Heimat auch in der Zukunft gepflegt werden. Auf ein groBes 373 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich Absatzgebiet sind viele Industrien österreichs in der Herstellung von Halbfabrikaten, Betriebsmitteln (Maschinen und Apparate) und Massenartikeln eingestellt und haben Anerkennung gefunden. Die österreichische Ausfuhr besteht zu fünf Sechstel aus Industrieerzeugnissen. Trotzdem muBte die Handelsbilanz passiv sein, weil die Brennstoffe und Nahrungsmitteln im Jahre 1920 und 1921 die Einfuhr zu stark belasteten und der Durchfuhrverkehr, der Erleichterung hatte bringen können, zu sehr gedrosselt war. 1922 zeigten sich schon Anfange zur Besserung, doch sei für den Handel nach Waren und LSndern auf den Abschnitt von Professor Karl Oberparleiter verwiesen. Österreich umfaBt über 6000 gröBere Betriebe (davon sind 400 Aktiengesellschaften), die über 300.000 Arbeiter beschaftigen. Davon entfallen rund 45% auf die Eisen-, Metall- und Elektrizitatsindustrie und 30% auf die Textil- und Konfektionsindustrie, fast 15% auf die Holz- und Papierindustrie, der Rest auf andere Zweige. Die GroBindustrie hat sich in österreich, insbesondere in drei Qebieten konzentriert, wo ihr die besten Betriebsbedingungen zur VerfOgung standen: das Wiener Becken mit seinem südlichen Auslaufer, dem Wiener-Neustadter Steinfeld, das oberösterreichische und steiermarkische Industriegebiet und jenes lm auBersten Westen, in Vorarlberg. Auf sehr hoher Entwicklungstufe steht die Eisen- und Metallindustrie, sowohl in der Roheisenerzeugung, wie in der Verarbeitung aller Metalle. österreich besitzt 150 Eisen- und StahlgieBereien und etwa 250 Maschinen- und Werkzeugfabriken, welch letztere allein jahrlich gegen 1,500.000 q Rohmaterial verarbeiten. Die Erzeugnisse der Maschinen-, Apparaten- und Instrumentenindustrie haben als Qualitatsware Weltruf. (Automobile, FahrrSder, Lokomotiven, Waggons und anderes; Sensenerzeugung, GuBwaren usw.). Die technisch sehr hochentwickelte Elektrizitatsindustrie zahlt 35 meist groBe Unternehmen und wird wohl in Zukunft zum überwiegenden Teile Exportindustrie sein, da das Inland kaum mehr als 30% der Leistungsfahigkeit der Werke wird aufnehmen können, wenn auch der zum Teil bereits in Angriff genommene Ausbau der Wasserkrafte in den Alpen allen Zweigen dieser Industrie ein groBes Betatigungsfeld öffnen wird. — Die Textilindustrie in österreich steht wohl hinter jener der Tschecho-Slowakei zurück, da sich in den böhmisch-mührischen Gebieten seit einigen Jahrzehnten leichtere Arbeitsbedingungen sowie Rohstoffbezugsmöglichkeiten geboten haben. Die besondere Bedeutung für österreich liegt aber darin, daB Wien seit jeher der Stapelplatz 374 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich für alle Textilerzeugnisse der Monarchie war, der Sitz des Zwischenhandels für das spezielle Orientgeschaft, aber auch der Hauptsitz der hochentwickelten Konfektionsindustrie, die mit ihren künstlerischen Erzeugnissen immer und überallhin leistungs- und konkurrenzfahig war, mit ihren Massenprodukten aber besonders nach dem Oriënt gearbeitet hat. Auch die Wiener Waschekonfektion ist hoch entwickelt. Der hohe Stand der Holz-, beziehungsweise Holzverarbeitungsindustrien, die zu den wichtigsten der Republik zahlen, beruht auf deren groBen Waldbestanden. Die Sageindustrie (etwa 260 Dampfund über 5000 Wassersagen) liefern über den inlandischen Bedarf an Holz für die Bau- und Möbelindustrie, Schleif- und Grubenholz, auch noch betrachtliche Mengen für den Export. Die Möbelindustrie, eine der bodenstandigsten und hochentwickeltsten, hat ihren Hauptsitz in Wien. Bedeutung für österreich hat aber auch der Holzhandel, soweit er für den internationalen Verkehr in Betracht kommt. Der Papierindustrie Österreichs, die zwei Drittel aller altösterreichischen Unternehmen umfaBt, kommt als Exportindustrie erhöhte Bedeutung für das Wirtschaftsleben zu, um so mehr, als sich die Beschaffungsmöglichkeit ihres Hauptrohstoffes so günstig gestaltet. Mehr als die Halfte der Erzeugungsmenge sind für den Export frei. Der gleichfalls sehr leistungsfahigen chemischen Industrie schliefit sich die Gummiindustrie an, die heute aber fast ausschlieBlich für den Export arbeitet. Die Lederindustrie, die in dem letzten Jahrzehnt groBen Aufschwung genommen hat, ist, abgesehen von den allgemeinen Betriebsschwierigkeiten (Beschaffung der Rohhaute), sowohl in Qualitat als in Quantitat exportfahig. Wiener Ledergalanteriewaren sind wegen ihrer geschmackvollen Ausführung ein sehr bedeutender Exportartikel. Die recht gut entwickelte Zementund Ziegelindustrie leiden infolge Mangels an ausreichendem Brennmaterial. — Von den einzelnen Zweigen der österreichischen Lebensmittelindustrie seien nur die Zucker-, beziehungsweise Zuckerwarenund Schokoladewarenerzeugung, die Brau- und die Malzindustrie, die Mühlenindustrie, die Konserven-, Spiritus- und PreBhefeerzeugung hervorgehoben. Die Zahl der in der Industrie und im Gewerbe tatigen Arbeiter ist in österreich ungefahr doppelt so groB wie in der Schweiz; die allgemeinen Erzeugungsbedingungen, wenn in österreich wieder Friedensarbeitsleistungen erzielt werden können, sind bei uns eher günstigere wie aus den vorausgeschickten Abschnitten hervorgeht 375 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich Das Fehlen einer oder der anderen Industrie oder deren Vorhandensein nur in kleinen Betriebsstatten, ist ein leicht zu behebender Mangel, da geschickte Arbeitskraft ja ausreichend zur Verfügung steht und heute die freieWahl der Standorte, unbeeinfluBt von einer geschichtlichen Entwicklung, einen Vorteil bringen kann. Der Besitz groBer Arbeitsstatten muB nicht immer ein Vorteil sein. Bei Neueinrichtung von Industrien wird auch das Schweizer Vorbild mit seiner Bevorzugung leichtgewichtiger, hochwertiger Waren maBgebend werden, zumal die Verwendbarkeit der österreichischen Arbeiter hinter der der Schweizer nicht zurücksteht und die Bildungsmöglichkeiten so ziemlich die gleichen sind. Als Standort der GroBindustrie ist immer Wien und das Wiener Becken zu wiederholen. Wien, durch Jahrhunderte Residenzstadt eines groBen Staates, hatte einen'starken Verbrauch an Gütern aller Art. Der Hof zog Künstler und Kunsthandwerker an, sie wurden Lehrmeister für spatere Geschlechter, die die Überlieferung hoch hielten. Spater war die in der Umgebung vorhandene Wasserkraft ein weiterer Faktor bei der Wahl dieses Standorts. In allen Zeiten wirkte für die gewerbliche und industrielle Entfaltung Wiens die Lage an der Kreuzung der Hauptrichtungen des Verkehrs in Europa. Mit dem Zerfall Österreichs und Ungarns in mehrere Staaten sind für Wien jene Einnahmen versiegt, die ihm als Verwaltungszentrum zuflossen, und der groBe Beamtenapparat, den der kleine Staat übernehmen muBte, schien erdrückend. Langsam zeigen sich Anfange der Anpassung an die neuen Verhaitnisse, es findet eine Umsiedlung statt. Ein Fünftel der zwei Millionen Einwohner Wiens sind in ihre Heimat und an Arbeitsplatze auBerhalb Wiens abgewandert. Die Verkehrsschranken, die seit 1919 in nachster Nahe der groBen Industrie bestanden haben, öffnen sich, es gibt Arbeit. Die Industriegebiete in den anderen Teilen Altösterreichs können den bewahrten Handelsplatz nicht umgehen, Wien wird starker als früher der Mittler zwischen dem Nordwesten und dem Osten und Süden der alten Staaten. Der rege Handelsverkehr zieht Fremde in die Stadt, die aber auch als Pflegestatie der Kunst und Wissenschaften, als altehrwürdige Kulturstatte und Bollwerk gegen die einst der Zivilisation von Osten her drohenden Gefahren, einen unwiderstehlichen Reiz auf jeden Fremden ausübt, der Wiens Boden betritt. Wie München, Innsbruck, Salzburg ist Wien auch Einfallstor zum Gebirge, die das Wanderziel Tausender von Menschen, Touristen und Sommerfrischler sind. 1913 schon wurde die Zahl der Fremden in den österreichischen Alpenlanden! mit 2,250.000 festgestellt. Zu den Bergwanderern, 376 Die geographischen Grundlagen der Wirtschaft in österreich die angezogen von den Wundern der Alpenwelt im Sommer das Gebirge bevölkern, kommen noch jene, die an Thermal- und Mineralquellen oder in einem der unzahligen „Badeln" Heilung oder Erholung suchen, oder ihre ganze Ferienzeit auf dem Lande verbringen, ohne viel zu wandern. Diesen genügen auch die lieblichen Wiesen- und Waldlandschaften des Alpenvorlandes, des Mühl- und des Waldviertels mit reizvollen Landschaftsbildern, wie der Donaudurchbruch zwischen Passau und Aschach in Oberösterreich und zwischen Melk und Krems, „die Wachau", die jenem am Rhein zwischen Bingen und Bonn an Schönheit der Landschaft und der Sage nicht nachstehen. Die volkswirtschaftliche Bedeutung eines regen Fremdenverkehres, in dem die Kurorte ein wichtiges Anziehungsobjekt bilden, ergibt sich ja aus dem Umstande, daB sich hier ein auBerst kaufkraftiges und zahlungsfahiges auslSndisches Publikum zusammenfindet. So waren in einem der letzten Vorkriegsjahre von 21.492 Fremden, welche die Thermen von Gastein aufsuchten, 48% Auslander, in Ischl 23% (von 24.918), in Gmunden 14% (von 15.425), in Baden bei Wien 12% (von 29.456), in Aussee 21% Auslander (von 10.949 Fremden). Die standigen Einwohner solcher Orte beziehen ihren Erwerb teils ganz vom Fremdenverkehr (Hotels, Pensionen, Kuranstalten), teils bietet sich ihnen Gelegenheit zu Nebeneinkommen. Die Einnahme aus dem Fremdenverkehr und die Oberschüsse der Industrie, wenn nur die Kraftstoffbeschaffung nicht mehr Schwierigkeiten bereitet, müssen für österreich die Auslandsbezüge an Rohstoffen und Lebensmitteln decken können, deren Lasten sich in den letzten Monaten schon gemindert haben. Damit wird österreich ein gleichwertiges Glied für das groBe deutsche Vaterland. Befreit von den drückenden materiellen Sorgen wird die Kulturarbeit, wie in früheren Zeiten, mit umso gröBerer Begeisterung aufgenommen werden, um dadurch einen Teil der Dankesschuld bei denen abzutragen, die österreich in seiner Not beigestanden sind und den Wiederaufbau ermöglichen halfen. C§3 377 Fabrik des Herrn Franz Karl Ginzkey Glaubt ihr, eurer Hammer Pochen bei der Esse Schein Sei das Taggedröhne dieser Welt allein ? Glaubt ihr, Gold gedröhne füllt die Erde ganz, Wenn der Tempel schuttert bei der KrSmer Tanz? Glaubt ihr, Ge ist gedröhne sei der Takt zumeist? Rotationsmaschinen wirrer Wandelgeist? Irrt ihr so dahin, es ist LSrmwerk nur. Allen LaYm der Menschheit überdröhnt Natur. Werft ihr euch zur Erde, Ohr aufs Moos gepreBt, Hört ihr erst des rechten Dröhnens Werdefest. Hört, Millionen Maschinen surren durch das Haus, Hört der wirbelnden Turbinen fördernd Kraftgebraus. Hört, wie heiB durch Schaft und Zelle schieBt des Werdens Geist, Wie durch Finsternis und Helle Lebensodem kreist. Hier ertönt das wahre Dröhnen, ewiglich und stark. Allen zugewandten Söhnen dröhnt es bis ins Mark. Dröhne fort, o Wunderstëtte, o Fabrik des Herrn, DaB ich mich zu Dir hinrette, allem Nicht'gen fern, DaB sich schauernd mir ervthülle Deutung und Gestalt, DaB mich dröhnend ganz erfülle Werdens Urgewalt DaB ich stark von mir entferne, was an mir zu weich, DaB ich wissend leben lerne, sterben auch zugleich. 37S Wirtschaftspolitik Josef Gruntzel Dem neuen Österreich ist bei allen Sympathien, die es wegen seines Unglückes in der Welt gefunden hat, doch der Vorwurf nicht erspart geblieben, daB es wirtschaftspolitisch nicht sofort die richtigen Folgerungen aus der neuen Sachlage gezogen hat. Es hatte, so meint man, mit allen Mitteln Arbeit und Sparsamkeit anregen müssen, um durch eigene Kraft möglichst bald in die Höhe zu kommen, denn fremde Hilfe kann nur über einen vorübergehenden Notstand hinweghelfen, aber nicht einen Staat auf die Dauer am Leben erhalten. Es ist nun nicht zu leugnen, daB in manchen Einzelheiten Fehler und VersSumnisse unterlaufen sind, wer aber glaubt, daB ein Mensch oder eine Regierung von überragender Einsicht und ungeheurer Tatkraft den Verlauf der Ereignisse hatte wesentlich andern können, verkennt, daB die Wirtschaftspolitik jeden Landes auf zwei Unterlagen fuBt, die sie selbst wenig und nur allmahlich beeinflussen kann. Die eine Unterlage bilden die natürlichen Verhaitnisse, wie geographische Lage des Landes, Boden, Klima usw., die andere ist die geistige Beschaffenheit der Bevölkerung, die sich aus einer durch Jahrhunderte fortgepflanzten Erziehung, aber auch aus den überwaltigenden Ereignissen der jüngsten Vergangenheit ergibt. Schon die Tatsache, daB alle Regierungen österreichs, von welcher Partei sie auch gestellt sein mochten, im wesentlichen doch in derselben Entwicklungslinie blieben, zeigt, daB die Verhaitnisse starker waren als die besten Köpfe. Ein weiterer Beweis liegt in der Beobachtung, daB gewisse, die Arbeit behindernde Erscheinungen, wie die Oberwertung der ungelernten über die gelernte Arbeitskraft, die weit verbreitete Arbeitsunlust, das Spekulationsfieber usw. sich allerwSrts, auch in den siegreichen und neutralen Staaten bemerkbar machten und nur in österreich besonders scharf zur Geltung kamen. 379 Wirtschaftspolitik Der Fall steht eben in der Geschichte einzig da, daB aus rein politischen Gründen aus einem Fünfzigmillionenreich, dessen einzelne Teile durch freien Verkehr und gleiche Gesetzgebung zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiete verwachsen waren, der achte Teil herausgeschnitten und zu einem selbstandigen Dasein fast über Nacht verurteilt wurde. Nahe vor den Toren der Stadt Wien wurden neue Zollgrenzen mit einem ganzen Arsenal von unerhörten Absperrungen aufgerichtet, die wichtigsten Eisenbahnlinien wurden von ihrem bisherigen Mittelpunkte abgetrennt und ihrer Betriebsmittel beraubt, das einheitliche Geldwesen gewaltsam in mehrere Teile zerrissen, die über mehrere Staaten verteilten Unternehmungen muBten sich nationalisieren, ein ungeheures Heer von entlassenen Beamten und Heeresangehörigen wurde nach Wien gejagt. Die Sukzessionsstaaten des alten ÖsterreichUngarn hatten namlich kein Interesse, die einstigen Schicksalsgenossen, die zu dem neuen österreich vereinigten Lander, schonend zu behandeln, sondern sie muBten auch um den Preis von groBen Opfern die Trennung so rasch und gründlich als möglich vollziehen, um der Welt die Möglichkeit ihres selbstandigen Daseins zu erweisen. War doch manchem Staatsmann der Entente, gerade in dem so slawenfreundlichen Frankreich, bei der Durchführung des von Wilson mit der Kühnheit naiven Sinnes hingeworfenen zentraleuropaischen Programm einigermaBen bange geworden. Immer wieder flatterte der Gedanke eines Donaubundes auf, der durch die wirtschaftliche Verklammerung die drohende Katastrophe aufhalten sollte, den neu gegründeten Staaten aber als gefahrlicher Ansatz zu einem politischen ZusammenschluB und damit zur Wiederaufrichtung der alten Monarchie erschien, daher mit aller Scharfe bekampft wurde. Auch das Bestreben, über manche inneren Gegensatze hinwegzukommen, drangte dazu, die auBenpolitische Gefahr besonders zu betonen und in der Notwendigkeit ihrer Abwehr die Begründung für eine Zusammenfassung aller Stande und Parteien zu suchen. So war österreich von allen Seiten den heftigsten Schiagen ausgesetzt. Sein einziger Vorteil war die nationale Einheitlichkeit, denn nunmehr war es kein buntes Völkergemisch mehr, sondern ein rein deutscher Staat, aber dieser Vorteil konnte erst zur Geltung kommen, wenn sein Leben gesichert war. Die auf rein politische Gedankengange eingestellte Staatskunst macht sich nicht immer genügend klar, wie stark die Bindungen sind, welche das Wirtschaftsleben der Gegenwart auch für die Politik eines Landes mit sich bringt je gröBer die Unternehmungen und Betriebe sind, in denen sich die Faktoren des Erzeugungsprozesses vereinigen, 380 Wirtschaftspolitik desto gröBer muB der für den Absatz der Waren und Leistungen gesicherte Markt sein. Die VergröBerung des Betriebes ist aber für einen Teil der Landwirtschaft und die meisten Zweige der gewerblichen Tatigkeit im Interesse der Verminderung der Produktionskosten gelegen und für die Allgemeinheit vorteilhaft. Die Spezialisierung der Industrie bringt es weiter mit sich, daB immer weniger gebrauchsfertige Waren und dafür um so mehr Halbstoffe und Hilfsmittel aller Art hergestellt werden, die selbst wieder die Grundlage einer weiterèn Verarbeitung sind. So entsteht eine immer gröBere Kette von innig zusammenhangenden Betrieben, die sich über verschiedene Teile des Wirtschaftsgebietes nach den im freien Verkehr günstigsten Gesichtspunkten verteilen. Diese innige Verklammerung aller Teile des Wirtschaftsgebietes ist das starkste Bindemittel für die staatliche Einigung. Sie erwies sich schon seinerzeit im deutschen Zollverein, als PreuBen den Widerstand der süddeutschen Staaten in der Behandlung der Österreichischen Frage durch die Drohung mit der Kündigung des Vertrages brach, weil die Wiederaufrichtung der verschwundenen Zolllinien die Industrie manches Einzelstaates dem Untergange geweiht hatte. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika und die Schweiz haben auf diese Weise eine feste Unterlage für ihre staatliche Einheit gewonnen. Selbst Österreich hatte aus diesem Grunde die Katastrophe der militarischen Niederlage überlebt, wenn nicht das Friedensdiktat von auBen eine so furchtbare Sprengwirkung geübt hatte. Genau entgegengesetzt liegt die Sache, wenn jetzt Amerika den Europaern die Bildung einer Art von Vereinigten Staaten von Europa empfiehlt, denn da soll die auf Grund der wirtschaftlichen Selbstandigkeit erwachsene staatliche Individualitat aufgegeben werden, was so lange eine Utopie ist, als sich jeder Europaer in erster Linie als Staatsbürger und nicht als Bewohner des Kontinents fühlt Kann nun das neue österreich wirtschaftlich selbstandig sein und damit seine staatliche Selbstandigkeit erhalten? Mit einem Wort, ist österreich lebensfahig? Viele behaupten es innerhalb und auBerhalb des Landes, andere bestreiten es. Bei dieser nackten Entgegenstellung haben beide Teile recht. Lebensfahig ist österreich, weil jedes arbeitsfahige Volk, mag es noch so klein sein, ebensoviel erzeugen kann als es verbraucht. Ob im Lande selbst genug Getreide zur Ernahrung wSchst, darauf kommt es gar nicht an, denn die meisten europaischen Staaten sind gar nicht in der Lage, sich von ihrem eigenen Boden ernahren zu können. Was erzeugt wird, ob landwirtschaftliche Produkte oder Fabrikate oder wissenschaftliche 381 Wirtschaftspolitik und künstlerische Leistungen, darüber entscheiden die Landesverhaltnlsse und die Marktlage, wirtschaftlich wichtig ist nur, daB überhaupt entsprechend hohe Werte geschaffen werden. Nicht lebensfahig ist österreich, solange es in dem Tornado jener verheerenden geistigen Strömungen von innen und auBen steht, welche den Erfolg der Arbeit und daher die Freude an ihr vermindern. Wie soll jemand seine Kraft aufs auBerste anstrengen, wenn ihm die rasende Geldentwertung die Früchte seiner Arbeit entreiBt? Wie soll jemand sparen und Kapital bilden, wenn der Glaubiger taglich armer und der Schuldner um so reicher wird? Nicht die Arbeit steht unter Pramie, sondern die Verschwendung. Die Geldentwertung ist das furchtbarste Rauschgift für die Volkswirtschaft und die Geschichte kennt kein Beispiel für eine so starke und dauernde und allgemeine Einwirkung, wie sie nach dem Weltkriege ein getreten ist Das Geld entwertet anders im Innern gegenüber den Waren und nach aufien gegenüber dem fremden Gelde, und in dem wechselnden Unterschiede zwischen dieser inneren und auBeren Entwertung liegt eine unversiegbare Quelle fortwahrender Krisen und Reizungen. Gewöhnlich sinkt der die auBere Entwertung anzeigende Wechselkurs rascher als die innere Kaufkraft. Löhne und Stoffe werden im Inlande mit dem schlechter gewordenen Gelde bezahlt die daraus verfertigten Waren aber im Auslande gegen gutes Geld verkauft. So kommt eine Ausfuhrpramie zustande, eine Scheinkonjunktur, die schlieBlich auch die Produktionsmittel verschleudern laBt und das Land dauernd verarmt Das Kapital flüchtet ins Ausland und drangt zur Umwandlung aus der Geldform in die Warenform, in die sogenannten Substanzwerte. Immer mehr Menschen verfallen infolge der zahlreichen Möglichkeiten, mühelose Gewinne zu erzielen, der Spielsucht und Arbeitsscheu. Die Steuerertragnisse fallen und bringen die öffentlichen Finanzen in Unordnung. Die Geldentwertung wirkt zwar selbst wie eine Besteuerung, weil die neu ausgegebenen Mengen den Goldwert des gesamten Notenumlaufes nicht erhöhen können, demnach den Wert der im Umlaufe befindlichen Notenmengen vermindern müssen. Diese Besteuerung ist aber die denkbar roheste, weil sie sich nicht nach der Leistungsfahigkeit der Bewohner, sondern nach dem Besitze an Bargeld richtet, der bei den armeren Schichten im Verhaitnisse zu ihrem Einkommen und Vermögen immer gröBer ist als bei den reicheren und den Besitzer fest verzinslicher Wertpapiere und Geldforderungen benachteiligt, also gerade den sozial so wertvollen Mittelstand zerreibt Kommt aber 382 Wirtschaftspolitik die Geldentwertung auch nur vorübergehend zum Stillstande, so schlagen die Inlandpreise leicht über die Weltparitat hinaus, weil die Produzenten auf so schwankender Grundlage nicht genau kalkulieren können und für alle Falie eine reichlich bemessene Risikopramie dazuschlagen. Jedes Hinaufschnellen des Binnenwertes der Ware über den AuBenwert bringt aber die betreffenden Produktionsr zweige plötzlich zum Stillstande. Im neuen Oesterreich stieg der Notenumlauf von 17 Milliarden im Juli 1920 auf 50 Milliarden im Juli 1921, auf 550 Milliarden im Juli 1922 und auf 2590 Milliarden Mitte Oktober 1922. Er hat sich also in dem ersten Jahre der Feststellung verdreifacht und in dem zweiten Jahre verelffacht; seither ist er noch rascher gestiegen, so daB die lawinenartige Tendenz der Notenflut ganz deutlich hervortritt. Die Lebensmittel verteuerten sich zunachst im selben MaBe wie die Notenflut anstieg, seit dem Mai 1922 brachte aber die allgemeine Kaufpanik die Warenpreise zu einer unverhaltnismaBig gröBeren Steigerung. Die auBere Geldentwertung war wahrend des ganzen Krieges und noch einige Zeit nach dem Umsturze geringer als die innere, weil der Verkehr mit dem Auslande abgesperrt war, daher keine fremden Zahlungsmittel gebraucht wurden. Noch im Juli 1920 waren die Lebensmittel doppelt so teuer als der Schweizer Franken. Dann aber anderte sich jan die Entwicklung. Der Schweizer Franken stieg von 27 Kronen im Juli 1920 auf 128 Kronen im Juli 1921, auf 775 Kronen im Juli 1922, um spater noch bis auf 1500 Kronen zu klimmen. Seit einigen Wochen haben sich die fremden Zahlungsmittel gesenkt, die Warenpreise behielten zunachst noch die Neigung zum Steigen, muBten aber unter der Einwirkung der auslandischen Konkurrenz und infolge der Zurückhaltung der inlandischen Nachtrage endlich umkehren. Die Geldentwertung ist nicht selbst eine Krankheit, sondern nur die auBere Erscheinung einer solchen; die Krankheit selbst sitzt viel tiefer, namlich in dem MiBverhaltnis zwischen Erzeugung und Verbrauch im Lande und der dadurch verursachten ungünstigen Wirtschaftsbilanz gegenüber dem Auslande. Deshalb muB auch die Gesundung mehr durch wirtschaftspolitische als durch geldtechnische MaBnahmen angebahnt werden. Deshalb muB die Produktion in jeder Hinsicht gefördert und der Verbrauch durch strenge Sparsamkeit im öffentlichen und privaten Leben gedrosselt werden, deshalb muB die Einfuhr auf wichtige Lebensmittel und Verarbeitungsstoffe eingeschrankt, die Ausfuhr dagegen hauptsachlich in jenen Fabrikaten gepflegt werden, in denen mehr Arbeitslohn als Material steekt Das 383 Wirtschaftspolitik ist nun zweifellos nicht in dem notwendigen MaBe geschenen. Die Schuld der eigenen Regierung besteht aber nicht darin, wie meist behauptet wird, daB sie den maBlosen Forderungen der Angestellten nicht Widerstand geleistet hat, denn dazu besaB sie in einem Lande, dessen einzelne Teile aus Angst vor dem steigenden Elend wie von einer magischen Zentrifugalkraft getrieben bei verschiedenen Nachbarn Unterstand suchten, nicht die nötige Macht. Es ware auch eine grobe Tauschung, würde man glauben, daB der Mangel an Autoritat durch eine Stützung von auBen, durch eine fremde Kontrolle oder durch eine internationale Truppenmacht ersetzt werden könnte. Eine gedeihliche Arbeit ist nicht durch auBeren Zwang, sondern nur durch inneren Drang möglich. Die eigene Schuld liegt darin, daB fast nichts getan wurde, um die Massen der Bevölkerung zu belehren, daB man dem gewöhnlichen Manne nicht die Ulusion zu nehmen suchte, die ihm die wachsende Papiermenge als eine Erhöhung seines Einkommens erscheinen lieB, daB die öffentlichen Gewalten selbst an dem sinnlosen Wettrennen nach immer höheren Löhnen und Preisen, die sich gegenseitig in die Höhe schraubten, bereitwillig teilnahmen. Wenn der Direktor der stadtischen Lagerhauser in Wien zugeben muBte, daB die Lagerhausgebfihren bis auf das Achtfache der Goldparitat gegenüber der Friedenszeit hinaufgesetzt worden sind, weil die erwartete weitere Geldentwertung schon vorausgenommen wurde, so darf man sich nicht wundern, wenn dieses Beispiel auch privaten Unternehmungen zum Vorbild diente. Die Notenflut stieg auf diese Weise so, daB schlieBlich die Notenbank mit dem Druck gar nicht mehr nachkam und der ZinsfuB in manchen Zweigen des privaten Geschaftsverkehres geradezu groteske Höhen erreichte, weil jeder Geldgeber das Risiko der voraussichtliehen Geldentwertung einrechnete. Da das nötige Geld für die Fortführung der Betriebe nicht mehr aufzutreiben war, trat in manchen Industriezweigen Arbeitslosigkeit ein. Die Lehre, für welche die Einsicht mangelte, gab schlieBlich das Leben. Wer sinnlos fortrennt, ohne des richtigen Weges zu achten, stöBt sich einmal den Kopf an. Regierung und Parteien wurden aber nicht bloB dadurch schuldig, daB sie sich nicht um die Aufklarung der Bevölkerung bemühten, sondern auch dadurch, daB sie in die Finanzen des Staates, der Lflnder und Gemeinden eine ungeheure Unordnung einreifien liefien. Nach dem Umsturz übernahm österreich ein riesiges Beamtenheer, das namentlich die öffentlichen Betriebe, wie Eisenbahnen, Post, Telegraphen usw. schwer belastete. Im Jahre 1922 zahlte es 253.000 384 Wirtschaftspolitik Bundesangestellte, darunter 156.000 in Bundesbetrieben. Die Masse von neuen Gesetzen und Verordnungen über Steuern, Ausschreitungen des Geschaftsverkehres und der Spekulation, über Neuregelung der Gehalte und Löhne usw. hat auch die Hoheitsverwaltung mit wenig fruchtbarer Arbeit überlastet. Einem energischen Abbau stand aber das demokratische Wahlrecht entgegen, denn die Tausende von Angestellten samt ihrem Familienanhang sind Wahler und besitzen durch ihre groBe Masse und ihre gute Organisation eine überragende Macht. Die Tatigkeit des Beamten ist auch produktiv, wenn sie notwendig und nützlich ist, aber da ihr Erfolg in einem öffentlichen Haushalt an den aufgewendeten Kosten nicht so leicht meBbar ist wie in einem privaten Unternehmen, so erscheint sie leicht als Selbstzweck. Auch sonst haben sich die unproduktiven Kreise vermehrt. Berufliche Organisationen aller Art wuchsen aus dem Boden, welche ebenfalls ein Beamtentum auf Kosten der Betriebe züchteten, die Warennot gab zahllosen Hamsterern Beschaftigung, welche unter Benützung von allerlei dienstlichen Fahrbegünstigungen in Rucksacken die stadtische Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgten, aus dem MiBverhaitnis zwischen Gesetzgebungswut und Macht des Staates entsprangen viele Quellen des Schleichhandels und Kettenhandels. Wenn nun auch die Geldentwertung nicht die Krankheit selbst, sondern nur ihr Symptom ist, so sind doch neben den in erster Linie stehenden wirtschaftspolitischen MaBnahmen die rein geldtechnischen nicht ohne Bedeutung, namlich die auf die Hebung des Geldwertes unmittelbar gerichteten, wie die Drosselung des Notenumlaufes, die Gründung einer neuen Notenbank und dergleichen, weil die Stabilisierung der Krone die wichtigste psychologische Voraussetzung für die Steigerung der Produktivitat ist. Nur dann, wenn das allgemeine Vertrauen zur Krone wiederkehrt, wird an die Stelle der Verschwendung die Sparsamkeit treten, wird neues Kapital gebildet werden, wird die Kapitalsflucht aufhören und die Arbeitslust zunehmen. Die Stabilisierung darf jedoch nicht so aufgefaBt werden, daB nicht bloB dem Fallen, sondern auch dem Steigen der Krone ein Riegel vorzüschieben ware. Alle Warenbesitzer und Warenerzeuger mit ihren Angestellten und Arbeitern haben eine groBe Angst vor jeder Besserung der Krone, weil dann die Warenvorrate im Werte sinken und die Betriebe leicht zum Stillstande kommen, wie sich dies in der Tschecho-Slowakei deutlich gezeigt hat. Diese Interessenten haben aber in der Zeit der zunehmenden Entwertung so reiche Gewinne erzielt, daB sie die Nachteile einer vorübergehenden Krise in den Kauf nehmen können, 25 385 Wirtschaftspolitik ■wenn nur auf diese Weise die Heilung möglich ist Die Papierwahrung eines Landes, noch dazu eines so kleinen wie österreich, kann niemals jene Stetigkeit aufweisen. wie eine durch die internationale Geltung des Goldes garantierte Goldwührung. Schwankungen werden sich also nicht vermeiden lassen. Solange aber die Krone um ihren jetzigen Tiefpunkt schwankend auch hinunter gehen kann, wird sich niemals die volle Überzeugung festsetzen können, daB sie nicht plötzlich ebenso hinabgleitet wie im vergangenen Frühjahr. Das Niveau für die Schwankungen muB daher erhöht werden, damit auch nach unten ein solcher Spielraum vorhanden ist, daB der heutige Tiefpunkt als eine nicht mehr überschreitbare Grenze gelten kann, AuBer der Schaffung der allgemeinen Voraussetzungen für die Hebung der Produktivitat ist eine besondere Fürsorge nach den einzelnen Produktionszweigen notwendig. Da sind Regierung, Parlament und Berufsorganisationen erfolgreicher gewesen. Auf dem Gebiete der Agrarpolitik waren keine so umstürzenden Reformen des Grundbesitzes erforderlich wie in den Sukzessionsstaaten und im Osten Europas, wo man die groBen Grundkomplexe auf kleine bauerliche Wirtschaften zerteilte. Im neuen Österreich herrscht, soweit es sich um Ackerboden handelt, seit jeher der Bauernbesitz vor. Er ist nur deshalb zurückgegangen, weil manche Besitzungen angekauft und in unproduktive Jagdgründe umgewandelt wurden, da von Wien aus, als der Hauptstadt eines groBen Reiches mit glanzender Hofhaltung viele reiche Leute die Jagd als Vergnügen betrieben. Hier hat die neuere Gesetzgebung eingegriffen, indem sie den Verkauf solcher Güter unter behördliche Kontrolle steilte und eine Wiederbesiedlung der schon langst verkauften Bauerngüter ermöglichte. Da sich österreich wegen seines gebirgigen Charakters weniger für den Getreidebau eignet, muB es mehr die Viehzucht pflegen, die noch groBe Entwicklungsmöglichkeiten vor sich hat, weil sie die gegenwartig übermaBige Einfuhr tierischer Erzeugnisse verdrangen kann, ebenso den Gemüse- und Obstbau, der im Vergleiche zu vielen Gegenden Deutschlands sehr zurückgeblieben ist Ein Grund dieser Rückstandigkeit liegt wohl darin, daB sich aus Wien und anderen Stadten, dann auch aus dem Auslande, alljahrlich ein groBer Strom von Sommerfrischlern und Touristen in die landschaftlich so schönen Alpengebiete ergoB, der der landlichen Bevölkerung reichere Gewinne bot als die schwere landwirtschaftliche Arbeit. Wenn aber mit der Festigung des Geldwertes und der erst dann zutage tretenden Verarmung der stadtischen 385 Wirtschaftspolitik Bevölkerung der Fremdenstrom aufhört, dann wird auch dort die eigentliche Arbeit mehr zu Ehren kommen. Die Industrie erforderte eine schwierige und zeitraubende Umstellung. Durch die ZertrDmmening der Monarchie wurde ihr das tagliche Brot entrissen, denn alle groBen Kohlengebiete gingen verloren, so daB das eigene Vorkommen an Kohle nur einen kleinen Teil des Bedarfes decken konnte. An die Stelle der schwarzen Kohle kann zwar die weiBe treten, denn österreich verfügt über bedeutende Wasserkrafte, von denen bisher nicht einmal der zehnte Teil ausgebaut ist. Der Ausbau wurde schon in Angriff genommen, leider nicht vom Bunde, sondern landerweise, aber die Durchführung beansprucht mehrere Jahre und wird immer wieder durch die katastrophalen Ereignisse auf dem Geldmarkte aufgehalten. Eine schwere Beeintrachtigung hat sich daraus ergeben, daB gerade in vielen Massenindustrien die zusammenhangenden Glieder einer Betriebskette ge? trennt worden sind. östeneich hat Baumwollspinnereien, die Webereien aber, denen sie ihre Garne lieferten, sind durch eine Zollinie getrenntj so daB mehr als die Halfte der Erzeugung ausgeführt werden muB. Die so wichtige Wollindustrie ist schwach vertreten, ebenso die Zuckerindustrie, die keramische Industrie und die Ledererzeugung. Günstige Vorbedingungen hat die Eisenindustrie, die infolge der reichen Erzlager im steirischen Erzberg in der Lage ist, den gesamten Inlandsbedarf zu decken, zumal auch der Koksbezug durch den Obergang der Alpinen Montangesellschaft an den deutschen StinnesKonzern gesichert ist. Sehr entwickelt ist die Verarbeitung von Metallen, die Erzeugung von Maschinen, Lokomotiven, Waggons und Automobilen, ferner die Papierindustrie. Gerne verweist man auf den anerkannten Geschmack und Kunstsinn der Bevölkerung und empfiehlt besonders die Herstellung von jenen Luxuswaren, die seit langer Zeit in Wien ihren Hauptsitz haben. GewiB haben sie eine grofie Bedeutung, weil sie der groBstadtischen Bevölkerung ein aussichtsreiches Feld der Betatigung eröffnen. Verfehlt ist aber die oft geauBerte Meinung, daB sich österreich hauptsachlich auf die Pflege dieser Produktionszweige einstellen soll. Luxusindustrien sind Hungerindustrien. Ihre Erzeugnisse unterliegen dem raschen Wechsel der Mode und verlieren bei jeder Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage zuerst ihren Absatz, weil sie am leichtesten entbehrlich sind. Die Notwendigkeit immer erneuter Anpassung verhindert die Schaffung von dauernden Betriebsanlagen und zwingt zur Verwendung von Heimarbeit die aber in ihrer Ausdehnung begrenzt 23* 387 Wirtschaftspolitik ist, weil auf der einen Seite der Verbrauch sich niemals so steigern lafit wie bei Massenerzeugnissen und auf der anderen Seite die Zahl der verfügbaren ArbeitskrSfte durch die Bevölkerungsverhaltnisse der Stadt gegeben ist und sich nicht beliebig vermehren lafit. Eine sehr schwierige Lage hat der Weltkrieg ffir die Industrie, in weiterer Auswirkung aber ffir das gesamte Wirtschaftsleben dadurch geschaffen, daB er durch die ungeheure Vernichtung von materiellen Werten der gewöhnlichsten Lohnarbeit ein wirtschaftliches und bei dem Umsturz auch ein politisches Obergewicht verschafft hat. Der Normalarbeitstag wurde auf acht Stunden herabgesetzt, der Akkordlohn wurde durch den Zeitlohn verdrangt, die Arbeitsleistung sank, der Lohn stieg stellenweise fiber die Friedensparitat. An sich kann der Achtstundentag als Norm erstrebenswert sein, unbedingte Geltung kann er aber nur haben, wenn und wo die Arbeitsleistung entsprechend gesteigert werden kann, also nur dann, wenn das Ergebnis mehr vom Arbeiter als von der Maschine oder Anlage abhangt, darf daher nicht ein starres System sein. Der Zeitlohn pramiiert die Minderleistung unter Verhaltnissen, welche die höchste Anspannung aller Krafte erfordern. Der höhere Lohn ist von Vorteil, wenn er die Lebens^ haltung des Arbeiters und damit seine Leistungsfahigkeit verbessert; gegenwartig tragt er meist zur Verbreitung der Alkoholpest bei, so daB sich die Polizei zu auBergewöhnlichen MaBnahmen gegen die zunehmenden Trunkenheitsexzesse veranlaBt sah. Ein besonderer Nachteil ist es hiebei, daB gerade die ungelernten und jongeren Arbeiter, weil sie in den Organisationen und bei den Wahlen das starkste Element sind, unverhfiltnismaBig hohes Einkommen haben, denn durch ihre Zügellosigkeit wird die GenuBsucht gefördert. Die automatische Erhöhung der Löhne nach der Indexziffer war ein schwerer Fehler, weil sie den Massen das Interesse an einer Einschrankung des Verbrauches und an der Gestaltung der Warenpreise nahm. Die Löhne mfissen ihre Grenze an der Ren tab i li tat der Betriebe finden und haben sie zum Teile schon gefunden. Ein Abbau ist immer ein sehr schmerzlicher Vorgang und geht daher gewöhnlich nicht ohne heftige Kampfe vor sich, gegen welche aber Österreich mit seiner schwachen staatlichen Autoritat schlecht gerflstet ist. Die Vertreter der Arbeiterschaft sehen manchmal die Notwendigkeit des Abbaues ein, doch verlangen sie vorher eine Herabsetzung der Preise der Waren, die ffir den taglichen Lebensbedarf gebraucht werden. Die Preissenkung ist aber selbst wieder nur durch den Lohnabbau möglich, da bei allen Waren und Leistungen die Löhne einen viel gröBeren Teil der Kosten bilden 388 Wirtschaftspolitik als ehedem. So sehen wir einen jener verhangnisvollen Zirkel, wie sie im Wirtschaftsleben hSufig vorkommen, weil alle Seiten desselben in inniger Wechselwirkung stehen. Daher muB man den Angriff gegen das Übel von mehreren Seiten gleichzeitig vortragen. Man geht mit dem Abbau der Löhne stufenweise vor und sorgt dafür, daB sich jede Stufe sofort in einer Herabsetzung der Preise geltend macht, auch wenn die Produzenten eine voiObergehende Schmalerung ihrer Gewinne erleiden. Erschwert wird der Vorgang dadurch, daB der Staat selbst seine Waren und Leistungen, die er als Monopolist verkauft und die namentlich bei Eisenbahnen, Post und Telephon die Produktionskosten stark beeinflussen, im Interesse der Ordnung seines eigenen Haushaltes hinaufgesetzt hat und zunachst daran gehen muB, durch sparsamere Einrichtungen oder durch Abstofiung der Betriebe an den privaten Unternehmungsgeist die Voraussetzungen zu verbessern- In handelspolitischer Hinsicht genieBt Österreich und namentlich Wien einen unbestreitbaren Vorteil durch seine geographische Lage, denn es ist der natürliche Stapelplatz für die Handelsvermittlung zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Die Kaufmannschaft verfügt über einen reichen Schatz von persönlichen Beziehungen und alten Erfahrungen zu den Gebieten des europaischen Ostens und des nahen Orients. Die Banken haben eine gute Organisation; sie haben sich zwar unter dem Einflusse des Spekulationsfiebers rascher vermehrt als dies den normalen Notwendigkeiten entsprechen würde, doch dürfte eine Betriebskonzentration mehrerer Unternehmungen die Rückbildung aller Wahrscheinlichkeit nach ohne schmerzliche Krisen bewerkstelligen. Als ein ausgezeichnetes Mittel zur Belebung des Verkehres hat sich die Wiener Messe erwiesen, die zum erstenmal im Jahre 1921 veranstaltet wurde und seither im Marz und September jeden Jahres wiederholte wird. Anfangs wurde der Vorwurf gegen sie erhoben, daB sie durch den Fremdenzuzug die Lebenshaltung der heimischen Bevölkerung verteuert. Im Herbst 1922 verstummten aber diese Klagen, denn es zeigte sich, daB der Geschaftsgang viel zu wünschen übrig lieB, weil die Preise der inlandischen Waren vielfach die Weltparitat erreicht oder gar überschritten hatten. Diese Tatsache beweist, daB die Messe selbst den Unterschied in den Preisen des Inlandes und Auslandes nicht hervorruft, sondern nur den weitesten Kreisen zum BewuBtsein bringt. In der auBeren Handelspolitik hat österreich wie alle kleineren Staaten kein so ausgesprochenes und allgemeines Schutzzollinteresse, wie es die groBen Staaten mit reichen inneren Austauschmöglich- 389 Wirtschaftspolitik keiten beherrscht. Manche Produktionszweige, die es früher zu schützen hatte, besitzt es nicht mehr. Durchfuhr und Zwischenhandel schaffen neue Gewinnmöglichkeiten und drSngen ihrem Wesen nach in freihandlerische Bahnen. Trotzdem kann es sich selbstverstandlich der Schutzzoliströmung nicht entziehen, die nach dem Weltkriege alle Welt erfaBt und selbst das traditionell dem Freihandel huldigende England in ihren Wirbel mitgerissen hat. Nur starrster Doktrinarismus konnte es anders erwarten. Die Freihandelstheorie ist bestechend einfach, aber falsch, denn sie überschatzt die natüriichen Produktionsbedingungen, die immer mehr gegen die kulturellen zurücktreten, so daB die gewiB wohltatige, internationale Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Landern nicht der AusfluB einer natüriichen Harmonie, sondern der menschlichen Anstrengungen ist. Dem Verbraucher, der immer Staatsbürger und, wenn er nützlich wirkt, auch immer Produzent ist, wird nicht dadurch am besten gedient, daB man ihn ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen dort kaufen laBt, wo die Ware augenblicklich am billigsten ist, sondern dadurch, daB die Produktion im eigenen Lande möglichst reich entfaltet wird, wodurch sich auch die Bedarfsdeckung in weiterer Entwicklung viel leichter vollzieht. Ein Verzicht auf den AuBenhandel liegt darin nicht, denn mit jeder Steigerung der Produktion wüchst die Einfuhr nicht bloB an Rohstoffen, sondern auch an Fabrikaten, weil kein Land alles herstellen kann, wachst aber auch die Ausfuhr, weil der gesicherte innere Markt das Sprungbrett ist, von dem aus die fremden Markte wirksamer bearbeitet werden können. Dem Abschlusse von Handelsvertragen zeigten sich die Nachbarstaaten Österreichs zunachst wenig freundlich, denn die noch einige Zeit nach dem Kriege andauernde Warennot lieB es ihnen nicht wünschenswert erscheinen, sich um fremde Absatzmarkte zu bemühen. Man begnügte sich mit Kompensationsvertragen, durch welche im Naturaltausch ganz bestimmte Warenmengén gegen andere getauscht wurden, und spater mit Kontingentvertragen, durch welche sich die vertragschlieBenden Parteien nur zur Erteilung von bestimmten Ausfuhrbewilligungen, aber nicht zurLieferung der Waren selbst verpflichteten. Allmahlich kehrt jedoch das normale Geschaftsverhaltnis wieder, nach welchem nicht die Kunde dem Kaufmanne nachiauft, sondern umgekehrt, und damit erhalten die Handelsvertrage alten Stils wieder ihre Bedeutung, in denen der Staat dem Kaufmanne nur durch die Beeinflussung der auslandischen Einfuhrmöjilichkeiten die Wege ebnete, aber nicht selbst als Warenvermittler an ihre Stelle 390 Wirtschaftspolitik trat. Der lange andauernde Druck der Grenzabsperrungen hat das Pendel der Stimmung sogar nach der entgegengesetzten Seite ausschlagen lassen; die alten Schwarmereien für eine Zollunion mit Nachbarstaaten tauchten auch in österreich mit neuem Glanze auf. Sie sind alle unfruchtbar aus politischen und wirtschaftlichen Gründen. Die Bismarcksche Auffassung, daB politische und wirtschaftliche Freundschaft nicht Hand in Hand genen müssen, hat nirgends stand gehalten. Deutschland selbst hat sie nach dem stillen Zollkriege mit österreich gelegentlich des Abschlusses der Dezembervertrage im Jahre 1891 aufgeben müssen. In einem modernen Staate mit reicher industrieller Entwicklung bringt die wirtschaftliche Vereinigung auch eine politische Bindung mit sich, so daB sie nur mit der Aussicht auf eine unbegrenzte Dauer neu eingegangen werden kann. Eine Zollunion bedingt eine Wahrungsunion, die Wahrung hangt mit den staatlichen Finanzen zusammen, im Budget spielen die Heeresausgaben eine groBe Rolle und das Heer ist ein politisches Werkzeug. Das ist nur ein Beispiel für die hier vorhandenen Zusammenhange. In der Ablehnung der Zollunion liegt aber keineswegs die Behauptung, daB der gegenwartige Zustand des Handelsverkehres unter den zentraleuropaischen Staaten ideal ist. Die neu entstan denen zahlreichen Grenzen und die im Grenzübertritt auf Waren und Personen lastenden Erschwerungen erinnern an die Zeit der Raubritterburgen. Die dabei geübte Verschwendung von Arbeitskraft und Material erschwert allen das Leben. Hunderte von Lokomotiven müssen langer unter Dampf gehalten werden, als dies durch den Eisenbahnbetrieb selbst notwendig ware, tausende von Eisenbahnwaggons können wegen des langen Aufenthaltes in den Grenzstationen weniger gut ausgenützt werden. Hunderttausende von Menschen sind damit beschaftigt, die zahllosen Vorschriften und Kontiollen zu erlassen, zu Sndern und durchzuführen. Zur Beseitigung dieser Obelstande bedarf es keiner umstürzenden Piane, sondern nur der gesunden praktischen Vernunft Ungeheure Aufgaben wurden durch die politische Neuordnung der Verkehrspolitik gestellt. Ein groBes einheitliches Eisenbahnnetz wurde in mehrere Teile zerrissen, die nun ganz anderen Verkehrsmittelpunkien angeschlossen wurden. In österreich seibst wurde die Hauptmasse des Verkehrs auf die einzige Linie, die zu dem offenen Tore nach Deutschland führt, namlich auf die Wes>bahn, abgedrangt, die deshalb überlastet ist, wahrend die übrigen Bahnen wie kurze Sackgassen geringen Verkehr haben oder als ausgesprochene Gebirgs- 391 Wirtschaftspolitik bahnen zu kostspielig sind. Eine groBe, natürliche WasserstraBe ist vorhanden, die Donau, aber die geographischen Voraussetzungen für ihre Benützung sind nichts weniger als günstig. Rhein und Elbe flieBen in das Meer, das heute den Mittelpunkt des Weltverkehrs bildet, die Donau mündet aber in das Schwarze Meer, ein geschlossenes Wasserbecken in einem wenig kultivierten Gebiet des nahen Orients. Wahrend auf den deutschen Strömen die starksten Verfrachtungen stromabwarts gehen, müssen auf der Donau die Massengüter Getreide und Petroleum bergwarts geführt werden; für den Talweg kommen nur hochwertige Fabrikate in Betracht, welche die teurere, aber raschere und verlaBlichere Eisenbahnbeförderung besser vertragen. Eine gewisse Belebung könnte erst die Ausgestaltung des Ludwigskanals bringen, der das Donaugebiet mit dem Binnenschiffahrtsnetz Westdeutschlands in Verbindung brachte. Wohl über Gebühr hat das Bevölkerungsproblem Wiens die Aufmerksamkeit auslandischer Kreise auf sich gezogen. Es erscheint als krasses MiBverhaltnis, daB fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Bundes in der Hauptstadt wohnt Eine drückende Wohnungsnot machte sich bemerkbar, daher — so schloB man — bleibe nichts übrig als eine staatlich organisierte Auswanderung. Die fast überall nach dem Kriege hervorgetretene Wohnungsnot hat aber gerade in Wien ihre besonderen Ursachen. Die Zahl der Bewohner Wiens hat seitAusbruch des Krieges von 21 auf 1*8 Millionen abgenommen und die Zahl der Wohnungen hat sich, wenn auch nicht viel, so doch vermehrt. Die Ursachen der Not liegen in den Mietzinsen und in den Lohnverhaitnissen. Die Mietzinse wurden trotz der ungeheuren Geldentwertung durch strenge Mieterschutzgesetze auf dem Friedensniveau erhalten und nur allmahlich und unbedeutend erhöht Mitte Oktober 1922 stand die Goldparitat auf 14.970, die Indexziffer für die Waren des Lebensbedarfs auf 10.332, bei Ausscheidung des Wohnungsaufwandes sogar auf 12.965, wahrend die Mietzinse nur das vier- bis achtfache ausmachten, erst dann setzte eine Bewegung zugunsten einer starkeren Steigerung ein. Daher wohnte der Wiener praktisch genommen umsonst, denn der Mietzins machte für das Vierteljahr gewöhnlich nicht mehr aus als eine einzige Fahrt auf der StraBenbahn. Die Wohnung steilte somit für ihn einen Kapitalswert dar, den er unter allen Umstanden zu erhalten trachtete, auch wenn er die Raume gar nicht oder nicht genügend ausnützen konnte. Eine Uebersiedlung steilte sich auch infolge der ungeheuren Fuhrlöhne so teuer, daB schon deshalb jeder an seinen bisherigen Ort gebunden war. Die hohen Löhne enthobeh 392 Wirtschaftspolitik ferner die arbeitende Bevölkerung der Notwendigkeit, Teile der Wohnung in Untermiete abzugeben, wie dies früher in weitestem MaBe der Fall war. Tritt aber die auf die Dauer unvermeidliche Steigerung der Mietzinse ein und kommen die bestandigen Lohnerhöhungen zum Stillstande, so ergibt sich eine Ausgleichung durch Abwanderung der erwerbslosen Leute von selbst. Eine Erleichterung ergab sich übrigens im Herbst 1922 dadurch, daB die vielen Fremden, welche in der Zeit der fortschreitenden Geldentwertung von allerlei mehr oder weniger anrüchigen Gelegenheitsgeschaften lebten, nach Berlin abwanderten, wo sich ein neues vielversprechendes Feld der Betatigung bot. Die staatliche Organisation hatte wohl auch kaum überwindliche Schwierigkeiten. Ein Zwang auf ganz bestimmte Personen kann nicht ausgeübt werden, eine allgemeine Förderung würde aber groBe Mittel erfordern und den behördlichen Organen eine kaum ertrSgliche Verantwortung aufbürden. Zudem ware schwer ein Gebiet zu finden, das eine überschüssige groBstadtische Bevölkerung aufzunehmen geneigt ware, die doch zu der in erster Linie gewünschten landwirtschaftlichen Arbeit unfahig ist. Eine entscheidende Wendung für die österreichische Wirtschaftspolitik kann und soll die am 4. Oktober 1922 in Genf unterzeichnete Konvention bringen, durch welche sich österreich zu umfassenden Reformen seines Staatshaushaltes verpflichtet und dem Völkerbunde eine gewisse Kontrolle Übertr3gt, wahrend mehrere Machte die Garantie einer groBen Anleihe übernehmen, die österreich bis zu seiner Sanierung braucht. Auf Grund dieses Abkommens hat die österreichische Regierung ein umfassendes Sanierungsprogramm ausgearbeitet, das auf der einen Seite durch Erhöhung der Abgaben und der Preise für die staatlichen Monopolartikel die Einnahmen steigert, auf der anderen Seite einschneidende Ersparungen und Umgestaltungen des Verwaltungsapparates vornimmt. Die wichtigste und schwierigste Aufgabe wird die Reform der Bundesbetriebe, namentlich der Eisenbahnen, sein. Bei entsprechender Energie muB jedoch die Rückwirkung auf die gesamte Volkswirtschaft eine wohltatige sein. Durch die Einstellung der ungedeckten Notenausgabe wird der Geldwert eine Stetigkeit erreichen, die der Produktion zwar die bisherige ungesunde Exportpramie raubt, dafür aber ihre geschaftliche Kalkulation auf eine sichere Grundlage stellt. Der Konsum kann billiger versorgt werden, weil er keine so stürmische Nachtrage mehr entfalten wird, gleichzeitig aber auch das Risiko aus den Elementen für die Preisbildung ausscheidet. Der Sparsinn der Bevölkerung wird sich nicht mehr in dem Hamstern 393 Wirtschaftspolitik f rem der Valuten, sondern wieder normal durch Einlagen bei Sparkassen und Banken sowie durch Ankauf von festverzinslichen Werkpapieren öetatigen. Das auslSndische Kapital wird wieder zuflieBen, das jetzt wegen der Gefahr der Verluste abgehalten wird, dafür wird jener Fremdenstrom eingedammt werden, welcher mühelosen Gewinnen nachjagte und das Land seiner Produktionsmittel und Kunstschatze entblöfite. Auf diesem Wege .muB auch ein niedrigerer ZinsfuB zur Herrschaft gelangen, der die schaffende Arbeit neu befruchten wird. Genfer Konvention und Sanierungsprogramm sind zwar nur von den bürgerlichen Parteien günstig aufgenommen worden, von den Sozialdemokraten werden sie dagegen bekümpft. Doch scheint es, als ob die Sozialdemokratie lediglich die Absicht hatte, vor den Massen die Verantwortung für die unvermeidlichen Einschrankungen abzuwaizen und sich damit eine bessere Stellung bei den künftigen Wahlen zu sichern. Ein gewaltsamer Widerstand scheint nirgends beabsichtigt zu sein. Die Erfahrung in mehreren Staaten hat ja dargetan, daB die Gewalt von links nur eine Gewalt von rechts hervorruft So ist die Hoffnung nicht unberechtigt, daB sich der gesunde Sinn der österreichischen Bevölkerung auch in diesem Falie bewahren und dasschwergeprüfte Land endlich einer besseren Zukunft entgegenführen wird. 394 Finanzwirtschaft Karl Rausch Wien, Ende Oktober 1922. !n den letzten Monaten ist durch die Erörterungen in London und in Genf die Aufmerksamkeit der ganzen öffentlichkeit innerhalb und auBerhalb Europas auf die Krise gelenkt worden, durch welche nicht nur die wirtschaftliche und finanzielle, sondern auch die politische Selbstandigkeit der Republik österreich bedroht erschien. Es entstand naturgemaB die Frage nach dem Wesen dieser Krise, da sie trotz der Gefahrlichkeit ihrer Wirkungen die bezeichnenden Erscheinungen einer Wirtschaftskrise vermissen lieB. Industrie und Gewerbe waren gut beschaftigt, der Handel betatigte sich innerhalb der jetzt allenthalben in Mitteleuropa bestehenden Einschrankungen nach besten Kratten, nirgends hauften sich die Lagerbestande der Waren und von fallenden Preisen konnte nicht die Rede sein, selbst wenn man die Papierkronensummen nach der wechselnden Paritat in Goldkronen umrechnete. Eine schwere Krise also, aber keine Wirtschaftskrise. Man nannte sie, da auch in der Wirtschaft jedes Kind einen Namen haben muB, nach einer der auffallendsten Erscheinungen, die sie darbot, eine Geldkrise, aber traf auch damit nur einen Teil ihres Wesens. Das Geld der Republik österreich ist zweifellos scfiwer krank, das zeigen die Kurse der Auszahlung Wien und der österreichischen Krone in Zürich und in den anderen Börsenplatzen, aber neben dieser Krankheit des Geldes ist die Republik auch von einer Erkrankung des Staatshaushaltes bedroht und die Entwertung des Geldes vereinigt sich mit den Folgen eines nur durch Notendruck bedeckbaren Fehlbetrages im Staatshaushalte zu einer StoBmaschine gegen den Bestand des Staates. Geldentwertung und Staatsverschuldung erzeugen den Notendruck und dieser erzeugt Geldentwertung und Staatsverschuldung. Das mechanische Perpetuum mobile gibt es nicht, aber das finanzwirtschaftliche ist in dieser Form zur Tatsache geworden. 395 Finanzwirtschaft Die Welt hat seit John Law schon viele Geldkatastrophen erlebt und steht solchen Erscheinungen nicht mehr fassungslos gegenüber, sondern vermag sich zumeist ein Urteil über Ursache, Wirkung und Verlauf zu bilden. Aber die Erkrankung der österreichischen Geldund Staatswirtschaft, die Krankheitsformen, die sich dabei zeigten, und die Rückwirkungen des Krankheitsverlaufes auf die gesamte Wirtschaft boten um so mehr eine Fülle des Neuen, als man ja in der Republik österreich einen vor verhaltnismaBig kurzer Frist unter ungünstigsten Bedingungen neu geschaffenen Staat vor sich hat: infolge eines verlorenen Krieges aller seiner Aktiven, seiner Auslandsbesitzungen und Forderungen, seiner Kredit- und Handelsverbindungen entkleidet; mit den schwersten und an sich unerfüllbaren Wiedergutmachungspflichten belastet; von den Nachbarn, die sich seiner Verkehrseinrichtungen und Verkehrsmittel bemachtigt hatten, mit einer undurchdringlichen Mauer umschlossen und durch eine planmafiige und von feindseligen Beweggründen bestimmte Zerstörung seiner Wahrung eines in seiner Kaufkraft feststehenden Zahlungsmittels beraubt. Man stand daher vor der Aufgabe, dieses Kunterbunt von Unheil in Beziehung zu setzen zu der augenscheinlich machtig sich betatigenden Lebenskraft dieses Staates und zu seinen Versuchen, die ihm eingeimpften Krankheitskeime unschadlich zu machen und die Krankheit zu überwinden. Das hauptsachlichste Mittel, dessen sich der neu geschaffene und in so schlimmer Weise von seinen Gründern — die ja seine Feinde waren — zugerichtete Staat bediente, um seiner Plagen, die an Zahl und Tücke die agyptischen übertrafen, Herr zu werden, war der Notendruck, also die Inflation. Man sprach von allem Anfange an von einer Wiederholung der Assignatenwirtschaft, wie wir gleich betonen wollen: mit Unrecht. Die Notenausgabe österreichs hielt sich in ihrer auBeren Art des Entstehens genau an die geitenden Gesetze der Geldschöpfung, die sie allerdings in ihrem Wesen verletzte, und zwar ebensowohl die Gesetze der metallistischen wie der chartalistischen Art der Geldschöpfung. Die ersteren verletzte sie, weil überhaupt kein Metallvorrat vorhanden war, die zweiten, weil es auch an einer für die Geldschöpfung als Gegenwert dienenden produktiven Leistung in der Hauptsache mangelte. Die neuen, zur Ausgabe gelangenden Noten waren weder durch einen Metallvorrat noch durch einen Gütervorrat bedeckt. Sie wurden ausgegeben auf Grund kurzfristiger, verzinslicher Schatzscheine der Regierung — mit einer Laufzeit von drei und sechs Monaten — die anfanglich von einer Vereinigung der 396 Finanzwirtschaft Wiener Banken und Bankiers übernommen und dann zum Zwecke der Geldbeschaffung bei der Österreichisch-ungarischen Bank lombardiert wurden, spater aber von der Finanzverwaltung unmittelbar gegen Empfang der entsprechenden Noten menge bei dieser Bank hinterlegt wurden. Die Grundlage der Ausfertigung dieser staatlichen Schatzscheine bildete regelmSBig die parlamentarische Kreditbewilligung. Diese selbst muBte von der Regierung auf dem Wege der Einbringung eines Gesetzentwurfes mit Motivenbericht und mit Rechnungsaufstellung für die Kreditverwendung durch das Parlament erlangt werden. Es handelt sich also nicht um eine willkürliche, sondern um eine dem staatlichen Bedarfe dienende Geldschöpfung, und es ist besonders wichtig daran zu erinnern, daB dieser Bedarf im wesentlichen sich aus drei Bedürfnissen zusammensetzte, und zwar: Beschaffung der wichtigsten, für die Ernahrung der Bevölkerung dienenden Lebensmittel, Bezahlung der Gehalte und Löhne der Béamten und der in staatlichen Betrieben tatigen Angestellten und Arbeiter sowie der Schuldzinsen und Auslandsverpflichtungen und schlieBlich Beschaffung der notwendigen Mittel für wirtschaftliche Neuschöpfungen. Es fehlte also auch diesen auf Grund von Staatsschatzscheinen ausgegebenen Noten der wirtschaftliche Gegenwert neuer Güterherstellung nicht ganz. Sie waren auBerlich von den Geldzeichen des regelmaBigen Notenumlaufes der Bank nicht unterschieden und wurden nicht gesondert ausgewiesen. Sie bildeten also keine eigene Notenkategorie, sondern waren Banknoten wie die anderen von der Bank auf Grund des noch immer vorhandenen, wenn auch sehr verminderten Goldschatzes und der sonstigen bankmaBigen Deckung ausgegebenen Noten, denn nach den Statuten der Bank galt neben dem Wechseleskompte auch der Lombard als solche Deckung. Wenn sie also auch nach der Art ihres Entstehens unbedeckte Staatsnoten waren, so sind sie doch nicht als solche in Erscheinung getreten. Zu welch unglaublicher Höhe der Notenumlauf der Bank unter der Wirkung der für Rechnung des Staates stets fortgesetzten Notenausgabe anschwoll, zeigt uns der Bankausweis vom 15. Oktober 1922, dessen Umlaufsziffern dem Höchstpunkte dieser Notenausgabe sehr nahekommen dürften, da in Österreich die begründete Hoffnung besteht, die Notenpresse in der ersten Halfte des Monates November stille zu legen. Der Banknotenumlaufverzeichnetaml5.Oktober2„590.414,336.3942L Als Deckung bankmaBiger Art standen diesem Umlaufe gegenüber ein kleiner Gold- und Silbervorrat und Goldwechsel auf ausiandische 397 Finanzwirtschaft Piatze sowie auslandische Noten mit einer Summe von 626.235 K, auslandische Guthaben und Gold, gesperrt zugunsten der kOnftigen österreichischen Nationalbank, und zwar Guthaben: 35,000.000 französische Franken, 35,000.000 Lire, 15,421.850 Goldkronen, zusammen 541.727,750.000 K, Kassen scheine der Kriegsdarlehenskassa 115,533 000JST, eskomptierte Wechsel, Warrants und Effekten 825.717,248.095 K, Darlehen gegen Handpfand 1.350,235.400 K, Effekten 22,439.896 K, österreichisch-ungarische Bank „Liquidationsmasse". Obertrag vom Jahre 1920 7.687,594.556 K und andere Aktiven 325.090,457.603 K. Diese Posten rein bankmaBiger Deckung machen zusammen aus 701.711,894.785 K; die zur Deckung für die staatliche Notenmenge ausgegebenen und bei der Bank lombardierten Staatsschatzscheine beziffern sich mit 1 „196.167,848.000 K und diese Summe stellt also auch die Höhe des den Wirtschaftsgesetzen nicht entsprechenden „unbedeckten" Notenumlaufes dar. Dieser, eine Billion Kronen überschreitende Notenumlauf beziffert also den eigentlichen Umfang der Inflation, obzwar man eine solche auch schon in dem bankmSBig bedeckten Umlauf von 701.711,894.785 K erblicken müBte, der zur Ausdehnung des Wirtschaftsgebietes und der Zahl seiner Bewohner (rund 6 Millionen) im starken MiBverhaltnisse stunde, wenn man bei der Beurteil ung den Mafistab eines regel maBigen Geld wertes, beziehungsweise einer regelmaBigen Kaufkraft des Geldes zugrunde legen könnte, was tatsachlich nicht der Fall ist. *) li Die „Wirkungen" der Inflation Die eben gegebene gedrangte Darstellung der Entwicklung des Notenumlaufes in österreich zeigt uns die Tatsache, daB einer Bevölkerung von rund 6,000000 Menschen eine Geldsumme von rund 2 6 Billionen Kronen zur Verf ügu ng stand, was auf den Kopf rund 431.735 K ausmacht. Natürlich steht dieser Fülle von Umlaufsm.tteln eine in gleichen Mammutziffern einherschreitende Preisentwicklung gegenüber, so daB man sagen kann, der Zehntausendkronenschein sei an die Stelle des Einkronenscheines getreten, obgleich auch dies den Tatsachen nicht vollstandig entspricht, da die Goldparitat bei Zollzahlungen im Oktober mit 14.940 Papierkronen und Ende Oktober mit 15.050 Papier* *) Die Notenpresse wurde tatsachlich am 18. November 1922 für Staatszwecke stillgelegr. Der Notenumlauf bezifferte sich an diesem Tage mit 3„161.625772650 Kdavon waren 2„561.844,989 422 K nur durch Staatskassenscheine bedeckt, stellen also die Inflationssumme dar. Anm. d. Red. 398 Finanzwirtschaft kronen für die Goldkrone berechnet und diese Berechnungsgrundlage auch für einen groBen Teil des Warenumsatzes und selbst des Kleinhandels festgehalten wurde. Im allgemeinen huldigt man der Anschauung, daB diese Hochspannung der Warenpreise, der natürlich eine entsprechende Hochspannung der Gehalte und Löhne zur Seite steht, die unmittelbare Wirkung der Inflation sei. Das führt dann zu der weiteren Folgerung, daB auch die Zerstörung des Gleichgewichtes im Staatshaushalte und das Erscheinen eines ungefahr in gleich phantastischer Ziffernhöhe sich darstellenden Fehlbetrages in der Staatswirtschaft gleichfalls Wirkungen der Inflation seien. Diese Anschauung und diese Folgerung sind nun grundsatzlich unrichtig, obgleich sie von der kiassischen Geldtheorie gestützt . werden, wenn auch nicht verkannt werden kann, dass schlieBlich die Menge der Umlaufsmittel in einem bestimmten Verhaitnis zur Höhe der Waren- und Leistungspreise stehen muB, denn der Arbeiter, der Beamte, der Arzt, der Rechtsanwalt usw. müssen ja vom Ertrage ihrer Tatigkeit, beziehungsweise Leistung leben. Aber diegrundsatzliche Unrichtigkeit dieser Anschauung und Folgerung schlieBt ihre formale Richtigkeit nicht aus, sie bewirkt nur eine Verschiebung in der Verteilung der Rollen: Ursache und Wirkung in dem Sinne, daB nicht die Inflation Ursache der Teuerung, sondern umgekehrt, die Teuerung die Ursache der Inflation ist. Dies hat zur Folge, daB die Untersuchung über die Ursache der Krise, deren Erscheinungen Teuerung und Inflation sind, anders geführt werden muB, als wenn diese Ursache in der unmaBigen Vermehrung der Umlaufsmittel als schon gegeben betrachtet wird. Denn tut man dies, dann kommt der Quantitatstheoretiker zu seinem Rechte, der in einer Verminderung des Notenumlaufes das untrügliche Heilmittel der Krise erblickt. Man hat seit mehr als hundert Jahren dieses Heilmittel in den verschiedensten Staaten und Wirtschaftsgebieten gegen Geldkrisen mit starker Geldvermehrung angewendet. Die Wirkung war stets die gleiche: an die Stelle der bloBen Geldkrise trat eine schwere Wirtschaftskrise mit Stockung des Absatzes, der Produktion, umfangreicher Arbeitslosigkeit, Zusammenbruch zahlreicher gewerblicher, industrielier und kaufmannischer Unternehmungen und mit einer unbarmherzigen Steigerung der Not weiter Bevölkerungsschichten. Wenn diese Krise dann eine zeitlang gewütet hatte, traten auf der durch sie eingeschrankten Grundlage des wirtschaftlichen Lebens allmahlich wieder regelmaBige Verhaitnisse ein und es begann ein neuer wirtschaftlicher Aufstieg. Die Geldkrise wurde also um den 399 Finanzwirtschaft Preis der Verwüstungen einer schweren Wirtschaftskrise geheilt, wenn man diese Heilung als eine Folge auffaBt und sich nicht an das warnende Wort des berühmten Wiener Klinikers Skoda an Seine Schüler bei Erprobung eines rettenden Heilmittels erinnert: „nee propter hoe sed post hoe" (nicht durch die Anwendung des Mittels ist die Krankheit geschwunden, sondern nach der Anwendung des Mittels). Die Teuerung entstand in österreich, und nicht nur da, sondern auch in anderen Landern durch die Entgüterung infolge des Krieges und der Blockade, und sie war lange vor der Notenvermehrung da. Und selbst in den letzten Wochen, etwa seit August d. J., in denen sich die Höchstpreise entwickelten, auf Grund der Höchstpreise der auslandischen Zahlungsmittel, war die Vermehrung der Notenflut nicht eine Ursache dieser Preissteigerung, sondern nur eine Folge. Am Anfang und am Ende der Inflationserscheinung — wir hoffen, daB wir vor ihrem Ende stehen — zeigt es sich sonach mit unwiderlegbarer Deutlichkeit, daB die Vermehrung der Umlaufsmittel in einem ordnungsmaBig verwalteten Wirtschaftsgebiete, in dem nicht Willkür regiert, erst durch die Teuerung erzwungen wird, weil die vorhandene Umlaufsmenge der Zahlungsmittel auch bei gesteigerter Umlaufsgeschwindigkeit zur Deckung der Lebensbedürfnisse nicht hinreicht, und weil die Preissteigerung in dem Falie keine Vermehrung des Angebotes bewirken kann, wenn der Verkehr ganz behindert oder gedrosselt ist Dieser Umstand ist besonders zu betonen, denn die Behinderung des Verkehres schafft geschlossene Wirtschaftsgebiete, die aus den Wirkungen des zwischenstaatlichen Geld- und Warenurn satzes ausgeschaltet sind. Ein solches geschlossenes Wirtschaftsgebiet war österreich nach der Beendigung des Weltkrieges und ist es zum Teile noch heute, denn, wenn auch die tatsachlichen Grenzsperren teils aufgehoben und teils gemildert sind, so bildet doch die Geldentwertung eine umso wirksamere Verkehrssperre. Dieses abgesperrte, also geschlossene Wirtschaftsgebiet, Republik Österreich, ist aber ein Einfuhrland im Sinne dieser Begriffsbestimmung, wie sie Werner Sombart gegeben hat das heiBt, es kann aus seinen Bodenschatzen und Bodenertragnissen die Mittel zur Erhaltung seiner Bevölkerung nicht gewinnen. Will diese Bevölkerung also nicht im entsprechenden Umfange auswandern, so muB sie in irgendeiner Form so viel ffir fremde Rechnung arbeiten, daB dieser Arbeitsertrag zur Bezahlung der notwendigen Einfuhren an Nahrungsmitteln, Bedarfswaren, Roh- und Arbeitsstoffen hinreicht. Was sie zum Zwecke 400 Finanzwirtschaft dieser Bezahlung nicht durch Arbeit schafft, muB in anderer Art bedeckt oder beschafft werden, und das geschieht, wie Walter Rathenau in treffender Weise festgestellt hat, entweder durch den Verkauf der Wahrung oder durch den Verkauf des Bodens oder durch beides. Die Wirkung dieses Vorganges ist das Sinken des Kurses der einheimischen Wahrung auf den Auslandsplatzen und die Überfremdung des Kapitalbesitzes im Inlande, namentlich in der Weise, daB die Kontrolle der einheimischen Unternehmungen in auslandische Hande übergeht. Da nun ein solches Einfuhrland unausgesetzt auf den Auslandsmarkten einkaufen muB, verliert es die Fahigkeit, den „Wert" seines Geldes auf den Auslandsmarkten zu behaupten, und der dadurch entstehende Kurssturz seines Geldes und die entsprechende AufwSrtsbewegung der fremden Wahrungskurse wirkt auch auf die Kaufkraft des Geldes auf dem inneren Markte in ungünstigster Weise zurück. Die schon infolge der Entgüterung entstandene Teuerung verscharft sich nun durch das Hinzutreten der Wirkungen der Geldentwertung. Da sich neben den Warenpreisen auch Gehalte und Löhne dieser Entwertung anpassen, anderseits aber die Steuer- und Abgabenleistungen diese Aupassungsfahigkeit nicht besitzen, muB die Staatswirtschaft sehr rasch in eine heillose Unordnung geraten. Den maBlos steigenden Auslagen, die umso gewaltiger anwachsen, je schneller sich der Entwertungsvorgang des Geldes vollzieht, kann die Steigerung der staatlichen Einnahmen nur im weitesten Abstande nachhinken, und der schon ursprünglich durch die Entgüterung und Preissteigerung entstandene Fehlbetrag im Staatshaushalte wachst ins MaBlose. Man bezeichnet diese Zerstörung des Gleichgewichtes im Staatshaushalte gewöhnlich als eine „Wirkung" der Inflation. Wie aus dem dargelegten inneren Entwicklungsgange der hier in Betracht kommenden Dinge und Geschehnisse leicht zu erkennen ist, erfafit diese Anschauung nur die auBeren Erscheinungen, nicht aber die inneren Zusammenhange. Denn in Wirklichkeit liegt eine organische Erkrankung der Wirtschaft vor, eingeleitet durch den Krafteverfall infolge der Entgüterung, die noch verstarkt ist durch die Wertzerstörungen infolge des Krieges und durch die staatlichen und privaten Vermögensverluste infolge der Niederlage und endlich durch die ZerreiBung des früheren Wirtschaftsgebietes und durch die Zerstörung der Wahrung. Der wirtschaftliche und der staatliche Organismus passen sich diesen grundstürzenden Anderungen ihrer Daseinsbedingungen an. Der Staat, der über genügende Einnahmen nicht verfügt und den nötigen Kredit zur 26 401 Finanzwirtschaft Aufbringung von Anleihen nicht besitzt, greift zur Geldschöpfung durch die Notenpresse als Ersatz für die inneren Anleihen. Die drangende Gewalt des Geldmangels hat sich schon vorher durch die Schaffung von Notgeld seitens der Gebietskörperschaften verraten. Gemeinden und Lander geben Zettelgeld aus, damit der Verkehr aufrechterhalten werden kann. Das Arbeiten der Notenpresse macht endlich dem unertraglichen Zustande des Fehlens der Umlaufsmittel ein Ende. Nun w3re der Staat allerdings in der Lage, durch die sofortige Einleitung einer auf wirtschaftliche Neuschöpfungen gerichteten Tatigkeit der wachsenden Notenmenge eine gesteigerte Produktion gegenüberzustellen. In österreich hatte beispielsweise sofort mit dem Ausbaue der Wasserkraftwerke begonnen werden können. Das geschah leider viel zu spat und vorher hatte man sich auf die ErschlieBung von Kohlenvorkommen aber ebenfalls nur in unzulanglicher Weise beschrankt. Nichtsdestoweniger muB die produktionssteigernde Wirkung der Geldvermehrung trotzdem festgestellt werden, denn sie zeigte sich in einer auffallend raschen Abnahme der Arbeitslosigkeit, in einer entsprechenden Zunahme der Ausfuhr und in einem Schwinden der Erscheinungen der Entgüterung. Die Magazine und Kaufladen füllten sich wieder mit Waren, die Markte wurden gut beschickt, die mit der Niederlage einsetzende Wirtschaftskrise war verschwunden und die Inflation schuf eine Konjunktur: die Konjunktur der Überfülle der Umlaufsmittel. In diesem Augenblicke hatte die Tatigkeit der staatlichen Finanzverwaltung eingreifen mOssen, um den Weg der regelmaBigen Entwicklung wieder gangbar zu machen. Das Mittel dazu ist bekannt, es bedurfte nur des Mutes zu dessen Anwendung: es ist die ZinsfuBschraube. Die rechtzeitige und ausgiebige Erhöhung des ZinsfuBes hatte der aufsteigenden Inflationskonjunktur ein Ende bereitet und die allmahliche Wiederkehr regelmaBiger Zustande der Volks- und Finanzwirtschaft ermöglicht. Der hiezu notwendige Mut war nicht vorhanden und fQhrte so denn die Steigerung der Preise und Löhne und das verhaltnismaBige Sinken der Staatseinnahmen zu einer vollstandigen Zerstörung des Gleichgewichtes im Staatshaushalte, dessen öfter versuchte Wiederherstellung stets daran scheiterte, daB das fortschreitende Sinken des Geldwertes immer wieder die rechnungsmaBige Grundlage dieser Wiederherstellungsversuche zerstörte. Zu welchen tatsachlichen Zustanden diese Verhaitnisse gefQhrt haben, kann man aus den Ziffern des im Sanierungsprogramme auf- 402 Finanzwirtschaft gestellten Staatsvoranschlages für 1923 entnehmen, die wirnachstehend anführen: Budgetp osten Ausgaben ÜberschuB + Abgang — in Millionen Papierkronen A. Hoheitsverwaltung: Oberste Volksorgane . . . Gerichte öffentl. Rechtes . Rechnungshof Staatsschuld Leistungen an Lander und Gemeinden Pensionen Bundeskanzleramt .... AuBeres Inneres und Unterricht . . Justiz Finanzen Land- und Forstwirtschaft, allg. Verwaltung .... Handel u.Ge werbe, Industrie und Bauten Soziale Verwaltung.... Heerwesen Verkehrswesen, Hoheitsverwaltung Sozialisierung Staatsvertrag v. St. Germain Hoheitsverwaltung Summe. B. Monopole u. Bundes- betriebe: Monopole Betriebe g. Gesamtsumme Abgang 14.362 0 2.7397 2.018 7 408.9806 1,048.1480 625.7637 11.7351 45.0299 893.6625 298.368 3 236.3615 167.239-9 295.331-5 606.742-7 778.3981 959.8301 289-1 2063741 6,601.375-5 101.1509 2,421.069-9 4-8 1-6 37.1920 14.5564 3.426-0 821-0 8.475 9 17.627-4 2,944.835-2 17.9847 21.431-4 91.1918 9.207-4 316-6 20-0 — 14.3620 — 2.734-9 — 2.018-7 — 4089790 — 1,010.9560 — 611.2073 — 8.309-1 — 44.208-9 — 885.1866 — 280.7409 + 2,708.473-7 — 149.255-2 — 273 9001 — 515.550-9 — 769.190-7 — 959.513.5 289-1 — 206.354-1 3,167.092-2 1,278.476-3 142.0575 — 3,434 2833 +1,177.325-4 — 2,279.012-4 9,123.5963 4,587.6260 4,535.970-3 4,535 970 3 Um die ganze Tragweite dieses Riesenfehlbetrages von 4„535.970,300.000 K zu ermessen, ist darauf hinzuweisen, daB nach den Erlauterungen zu der Aufstellung dieser Staatshaushaltsrechnung für 1923 schon ein für das Jahr 1923 in Aussicht genommener, jedoch erst durchzuführender Abstrich von durchschnittlich 20% der Ausgaben für das aktive Personal berücksichtigt ist, somit bei der Hoheitsverwaltung eine in diesem Jahre durchzuführende Ersparnis von 310 Milliarden Papierkronen. Ferner ist in den Einnahmen die bevor- 26* 403 Finanzwirtschaft stehende Erhöhung des Zollaufschlages auf 10.000 K, die für den 20. Oktober in Aussicht genommene (seither durchgeführte) Erhöhung der VerschleiBpreise der Tabakfabrikate und die Erhöhung der Einnahmen aus indirekten Steuern bei Inkrafttreten des Gesetzes vom 24. Juli 1922 (also nach Auf hebung des sogenannten Mantelgesesetzes, nach dem alle Erhöhungen der Einnahmen nur gleichzeitig in Kraft treten konnten, die eben erfolgt ist) bereits berücksichtigt. In Goldkronen umgerechnet zeigt diese Aufstellung des Voranschlages für 1923 folgendes Bild: . . , Überschufi 4- Ausgaben Einnahmen Abgang — in Millionen Goldkronen Betriebe 169-3 9 5 — 159 8 Monopole 6 7 85-2 + 78*5 Hoheitsverwaltung ... 451-8 21 li — 2407 627-8 305-8 — 322'0 2. Die Reform der Finanzwirtschaft Man kann die verwüstende Wirkung der Geldentwertung oder, wie man es volkswirtschaftlich zutreffender nennt, der gesunkenen Kaufkraft des Geldes nicht deutlicher veranschaulichen als durch dieses Ziffernbild des Staatsvoranschlages. Man darf daher uneingeschrankt der SchluBfolgerung beipflichten, welche die Regierung selbst daraus zieht: „Klarist, daB die Sanierung des Staatshaushaltes nur durch eine weitgehende gewaltsame Einschrankung des Staatsbedarfes bis auf das zwingend notwendigste AusmaB unter gleichzeitig voller Deckung dieses reduzierten Staatsbedarfes durch gleich hohe Staatseinnahmen möglich ist" Das Finanzkomitee des Völkerbundes, das die Finanzwirtschaft Österreichs eingehend geprüft hat, hat die notwendigen MaBnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes im Staatshaushalte in zwei Grappen zusammengefaBt: a) Zunachst eine Reform der industriellen Unternehmungen des Staates, im wesentlichen in der Richtung, daB die Unternehmungen — sofern sie überhaupt im staatlichen Betriebe bleiben sollen — jedenfalls derart kaufmannisch geführt werden, daB sie vollkommen defizitlos arbeiten und dort, wo es sich um Monopolbetriebe handelt, dem Staate noch einen entsprechenden Monopolertrag abwerfen; b) die zweite wichtige MaBnahme ist die Durchführung wesentlicher Ersparungen in der Hoheitsverwaltung durch einen Abbau des Personals, durch welchen Abbau es ermöglicht würde, die Ver- 404 Finanzwirtschaft waltungsausgaben mindestens um ein Drittel einzuschranken. Auch die den autonomen Gebietskörperschaften gewahrte Subvention zur Bestreitung der Personalbezüge soll eingestellt werden. Das Finanzkomitee erwartet sich aus diesen MaBnahmen eine Ersparnis von jahrlich 130 Millionen Goldkronen. Wie sich das Finanzkomitee die Wirkung dieser MaBnahmen vorstellt, hat es durch die Aufstellung eines Normalbudgets in Goldkronen veranschaulicht. Wir lassen diese Aufstellung folgen: An diese Aufstellung knüpfte das Finanzkomitee des Völkerbundes folgende Bemerkung: „Es müBte möglich sein, diese 237 Millionen Goldkronen nach Ablauf von zwei Jahren durch Steuern zu decken. Diese Ziffer entspricht zwar tatsachlich nur 40 Goldkronen auf den Kopf jedes Einwohners und könnte in der Folge noch erhöht werden; aber die Schwierigkeiten, die sich gegenwartig aus einer Steuerveranlagung ergeben, die in einer Periode der Geldentwertung immer niedrig ist und die Schwierigkeiten anderer Art, welche die Stabilisierung der Wahrung unmittelbar verursachen wird, lassen es wenig wahrscheinlich erscheinen, daB man diese Ziffer früher erreichen könnte." Man muB dieser Anschauung des Finanzkomitees beipflichten, denn wie Ministerialrat Dr. Paul Grünwald-Ehren in einer grundlegenden „Darstellung der Steuerbelastung in österreich einst und jetzt" (veröffentlicht in der „N. Fr. Presse" am 22. und 24. Oktober d. J.) nachweist, machten die staatlichen Steuern im ganzen alten österreich auf den Kopf der Bevölkerung 50 K 88 h aus, die ja Goldkronen waren, wahrend die Steuersumme, zu der das Finanzprogramm der Regierung nach dem oben mitgeteilten Voranschlag für 1923 kommt, 79 K 52 h ausmacht, also höher ist als die Durchschnittsbelastung im ganzen alten österreich unter EinschluB der Belastung durch die autonomen Körperschaften. Es ist durchaus fraglich, ob die derzeitige wirtschaftliche Lage eine solche Belastung zuiaBt, um so mehr, als wir ja mit Sicherheit auf den Eintritt einer Ausgaben: Normalbudgel Millionen Goldkronen Staatsschulden . . . Pensionen Verwaltungsausgaben Heer Soziale Verwaltung 52 42 100 20 23 237 405 Finanzwirtschaft Produktionskrise bei dauernder Stabilisierung oder gar Steigerung des Geldwertes rechnen müssen. Es fragt sich nun, ob das Sanierungsprogramm der Regierung nicht noch einen Ausbau im Sinne einer weiteren Verminderung der Belastung der Steuertrager zulaBt. Das Wesentliche der angestrebten Reform der Finanzwirtschaft liegt in den zwei Hauptpunkten: Personalabbau und Reform der Betriebe, wobei besonders hervorzuheben ist, daB auch bei dieser Betriebsreform das Schwergewicht auf der Verminderung der Personallasten ruht, und zwar ebensowohl rflcksichtlich der Zahl der beschaftigten Personen wie rOcksichtlich ihrer Arbeitsleistung und Entlohnung. Ware die Österreichische Wirtschaft tragfahig genug, dann könnten diese Schwierigkeiten durch eine Steigerung der direkten, also der Besitzsteuern und der indirekten Steuern abgesch wacht und ihre Oberwindung auf einen langeren Zeitraum verfeilt werden. Das Sanierungsprogramm der Regierung geht offenbar von diesem Qesichtspunkte aus, aber die Dinge sind in der Regel starker als die Menschen. Das Oberwiegen der Personallasten in der Hoheitsverwaltung und in den Betrieben ist eine Begleiterscheinung des Produktionsrfickganges, der zur Folge hatte, daB österreich in den letzten Jahren mehr verbrauchte als es erzeugt hat Das wurde durch die Tatigkeit der Notenpresse ermöglicht, die in Form einer stets anwachsenden inneren Anleihe alle Rucklagen, sozusagen das ganze Nationalvermögen, mobilisierte und in den Verbrauch warf. Das Sinken der Kaufkraft des Geldes, der Züricher Kronenkurs unter 00080, das sind die Zeichen dafür, daB die Rucklagen und vielleicht auch der gröBte Teil des Nationalvermögens aufgezehrt, daB Wahrung und Boden ausverkauft sind und daB österreich fOr seinen Einfuhrbedarf keine andere Deckung mehr beibringen kann als seine Arbeit Es wird also nur das zu verzehren und im weitesten Sinne zu verbrauchen haben, was es erarbeitet Die Hilfe, welche es durch die auswartigen Kredite empfangt, reicht nicht weiter als für die Zeit zur Umstellung auf diese erhöhte Arbeitsleistung, und sie ermöglicht diese Umstellung durch die Stillegung der Notenpresse und Stabilisierung der Wahrung. In diese Fragen der Reform der Finanzwirtschaft ist auch die dornige Frage der sozialen Umschichtung eingeschlossen, die sich seit dem Kriegsende durch das Emporsteigen der politischen und wirtschaftlichen Macht der organisierten Arbeiterschaft vollzogen hat Diese Macht hat sich nicht nur in einem entscheidenden Eingreifen 406 Finanzwirtschaft der Arbeiterschaft in die Leitung des Erzeugungsvorganges, sondern auch in einer bedeutenden Steigerung der Löhne und in einer sehr empfindlichen Verminderung der Arbeitsleistung ausgewirkt. Selbst wenn der Arbeitseifer der gleiche ware wie in der Vorkriegszeit, brachte doch die VerkOrzung der Arbeitszeit durch den Achtstundentag eine prozentuelle Verminderung der Arbeitsergiebigkeit. Nun wird aber der Achtstundentag nicht voll ausgenützt und der Arbeitseifer ist in vielen Betrieben stark erlahmt. Aber dies ist nicht die einzige Produktionshemmung. Die organisierte Arbeiter- und Angestelltenschaft hat in den einzelnen Bundeslandern die Freiheit des Warenverkehrs entweder selbst gehemmt oder diese Hemmung begunstigt und den Fremdenverkehr eingeschrankt oder unmöglich gemacht, um billigere Lebensverhaitnisse zu erzwingen. Sie hat dadurch eine Steigerung der land wirtschaftlichen Erzeugung verhindert, die bei frei er Beschickung aller GroBmarkte und namentlich des Wiener Marktes eingetreten ware und hat auch das Einströmen fremden hochwertigen Geldes durch Behinderung des Fremdenverkehrs eingeschrankt. RechnungsmaBig laBt sich natürlich die aus einem solchen Vorgehen entstandene Schadigung der Geldwirtschaft und der allgemeinen Volkswirtschaft nicht feststellen, daB sie aber sehr bedeutend ist steht auBer Zweifel. Die Aufgabe der Reform der Finanzwirtschaft umfaBt demzufolge auch die Durchführung einer sozialen Reform in dem Sinne, daB alle produktiven Krafte des Staates durch Aufhebung des von einer Klasse ausgehenden Druckes wieder ins Gleichgewicht gesetzt werden. Das kann im wesentlichen, wenn eine Krise vermieden werden soll, nur durch eine emsige und groBzügige Aufklarungsarbeit geschenen» an der natürlich die sozialdemokratischen Führer mitwirken müssen, wenn ihnen das Schicksal derer am Herzen liegt, die ihnen ihr Vertrauen geschenkt haben. Taten sie dies nicht, so ware die unabwendbare Folge die Entstaatlichung aller Betriebe, was vom Standpunkte der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung nicht wünschenswert ist. Die staatliche Hoheit über den Eisenbahnverkehr ist seinerzeit als eine groBe Errungenschaft begrüBt worden. Sind aber die Eisenbahnen durch die Personallasten infolge Oberzahl der Angestellten, verminderter Arbeitsleistung, übermaBiger Lohnhöhe und ein Obermafi von kostspieligen Fahr- und sonstigen Begünstigungen des Personals, wie Kohlenbezug und dergleichen, bankerott, so kann der Staat ihre Ffihrung nicht behaupten und das Privatkapital tritt wieder an seine Stelle. Das können alle Organisationen mit allen 407 Finanzwirtschaft ihren Machtmitteln nicht hindern. Machen sie unbesonnen von diesen Machtmitteln Gebrauch, so könnte nur das Einschreiten der Nachbarstaaten die Folge sein, die dieses mit dem nötigen Schutze ihrer eigenen VerkehrsbedUrfnisse zu rechtfertigen versuchen würden. Man sieht, die Reform der finanziellen Staatswirtschaft ist in diesem Sinne auch eine wirtschaftliche und soziale Aufgabe von gröBter Bedeutung, denn auf die Art ihrer Durchführung kommt es an, ob die nationale Produktivkraft gesteigert oder gemindert und ob die politische und wirtschaftliche Freiheit gesichert und dadurch alle schaftenden Krafte im Staate in den Stand gesetzt werden, das Höchste zu leisten, und zwar ebensowohl zum eigenen wie auch zum Vorteile des Ganzen. Die Meinung, namentlich in den sozialistischen Schichten, daB der Staat allmachtig sei, ist mindestens im Bereiche der Geld- und Volkswirtschaft ein Irrglaube. Es kommt darauf an, daB dieser Irrglaube als solcher erkannt werde, um die Rückkehr zu einer gerechten Einschatzung der tatsachlich wirkenden Krafte zu erleichtern. Es nOtzt nichts sich einzureden, daB Boden und Arbeit allein die Schöpfer des wirtschaftlichen Wohlstandes seien, man muB den Tatsachen Rechnung tragen und dem Kapital seine Rechte im Ablauf des Wirtschaftsvorganges zuerkennen. 3. Das Finanz- und Unternehmerkapital in Österreich Nach den Mitteilungen des Bundesamtes für Statistik gab es Ende 1914inÖsterreich403 Aktiengesellschaften mit2.900,000.000K Kapital. Ende 1920 waren es 511 Gesellschaften mit 7.100,000000 K, Ende 1921 612 Gesellschaften mit 15.000,000.000 K, deren Kurswert sich damals mit 76.600,000.000 K bezifferte, und bis Ende Februar 1922 hat sich der Gesamtstand der Gesellschaften infolge von 30 Neugründungen auf 642 und das Kapital durch diese Neugründungen und durch Kapitalsvermehrungen auf 21.250,000.000 K erhöht. Im ersten Halbjahre 1922 haben die österreichischen Aktiengesellschaften, deren Aktien im Kursblatte der Wiener Börse verzeichnet sind, ihr Nominalkapital um 5.080,000.000 K erhöht und durch die höheren Begebungskurse eine Kapitalseinzahlung von 76.500,000.000 K erzielt. Der Kurswert aller Aktien, deren Nominalwert Ende 1921 sich mit 15.000,000.000 K bezifferte, betrug zu diesem Zeitpunkt, dem Jahresende 1921 1 „121.334,000.000 K. Würde man den Nominalwert von 15.000,000.000 jFTnach dem jetzigen Stande der Goldparitat von rund 408 Finanzwirtschaft 15.000 umrechnen, so ergabe sich die Zahl von 225 Billionen Kronen. Nun umfaBt ja das Aktienkapital der Banken und Industriegesellschaften durchaus nicht das ganze Bank- und Unternehmerkapital, da die Kapitalskraft der Bankiers und der Unternehmer, deren Betriebe nicht in Aktiengesell schaf ten um gewande lt sind, darin nicht enthalten ist. Auch jene Aktienunternehmungen, deren Aktien nicht börsenmaBig gehandelt werden, kommen bei diesem Kapitalsnachweise nicht in Betracht. DaB es sich dabei um groBe Summen handelt, zeigt der Hinweis auf die in den letzten Jahren neugegründeten Aktiengesellschaften zum Ausbau der Wasserkrafte, deren Kapitalien nicht eingerechnet sind. Das gesamte Finanz- und Unternehmerkapital hat also einen Umfang, der die finanzielle Bedeutung des Kapitals der Staatswirtschaft überragt. Ober den Umfang der finanziellen Mittel der Aktienbanken enthalt Jahrgang 1921 des Statistischen Handbuches der Republik österreich einen Nachweis des Standes im Jahre 1918. Darnach bezifferte sich das Aktienkapital der Aktienbanken in österreich auf 1.274,700.000 K, die Summen der Reservefonds auf 159,400.000 K, der Spezialreservefonds auf 416,400.000 K und die Summen des Aktienkapitals und der Reservefonds zusammen auf 2.344,500.000 K und mit Hinzurechnung des Kapitals der Landesbanken und Pfandbriefanstalten der Sparkassen auf 2.373,100.000 K. Bezüglich 205 Industriegesellschaften, deren Ergebnisse bekannt sind, weist das genannte Handbuch für das Jahr 1918 das Vorhandensein eines Unternehmerkapitals von 1.287,436.000 K aus, indem es das dividendenberechtigte Aktienkapital und die echten Reserven summiert. Nach Ausscheidung der gemeinnützigen Baugesellschaften und jener Gesellschaften, deren Betriebsstatten ganz oder zum gröBten Teile auBerhalb der Republik österreich liegen, berechnet das Handbuch den Gewinn der verbleibenden Gesellschaften bei Einrechnung der Vortrage aus dem Vorjahre mit 156,768.000 K, den Verlust mit 19,276.000 K, so daB ein Gewinnsaldo von 137,492.000 K verbleibt. Im Bergbau und Hüttenwesen beschaftigt war ein Unternehmerkapital von 129,450.000 K, davon im Erzbergbau und Hüttenbetrieb 109,975.000 K und im Kohlenbergbau 13,469.000 K; in der Metallverarbeitung 234,525.000 K, in der Erzeugung von Maschinen, Verkehrsmitteln und Instrumenten 219,553.000 K, in den Anlagen für Beleuchtung, Kraft und Leitung 145,700.000 K, in der Textilindustrie 110,073.000 K, in der Nahrungsmittelindustrie 154,410.000 K und davon in den Bierbrauereien und Malzereien 109,910.000 K. 409 Finanzwirtschaft In Wien war davon in Tatigkeit ein Unternehmerkapital von 1.078,418.000 K und in Niederösterreich-Land von 108,653.000 K. Der Rest verteilte sich auf die Lander, darunter auf Oberösterreich 34,039.000 K und auf Steiermark 48,690.000 K. Die Bilanzsumme dieser 205 Aktiengesellschaften ergaben mehr als 3.500,000.000 K. Die oben angegebene Statistik aller Aktiengesellschaften für 1914, 1920 und 1921 erganzen wir nach dem Handbuch für die Jahre 1918 und 1919 durch folgende Ziffern: Zahl der Gesellschaften, deren . Zahl der Deren eingezahltes Betriebsstatten zum Deren eingezahltes 1 OeBellschaften Kapitel in 1000 K f r°Bte" ™' *ul": Kapital in 1000 K halb der Republik " liegen 1918 459 3,964.273 132 1,170.164 1919 488 4,500331 130 1,237.158 Wir mochten durch Anhaufung von noch mehr Ziffern den Leser nicht ermüden. Die Summen, die nachgewiesen wurden, zeigen den groBen Umfang des Finanz- und Unternehmerkapitals und sie bieten auch die Erklarung dafür, daB die Republik österreich den ungeheuren finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten der letzten Jahre so tapfer standhalten konnte. Banken und Industriegesellschaften sind in Österreich wohlfundierte Unternehmungen, die nach den strengsten geschaftlichen Grundsatzen geführt werden. Vor allem zeigt sich in der Verteilung des Finanz- und Unternehmerkapitals die auBerordentliche wirtschaftliche Kraft und Bedeutung Wiens und die daraus sich ergebende und bisher nicht gewürdigte Tatsache, daB die wirtschaftliche Lebensfahigkeit der Republik österreich auf der Zugehörigkeit von Wien zu ihr beruht. Von dem Kapital der Banken entfallen auf Wien folgende Betrage: Eigene Gelder der Banken: I lm ganzen | Aktienkapital I Reservefonds j Speziali eserven I Art der Banken ■ ■ ■ in Millionen Kronen . - ■ F j Aktien-Hypothekenbanken 3897 1410 41'2 180-8 Andere Aktienbanken . . 1.9121 1.245*7 152*2 413*9 I Zusammen. || 2.301*8 1*386*7 193*4 594*7 Da sich das Gesamtkapital aller Aktienbanken in österreich Ende 1918, auf welchen Zeitpunkt sich diese Aufstellung bezieht, wie 410 Finanzwirtschaft schon oben angegeben wurde, mit 2.344,500.000 K berechnet, so entfallen auf das Gebiet der Republik Österreich auBer Wien nur 42,700.000 K. Um die wirtschaftliche Machtstellung Wiens vollkommen zu würdigen, muB man ferner in Betracht ziehen, daB es der Sitz fast aller wirtschaftlich entscheidenden Industriegesellschaften ist, so daB im Jahre 1919 von 616 Industriegesellschaften 563 ihren Sitz in Wien hatten. Von diesen hatten 434 mit einem eingezahlten Kapital von 4.241,326.000 K ihre Betriebsstatten in Wien und österreich, 129 mit einem eingezahlten Kapital von 1.236,258.000 K ihre Betriebsstatten zum gröBten Teil auBerhalb österreichs, das heiBt zumeist in den Nachfolgestaaten. In dieser Tatsache liegt die Erklarung dafür, daB Wien im groBen und ganzen noch immer der Verkehrs- und Handelsmittelpunkt nicht nur des Wirtschaftsgebietes der früheren Monarchie, sondern auch der angrenzenden Lander und namentlich auch der Balkanstaaten geblieben ist. Rechnet man dazu noch die Kapitalskraft der privaten Industrie- und Transportunternehmungen und der groBen Handelsorganisationen, die sich allerdings ziffernmaBig nur schwer feststellen laBt, so begreift man die Bedeutung Wiens als wirtschaftlichen Kraftmittelpunkt nicht nur für österreich, sondern für ein sehr umfangreiches mitteleuropaisches Gebiet. Für die finanzielle Leistungskraft Wiens nicht ohne Bedeutung ist auch der Umstand, daB seine Einlagenkassen und Banken die Aufnahmestatten des Sparkapitals sind. Auch in diesem Falie handelt es sich um ganz bedeutende Summen, deren befruchtende Wirkung auf das Wirtschaftsleben ja ganz selbstverstandlich ist. Die nachfolgende Tabelle zeigt den Einlagenstand Ende September 1922 im Vergleiche zum vorangegangenen August: Stand a m 31. August 1922 30. September 1922 + — Millionen Kronen Postaparkassenamt 687.873 896.686 + 208.813 Erste österreichische Sparkasse . . . 2,996.173 3,638.262 + 642089 Zentralsparkasse der Gemeinde Wien . 1,493.304 2,230.704 + 737 400 Bankverein 1,860.510 2,161.480 + 300.970 Depositenbank 2,006.409 3,308.585 + 1,302.176 Niederösterreich. Eskomptegesellschaft 273.156 307.819 + 34.663 Merkurbank 876.599 1305.598 + 428.999 Unionbank 495.399 1,602.355 + 1,106.956 Verkehrsbank 1,542.204 1,942.614 -j- 400 410 Zentralbank der deutschen Sparkassen 1330.885 1,314.581 — 16.304 Zusammen . . 18,562.512 18,708.684 -f 5,146.170 411 Finanzwirtschaft Von den groBen Einlagestellen fehlen hier die Neue Wiener Sparkasse und die LSnderbank, die ihren Einlagenstand nicht veröffentlichten. Ende September wies die Landerbank einen Einlagenstand von 2.4626 Millionen Kronen und die Neue Wiener Sparkasse von 3477 Millionen Kronen aus, so daB sich der Gesamteinlagenstand Ende September 1922 mit 21,518.984 Millionen Kronen (21»/« Billionen) beziffert. 4. Gründung einer neuen Notenbank Die Neuordnung der österreichischen Finanzwirtschaft ist nicht denkbar, ohne die das Geldwesen in Ordnung haltende und regelnde Tatigkeit einer unabhangigen und selbstandigen Notenbank. Die Übertragung dieser Tatigkeit an die Notenbank des alten österreich an die österreichisch-ungarische Bank ist nicht möglich, da diese Bank auf Grund des Vertrages von Saint Germain liquidiert werden muB. Es muB also eine Neugründung vorgenommen werden. Ware diese Neugründung nach dem Zerfall des alten österreich erfolgt, so hatte naturgemaB jene Geldkrise nicht eintreten können, um deren Heilung es sich heute handelt. Damals erschien eine solche Gründung undurchführbar, weil man keine Möglichkeit sah, den notwendigen Goldschatz aufzubringen, der zur Grundlage einer aufrechten Notenbank gehört Jetzt will man die neue Notenbank nicht mit einem tatsachlichén Goldschatz ausstatten, sondern man will diesen ersetzen durch die Hinterlegung von hochwertigen Devisen und Valuten, und zwar nach dem ursprünglichen Plane von Schweizer Franken. Dieser ursprüngliche Plan, der von der Regierung Seipel nach dem Entwurfe des Finanzministers Ségur aufgestellt wurde, sah ein Aktienkapital von 100 Millionen Schweizer Franken vor, von denen vorerst 60 Millionen durch die Wiener Banken teils unmittelbar eingezahlt, beziehungsweise deren Einzahlung durch sie garantiert wurde. Das eingezahlte Kapital sollte durch die Haftung der Zolleinnahmen sichergestellt werden. Die Durchführung dieser Gründung, die im August vollzogen werden sollte, wurde durch einen unerwarteten Einspruch der Londoner Zentrale der Anglobank gegen einige Bestimmungen des Bankstatuts verhindert, ein Einspruch, dem sich die Pariser Zentrale der Landerbank anschloB. Die mit diesem Einspruch verbundenen Forderungen zielten teils auf die vollstandige Ausschaltung jedes Regierungseinflusses auf die Bankgebarung, teils auf die vollstandige Sicherung des Bankkapitals durch dessen Hinterlegung auBerhalb der Republik 412 Finanzwirtschaft österreich. Es sei gleich hier bemerkt, daB sich das Finanzkomitee des Völkerbundes nachtragüch diesen Forderungen angeschlossen hat Was nun den Grundgedanken betrifft, welcher der Regierung der Republik österreich und dem Konsortium der Wiener Banken und Bankfirmen bei dem Gründungsplane vorschwebte, so wird man schwerlich fehlgehen, wenn man annimmt, daB nicht nur die vollstandige Stillegung der Notenpresse und ihre dauernde Ausschaltung das Ziel war, sondern auch die Schaffung einer bankmaBigen Deckung für den so maBlos angeschwollenen Notenumlauf und weiterhin die Möglichkeit, den künftig auf Grund bankmaBiger Deckung zu schaftenden Notenumlauf doch dem zunachst noch immer auBergewöhnlich hoch bleibenden Bedarfe des österreichischen Wirtschaftslebens so anzupassen, daB eine plötzliche gewaltsame Drosselung mit allen damit verbundenen verhangnisvollen Krisenauswirkungen vermieden werden könnte. Der Abbau des Notenumlaufes sollte sich nach Stabilisierung des Kronenkurses im wirtschaftlichen Sinne organisch vollziehen und die Bank sollte nicht bei genauer Einhaltung ihres Statuts zu gewaltsamen Eingriffen gezwungen sein. Dieses Ziel entsprach der finanzwirtschaftlichen Tradition, die sich seit dem Übergang österreichs zur Goldwahrung im Jahre 1892 allmahlich gebildet und jenes Wesen des Geldverkehrs ausgestaltet hatte, das Georg Friedrich Knapp in seiner „Staatlichen Theorie des Geldes" wirtschaftswissenschaftlich erklart und als den erfolgreichen Beginn einer Loslösung der Geldverfassungen von dem metallistischen System der starren Goldwahrung auf quantitatstheoretischer Grundlage gedeutet hatte. Man darf nicht übersehen, daB die „Staatliche Theorie des Geldes" einen starken EinfluB auf die Wahrungspolitik gewonnen hat und daB sie den ersten erfolgreichen Versuch darstellt, die Metallgeldwand, deren Vorhandensein schon Rodbertus als ein Hindernis für die Gewinnung zutreffender wirtschaftlicher Urteile beklagt hatte, endlich niederzulegen. Nichts konnte natürlich den auf das Gold sich stützenden kapitalistischen Vormachtlandern unwillkommener sein als das Emporkommen dieser wirtschaftswissenschaftlichen Richtung oder gar deren weitere praktische Anwendung. Für die angelsachsischen Staaten und für die durch ihren Goldbesitz kapitalistisch vorherrschenden Lander ist die unbedingte Aufrechthaltung der Goldwahrung eine Forderung, über deren Einschrankung jede Auseinandersetzung unzuiassig ist. Man versteht, daB die Sachverstandigen des Finanzkomitees des Völkerbundes einem Notenbankplane, der im wesentlichen im Sinne der „Staatlichen Theorie des 413 Finanzwirtschaft Geldes" entworfen war — auch wenn dessen Verfassern dieses Ziel nicht unmittelbar vorschwebte —, ebensowenig zustimmen konnten wie die Bank von England, die ja hinter dem Einspruch der Zentrale der Anglobank stand, der die Durchführung der Gründung der Bank im August verhinderte. Die quantitatstheoretische Auffassung der Notenbankorganisation und der Entwicklung der Geldwirtschaft kann sich die Beendigung einer Inflationszeit nicht anders vorstellen als durch die plötzliche und unvermittelte Rückkehr zum metallisch bedeckten Geldumlauf und betrachtet die aus einem solchen Vorgehen unbedingt entstehende Krise als eine unvermeidliche Selbstverstandlichkeit. Nach diesen Gesichtspunkten ist die Haltung, welche das Finanzkomitee des Völkerbundes dem österreichischen Bankplan gegenüber einnimmt, zu verstehen und zu erklaren. Ein Kapital der Bank von 100,000.000 Schweizer Franken würde österreich bis zu einem gewissen Grade eine Unabhangigkeit des Geldverkehres sichern, die, bei dauernder Stabilisierung des Kronenkurses und weiterhin bei seiner in sehr langen Zeitraumen sich vollziehenden Hebung — man- hatte da mit Jahrzehnten zu rechnen, wie es im alten Österreich war —, ihm eine den Siegerstaaten und namentlich den Nachfolgestaaten unerwünschte finanzielle Beweglichkeit ermöglichen könnte. Man hat daher seitens des Finanzkomitees des Völkerbundes einen anderen Weg zur Sanierung des österreichischen Geldwesens gewahlt, als ihn der österreichische Finanzplan in Aussicht genommen hat Die Gründung der Bank wurde von der Stillegung der Notenpresse getrennt Diese soll mit anderen Mitteln, und zwar durch kurzfristige KreditgewShrung in Auslandsvaluta unter Beihilfe der Völkerbunddelegierten erfolgen. Die hiezu notwendigen Schritte sind gemacht und die Vorbereitungen vollendet. Die Notenbank aber soll erst dann mit dem bescheidenen Kapital von 30,000.000 Schweizer Franken ins Leben gerufen werden. „Das Komitee glaubt," heiBt es in dessen Antwort auf die Frage über das Projekt der Errichtung einer österreichischen Notenbank, „daB das Projekt der Errichtung einer Notenbank einen nützlichen, ja uneriaBlichen Teil der für die Wiederherstellung österreichs notwendigen MaBnahmen bildet Das Komitee ist jedoch der Meinung, daB das in Aussicht genommene Kapital von 100,000.000 Goldfranken ganz und gar übertrieben ist; 30,000.000 sollten ausreichen." Der Wille des Finanzkomitees des Völkerbundes wird erfüllt werden und die neue Notenbank Österreichs, die österreichische 414 Finanzwirtschaft Nationalbank, wird auf dieser bescheidenen Grundlage ins Leben treten, und zwar voraussichtlich noch vor Ablauf des Jahres 1922. Durch die Stillegung der Notenpresse anfangs November und durch die Errichtung der Bank wird der Abbau jener schweren Geldkrise beginnen, deren Wirkungen in der ausschweifenden Höhe der Preise und Löhne, in den Mammutziffern des Notenumlaufes und des Fehlbetrages im Staatshaushalte zum Ausdrucke kamen. Die Neuordnung des Geldwesens steht also unmittelbar bevor, aber der Vorgang dieser Neuordnung ist noch in Dunkel gehfillt. Man ist bisher der Frage des Abbaues der Inflation anscheinend geflissentlich aus dem Wege gegangen. Sie wird sich nach Stillegung der Notenpresse und nach Errichtung der Bank gebieterisch in den Vordergrund schieben und die Frage der gesetzmaBigen Wertverminderung der bisher ausgegebenen Noten, der Devalvation, wird sich vielleicht von selbst aufwerfen. Dies ware bei Errichtung der Notenbank nach dem österreichischen Plane vermieden worden. Bisher weiB man nicht, ob die Noten der neuen Bank eine Sonderstellung im künftigen Notenumlauf erhalten sollen, ob etwa, wie im Jahre 1816, neben der alten Wahrung eine neue geschaffen werden soll, oder ob es vorlaufig bei der Kronenwahrung verbleibt. Das alles wird sich wohl in einer verhaltnismaBig kurzen Frist klaren. Entscheidend ist, daB Österreichs Finanzwirtschaft an der Schwelle einer neuen Zeitfolge ihrer Entwicklungsmöglichkeit steht: Möge es eine glückliche Zeit für österreich seinl 415 Der Spielmann Hans Ernest Den Rücken gebeugt, weiBstrahnig das Haar, Das Antlitz voll Falten, den Bliek heil und klar: So geht seines Weges der Spielmann dahin. — Hei herassasa! Hei herassasal Die Fiedel, die treue, begleitet ihn. Jungleute wandern in Scharen heran, Heil klingen die Lauten vor dem Fiedelmann: „Willkommen, du Sanger! Dich grüB' unser Lied — Hei herassasal Hei herassasal Und die fröhliche Jugend, die langst von dir schiedl" Da lachelt der Alte: „Die Jugend ist meinl O, mög' sie auch euer zeitlebens sein!" Frisch führt er den Bogen, das Haupt hebt er stofz — Hei herassasal Hei herassasal Und jauchzend klingfs aus dem Fiedelholz. 416 Wien: Stephansdom, vom Graben gesehen Wien als Handelsstadt Karl Oberparleiter Dort, wo der Don au strom die Alpen kette durchbricht, liegt an seinem Strande die Haupt- und Residenzstadt der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie und der heutigen österreichischen Republik, Wien, nun auch eigenes Bundesland, gebettet. Diese günstige Lage Wiens an der Pforte eines natüriichen Verkehrsweges, der nach Süddeutschland auf der einen Seite, durch Ungarn und die Balkanstaaten zum Schwarzen Meere anderseits führt, hat das Fundament zu seiner geographischen Vormachtstellung geboten, auf dem es dann als Verkehrszentrum, als Ausgangspunkt von einem halben Dutzend nach allen Himmelsrichtungen ausstrahlenden Hauptbahnlinien ausgebaut worden ist. Kulturell hat es seine Eigenschaft als Berührungspunkt der deutschen mit der slawischen und magyarischen Welt, des gewerbefleiBigen Westens mit dem landwirtschaftlichen Osten zu einem Mittelpunkte gestaltet, in dem Tausende von Faden geistiger und materieller Interessen zusammenlaufen. Dank solch günstiger Vorbedingungen ist Wien, gefördert durch seine politische Bedeutung, zum Kultur- und Wirtschaftszentrum des Habsburgerreiches gediehen, dessen EinfluB nicht nur innerhalb seiner Grenzen ein bedeutender gewesen ist, sondern weit über dieselben hinausgereicht hat. Gerade die Verschiedenheit der Wirtschaftsentwicklung, die die elf Nationen der österreichisch-ungarischen Monarchie gekennzeichnethat, die durch die Ungleichheit ihrer Wirtschaft entstandene Spannung hat mehr als in irgendeinem anderen Staatsgebiete nach einer gegenseitigen Erganzung verlangt und damit einen regen innerstaatlichen Austausch herbeigeführt, dessen Brennpunkt Wien gewesen und zum Teile auch geblieben ist. Wien war das Kontor der Industrie und der Markt der Landwirtschaft, wenn es sich auch auf diesem Gebiete mit der ungarischen Hauptstadt geteilt hat. Von Wien aus sind nicht nur die 27 417 Wien als Handelsstadt alpen-, sondern auch die sudeteniandischen Textil-, Eisenwaren und anderen Industrieprodukte nach Ungarn, Galizien und den übrigen Pro vinzen verkauf t worden, deren Erzeugnisse hinwiederum durch Wiener Firmen in ihre Absatzgebiete geleitet worden sind. An der Hand der Handelsbilanz der ehemaligen Monarchie soll nun versucht werden, die Stellung Wiens im Handelsverkehre genauer zu bestimmen. Nach den Wertziffern des Jahres 1912 sind vom Gesamthande! auf den Verkehr mit den europaischen Landern 81%, auf Amerika 10°/0, auf Asien nicht ganz .... 7%. auf Afrika etwa 2°/0, auf Australien ein Bruchteil von 1% entfatlen. In dem Anteile Europas sind noch etwa 1V2V0 Ausfuhr nach dem Hamburger und Triester Freihafen, also Export nach überwiegend auBereuropaischen Landern, enthalten, so daB sich das Gesamtverhaltnis vom europaischen zum auBereuropaischen Handel ungefahr wie 4:1 stellt. Die Gliederung des europaischen Handels weist in der Haupt- sache folgende Beteiligungsquoten auf: Deutschland 50%, Rumanien, die europaische Türkei, Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro, zusammen .... 11'6%, GroBbritannien 10%» Italien 8%, RuBland . 6%, die Schweiz 5*6%» Frankreich 4%. Gegenüber dem Anteile der wirtschaftlich hochentwickelten Staaten Mittel- und Westeuropas treten die Beziehungen mit den dort noch jungen und daher schwacheren Balkanstaaten und der Türkei auffallend in den Vordergrund. Die Ziffern des Handels mit der asiatischen Türkei und Agypten zugerechnet ergeben für den Balkan und die Levante einen Anteil von 11*6% am Gesamthandel der Monarchie, dessen relativ hohe Bedeutung erst durch eine Betrachtung der Beteiligung ÖsterreiCh-Ungarns am Handelsverkehr der betreffenden Lander richtig gewertet werden kann. Wahrend diese namlich am Gesamthandel Deutschlands nur etwa 7% betragen hat und beispielsweise von der RuBlands und der Vereinigten Staaten je um das Doppelte übertroffen worden ist, spielte Österreich-Ungarn im Importe 418 Wien als Handelsstadt Serbiens und Bulgariens mit etwa je einem Drittel die führende Rolle, stand unter den Lieferanten RumSniens und der Türkei mit ungefahr einem Fünftel an zweiter, unter denen Griechenlands und Agyptens an dritter, beziehungsweise vierter Stelle. Von der serbischen Ausfuhr nahm es nicht viel weniger als die Halfte auf, behauptete somit auch hier den ersten Platz, unter den Abnehmern Rumaniens, Bulgariens, der Türkei und Griechenlands war es der dritte. VerhaltnismaBig schwach erscheint demgegenüber sein Anteil am russischen Geschafte von nur 3%%. da Deutschland ungefahr die zehnfache Quote erreichte. Diese wenigen statistischen Angaben mögen die Hauptrichtung des ökonomischen Einflusses anzeigen, der von dem alten Donaustaate und damit von Wien seinen Ausgang genommen hat. Sie werden an den über die Organisation des Handels geführten Zahlen ihre Bestatigung finden. Wiens wirtschaftliche Beziehungen zu den ehemaligen österreichischen Landern und jenen der ungarischen Krone, den nunmehrigen Nachfolgestaaten, sowie dem Südosten Europas, bilden denn auch das wertvollste Aktivum, das es aus dem Zusammenbruche der Monarchie in die Gegenwart zu retten vermocht hat, wie die nachfolgende, nach den maBgebenden Landern zergliederte Handelsbilanz für das erste Halbjahr 1922 beweist: Einfuhr Ausfuhr in Tausenden Goldkronen Deutsches Reich 183.982 73.116 Tschecho-Slowakei 181.140 61.540 Ungarn 110.667 66.152 Jugoslawien 44.741 64 897 Italien 43.007 51.914 Vereinigte Staaten 59.670 6.688 Polen 15.149 43.825 Schweiz 33.484 20.762 Rumanien 7.757 22.682 GroBbritannien 12.662 13.402 Holland 10.656 11.201 Andere Lander 89.239 52.891 Zusammen .... 792.154 489.070 Sinnfailig wirkt neben dem auch heute noch mit 20% an der Spitze marschierenden Deutschen Reiche der starke Verkehr mit den Nachfolgestaaten, von denen die Tschecho-Slowakei, Ungarn, Jugoslawien, Polen und Rumanien zusammen 48*3% des Gesamthandels beanspruchen. Höher noch ist die Gesamtquote dieser Lander am Exporte, von dem sie sogar mehr als die Halfte, namlich 53%, auf- 27* 419 Wien als Handelsstadt nehrnen. Bemerkenswert erscheint ferner der verhaltnismaBig hohe Anteil der Niederlande, der den Englands nahezu erreicht und jenen Frankreichs Qbertrifft. Auch die Zusammensetzung dieser Handelsbilanz nach Waren bringt, obwohl sie leider kein genaues Bild der Struktur des Verkehrs einer einjahrigen Periode zu geben vermag, immerhin den Wirtschaftscharakter österreichs und seine Stellung im ökonomischen Gefüge der neuen Staaten deutlich zum Ausdruck. 38% des Wertes der Einfuhr entfallen auf Nahrungs- und GenuBmittel, 10% auf Brennstoffe, 12% auf industrielle Rohstoffe, 40% auf Halb- und Ganzfabrikate. In der Ausfuhr dagegen besitzen die industriellen Produkte mit 86% ein entschiedenes Obergewicht, wahrend Holz und Magnesit, die hauptsachlichen Ausfuhrrohstoffe, nur 6% vom Gesamtwerte erreichen. * * Wie überall, so ist auch im österreichischen Handel vom Standpunkte seiner örtlichen Funktion nach der Richtung, in der er Waren in Bewegung setzt, zwischen Import-, Export-, Transithandel und dem internationalen Vermittlungsgeschafte zu unterscheiden. Dieses letztere hebt sich vom Transithandel dadurch ab, daB die Ware vom auslandischen Ursprungslande ohne Berührung des Zwischenhandelsstaates nach dem auslandischen Absatzgebiete gebracht wird, wahrend mit dem Transithandel auch Transitverkehr, ja haufig eine Zwischenlagerung mit oder ohne Veredelung verbunden ist, wobei sich zwei oder mehrere Zwischenglieder in das Geschaft teilen können, indem das eine die Einfuhr, das zweite die Verarbeitung und das dritte die Ausfuhr besorgt. Soweit sich der endgültige Verbrauch der aus den früheren Provinzen eingeführten Waren in österreich selbst abspielt oder rein österreichische Produkte dorthin verkauft werden, sind aus dem ehemaligen Provinzialgeschafte Importe und Exporte geworden, die neben jene von und nach dem Altauslande getreten sind. Von diesen letzteren ist wohl ein Teil derjenigen Geschafte, die sich auf den Altauslandsverkehr mit den Nachfolgestaaten beziehen, der Vermittlung des Wiener Handels entglitten, ebenso wie ja auch viele der ehemaligen Provinzgeschafte, soweit sie den Handel zwischen den heutigen Nachfolgestaaten betreffen, direkt unter Umgehung Wiens abgewickelt werden. Dessenungeachtet aber und trotz ernstlicher vom Chauvinismus getragener Anstrengungen der Nachfolgestaaten, den Wiener Zwischenhandel zu entwurzeln, hat dieser seine Lebensfahigkeit bewiesen und 420 Wien als Handelsstadt 0 vielfach sogar wahrend des Krieges und nach demselben verloren gegangenen Boden wiedergewonnen. Schon die durch den Zerfall der Monarchie geschaffene verkehrsgeographische Lage österreichs, das gerade dadurch zu einem kaum zu umgehenden Durchzugsgebiete geworden ist, bringt es mit sich, daB das Transitgeschaft nunmehr einen breiteren Raum als vorher einnimmt. Es kann jedenfalls als charakteristisch bezeichnet werden, wenn sich in dem Geschaftsberichte über das Jahr 1921 der bedeutendsten österreichischen Handelsaktiengesellschaft die Feststellung findet, daB sie 80% ihres Umsatzes im Vermittlungsgeschafte für auslandische, überwiegend deutsche Waren erzielt hatte, die teils Transito über Österreich gingen, teils das Land überhaupt nicht berührten. Anknüpfend daran wird auf den starken Veredlungsverkehr hingewiesen, den die Gesellschaft pflege, indem sie aus importierter Baumwolle Garn, aus diesem Gewebe sodann bedruckte Stofte im Lohn, teils in Deutschösterreich, teils in der Tschecho-Slowakei und übrigens auch in der Schweiz oder Italien herstellen lasse. ZiffernmaBig wird die starke Zunahme des Transithandels an der Steigerung der Durchfuhr von 17,000.000 q im Werte von 1.300,000.000 Goldkronen im Jahre 1920, auf 26,000.000 q im Werte von ungefahr 2.000,000.000 Goldkronen im Jahre 1921 klar. DaB der österreichische Transithandel im weitesten Sinne eine der ergiebigsten Einnahmequellen für die Deckung des chronischen Defizits der Handelsbilanz sein wird, die Überdies unabhangig von der Gestaltung der österreichischen Produktionskosten zu flieBen vermag, steht wohl auBer Frage. Den Nahrboden des Wiener Importhandels bildet vor allem die durch den Fremdenverkehr verstarkte ansehnliche Konsumkraft seiner an 2,000.000 grenzenden Bevölkerung, sowie seiner hochentwickelten und vielseitigen Industrie, soweit diese nicht ihren Bedarf durch direkten Einkauf im Auslande deckt. In zweiter Reihe steht sodann das Geschaft mit der Provinz. Der Wiener Exporthandel wieder arbeitet, soweit einzig und allein österreichische Produkte in Frage kommen, für die vorzüglich in und um Wien seBhafte Fabriksund Hausindustrie, wahrend der Verkauf von Urprodukten, wie Holz, durch spezialisierte GroBhandler oder, wie bei Magnesit, von den Produzenten selbst besorgt wird. Bedeutung und Wachstum eines Platzes als Handelszentrum finden in der Entwicklung seines Handelsstandes beredten Ausdruck. 421 Wien als Handelsstadt Da für die Beurteilung seines Aufstieges oder Niederganges Umsatzoder Gewinnziffern nicht zur Verfügung stehen, so kann an ihrer Stelle die Anzahl der Handelsbetriebe als Anhaltspunkt dienen. Das vom Handelsgerichte in Wien geführte Firmenregister weist für; die Jahre 1914 bis 1920 die Zahlen der protokollierten Finnen Wiens, wie folgt, nach: a b cd Oen. Ges.-Zahl Zunahme 1914 10.937 695 1.215 — 499 13.346 — 1916 11.153 710 1.460 — 536 13359 513 1918 11.605 772 1.014 — 590 14.881 1.022 1919 12.620 803 2.435 1 678 16.537 1.656 1920 14.216 857 3.397 3 776 19.249 2.712 a = Einzelfirmen, offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften ; b = Aktiengesellschaften ; c = Oesellschaften mit beschrankter Haftung; d = Oemeinwirtschaftliche Anstalten; Oen. => Oenossenschaften. Aus dieser Zusammenstellung folgt die Tatsache, daB sich die Anzahl der protokollierten Firmen im Zeitraume von sechs Jahren, vornehmlich aber nach dem Zusammenbruche um fast 45% vermehrt hat, wovon 20%, also nahezu die Halfte der Zunahme, auf das Jahr 1920 allein entfallt. Auf die in diesen Zahlen zum Ausdruck gelangende Belebung der wirtschaftlichen Tatigkeit weist im übrigen auch die Tatsache hin, daB im Jahre 1920 auBer 3251 Neueintragungen, denen 539 Löschungen gegenüberstehen, 5021 Firmenanderungen zur Protokollierung gelangt sind. Eine für das Jahr 1921 an der Hand des Firmenregisters der Kammer ffir Handel, Gewerbe und Industrie in Wien angestellte Zahlung hat folgende Anteilsquoten der einzelnen Wirtschaftszweige an den Neuprotokollierungen festgestellt: Produktion . 33%, Warenhandel . 57%, Bankhandel . 5%, Verkehrsgewerbe 3%, sonstige 2%. Wenn auch ein GroBteil der kurz nach dem Zusammenbruche erfolgten Neugründungen der Sattigung des beispiellosen Warenhungers zugeschrieben werden muB, der damals allerorts geherrscht hat, wenn ferner auch Gelegenheitsgeschafte den AnlaB zur Gründung gar mancher kurzlebigen Firma geboten haben mögen, schon die verhaitnismSBig hohe Zahl der auf eine gewisse Langlebigkeit zugeschnittenen Gesellschaftsformen, insbesondere der Aktiengesellschaften,*) beweist, *) In den ersten drei Monaten des Jahres 1921 sind allein 28 Handelsaktiengesellschaften in das Handelsregister eingetragen worden. 422 Wien als Handelsstadt daB die geanderten politischen Verhaitnisse den Wiener Zwischenhandel vor neue Aufgaben gestellt haben, die eine anhaltende Entwicklung verbürgen. Dasselbe gilt wohl auch von der auffallend starken Vermehrung der Produktionsbetriebe, die ihrerseits wieder den Handelsverkehr anregt. Der Wiener Handelsstand weist seiner nationalen Zusammensetzung nach, besonders im GroBhandel, eine auffallend geringe Beteiligung der autochthonen Bevölkerungselemente auf, die zum Teile darauf zurückgeführt werden kann, daB, soweit eine Verallgemeinerung wissenschaftlich überhaupt zulassig ist, der von warmer Sinnesfreude erfüllte österreicher dem Idealtypus des kapitalistischen Unternehmers ziemlich ferne steht Diese Begründung allein ware jedoch nicht hinreichend, sie erfahrt vielmehr ihre Erganzung durch ein kulturgeschichtliches Moment. Bis in die jüngste Vergangenheit hat in den maBgebenden österreichischen Gesellschaftsschichten die ritterlich-katholische Weltanschauung geherrscht und die fahigsten Elemente insbesondere von der Betatigung im Handel abgehalten. Sie bildet ungefahr das Gegenstück zu Calvinismus und Judaismus, deren befruchtende Wirkung auf das kapitalistische Unternehmertum von Max Weber und von Werner Sombart nachgewiesen worden ist. Die natürliche Folge der Gleichgültigkeit gegenüber den wirtschaftlichen Berufen, ja ihrer Geringschatzung, war die Besitzergreifung durch fremde Elemente, unter denen die aus dem Osten eingewanderten Juden weitaus das starkste Kontingent stellen. Die kriegerischen Ereignisse und politischen Unruhen in Osteuropa haben diesen Zustrom noch verstarkt. Tausende galizischer Juden und ungarischer Auswanderer sowie Angehörige RuBlands und der Balkanstaaten haben die Gastfreundschaft Wiens in Anspruch genommen, sich zum GroBteile dauernd hier niedergelassen und damit, mögen ihre Geschafte auch oft recht zweifelhafter Natur gewesen sein, doch die Beziehungeri zu Ost- und Südosteuropa noch verdichtet. Auf diese Einwanderer ist ein GroBteil der Kriegs- und Nachkriegsgründungen zurückzuführen, an denen übrigens auch Angehörige der 'im Umsturze untergegangenen Stande in nicht unerheblichem MaBe mitgewirkt haben. Nach dem Gegenstande der Unternehmungen herrscht sowohl im Wiener Produkten- wie FabrikategroBhandel der branchenteilige Betrieb vor, insbesondere wenn von der grundsatzlichen Vielseitigkeit der Kriegs-, Nachkriegs- und Ausverkaufsfirmen abgesehen wird, die doch schlieBlich nur eine Konjunkturerscheinung gebildet haben. Exporthandelsbetriebe stellen wohl im allgemeinen eine weitere Aus- 423 Wien als Handelsstadt nahme dar. Der für die Welthandelsplütze Nordwesteuropas so charakteristische „General Merchant" und damit auch das Warenhandelsgeschaft gröBten Stils fehlen in Wien vollstandig, da sie nur in enger BerDhrung mit dem Seehandel lebensfahig sind. Überseeische Lebensmittel- und RohstoffbezOge groBen Umfanges, die zumeist durch Vermittlung der Verkaufsagenten abgeschlossen werden, erschöpfen sich in der Befriedigung des österreichischen Eigenbedarfes, finden nicht wie dort zum GroBteile im Zwischenhandel für auslandische Abnehmer statt. Das Fehlen dieser Geschafte gröBten Formats teilt sich natürlich auch dem GeprSge des Verkehrs an den österreichischen Warenbörsen mit In der Regel beschrankt sich die branchenteilige GroBhandelsfirma nicht auf ihre eigentliche Domane, namlich die Provinz und das Neuausland, sondern pflegt je nachdem in dem bezüglichen Handelszweige herrschenden Bezugs- und Absatzverhaitnissen auch Importund Exportgeschafte mit dem europaischen Altauslande, soweit hiebei keine besonderen Schwierigkeiten auftreten. Das gleiche gilt im allgemeinen von der österreichischen Industrie, wenn auch einzelne groBindustrielle Unternehmungen über eigene auslandische, ja vereinzelt auch überseeische Bezugs- und Absatzorganisationen verfügen. Im Detailhandel ist das Spezialgeschaft, in dem das österreichische Qualitatsprodukt am vorteilhaftesten zur Geltung gelangt, am besten entwickelt, wahrend die Warenhauser, welche sich hauptsachlich auf Textilien und Konfektion beschranken, mit den gleichartigen Betrieben im übrigen Zentral- und in Westeuropa nicht gleichen Schritt halten konnten. An der Versorgung mit Artikeln des taglichen Bedarfes nimmt neben dem altvaterischen Detailhandelsbetriebe und dem Konsumvereine der Grofifilialbetrieb einen ansehnlichen Platz ein. Die gröBte dieser hauptsachlich den Kolonialwarenhandel pflegenden Firmen besitzt in österreich 82 Verkaufsstellen und ist gleichzeitig Trustgesellschaft für die Tochterunternehmungen in der TschechoSlowakei, Ungarn, Jugoslawien und Polen, die die dortigen Filialen übernommen haben. Auf diese oder eine ahnliche Art ist es übrigens zahlreichen anderen Wiener Handels- und Industriefirmen gelungen, ihr Verhaitnis zu den in den Nachfolgestaaten seBhaften Zweigbetrieben den geSnderten Verhaltnissen anzupassen und damit dem Wiener Stammhause auch für die Zukunft den ausschliefilichen oder doch einen weitgehenden EinfluB zu sichern. Das GroBhandelsgeschaft spielt sich in Wien vorzugsweise von Kontor zu Kontor ab, wahrend sich der Warenbörsenverkehr his in 424 Wien: Schwarzenbergplatz Wien ais Handelsstadt die Nachkriegszeit fast ausschlieBlich auf die landwirtschaftlichen Produkte beschrankt hat. Keineswegs aber konnte die an den GroBhandelspiatzen des nordwestlichen Europas eingelebte Gewohnheit der Mehrheit der GroBkaufleute, taglich an der Börse sei es auch nur zum Memungsaustausche zu erscheinen, hier in gleicher Weise festen huö rassen. Unter den Organisationen des öffentlichen Handelsverkehrs Wiens istals erste die dem Handel mit den Erzeugnissen desAckeroanes und der daraus gewonnenen Fabrikate dienende, im Jahre 1869 als Frucht- und Mehlbörse konstituierte, im Jahre 1890 für den Handel mit anderen Erzeugnissen der Landwirtschaft ausgestaltete Börse für landwirtschaftliche Produkte zu nennen, der schon infolge ihres bedeutenden Zwischenhandels mit Ungarn, Polen und den Balkanstaaten e.nerseits der Tschecho-Slowakei, Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten anderseits, eine mehr als lokale Bedeutung zukommt *) Sowohl Börse wie Maklerwesen sind in Österreich durch das Gesetz vom 1. April 1875 eingehend geregelt und sichern der Regierung maBgebenden EinfluB. Nach dem im Sinne dieses Gesetzes genehmigten Sta ute der Börse für landwirtschaftliche Produkte erstreckt sich der Verkehr auf den Handel in Getreide, Ölsaaten, Hülsenfrüchten Samereien, Kartoffeln, Eiern, Wein, Honig, Hopfen, Pflaumen, Nüssen' Heu, Stroh sowie auf die nachstehenden aus diesen Artikeln erzeugten Fabrikate: Mehl, Kleie, Brot, Rollgerste, Malz, aus ölsaaten oder Samereien erzeugte Öle, Ölkuchen, Pflaumenmus, PreBhefe, Schlempe. dann auf die mit diesem Handel in Verbindung stehenden VersicheLThgescha«eCht'' BelehnUngS"' SPedi«ons-, Einlagerungs- und Sack- f,n *+DaS H*"ptSeschaft betri«t den Bezug von Getreide, Hülsenfrüchten und Mehl aus Ungarn sowie aus den Balkanstaaten und ist wie vorhin angedeutet, zum Teile Transithandel nach Deutschland,' Mehl unT'VT , " Tsc!;echo-SIow«kei. Anderseits werden auch Helnf;^!?6 ^"^^ au6erdem ^ *rnöstlicher Terminhandelsgeschafte dürfen infolge des im übrigen auch die Autonomie d.eser Börse beschrSnkenden Gesetzes vom 4. janner 1903 nicht mehr abgeschlossen werden, wodurch der Wiener Getreidemarkt zugunsten Budapests eine erhebliche EinbuBe erlitten hat Heute fmden demnach nur Effektivgeschafte statt, deren Kreis nach d^njnVorbereitung stehenden Statut auf alle landwirtschaftlichen örtliches Intere^ " ^ ^ "* * U™ ™«™ - 425 Wien als Handelsstadt Feld- und Bodenprodukte, auf allé Produkte des Obst- und Garten--» baues, einschlieBlich Samereien, ferner auf alle Futter- und Futterersatzmittel, Milch- und Molkereiprodukte sowie alle aus diesen Produkten gewonnenen Halb- und Ganzfabrikate und einzelne andere Artikel, die heute schon Gegenstand des Börseverkehrs bilden, ausgedehnt werden soll. Der hauptsachlich an der Hand von mitgebrachten Mustern stattfindende Verkehr hat in der Nachkriegszeit eine starke Entwicklung erfahren, wie die Zahl der Besucher und Mitglieder beweist, die im jahre 1914 kaum 1000, im Jahre 1918 fiber 300 betragen und sich hn November 1922 auf etwa 1500 belaufen hat. Die Börseversammlungen fallen taglich in die Zeit von 10 bis V2I Uhr, doch konzentriert sich das Hauptgeschaft auf Samstag und Donnerstag, wo dann auch auslandische Besucher, hauptsachlich aus den Nachfolgestaaten und aus Deutschland, sowie iniandische Konsumenten und Produzenten stark vertreten sind. Die amtliche und gleichfalls gesetzlich geregelte Kursnotierung wird um 12 Uhr von einer besonderen Kommission, der auch die beiden an der Börse beeideten Sensale teilnehmen, vorgenommen und in einem amtlichen Kursblatte zur Veröffentlichung gebracht. Die Kurse verstehen sich zumeist ffir ein Kilogramm, und zwar je nach Herkunft in Kronen oder der betreffenden auslandischen Wahrung. Erfüllt die Börse damit eine fiber den Kreis ihrer Teilnehmer hinausgehende Mission, so gilt das gleiche von ihren Usancen und von ihrem Schiedsgerichte, das im Jahre 1920 fiber 468 Klagen entschieden hat, wovon fast 90 Prozent Geschafte betroffen haben, die auBerhalb der Börse geschlossen worden waren. Von den ffir die Approvisionierung Wiens wichtigen Marktveranstaltungen ist vor allem der Wiener Zentralviehmarkt in St. Marx zu erwahnen, an dem zur Schlachtung bestimmtes GroBhornvieh und Kalber, ferner Schweine, Schafe, Ziegen und Kalber in ausgeweidetem Zustande an jedem Montag und Donnerstag, lebende Schweine, Schafe und Ziegen an jedem Diepstag und Donnerstag nicht nur aus österreich, sondern auch aus Ungarn, Rumanien, Jugoslawien und der Tschecho-Slowakei zum Verkaufe gelangen. Zur Vermittlung des Handels ist als behördlich bestelltes Organ die Wiener Vieh- und Fleischmarktkasse (eine Gründung der Allgemeinen Depositenbank) bestimmt, die sich als KommissionSr wieder der beeidigten Marktagenten bedient, doch steht es dem Vieheigentümer frei, seine Geschafte selbst oder durch eine Person, die zum Viehkommissionshandel 426 Wien als Handelsstadt berechtigt ist, abzuschlieBen. Die Wiener Vieh- und Fleischmarktkasse besitzt jedoch das alleinige Recht zur Auszahlung der Kaufschillinge für alle auf dem Markte geschlossenen KSufe und für die EinrSumung von Krediten zum Einkaufe. Über die Höhe und Bewegung der Preise wird vom Marktamte unter Mitwirkung einer aus allen Interessentengruppen zusammengesetzten Preisnotierungskommission ein Marktbericht verfaBt und verlautbart. Der GroBhandel mit Fleisch, Geflügel, Wildpret und Fischen wickelt sich vornehmlich in der mit einem besonderen Geleiseanschlufi versehenen GroBmarkthalle ab, woselbst auch stadtische Verkaufsvermittler, sogenannte beeidete Faktoren, nach besonderen, in der vom Magistrate erlassenen Marktordnung enthaltenen strengen Vorschriften Verkaufe für auswartige Kommittenten durchführen. Diese Einrichtung erscheint im Vereine mit dem vom Marktamte veröffentlichten Marktberichte für die Fernbeschickung des Marktes, an der wieder hauptsachlich die vorhin genannten Auslandsgebiete teilnehmen, von Wert. Am Naschmarkte und an einem Markte im 16. Gemeindebezirke findet ein GroBobst- und Gemüseverkehr neben allgemeinen. Detailmarkthandel statt, dem übrigens auch ein Teil der GroBmarkthalle, ferner sechs in den verschiedenen Bezirken verteilte Detailmarkthallen und schlieBlich eine Anzahl von offenen Kleinmaricten dient. Dem GroBhandel mit Rohstoffen, Halb- und Ganzfabrikaten, die nicht den Gegenstand des Verkehres im Rahmen der Börse für landwirtschaftliche Produkte bilden, ist in der Warensektion der als Effektenbörse schon seit dem Jahre 1771 bestehenden Wiener Börse eine Statte geboten. Dieser Verkehr ist erst im Oktober des Jahres 1920 zur Konzentrierung des damals völlig desorganisierten Warengeschaftes neu aufgenommen worden, nachdem er wahrend der Kriegsjahre völlig geruht hatte, und weist seither eine starke Zunahme auf. Die Anzahl der Inhaber von Jahreskarten hat hier 1914 444, 1920 1623, 1921 2750 und in den ersten zehn Monaten des Jahres 1922 2212 betragen. Börseversammlungen finden Montag von 11 bis 12 Uhr für den Handel mit Schuhwaren, dann auch für Leder und Haute, Dienstag und Freitag von 7211 bis Val Uhr für den sogenannten allgemeinen Verkehr statt, der Chemikalien, zum Beispiel Essig und andere Sauren, Ammoniaksoda, Atznatron und Chromkali, Bittersalz, Kupfervitriol, Harz, Paraffin, dann Leder, Kolonialwaren, wie Kaffee, Thee, Kakao, Zucker, ferner Öle und Fette, Baumwollgarne 427 Wien als Handelsstadt und Zwirne, Rohbaumwollgewebe und Rohhaute umfaBt. AuBerdem wird an jedem Mittwoch von 11 bis 12 Uhr eine Holzbörse abgehalten. Die Besucher, die sich aus Handlern, aber auch aus Produzenten zusammensetzen, schlieBen ihre Geschafte gleichfalls wieder, in den meisten Produkten an der Hand ihrer Verkaufsmuster, weniger durch Vermittlung der drei beeideten Sensale ab, die hauptsachlich Exekutivabschlüsse besorgen. Am besten hat sich der Handel in Chemikalien, und zwar zum betrachtlichen Teile in deutscher Ware „transito", dann in Kolonialwaren und Holz entwickelt, doch fehlt das für die groBen Warenbörsen charakteristische Spekulationsgeschaft, zu dem sich ja die meisten der vorgenannten Artikel nicht eignen. Eine halbe Stunde nach SchluB des Verkehres findet durch eine besondere Kurskommission, der wieder die Makier und auBerdem Vertrauensmanner der einzelnen Branchen angehören, eine Feststellung der Preise statt, die in einem amtlichen Warenkursblatte der öffentlichkeit mitgeteilt werden. Der Geschaftsverkehr erfahrt durch allgemeine und für eine Anzahl von schon vor dem Kriege gehandelten Artikeln durch besondere Usancen*) seine Regelung. Streitigkeiten aus Börsegeschaften werden durch ein Börseschiedsgericht geschlichtet, das unter besonderen Voraussetzungen auch für auBerhalb der Börse geschlossene Geschafte angerufen werden kann. — Dienen die bisher genannten Veranstaltungen im wesentlichen dem öffentlichen Handelsverkehr mit Rohprodukten und Halbfabrikaten, und zwar vor allem dem Handel mit Massenartikeln, so ergab sich nach dem Zusammenbruche die Notwendigkeit, in einer Epoche ungewohnt schwierigen und übèrdies kostspieligen Verkehrs der österreichischen Qualitatsindustrie nach dem Beispiele des Auslandes und vor allem nach dem Muster Leipzigs, die auslandischen Geschaftsfreunde, die sie nicht mehr so billig und bequem aufzusuchen vermochte, zuzuführen, um ihnen durch übersichtliche Zusammenfassung des an Mustern qualitativ veranschaulichten Angebotes Gelegenheit zu vorteilhafter Bedarfsdeckung zu bieten. Hiebei war von vorneherein an die Beteiligung der Auslandskonkurrenz gedacht, da ja auf das Zwischenhandelsgeschaft im weitestgehenden MaBe RüCksicht zu nehmen war. *) Es bestehen Usancen ffir Baumwolle, Baumwollgarne und Gewebe, Baumwollstreichgarn und -abfalle, Butter und Butterschmalz, Fettwaren und Öle, Hölzer aller Art, Kunstdünger, Mineralkohle, Papier, Papiergarn und -gewebe, Petroleum, Rübenzucker, Spiritus und Starke. 428 Wien als Handelsstadt Zur Ausführung des im übrigen schon lange gehegten Planes der Abhaltung einer Wiener Internationalen Mustermesse,*) für deren Gelingen die zentrale Lage Wiens, sowie eine wahre Fülle von messefahigen Fabrikaten österreichs, vor allem Wiens, günstige Voraussetzungen waren, wurde seitens der Gemeinde Wien, dem Handelsmuseum, der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Wien, gemeinsam mit Industrie und Handel, die Wiener Messe-Aktiengesellschaft, als deren Aufgabe die Errichtung und der Betrieb der Messe bezeichnet wurden, gegründet. Bisher haben Wiener Messen im Herbste 1921, im Frühjahr und im Herbste 1922 in der Dauer von je einer Woche im Anschlusse an die Leipziger Mustermessen stattgefunden und auch für die Zukunft ist die Abhaltung von zwei jahrlichen Messen beabsichtigt. In dem Wiener Messepalast, vier weiteren mit einer Ausnahme zentral gelegenen MessegebSuden und einer Anzahl privater Messepavillons haben bisher jedesmal ungefahr 4000 in- und auslandische Aussteller ihre Muster auf einem Belegraum von zuletzt 28.700 m! netto ausgestellt und, wie von mehreren Seiten versichert wird, befriedigende Umsatze erzielt, über deren Höhe allerdings eine Statistik infolge der praktischen Untunlichkeit nicht hat angelegt werden können. Die nicht durch Wiener Firmen, sondern selbstandig vertretenen Auslander haben auf der Herbstmesse 1922 7% der Gesamtzahl betragen, wobei sich die Quote sowohl nach den einzelnen Staaten, wie nach den verschiedenen Branchen ganz ungleich verfeilt hat. In Textilien waren die Tschecho-Slowakei, Deutschland und Frankreich in ungefahr gleichem AusmaBe vertreten, im Papier-, Bureauartikel- und Ledergalanteriegeschafte traten wieder die deutschen Aussteller in den Vordergrund; hier und in anderen Zweigen konkurrierten aber auch polnische, belgische, holiandische, italienische, rumanische und amerikanische Firmen. Nach der Anzahl der auslandischen Besucher zu schlieBen, die auf der Herbstmesse 1922 über 21.000 betragen und damit Leipzig in dieser Hinsicht nahezu erreicht hat, ist das Interesse, das man der Wiener Internationalen Mustermesse als Einkaufsmarkt entgegenbringt, im allgemeinen, besonders in den Nachfolgestaaten, in Italien, am Balkan und im Oriënt, aber auch in der Übersee ein reges. Wird ihm die eifrige Beteiligung Deutschlands und der Tschecho-Slowakei an der Ausstellung gegenübergestellt, so zeigt sich wiederum ganz deut- •) Ger Gedanke der Gründung einer Wiener Orientmesse wurde insbesondere zu Ende des Weltkrieges eifrig propagiert. 429 Wien als Handelsstadt lich, daB Wien tier natürliche Treffpunkt ist, an dem sich Osten und Westen, Norden und Süden die Hand reichen. So war auf der letzten Herbstmesse die Besucherzahl aus dem Balkan, der Levante und dem fernen Osten stark angewachsen. Aus der Türkei, Syrien und Agypten allein waren 300 Einkaufer erschienen. Aus Italien waren 1039, aus der Tschecho-Slowakei 2661 Besucher herbeigeeilt, aber auch Frankreich, die Schweiz und Spanien waren vertreten, ja in der Fremdenliste der Wiener Mustermesse hat kaum ein Land der Erde gefehlt, das nicht wenigstens einen Abgesandten aufzuweisen gehabt hatte. Dieser unleugbare Erfolg ist nicht zuletzt auf die zugkraftige Werbetatigkeit zurückzuführen, die von der Messe-Aktiengesellschaft durch ihre ungefahr 600 im Auslande seBhaften ehrenamtlichen Vertreter entfaltet worden ist. Werden die auf der Wiener Internationalen Mustermesse vertretenen Branchen der Starke der Beteiligung nach geordnet, so zeigt sich wie auf den anderen europaischen Mustermessen deutlich, daB die Notwendigkeit fachmannischer Demonstration, mangelnde Musterkofferfahigkeit, nicht zuletzt aber, wie bei Luxus- und Modewaren, haufiger Stil- und Modewechsel das Kriterium der Messetahigkeit bilden. Die Reihenfolge ist nachstehende: Maschinenbau, Textilien, Papierwaren, Bekleidung, Schuhe, Leder, Zubehör, Kunstgewerbe, Lederwaren, Elektrotechnik, Juwelen, Gold- und Silberwaren, Bauwesen, Spielwaren, Lehrmittel, photo- und kinematographische Artikel, Fahrzeuge und Bestandteile, Lebensmittel, Bureaubedarf, Bureaumöbel, Haus- und KüchengerSte, Raucherartikel und so fort. Ohne an die bisherigen Erfolge der Wiener Internationalen Mustermesse rosige Hoffnungen für die Zukunft zu knüpfen, kann sie immerhin als eine zur Hebung des österreichischen Wirtschaftsverkehres, insbesondere aber zur Pflege des Exportes, durchaus geeignete Veranstaltung bezeichnet werden, dessen günstige Entwicklung geradezu als Grundbedingung für die Besserung der Handelsbilanz und damit für die Lebensfahigkeit des Landes gelten kann. Nach der österreichischen Handelsbilanz vom ersten Halbjahre 1922 ergibt sich aus der Höhe der Exportwertüberschüsse innerhalb der einzelnen Waren, beziehungsweise Warengruppen nachstehende Reihenfolge: Papier und Papierwaren; Konfektionswaren, besonders Herren- und Damenkleider; Wasche und Hüte; Baumwollgarne; 430 Wien als Handelsstadt behauenes und gesSgtes Holz; Eisenwaren und -drahte; Holzwaren, Drechsler- und Schnitzwaren, wie Möbel und Fournier; Waren aus Horn, Bein, Meerschaum, Celluloid, Bernstein usw.; Fahrzeuge, vor allem Automobile; elektrische Maschinen, Apparate und Bedarfsartikel, besonders Glühlampen und Dynamomaschinen ; Leder und Lederwaren aller Art; Maschinen, Apparate und Bestandteile, vorzüglich Lokomotiven, Tender, Motoren, dann verschiedene industrielle und landwirtschaftliche Maschinen; Spitzen und Stickereien; unedle Metallwaren; Wollgarne; Magnesit; Firnisse, Farben, Arzneien und Parfümeriewaren. Wie schon eingangs erwahnt, runt» die Ausfuhr zum Teil in den Handen der Produzenten, insbesondere der industriellen, zum anderen Teile bleibt sie der Vermittlung von Exporthandelsfirmen überlassen, die fast alle in Wien seBhaft sind. Wenn es auch vielleicht eines weiteren Nachweises für die Hauptrichtungen des österreichischen AuBenhandels nicht mehr bedürfte, so kann in der Betriebsorganisation der Wiener Exporteure geradezu sein KompaB erblickt werden. lm Jahrbuche der Industrie des Jahres 1913 werden 160 Wiener Exporthandelsfirmen nachgewiesen, von denen 25 HSuser 80 eigene Auslandsniederlassungen unterhalten haben, davon eine Firma 18, eine 11, eine 10, eine 6 und mehrere eine geringere Anzahl von Filialen. Industrieunternehmungen mit eigenen auslandischen Zweigverkaufs- oder erzeugungsbetrieben sind in diesen Zahlen nicht inbegriffen, würden aber das Orientierungsbild kaum andern. Von den genannten Niederlassungen befanden sich: am Balkan 13 in RuBIand 1 in der Türkei, Persien, Agypten 28 zusammen . . 42 in Indien, Ostafrika und dem fernen Osten . . .17 in Nord- und Südamerika 6 in anderen europaischen Landern 15 431 Wien als Handelsstadt Diese Zahlen lassen wohl hinsichtlich der ausgesprochenen südöstlichen Richtung des Wiener Exporthandels kaum einen Zweifel Qbrig. Von den 160 Firmen haben übrigens 39 den nahen Oriënt als ausschlieBliches oder doch als hauptsSchliches Absatzgebiet bezeichnet. Dagegen failt auch hier wieder die dürftige Organisation des russischen Geschaftes, das allerdings zum groBen Teile auch von Industrielien direkt betrieben worden ist, auf. Hat der Exporthandelsstand besonders seit dem Zusammenbruche eine betrachtliche Vermehrung erfahren, da sich nunmehr jedermann, auch wenn er nur mit den Nachfolgestaaten Gelegenheitsgeschafte pflegt, Ex- und Importeur nennen kann, so ist tatsachlich eine Verringerung der Anzahl jener Firmen eingetreten, die über eine eigene durchgebildete Verkaufsorganisation im Auslande verfügen, schon wegen der Zwangsliquidierung einer Reihe von überseeischen und europaischen Niederlassungen, ferner wegen der valutarischen Unerschwinglichkeit einer Gründung von neuen Auslandsfilialen. Die Wiener Exportfirma ist, wie schon erwahnt, weniger der Handeisvermittler der GroBindustrie dem Auslande gegenüber — dié österreichische Automobil-, Waggon-, Maschinen-, Motoren-, Werkzeugund Stahlindustrie und GroBbetriebe anderer Zweige bahnen sich vielfach ihre eigenen Wege nach dem Absatzgebiete — als vielmehr der zahlreichen, im 7., 8., 16. und 17. Gemeindebezirke ansassigen Klein- und Hausindustrien. Diese, dank dem verfeinerten Geschmacke und der im allgemeinen auch infolge ihrer Billigkeit konkurrenzfahige Qualitatsproduktion umfaBt die sogenannten Wiener Artikel, unter anderem: Perlmutterknöpfe, Bronze- und Ledergalanteriewaren, Rauchrequisiten aus Meerschaum, Bernstein und anderem Material, Stöcke, Stock- und Schirmgriffe, Schmuckfedern und Kunstblumen, Damenschuhe, vornehmlich Luxusware, Facher, Puppen-, Spiel-, Bijouterie-^ Silberwaren. Die Anzahl der Erzeugnisse hat durch die dem Umsturze gefolgte Not zahlreicher Angehöriger des ehemaligen Mittelstandes eine Ausdehnung auf Artikel erfahren, die ihre Konkurrenzfahigkeit gerade in den Landern des verwöhntesten Geschmackes voll bewiesen haben. Es sind dies vor allem hochwertige Dekorationsstickereien, Strickereien und Spitzen, gestrickte und gehackelte Woll- und Seidenkonfektionswaren. Eine Anzahl kapitalskraftiger und speziell den Obersee-Export pflegender Firmen beschrankt sich keineswegs auf Wiener Artikel, sondern treibt allgemeinen Exporthandel bei Spezialisierung auf bestimmte Absatzgebiete, unter denen Indien und der ferne Osten 432 Wien: Praterstern, Tegetthoffdenkmal Wien als Handelsstadt von den überseeischen Landern verhaltnismaBig noch am intensivsten bearbeitet werden. Die Organisation der Wiener Banken, die vielfach in eigenen Warenabteilungen selbst Handel, zumeist mit Massenprodukten von ihren Konzernen angehörigen Industrien treiben oder durch ihren Grflndungs- und Beteiligungsgeschafte enge mit Industrie und Handel verwachsen sind, kommt hauptsachlich dem internationalen Wertausgleiche und den Kreditgeschaften des Warenhandels zugute, dies um so mehr, als eine Anzahl unter ihnen über Zweigniederlassungen, Interessengemeinschaften oder über affiliierte Banken in den Nachfolgestaaten, im Oriënt, aber auch in den Weststaaten verfügt. Die Entwicklung Wiens als Bankplatz hat überhaupt seinen Feinden in den Nachfolgestaaten Oberraschungen bereitet, da es sich trotz staatlicher Beschrankungen des Verkehrs mit auslandischen Zahlungsmitteln zu einer Zentralstelle des Handels in nationalstaatlichen Devisen und Valuten erhoben hat und die Effektensektion der Wiener Börse überdies der Iebhafteste Markt für die an ihr kotierten Effekten geblieben ist,*) wahrend die Börsen in Prag und Agram das erwartete Geschaft nicht groBzuziehen vermocht haben.**) Der Charakter Wiens als Donauumschlaghafen, Eisenbahnknotenpunkt und Transithandelsplatz hat naturgemaB eine entsprechende Ausgestaltung des Speditions- und Lagerhauswesens mit sich gebracht Gelegentlich derZergliederung derNeuprotokolIierungen vom Jahre 1922 ist der Anteil der Spediteure mit 3% festgestellt worden, ein Wachstum, das allerdings teilweise auf die bekannten Schwierigkeiten zurückzuführen ist, die dem Verkehrswesen der Nachkriegszeit seine charakteristische Note aufdrücken. Wien ist jedoch schon vordem der Sitz zahlreicher Speditionsfirmen mit weitverzweigten Auslandsverbindungen und spezieller Organisation für den Orientverkehr, und zwar für den Bahnwie für den Donauweg gewesen; durch Sammelladungen und eigene Schlepper nach den östlichen Relationen haben sie dem Verkehrsbedürfnisse stets Vorteile zu bieten vermocht. Obwohl auch eine Anzahl von Speditionsfirmen über ausgedehnte Einlagerungsgelegenheiten verfügt, so treten diese doch zunachst hinter •) Die Anzahl der Inhaber von Jahreskarten hat sich in der Effektensektion der Wiener Börse von 840 im Jahre 1914 und 719 im Jahre 1918 auf 1270 im Jahre 1920, 1940 im Jahre 1921 erhöht und hat 1850 im November 1922 betragen lm Jahre 1921 wurden 50 Neunotierungen und 100 Kapitalserhöhungen dem Bundesministenum vorgelegt und von ihm erledigt. **) Siehe den Bericht Dr. Max Sokals im Berichte der Wiener Handelskammer flber die Jahre 1919 und 1920. 433 Wien als Handelsstadt jenen der Lagerhauser der Stadt Wien sowohl in technischer wie in rSumlicher Hinsicht zurück. Diese im Prater, am Donaukai, im Freudenauer Winterhafen und in Zwischenbrücken errichteten, zum groBen Teile durchaus modernen Anlagen, die auch einen machtigen Silospeicher und ein Kühllagerhaus einschlieBen, besitzen Fassungsraum für 100.0001, weisen einen Tagesumsatz von 200 bis 400 Eisenbahnwagen auf und sind für den Umschlag, die Einlagerung und Manipulation aller für den Wiener Transit in Betracht kommenden Waren eingerichtet. An zweiter Stelle waren sodann die Anlagen der ersten österreichischen Aktiengesellschaft für öffentliche Lagerhauser in Wien zu nennen, die gleichfalls mit Gefrier- und Kühlraumen ausgestattet sind und einen Fassungsraum von etwa 12.000 t besitzen. — Für die Speziallagerung von Holz auf einem Gelande von derzeit etwa 100.000 wa am Donaukanal in Kaiserebersdorf wurde erst kürzlich der „Holzmarkt", eine gemeinwirtschaftliche Anstalt, geschaffen, die sich auch mit dem Transit-, dem Umschlagverkehr und der Manipulation, ferner mit der Belehnung und dem Verkaufe befaBt. In diesem Zusammenhange sei schlieBlich auf die förderliche Wirkung der durch das Gesetz vom Jahre 1920 über das Zollrecht und das Zollverfahren ermöglichten Errichtung von offenen Zollagern bei Privatfirmen hingewiesen, in denen ohne zollamtlichen MitverschluB die zollfreie Einlagerung von Waren gegen Abfertigung auf Vormerkrechnung möglich ist, wahrend in den öffentlichen und Privatzollagern die zollfreie Einlagerung unter amtlicher Aufsicht erfolgt. * Damit ist vielleicht die Aufgabe dieses skizzenhaften Beitrages, der keineswegs auf lückenlose Darstellung Anspruch erhebt, den Charakter des kommerziellen Wiens und insbesondere seiner Einrichtungen dem Auslande gegenüber in das rechte Licht zu rücken, erfüllt, wo ihnen infolge der zielbewuBten Verkleinerungssucht feindseliger Propaganda die gebührende Würdigung vielfach versagt geblieben ist. 434 Wasserbauten Rudolf Halter I. FluBregulierungen und Meliorationen TNie Republik Österreich ist vornehmlich ein Gebirgsland, reich art WasserlSufen und Wasserkraften, verhaitnismafiig holzreich aber arm an Kohle, verhaitnismaBig arm an Nahrungsmitteln aus den Bodenprodukten. Zum GroBteil in den nördlichen Kalkalpen gelegen, fehlt es mit AusschluB des Salzkammergutes an groBen Seen mit ihren natüriichen Wasserrückhaltungen und Geschiebespeicherungen. Mehr als in den kristallinen Zentralalpen ist hier der Kampf mit den ungezügelten Naturkraften zu führen, welche unaufhaltsam auf die Veranderung derOberfiachengestaltung derErdrinde abzielen Die groBe Geschiebeführung der Alpenflüsse, die Verheerungen der Talgründe durch Hochwasser haben schon frühzeitig zu einer systematischen Regulierung der Gebirgsflüsse in Österreich geführt. Diese Regulieruniren sind mustergültig durchgeführt worden und haben bahnbrechend gewirkt. Man kann wohl sagen, daB es heute in der Republik Österreich Kaum noch einen völlig verwilderten FluB gibt. DieRegulierung der Mur und Drau, der Gail, der Mürz der Traisen und vieler anderer sind Zeugen dieses zielbewuBten Vorgehens. Als im Jahre 1884 verheerende Wolkenbrüche furchtbare Schaden an den Wildbachen verursachten, wurde die Verbauung der Wiidbache energisch in Angriff genommen und wenn auf diesem Gebiete auch noch so manches nottut, so sind doch ganz hervorragende Leistungen anzuführen. In den 25 Jahren von 1884 bis 1909 allein sind nicht weniger als über 77.000 Sperrenbauten ausgeführt worden. Ein hervorragendes Beispiel einer mustergültigen Regulierung bildet die WienfluBregulierung. 435 Wasserbauten Der WienfluB ist ein aus dem westlichen Bergland in Wiens Umgebung, dem sogenannten Wienerwald, entspringendes Gerinne mit einem ZufluBgebiete von 224 km* und einer Lauflange von 3418 km. Der FluB legt auf diesem Wege eine Höhe von 468 m zurück, durchflieBt die westlichen Stadtteile von Wien, wie Hietzing.Meidling.Mariahilf, dann Margareten, Wieden, Innere Stadt und LandstraBe und mündet in den Donaukanal. Das groBe Gefaile und die schwere Durchlassigkeit des Sandsteinbodens im Wienerwald verursachen bei starken Niederschiagen rasch verlaufende Hochfluten, die in früheren Jahren schon oft Hochwasserschaden hervorriefen. Zu einem Übelstande gestaltete sich der Umstand, daB bei Hochwassern viel Geschiebeführung auftrat und besonders in alterer Zeit auch die Ortsteile entlang des Wienflusses und einzelne Etablissements ihre Abwasser in den noch unregulierten WienfluB einleiteten und so sanitare Übelstande entstanden. Schon in früheren Jahrzehnten wurden einzelne örtliche Verbesserungsarbeiten durchgeführt, aber erst in den Neunzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts wurden in Verbindung mit den sogenannten Wiener Verkehrsanlagen jene groBzügigen Arbeiten durchgeführt, die, unter dem Namen der WienfluBregulierung bekannt, der Stadt Wien zur Zierde gereichen und jegliche Hochwassergefahr seitens des Wienflusses für alle Zeiten von Wien fernhalten sollen. Die Arbeiten beginnen auBerhalb der Stadt in dem Orte Weidlingau. Ein zwischen Mauern und Böschungspflasterungen konzentriertes Gerinne führt von letztgenannter Stelle entlang Hütteldorf bis gegen Hietzing hinab; von dort sind die Ufer zwischen kraftigen Ufermauern gefaBt, so daB der FluB jederzeit eingewölbt werden kann und auf der Wölbung Gartenanlagen oder Verkehrswege hergestellt werden können. Für den AbfluB der kleinen Wasser ist eine eigene gemauerte Rinne in der FluBsohle eingelegt worden. Von Hütteldorf abwarts bis ins Innere der Stadt begleitet die sogenannte Wientallinie der Stadtbahn das rechte Ufer. Von der sogenannten Kettenbrücke bis in den Wiener Stadtpark ist der FluB tatsachlich eingewölbt worden. Entlang des Stadtparkes tragt die FluBpartie vom Austritte des Flusses aus der eingewölbten Strecke dem Kunstsinne der Wiener vollkommen Rechnung und zeigt ein architektonisch stimmungsvolles Gesamtbild. Um das FluBprofil im Stadtbereiche nicht übermaBig groB machen zu müssen und jegliche Überschwemmungsgefahr für immer zu bannen, sind am oberen Ende der Regulierungsstrecke bei Mariabrunn Seitenbecken angelegt worden, welche so groB dimensioniert wurden, daB ein Teil der katastrophalen 43fi Wasserbauten Hochfluten in ihnen zeitweise zurückgehalten werden kann und erst wieder in den WienfluB und zur Donau weiter abgelassen werden soll, sobald der Wasserstand im eigentlich regulierten Gerinne wieder getallen ist und so schadlos die magazinierten Hochwasserfluten allmahlich in den FluB abgeleitet werden können. Im Falie des Eintrittes einer Hochwasserkatastrophe würden vom Wienflusse oberhalb Weidlingau 480 m» sekundlich herabgelangen, vom Mauerbache (dem gröBten Zubach des Wienflusses) 130 m> sekundlich, von welchen Mengen 400 m» direkt zum Donaukanal abflieBen, wahrend 210m8 sekundlich seitlich in die Becken gedrangt werden. Die Fassungskraft ist nun so bemessen, daB die Wassermassen, welche nach vollzogener Füllung der 1,600.000 m* aufnehmenden Becken wieder in das FluBgerinne eintreten und dort bereits niedrigere Wasserstande vorfinden. Die Füllungszeit der Becken betragt namlich zwei Stunden und innerhalb dieses Zeitraumes hat die Flutwelle ihren höchsten Stand bereits verlassen. Zu beiden Seiten des regulierten Wienflusses sind im Stadtbereiche Sammelkanaie erbaut worden, welche die Abwasser der angrenzenden Stadtteile aufnehmen und so vom Eintritte in den regulierten WienfluB abhalten. Diese Abwasser münden sodann in die groBen Hauptsammler am rechten Ufer des Wiener Donaukanals. Die Kosten der groBen WienfluBregulierung wurden vom Staate, vom Land Niederösterreich und der Gemeinde Wien getragen und beliefen sich auf rund 50,000.000 K. In Weidlingau befindet sich ein FluBaufsichtsgebaude. Eine eigene Telephon- und Telegraphenleitung vom Rathause, beziehungsweise von der Feuerwehrzentrale und von der Ausmündung des Wienflusses in den Donaukanal bis Weidlingau nach Tullnerbach und Breitensee ermöglicht mit ihren zahlreichen Sprechstelien und Stationen eine sichere Ansagung des Hochwassers und eine rasche Verbindung mit allen Funktionaren. * Nicht nur in groBen epochalen Werken zeigte sich das zielbewuBte Vorgehen der österreichischen Wasserwirtschaft. Zahllose Bache, insbesondere im Hügel- und Flachlande sind reguliert und melioriert worden, um Überschwemmungen der Kulturlandereien zu verhaten, Versumpfungen hintanzuhalten, Uferbrüche zu verbauen und sanitare Übelstande zu beseitigen. Die Regulierung des groBen und kleinen Tullnbaches, der Perschling, der Zaya sind diesbezügliche Beispiele. Die Landeskultur zu fördern wurden auch weiters zahlreiche Ent- und Bewasserungen 437 Wasserbauten in den letzten Dezennien ausgeführt und wurden in Niederösterreich allein in den letzten 60 Jahren mit stetig steigender Arbeitsihtensltat insgesamt 20.000 ha an Ackern, Wiesen, Hutweiden und Garten melioriert. In bezug auf die Hebung der Bodenproduktion steht aber österreich vor einer neuen groBen Aufgabe. ErwiesenermaBen reicht die Bodenproduktion in österreich mit Rücksicht auf die vielen unfruchtbaren Hochgebirgsböden und die dichte Bevölkerung nicht aus, um uns selbst zu versorgen und sind wir daher auf das heutige Ausland angewiesen. Umso wichtiger erscheint die Frage, ob und inwieweit denn unsere Bodenproduktion gesteigert werden könne, um unsere wirtschaftliche Position zu starken. Noch in der bestandenen Monarchie gab die Regierung 1917 Anregungen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. DaB dieselbe gesteigert werden kann, ergibt sich aus der Gegenüberstellung der Durchschnittsertrage in Meterzentnern pro ein Hektar Kulturland in den verschiedenen Landern nach Friedrich Naumann wie folgt: Staaten Weizen Oerste Kartoffeln Belgien 26 27 211 Holland 25 27 174 j Deutschland 24 22 159 Schweiz 22 19 155 England 21 18 164 österreich (Monarchie) 15 16 100 Japan 14 19 100 Ungarn 13 14 75 Italien • • • • 12 9 61 Vereinigte Staaten 10 13 61 RuBland 9 10 « Für die Entwicklung der Landwirtschaft kamen in Betracht: 1. MaBnahmen zur Hebung der Wasser- und Energiewirtschaft sowie der Düngerwirtschaft; 2. MaBnahmen zur Hebung des Pflanzenbaues; 3. Fortführung der agrarischen Operationen; 4. Hebung des landwirtschaftlichen Unterrichtes. 438 Wasserbauten Die auf dem Gebiete der Wasserwirtschaft zutreffenden Verkenningen beziehen sich: a) Auf MaBnahmen zur Verbesserung der AbfluBverhaltnissé (Bach- und FluBregulierungen, Talsperrenanlagen, Wildbachverbauungen); b) Ent- und Bewüsserungsanlagen und c) Förderung der Wasserkraftverwertung. Als unmittelbar produktionsfördernd müssen die Ent- und Bewasserungen bezeichnet werden. Im bestandenen östeneich soll eine KulturflSche von 2,731.000 ha meliorationsbedürftig sein (wovon 1,187.000 ha auf Acker und 1,544.000 ha auf Wiesen, Alpen und Sümpfe entfallen); auf Deutschösterreich entfallt hievon zirka ein Viertel obiger Werte. Der mittlere Aufwand für die Meliorierung wurde pro ein Hektar hiebei auf 1200 K veranschlagt, so daB sich ein gesamter Bauaufwand ergeben hatte von 3.280,000.000 K (Goldkronen) j hiebei hatte sich nach Abzug der Baukosten eine Wertsteigerung von 800 K pro Hektar berechnet. Nach erfolgter Meliorierung würde sich eine Produktionssteigerung ergeben bei Körnerfrüchten um 15"8% „ Kartoffeln . . „ 14-5% „ Rüben . . . „ 264% „ Futtergraser . „ 360% Wenn wir jetzt Deutschösterreichs Verhaitnisse, und zwar insbesonders jene der Alpeniander, betrachten, so muB die Hebung der Bodenproduktion durch Ausführung der Bodenmeliorationen als dringend bezeichnet werden. Die Gesamtaufwendungen für die Meliorierungen in Deutschösteneich dürfte rund 1.000,000.000 Friedenskronen betragen. Um diese Meliorationsaktion noch besser würdigen zu können, sei ein einzelnes Land herausgegriffen: Niederösteneich. Das GesamtausmaB aller Kulturfiachen in Niederösterreich betragt rund 1,200.000 ha und hievon sind nach den generellen Erhebungen des Landesausschusses noch 230.000 ha zu meliorieren; in den letzten 60 Jahren sind also erst 8% der gesamten meliorationsbedürftigen FlSchen verbessert worden. Die bisher ausgeführten Entwasserungsanlagen konnten eben zumeist ohne besondere Schwierigkeiten ausgeführt werden, weil entweder die Vorflut schon vorhanden war oder mit geringfügigen Kosten beschafft werden konnte, wahrend künftighin in der über- 439 Wasserbauten wiegenden Anzahl der Falie solche Bodenentwasserungen zur Ausführung gelangen werden, für welche mitunter sehr kostspielige Vorflutbeschaffuhgen unerlaBlich notwendig sind, also auch an den Techniker gröBere Anforderungen stellen werden. Trotz aller bisher ausgeführten FluB- und Bachregulierungen sind also noch namhafte solcher Arbeiten auszuführen, bevor überhaupt an die Entwasserung der Grundstücke geschriften werden. kann und da die Meliorierung jedweder anderweitigen landwirtschaftlichen Verbesserung vorauszugehen hat, so sind also die Bachund FluBregulierungen eine Sache von besonderer Dringlichkeit." Die groBzügigere Behandlung des Meliorationsproblems wird dasselbe mit den anderen Wasserwirtschaftsaufgaben, wie Wasserkraftnutzung, Schiffahrt, Hochwasserschutz in engere Wechselbeziehungen bringen und eine Konzentration der gesamten Wasserwirtschaft bedingen. II. Die Ausnutzung der Wasserkrafte Der Ausnutzung der Wasserkrafte wurde schon in der bestandenen Monarchie eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet, insbesondere in jenen gebirgigen Teilen, welche heute die Republik österreich bilden und in jenen Gebieten von Tirol und Steiermark, die der Friede von Saint Germain fremden Staaten einverleibt hatDennoch waren aber bis zum Ausbruch des Weltkrieges die ausgenutzten Wassserkrafte im Verhaitnisse zur Zahl der in der Natur gegebenen Wasserkrafte noch recht bescheiden zu nennen und ist diese Entwicklung gegenüber anderen Staaten zurückgeblieben, da der damalige Kohlenreichtum der Monarchie einen billigeren Kohlenbezug sicherte und dies daher so manche Wasserkraf tan lage mit Rücksicht auf örtliche Schwierigkeiten noch nicht rentabel erscheinen lieB. Im Jahre 1913 gab es nach der Statistik des elektrotechnischen . Vereines in Wien 375 hydraulische Elektrizitatswerke, welche elektrische Energie an Dritte abgaben, mit einer Gesamtleistung von 170.150 PS, wahrend 96 Werke Wasser und Dampf als Betriebskraft für ihre Gesamtleistung verwendeten, insgesamt wurden 246.275 PS hydraulische Energie gewonnen, also zirka 10% der wirklich in der Natur vorhandenen und ausnutzbaren Energie. Die gröBeren dieser Anlagen entstanden erst in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch, wie sich eben der Wert der Wasserkrafte allmahlich durchsetzte. Es sei hier auf einige dieser Werke in der Richtung von West nach Ost hingewiesen. 440 Die Donau bei Wien im Jahre 1848 Die Donau bei Wien im Jahre 1888 Wasserbauten So in Vorarlberg die Stadtwerke von Feldkirch, in Innsbruck erbaute die Bauunternehmung Riehl & Co. für die Stadt Innsbruck die Sillwerke, welche die Stadt Innsbruck mit Kraft und Licht versorgen und die Hungerburgbahn betreiben. In Oberösterreich ist vor allem die Traun der wichtigste FluB für die Stromversorgung Oberösterreichs. Hier ist es die Elektrizitats-Aktiengesellschaft Stern & Hafferl, welche die Gosauwerke errichtete, das Offenseewerk, das Traunfallwerk und eine Anzahl kleinerer Werke und diese Gesellschaft ist es, durch welche die Energielieferung mittels hydraulischer Krafte in Oberösterreich in FluB gekommen ist. In Niederösterreich sind die Wasserkrafte der Erlaf bei Wienerbruck für die Elektrifizierung der landschaftlich so reizvollen Mariazellerbahn benützt worden. In Salzburg hat die Stadtgemeinde Salzburg das Wiestalkraftwerk zur Deckung ihres Kraft- und Lichtbedarfes herangezogen und so könnte man die Reihe noch lange fortsetzen. Zur Förderung der Aktion lieB die Regierung durch ihre Staatsorgane die in österreich vorhandenen Wasserkrafte vermessen und übergab die Ergebnisse dieser Erhebungen in zwanglosen Lieferungen der Öffentlichkeit zur Gebrauchsnahme, die in ihrer Gesamtheit den Wasserkraftkataster abgeben. Gleichzeitig war es die Eisenbahnverwaltung, welche die in der Natur gegebenen Wasserkrafte vermessen lieB und Projekte beschaffte für die Ausnutzung der Wasserkrafte zwecks Elektrifizierung der österreichischen Eisenbahnen. Durch den Zusammenbruch der Monarchie ist ein groBes Wirtschaftsgefüge in Trümmer gegangen und Deutschösterreich ist ein kohlenarmes Land geworden, dadurch in der wirtschaftlichen Entwicklung vom Auslande abhangig. Nur über Erze, Wasserkrafte und zahlreiche Waider verfügt das neue Staatswesen. Und Wasserkrafte sind es und immer Wasserkrafte brauchen wir zum Wiederaufbau Österreichs. Da entstand dann die Frage nach der GröBe dieses Naturschatzes, ob denn derselbe ausreicht, in Hinkunft die Eisenbahnen elektrisch zu betreiben, die Beleuchtung auf elektrischem Wege zu erzielen und den ganzen Bedarf an elektrischer Energie unserer Industrie zu decken. Die vorerwahnten Erhebungen für den Wasserkraftkataster ünd für die Eisenbahnverwaltungen gestatten nun diese Frage wenigstens annahernd zu ermitteln. Nach solchen und ahnlichen Berechnungen stehen in Deutschösterreich an groBen, ausbauwürdigen Wasserkraften 441 Wasserbauten mindestens 1,500.000 PS zur Verfügung. Es stellt dies aber nur ein Minimum dar. So nimmt die niederösterreichische Handels-und Gewerbekammer an, daB auBer groBen Wasserkraften auch noch viele kleinere Gefallsstufen in Betracht hommen, daB auch in den nördlich der Donau gelegenen Teilen Ober- und Niederösterreichs sich namhafte Wasserkrafte befinden und wird der gesamte Bestand an ausbauwfirdigen Wasserkraften in der Republik Österreich mit 2,500.000 PS Jatïresmittelleistung angenommen. Dieser Schatz an Wasserkraften kann aber noch vergröBert werden. Die Kleinwasserkrafte werden mobil zu machen sein, die in den letzten Jahren so sehr vernachiassigt worden sind. Welche Bedeutung ihnen zukommt, möge nur aus dem entnommen werden, daB sich in der Schweiz unter 7200 ausgebauten Wasserkraftwerken nicht weniger als 6000 Kleinwasserbetriebe (unter 20 PS Leistung) befinden. Durch die Ausnutzung der Wasserkrafte in den Rohrleitungen der stadtischen Wasserversorgungen ordnet sich diese Tatigkeit in den Rahmen moderner Wasserwirtschaft ein. Beim Wasserleitungsrohrnetze Wiens gelangte dieser Gedanke siegreich zum Durchbruche und alle hygienischen Bedenken erwiesen sich als haltlos und neuestens geht man daran, das ÜberschuBgefalle in der zweiten Wiener Hochquellenzuleitung auszunutzen, eine Idee, die schon seinerzeit der Wiener stadtische Oberbaurat Dr.. Kinzer propagierte. Dieser reiche Schatz an Wasserkraften ausgenutzt, bringt mehr als die Halfte des Bedarfes an auslandischer Kohle in Ersparung, macht die Kraftindustrie, die Beleuchtung und den Eisenbahnbetrieb vom Ausland unabhSngig und hilft wohl in werktatigster Weise mit am wirtschaftlichen Wiederaufbau des Staates. Die Regierungen der jungen Republik brachten der Ausnutzung der österreichischen Wasserkrafte das gröBte Interesse entgegen und haben die Frage durch die Aufrollung der Elektrifizierung der Bundesbahnen ins Rollen gebracht. Hierüber wird nun in einem besonderen Abschnitte dieses Buches berichtet. Aber auch in der Industrie und in Stadtverwaltungen wird dem Ausbau der Wasserkrafte in österreich das allergröBte Interesse entgegengebracht. Die einzelnen Bundeslander betrachten wohl die Ausnutzung als ihre jeweilige spezielle Angelegenheit, sind aber rührig daran, sich mit Interessentengruppen zu gemeinwirtschaftlichen Ver- 442 Wasserbauten banden zusammenzuschlieBen und wirklich zu bauen. Im laufenden Jahre sind hydroelektrische Anlagen im AusmaBe von 100.000 PS im Bau befindlich und ist es nur zu wünschen, daB die dermalige Geldklemme nicht zu bleibenden Stockungen führt. Wir finden heute schon vielfache Bautatigkeiten, weitgediehene Verhandlungen und umfangreiche Projektsbeschaffungen, welche in ihrer Gesamtheit ein Bild groBer Rührigkeit erkennen lassen. In Niederösterreich hat sich eine aus der Gemeinde Wien und Bankkreisen bestehende Aktiengesellschaft gebildet (die „Wag"), welche zunachst die Wasserkraft des Ybbsflusses ausnützen und dabei zirka 14.000 PS sehr konstanter Wasserkrafte gewinnen will. Der Lunzersee soll dabei zu einem Speicher umgestaltet werden. Die Bautatigkeit hat bereits im Sommer 1921 eingesetzt. Die autonome Landesverwaltung von Niederösterreich hat ebenfalls eine Aktiengesellschaft gegründet (N. Ö. W. A. G.) und baut die Wasserkrafte der Erlaf weiter aus. GroBzügig wird der Ausbau der Wasserkrafte in Oberösterreich betrieben. Die schon früher erwahnte Firma Stern & Hafferl baut ihre Anlagen unentwegt weiter aus. • Nach dem Ausbau der zweiten Staustufe an der GroB-Arlerache verfügt die Gesellschaft über 45.000 PS dauernde Leistung. Der unzweifelhaft wichtigste FluB ist sodann die Enns. Hier wird die Ausnützung von zirka 120 »«8 Wasser pro Sekunde mit einem Nettogefaile von 34 m in Verbindung treten, weiters kommt die wichtige Ennsstufe bei Sand in Betracht. Eine ahnliche Stufe bei Ternberg wird studiert. Nördlich der Donau ware die bedeutende im vorgeschrittenen Baustadium befindliche Wasserkraftanlage an der GroBen Mühl zu erwahnen, für deren Ausführung die Oberösterreichische Wasserkraft- und Elektrizitats-Aktiengesellschaft gegründet worden ist. Das Werk soll die Mühl mit einer Wassermenge von 6 m*Sekunden auf einer Stufe von Neufelden bis Neuhaus ausnützen, die ein Gefalle von 166 m aufweist. Es wird ein sogenanntes Spitzenkraftwerk sein, das durch ein Akkumulierbecken bei Langhalsen die Aufspeicherung der in der Nacht zuflieBenden Gewasser und dadurch eine gieichzeitige Wasserzuführung von 15 ms-Sekunden möglich macht Geplant ist die Aufstellung von zwei Maschinenaggregaten von je 12.000 PS Leistungsfahigkeit mit einem Reserveaggregat gleicher GröBe. Nördlich der Donau kommt dann noch die Wasserkraftnutzung der Rann und der Rodel hinzu. 443 Wasserbauten Oberösterreich hat 400.000 konstante Pferdekrafte aufzuweisen, von denen 270.000 PS als ausbaufahig und als in erster Linie ausbauwürdig 120.000 PS zu bezeichnen sind, wovon derzeit 31.965 PS in Betrieb sind. Ahnlich erfreulich stehen die Verhaitnisse in Steiermark. Für den Ausbau und den einheitlichen Betrieb liegt ein umfassender Plan vor, wonach das gesamte Bauprogramm umfassen soll: lm Gebiete des Murfiusses vier Niederdruckwerke, und zwar: Bruck-Mixnitz, Judenburg-Zeltweg, Puntigam-Werndorf und PeggauWeinzöttl, ferner die Hochdruckwerke an der Teigitsch samt Speicher als Spitzen- und Ausgleichswerk und das Speicher- und Ausgleichswerk auf der Teichalpe. Im Gebiete des Ennsflusses die Ennswerke im Gesause, die Kraftanlagen am Erzbach und an der Radmer samt Speicheranlage am Leopoldsteinersee und schlieBlich die Kraftwerke und Speicheranlagen am Sölk und Talbach, welche Wasserkraftanlagen eine Erganzung und Reservé in kalorischen Anlagen in den steirischen Braunkohlenrevieren finden sollen. Diese Anlagen sollen durch Hochspannungsleitungen unter sich und mit den Hauptverbrauchsgebieten verbunden werden, um durch einheitlichen Betrieb die gröBtmögliche Ausnutzung und weitgehendste Herabminderung der Selbstkosten anzustreben. Die Anlagen werden aber weiters auch die wichtige Aufgabe des Transportes elektrischer Energie auf weite Distanzen zu übernehmen haben. Nach vollendetem Ausbau wird das steirische Grofikraftwerksunternehmen eine installierte Gesamtleistung von 450.000 PS, also etwa den fünften Teil der Leistung der in österreich nach fachmSnnischem Urteil als ausbauwürdig betrachteten Wasserkraftanlagen, umfassen und wird jahrlich rund 1000 Millionen Kilowattstunden an die Konsumenten nutzbringend abgeben können. Auch in Karnten harren die Wasserkrafte des Ausbaues. Die Gesamtleistung der karntnerischen, bisher unausgenutzten Wasserkrafte wird mit rund 280.000 PS veranschlagt. Die Bestrebungen zur Auswertung derselben sind in jüngster Zeit zu konkreten praktischen Erscheinungen gediehen. Im Vorjahre wurde, gleichwie in anderen Landern, auch in Karnten die Gründung einer besonderen Gesellschaft wegen Ausbaues der Wasserkrafte in die Wege geleitet. Die Karntner Wasserkraftwerke-Aktiengesellschaft hat nun vor kurzem ihr Programm der öffentlichkeit uberantwortet Nach demselben sollen zunachst drei kleinere 444 Wasserbauten Wasserkraftanlagen ausgebaut werden, und zwar: 1. Das Freibachwerk mit einem Gefalle von 250»», erster Ausbau 3200 PS; 2. das Forstseespeicherwerk 150m Gefalle, 3000 PS und 3. das Tiebelkraftwerk 103*w Gefalle 1300 PS. Bemerkenswert ist, daB sowohl das Land Karnten als auch die Stadt Klagenfurt sich an der Finanzierung beteiligen werden, letztere wird auch ihre Wasserrechtskonzession für die unter 1 und 2 genannten Anlagen der Aktiengesellschaft zur Verfügung stellen. Beinahe zur selben Zeit ist in Karaten noch eine Gesellschaft ins Leben gerufen worden, welche sich ebenfalls den Ausbau karntnerischer Wasserkrafte zur Aufgabe gesetzt hat, die Villacher Kraftwerke-Aktiengesellschaft, welche zunachst die Wasserkraft des Areiach- und Laastadterbaches heranzieht. So wird denn auch in Karaten rüstig vorwarts gestrebt, dem auch hiebei die groBen Seen zugute kommen werden. Nicht minder erfreulich ist das Bild von Salzburg und die Fülle kleinerer Werke die in allen Bundesiandern im Entstehen begriffen sind. Nur momentan laBt infolge der Entwertung der Krone die Baukostenbeschaffung Schwierigkeiten entstehen, die hoffentlich behoben werden können. Den gröBten Bedarf an elektrischer Energie, die durch Wasserkrafte zu beschaffen sein wird, weist die Bundeshauptstadt Wien auf. Inwieferne hiezu die Donauwasserkrafte herangezogen werden können, soll im Abschnitt über die Donau erörtert werden. III. Wasserversorgung und Kanalisation der Stadte Auf einem weiteren Gebiete ist die wasserbauliche Tatigkeit von österreich bemerkenswert. Es ist die Wasserversorgung und Kanalisation der Stadte und seien hier die Anlagen von Wien naher beschrieben. Die Wasserversorgung von Wien Das alte Wien war vornehmlich auf Hausbrunnen angewiesen. Die Zuleitung kleinerer Quellen aus der nachsten Umgebung blieb ohne Bedeutung. Von 1836 bis 1841 erhielt Wien die Kaiser Ferdinands-Wasserleitung, welche das Wasser aus Saugkanaien am Ufer des Donaukanales entnahm und 1859 auf eine Tagesleistung von 10.000 ro» ausgestaltet wurde. Die rapide Bevölkerungszunahme Wiens einerseits und anderseits der Übelstand, daB diese Art der Wasserversorgung 445. Wasserbauten nicht völlig einwandfrei und so manche Epidemie die Folge war, führte zu einer groBzügigen Lösung, die Wien mit einem Schlage in die Stellung einer der gesündesten GroBstadte emporhob. Es war dies die Errichtung der Kaiser Franz Josephs-Hochquellenleitung die von 1869 bis 1873 erbaut wurde. Das Wasser vorzflglichster Beschaffenheit wurde den Quellen des Schneeberges und der Raxalpe entnommen, insbesonders dem Kaiserbrunnen, welcher in einer Seehöhe von 521 m am FuBe des südwestlichen Abhanges des Schneeberges (2075 m) entspringt. Die Gesamtleitung bis Wien hat eine Lange von 105 Arm bis zum Reservoir am Rosenhügel und führt über Baden Mödling und Liesing, woselbst die breiten Taler mit imposanten Aquadukten übersetzt wurden. Hochinteressant sind die Quellfassungen. Die tagliche Gesamtergiebigkeit betragt -im Mittel zur Sommerszeit 113.000 m», im Winter 60.000 m». Die Harte des Wassers der einzelnen Quellen schwankt zwischen 5 und 12°, die Temperatur zwischen 5 5 und 7*5° C. Auch in bakteriologischer Hinsicht ist das Wasser vollkommen entsprechend. Zur Aufspeicherung und Verteilung des Wassers in Wien dienen sieben Reservoire, welche zusammen einen Fassungsraum von 264.206m3 haben. Das Hauptreservoir ist jenes am Rosenhügel, welchem das Wasser direkt aus der groBen Kanalleitung zugeführt wird, vom Rosenhügelreservoir werden die Behalter am Wienerberg, auf der Schmelz und am Laaerberg gespeist. Für die Versorgung der Hochdruckzone dienen die beiden Reservoire von Breitensee und am kleinen Schafberg sowie der Wasserturm in Favoriten, in welche das Wasser mittels Hebewerken zugeführt werden muB. Das Rohrnetz ist nach dem Zirkulationssystem angeordnet. Dasselbe besteht aus guBeisernen Röhren von 80 bis 950 mm lichtem Durchmesser. Die Gesamtlange der bis 1908 ausgeführten Rohrstrange der Hochquellenleitung in der Stadt betragt 947 km. Im Jahre 1873 erfolgte die feierliche Eröffnung der beschriebenen Hochquellenleitung, bald aber ergab sich eine geringere Ergiebigkeit als angenommen worden war, weitere Quellen muBten angeschlossen, bei Pottschach muBte ein Schöpfwerk errichtet werden, um das Grundwasser des Schwarzatales heranzuziehen, eine eigene Nutzwasserleitung aus dem Wientale muBte erbaut werden und von Jahr zu Jahr wurden weitere Hilfswerke geschaffen. Nun entschloB man sich in Erganzung der ersten groBen Anlage eine zweite Kaiser Franz Josephs-Hochquellenleitung zu errichten. 446 Wasserbauten Auch dieses bedeutsame Werk ist mittlerweile zur Ausführung geiangt. Das Wasser wird den bedeutendsten Quellen des Salzatales in Steiermark, namlich den Siebenseenquellen, der Schreierklammquelle sowie der Seisensteinquelle bei Wildalpen, der Klafferbrünne und der Höllquellen bei Weichselboden, endlich der Brunngrabenquellen bei GuBwerk entnommen und mittels einer 192 hm langen Leitung mit natürlichem Gefalle nach Wien geführi Auf diesem Wege sind 86 hm Lehnen- und Wasserscheidestollen, 77 hm kurrenter Kanal, 21 hm Syphons mit eisernen Röhren und 8 hm Aquadukte, Kanal- und Rohrbrücken ausgeführt worden. Das Gesamtgefalle betragt 361 m. Das örtliche Gefalle schwankt zwischen 25%o und 0-22%„. Die Stollen-Lichtweiten schwanken je nach dem Gefalle zwischen li6 und l'92m, die Höhen zwischen 1*58 und 2'08 m. Die Syphons bestehen aus je zwei guBeisernen Rohrleitungen von 900 bis 1200 mm Durchmesser. Die zulass'ge abzuleitende Maximaltagesmenge betragt 200.000 m3. Die Leitung kommt in der Ortschaft Mauer in einer Seehöhe von 326 m an, also wesentlich höher als die erste Hochquellenleitung, so daB dadurch die Hebewerke von Breitensee und Favoriten entbehrlich wurden. Das Leitungsnetz in Wien wurde wesentlich erweitert und der Zulauf in eine Niederdruckzone, eine Hochzone und eine Höchstzone gegliedert, welch beide letzteren wieder künstliche Hebungen des Wassers erforderlich machten, um das Wasser in diese Behalter gelangen zu lassen wie auf den Galitzinberg (410 m), auf den Michaelerberg (370 r»), auf den Dreimarkstein (425 t»), auf den Kobenzl (410 m) und auf den Kahlenberg (500 m). Noch weitere zwei Behalter wurden in der Niederdruckzone und drei in der Hochzone errichtet, so daB den Behaltern der ersten Hochquellenleitung weitere zehn Behalter mit 80.000 m8 Inhalt angegliedert wurden. Die Rohre der Hochzonen wurden überreichlich dimensioniert und die Wasserkraft auf dem Wege von den Hochzonen zu den Niederdruckzonen zur Erzeugung elektrischen Stromes ausgenützt. Zur Sicherung des Quellenbestandes wurden in der Nahe derselben Flachenareale (vorwiegend Wald) im AusmaBe von 4500 ha bei der ersten Hochquelleitung und von 6058 ha bei der zweiten Hochquelleitung kauflich erworben und als Schutzgebiet erklart. Die beiden Hochquellenleitungen haben zusammen eine Tagesergiebigkeit von 338.000 m* und wird damit voraussichtlich für eine 447 Wasserbauten reichliche Wasserversorgung von Wien noch auf Jahrzehnte hinaus vorgesorgt sein. Die Entwasserungsanlagen Wiens Die EntwSsserung Wiens erfolgte in früheren Jahrzehnten durch primitive Mittel, wie Senkgruben und offene Graben in die Donau, den Donaukanal, in den WienfluB und in die sonstigen Wasserlaufe und Bache im Stadtbereiche. Aber auch schon gedeckte unterirdische Ableitungen kannte das) alte Wien und immer gröBer ward das Kanalnetz; die Ausmündung all dieser Kanale in wasserarme Bache führte zu vielfachen sanitaren MiBstanden und war die Sterblichkeitsziffer eine hohe. Endlich entschloB man sich zu gröBeren Sammelkanaien, die die Abwasser in den Donaukanal abzuführen hatten, so begann schon 1831 die Erbauung des rechtsseitigen WienfluBsammlers, wenige Jahre spater die Erbauung des linksseitigen WienfluBsammlers. Allmahlich schritt man dazu, die kleineren Bache, die im Weichbilde von Wien in den Donaukanal ausmündeten, einzuwölben, wie den Ottakringerbach, den Weidlingbach, Alsbach etc. Durch die stetige Ausdehnung des Kanalnetzes mit dem Anwachsen der Stadt und insbesondere durch die Einverleibung der Vororte von Wien verschlechterte sich aber auch der Zustand des Donaukanales, in welchen der gröBte Teil der Kanale innerhalb des Stadtgebietes einmündete. Erst in den Neunzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts konnte in Verbindung mit der Umwandlung des Donaukanales in einen Hafen, an die Erbauung von groBen Sammelkanalen an beiden Ufern des Donaukanales geschriften werden, die zunachst bis unterhalb der Simmeringer Staatsbahnbrücke hinabgeführt und erst dort in den Kanal ausmünden gelassen werden und in spaterer Zeit veriangert werden sollen, so daB die Abwasser von einem groBen Teile Wiens am rechten Ufer der Donau in den wasserreichen Donaustrom zur Einmündung gebracht werden sollen. Seit der Vollendung dieser groBen Sammelkanale hat sich auch der Gesundheitszustand in Wien wesentlich gebessert. Diese groBen Sammelkanale haben Regenausiasse, die dazu bestimmt sind, bei groBen Niederschiagen im Stadtgebiete einen Teil der Niederschlagswasser in den parallel zu den Sammelkanalen flieBenden Donaukanal abzuführen. Trotzdem erhalten diese Sammelkanale schon sehr groBe Querschnitte. Die GröBe dieser Querschnitte ergibt sich aus dem geringen Langsgefaile entlang des Donaukanales (zirka 50 cm pro 1 km) und dem groBen Niederschlagsgebiete von über 14.000 ha. 448 Wien: Donaukanal I Wasserbauten Jene Teile von Wien, welche unmittelbar am rechten Ufer des Stromes gelegen sind, entwassern direkt in den Strom. Die Entwassmingskanaie am linken Ufer des Donaustromes zur Entwasserung der Gebiete von Kaisermühlen und Floridsdorf sind ebenfalls bereits ausgeführt. Letztere leiden unter dem durch die Verhaitnisse gegebenen Obelstand, daB sie das niedrig gelegene 474 m breite Inundationsgebiet durchqueren müssen und es wird daher bei Donauhochwassern notwendig, die Abwasser künstlich zu heben, um sie in den Strom zum Ausflusse zu bringen. IV. Die Donau Nun soll das wichtigste Objekt besprochen werden, die Donau. Kaum ein anderer Strom Europas ist so charakteristisch, greift so in die Geschicke seines EinfluBgebietes und veranlaBte so sehr seine Anwohner in die Speichen seines gewaltigen Naturgeschehens, wie der Mensch wahnt, „regelnd" einzugreifen, um Schaden abzuwehren, Vorteile zu sichern. In besonderem MaBe ist dies der Fall, wo er mit Aufnahme des wasser- und geschiebereichen Innflusses zu einem Gebirgsstrom wird, bis er bei der Ausmündung der March nach Ungarn übertritt — also in österreich Gebirge durchbrechend, hemmungslos in den Ablagerungen der alten Binnenmeerbecken sein Bett standig verandernd, bot er stetig wechselnde Ufergestaltung, überschwemmte und vermurte weite Landstriche, bedrohte Siedlungen sowie Kommunikationen und bot der Schiffahrt zahlreiche Hindernisse. In verstarktem MaBe zeigten sich diese Übelstande im Wiener Becken; der Strom war durch Jahrhunderte lang der Schrecken Wiens, keine stabile Brücke hatte über den veranderlichen Strom Bestand, gesicherter Schiffsverkehr war ausgeschlossen und unzahligemal war Wien der Schauplatz fürchterlicher Überschwemmungen. Das Jahr 1869 führte nun endlich zur langstersehnten Donauregulierung. Heute ist der Strom gebandigt, die Ufer sind vor Hochwassern und Eisgangen gesichert, die Ausübung der GroBschiffahrt ist gewahrleistet, dem Handel und Umschlag sind gesicherte Piatze gegeben worden. Keine andere Stadt hat so viele Opfer gebracht, um die Donau zu bandigen wie Wien und Wien kann mit Recht stolz auf seine 29 449 Wasserbauten Dónaubauten sein, ahnlich konzentriertes und zielbewuBtes Beginnen ist wohl kaum wo in diesem MaBe zu finden. Aber noch dürfen wir die Hande nicht in den SchoB legen, neue Aufgaben treten in der Donaufrage an uns heran, zu welchen nun noch die Ausnützung der Donauwasserkrafte mit gebieterischer Notwèndigkeit dazu kommt. In nur knappen Strichen sei die von Wien ausgehende Donauregulierung, wie sie vom Jahre 1869 an begonnen ward, skizziert. Der bii Wien in vielfache Arme gespaltene Strom wurde in ein einheitliches Strombett zusammengefaBt, ein völlig neuer Lauf bei Wien geschaffen. Überschwemmungen bei und unterhalb Wien durch Dam me behindert und an der Abzweigung des Wiener Donaukanales ein monumentales Sicherungswerk errichtet, ein schwimmendes Sperrschiff (von Engerth erbaut), das bei Hochwassern und Eisgangen quer über den Donaukanal gestellt, den Wassereintritt in denselben drosselte und schwimmendes Eis von ihm vollkommen abhielt. Der neue Stromlauf erhielt eine Breite von 284 5 m und eine Lange von rund 13 km. Der stromaufwartige Teil wurde in voller Breite und voller Tiefe ausgebaggert und wird seit dieser Zeit der ganze Strom bei Wien als der Wiener Durchstich bezeichnet. Das rechte Ufer ist etwas höher gehalten als das linke, es dient dem Umschlagsverkehr von Schiff auf Bahn, langs des Ufers bestehen Bahnanlagen, die Magazine und ^Ladeplatze der Schiffahrtsgesellschaften. Das Ufer steigt landeinwarts flach an bis zur sogenannten Scheitellinie, welche den Schutz Wiens vor katastrophalen Hochwassern bildet. Dieses flach ansteigende Gelande ist teilweise verbant und unter der Bezeichnung „Donaustadt" bekannt. An das linke Ufer des eigentlichen Strombettes schlieBt sich das 474 m breite Inundationsgebiet an, landseits durch den Marchfeldschutzdamm begrenzt, der sich von Langenzersdorf bis zum Marchflusse hinab erstreckt. Diese bis 1875 bei Wien ausgeführten Strombauten gaben alsdann Veranlassung, auch an der ganzen übrigen Donaustrecke von Niederösterreich, die Donauregulierung durchzuführen. In den Neunzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts wurden die Wiener Verkehrsanlagen geschaffen. Die Stadtbahn wurde erbaut, die Sammelkanale langs des Donaukanales errichtet, der WienfluB reguliert Als vierter Bau traten nun noch die Arbeiten am Wiener Donaukanal hinzu, welche als 450 Wasserbauten Umwandlung des Wiener Donaukanales in einen Handels- und Winterhafen bezeichnet worden war. Als vollkommenere Absperrvorrichtung als es das schon erwShnte Engerthsche Sperrschiff war, wurde 100 m fluBabwarts ein Absperrwerk in Form eines 40 m weiten Brückenwehres erbaut, das durch bewegliche eiserne Schützen zwischen hochziehbaren Standern bedarfsgemaB vollstandig abgeschlossen werden kann, um Eis und höhere Wasserstande vom Donaukanal abhalten zu können. Um bei geschlossener Absperrvorrichtung die Ein- und Ausfahrt der Schiffe vom Strom in den Donaukanal und zurück noch zu ermöglichen, wurde ein eigener Schleusenkanal mit einer Kammerschleuse errichtet. Der Wiener Donaukanal sollte kanalisiert und zu diesem Zweck mit drei Staustufen versehen werden, um diesen Stromarm zu einem gesicherten Hafen umzuwandeln. Bisher ist nur die erste Stufe 5 hm unterhalb NuBdorf nachst der Augartenbrücke, nach einem dort einmal bestandenen FluBbade, dem Kaiserbad, die „Staustufe Kaiserbad" genannt, erbaut worden. Dieselbe besteht aus einem 50 tn breiten beweglichen Schützenwehr und durch einen Trennungspfeiler geschieden, aus einer Kammerschleuse von 85 m nutzbarer Lange und 15 m Breite. Die Ufer des Donaukanales von der Augartenbrücke bis zur sogenannten Franzensbrücke sind mit Kai und Stützmauern versehen, um so im Herzen der Inneren Stadt den Handels- und Umschlagsverkehr zu fördern. Im Anschlusse an die Wiener Verkehrsanlagen setzten an der Donau selbst Arbeiten ein, welche die Förderung der GroBschiffahrt zum Ziele hatten, die ebenfalls, wie die früher beschriebenen Arbeiten an der Donau in Wien und Niederösterreich, von der DonauRegulierungskommission in Wien ausgeführt worden sind, welcher der Staat, das Land und die Gemeinde Wien angehören. Die bis 1897 am Donaustrom in österreich ausgeführten Regulierungsbauten waren sogenannte Mittelwasserregulierungen. Das niedrige Wasser fand ein zu breites Bett, indem es zwischen Schotterablagerungen serpentinierte und das Schwerwasser die Uferseite wechselte und daher oft das Anlanden der Schiffe an bestimmten Landungsplatzen unmöglich machte. Ungenügende Wassertiefen, an den ihre Lage haufig andernden Passen, erschwerte die Schiffahrt und zur Niederwasserzeit, also gerade im Spatherbste zur Zeit des intensivsten Warenverkehres an der Donau, konnten die Schiffe oft nur halb beladen, also unwirtschaftiich, verkehren. 451 Wasserbauten Um da Wandel zu schaffen, wurde nach dem Vorschlage des Strombaudirektors Ritter von Weber-Ebenhof zur Niedrigwasserregulierung gegriffen, das heiBt, zum Einbau eines niedrig gehaltenen Gerippes von Steinbauten in der Stromsohle, wodurch eine Konzentration des Niedrigwassers erzielt wurde. Zunachst in der Wiener Stromstrecke mit vollem Erfolge ausgeführt, fand diese Methode auch in den übrigen Abhilfe bedürftigen Strecken des Österreichischen Donaustromes Nachahmung mit gleich günstigem Erfolge. Mit Ausnahme einiger kleiner Strecken, die noch nicht vollendet werden konnten, bildet der Donaustrom in Österreich eine der besten GroBschiffahrtsstraBen Europas. Im Rahmen der Schiffahrtsförderung war auch die Anlage von Hafen in Wien und Linz gelegen. Oberhalb NuBdorf, nachst dem Orte Kahlenbergerdorf, wurde am rechten Ufer der Kuchelauer Hafen errichtet, der insbesondere als Hafen für den Holzhandel Wiens in Aussicht genommen worden war, und am unteren Ende der Wiener Stromstrecke, oberhalb der Ausmündung des Wiener Donaukanales in den Strom wurde mit Benützung eines Altarmes in den Jahren 1899 bis 1902 der groBe Freudenauer Winterhafen erbaut, der alljahrlich im Winter von 300 bis 400 Schiffen besetzt ist Als moderner Winterhafen besitzt er auch alle Einrichtungen, um den Warenumschlag wahrend des Winters und die Reparaturen beschadigter Schiffe zu ermöglichen. Erweiterungsfahig angelegt, wird seine Ausgestaltung zu einem modernen Handelshafen bei der Not ausreichender Landeplatze am Strome zu einer immer dringlicher werdenden Notwendigkeit. Eine wichtige Frage, die Ausnützung der Donauwasserkrafte, beschaftigt schon seit einer Reihe von Jahren die öffentlichen Kreise und besonders nach dem Zusammenbruche der österreichisch-unganschen Monarchie ist sie für das kohlenarme Deutschösterreich zu einer brennenden geworden. Zahlreiche Vorschlage und Projekte sind schon für verschiedene Stromstellen beschafft worden, für eine dieser Entwürfe in Oberösterreich mit einer Leistungsfahigkeit von über 130.000 PS besteht bereits ein Konsens. Nicht nur finanzielle Schwierigkeiten haben die Ausführung bisher verzögert, sondern auch noch Rücksichtnahmen auf Fragen der groBen Geschiebeführung des österreichischen Donaustromes und auf Fragen der GroBschiffahrt, es steht aber zu erwarten, daB diese 452 Wasserbauten Schwierigkeiten Qberwunden werden und Mittel für die Durchführung dieser groBen bedeutungsvollen Werke gefunden werden können. Ein bedeutender Schritt vorwarts erscheint nun durch die Tatsache gegeben, daB in Verbindung mit der Erbauung des Main—Donaukanales in der bayerischen Donau zur Oberstauung des Kachlets ein hohes Stauwehr errichtet und mit einer GroBwasserkraftanlage in Verbindung gebracht wird. Der Bau wurde bereits in Angriff genommen, die internationale Donaukommission hat dieser Errichtung zugestimmt. Ein groBer Komplex von Fragen wird bezüglich der Donau bei Wien zur Lösung gelangen müssen. Erhebungen haben ergeben, daB die Vorkehrungen gegen Überschwemmungen durch katastrophale Hochwasser der Donau noch einer Erganzung bedürfen, die Entwicklung des Donauumschlagsverkehres der nachsten Zukunft erheischt die Schaffung weiterer Landeplatze und Hafenanlagen in Wien, der Energiebedarf Wiens laBt die Donaukraftnutzung in der Wiener Stromstrecke in solcher Weise, daB hiedurch die GroBschiffahrtsinteressen nicht beeintrachtigt werden, dringend nötig erscheinen, Endlich wird die Bewasserung des Marchfeldes unter Heranziehung von Donauwasser kaum mehr zu umgehen sein. Ein Werk, welches allen diesen Anforderungen Rechnung tragt, wird seinesgleichen wohl nirgends mehr vorfinden, es wird aber unerlaBIich werden, sowohl im Interesse der Entwicklung der GroBschiffahrt der Donau, als auch im Interesse des alten Kulturzentrums an der Donau. Österreichs Ingenieure haben schon verdienstvolle Vorarbeit geleistet; möge der Tag kommen, an dem das Werk in die Tat umgesetzt wird. 453 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Die Elektrisierung der Bundesbahnen Paul Dittes Der unheilvolle Ausgang des Weltkrieges hatte Ende 1918 Österreich-Ungarn zerschlagen, ein mit Naturschatzen gesegnetes Reich zersplittert und dem einstigen staatserhaltenden Volke der ehemaligen Monarchie nur ein verstümmeltes Gebiet fibrig gelassen, dem — insbesondere wegen des Mangels an Steinkohle — die Grundlagen wirtschaftlichen Gedeihens entzogen erschienen. Ungebrochen war aber die Arbeitskraft eines namhaften Teiles der Bevölkerung unseres so enge gewordenen Vaterlandes und der Wille der Not und dem Elend, in die wir geraten, durch Ausnutzung der uns verbliebenen Naturschatze — insbesonders unserer Wasserkrafte — nach Möglichkeit zu begegnen. Und wenn auch wirtschaftliche und politische Garungen mannigfache Schwierigkeiten bereiteten, so können wir doch mit Freude feststellen, daB es der Tatkraft führender Geister des Staates und der Volksvertretung, unserer hochentwickelten Industrie und der altbewahrten deutschösterreichischen Ingenieure gelungen ist, in der seit dem Kriegsende verflossenen, produktiver Tatigkeit wahrlich nicht günstigen Zeit, technische Werke zu schaffen und vorzubereiten, die vor aller Welt Zeugnis ablegen ffir den festen Willen österreichs, sich aus tiefer Not wieder zu geordneten wirtschaftlichen Verhaltnissen emporzuarbeiten. Unter den MaBnahmen zur Wiederaufrichtung der österreichischen Volkswirtschaft wird die mit dem Gesetze vom 23. Juli 1920 beschlossene Einführung der elektrischen Zugförderung auf den österreichischen Bundesbahnen und die Ausnutzung der hiezu erforderlichen Wasserkrafte stets mit an erster Stelle genannt werden müssen. Das vorgenannte Gesetz sieht zunachst die Einführung des elektrischen Betriebes auf den Strecken Innsbruck—Bregenz — Reichsgrenze (einschlieBlich der Nebenlinien Feldkirch—Buchs und Bregenz—St. Margarethen), Salzburg—SchwarzachSt. Veit —Wörgl und Schwarzach-St. Veit — SpittalMillstattersee sowie auf der Salzkammergutlinie StainachIrdning— Attnang-Puchheim vor. Die Gesamtiange der 454 Die Elektrisierung der Bundesbahnen angeführten Strecken betragt 652 km; hievon sind 412 km eingleisig und 240 km zweigleisig. Durch ihre Elektrisierung werden rund 400.000 t Kohle jahrlich erspart werden. Für die Auswahl der zunachst zu elektrisierenden Strecken war die Forderung möglichst grofier Kohlenersparnis und möglichster Wirtschaftlichkeit des Betriebes im Vergleiche mit dem derzeitigen Dampfbetrieb maBgebend. Beiden Forderungen kann auf Strecken mit groBer Verkehrsleistung und ungünstigen Neigungs- und Richtungsverhaitnissen Rechnung getragen werden. Der Beginn der Elektrisierung erfolgt auf den Strecken Innsbruck— Landeck—Bludenz und Stainach—Attnang, weil dort seit einer langen Reihe von Jahren die Vorbereitungen für die Elektrisierung betrieben worden sind und weil die Frage der Beschaffung der erforderlichen elektrischen Energie verhaitnismaBig rasch und unter vergleichsweise günstigen Verhaltnissen gelöst werden kann. Die weitere Entwicklung der Elektrisierung wird in hervorragendem MaBe dadurch beeinfluBt, daB sich die Staatseisenbahnverwaltung in Vorarlberg, Tirol und Salzburg die Ausnutzung einer Reihe von Wasserkraften bereits sichern konnte. Die Lieferung der elektrischen Energie für den Betrieb der früher genannten Strecken erfolgt vorwiegend aus bahneigenen Kraftwerken, zum Teil aber auch aus bahnfremden Werken. Der Kraftr versorgung des Netzes westlich von Innsbruck wird das Spuller-r seewerk bei Danöfen und das Kraftwerk am Rutzbach unweit Innsbruck dienen, wahrend für die Strecken Salzburg— Schwarzach-St. Veit—Villach und Schwarzach-St. Veit—Wörgl ein Kraftwerk im Stubachtale und eines an der Mallnitz bei Obervellach gebaut wird. Die Salzkammergutlinie Stainach—Attnang schlieBlich wird auf Grund von in den Jahren 1909 und 1921 abgeschlossener Vertrage durch die Elektrizitatswerke Stern & Hafferl A.-G. aus dem schon bestehenden, jedoch wesentlich auszugestaltenden Kraftwerk bei Steeg mit Strom versorgt werden. Zur Kennzeichnung der Energieversorgung der Bahnen westlich von Innsbruck und des Netzteiles Salzburg—Schwarzach—Spittal— Villach, Schwarzach—Wörgl in wasserwirtschaftlicher Beziehung sei bemerkt, das es sich in beiden Fallen um die Kuppelung je eines. ausgesprochenen Speicher- und Spitzendeckungswerkes (Spullerseewerk, bèziehungsweise Stubachwerk) mit einem wenig speicherfahigen Werke (Rutzwerk, beziehungsweise Mallnitzwerk) handelt, wodurcb 455 Die Elektrisierung der Bundesbahnen eine nahezu restlose Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Wassermengen erzielt werden wird. Die vorgenannten Bahnkraftwerke werden im vollen Ausbau eine Höchstleistung von rund 120.000 PS darstellen, von denen jedoch zunachst, im ersten Ausbau, nur rund 90.000 PS zur Aufstellung gelangen. Der in den Kraftwerken erzeugte Einphasenwechselstrom von 16% Perioden in der Sekunde wird mit einer Spannung von 55.000 Volt mittels Obertragungsleitungen den langs der Strecken angeordneten Unterwerken zugeführt, von wo aus die Fahrleitungen mit einer Spannung von 15.000 Volt gespeist werden. Im nachstehenden sei der Umfang der geplanten und in Ausführung begriffenen Anlagen und der bis heute erzielte Baufortschritt naher gekennzeichnet. Die beiden für den Netzteil westlich von Innsbruck bestimmten Kraftwerke, das Spullerseewerk und das Rutzwerk, sind durch eine 55000 Volt-Übertragungsleitung miteinander verbunden, an die vier Unterwerke (Zirl, Roppen, Flirsch und Danöfen) angeschlossen sind, die die Fahrleitung der derzeit in elektrischer Ausrüstung befindlichen Strecke Innsbruck—Landeck—Bludenz speisen werden. Spater, beim Fortschreiten der Elektrisierung westwarts von Bludenz, kommen noch zwei Unterwerke in Feldkirch und in Lauterach zur Errichtung. Was die Kraftwerksbauten betrifft, so ist das Spullerseewerk ein in seinen ganzen Anlageverhaitnissen überaus interessantes Speicher- und Spitzendeckungswerk, dessen Ausführung die Lösung einer Reihe schwieriger Probleme erfordert. Zur Nutzbarmachung der gesamten Jahresniederschlagswasser des 107 km* umfassenden Einzugsgebietes des Spullersees wird durch Errichtung zweier Sperrmauern — je einer am südlichen und nördIiche Seende — ein Stauraum geschaffen, der bei Vollausbau der Sperren bis auf die Stauhöhe von 1825 m über dem Meere, einen nutzbaren Inhalt von rund 13,400.000 m* aufweisen wird. Die Wasserentnahme aus dem See erfolgt mittels eines rund 1850 m langen Druckstollens mit einer Kapazitat von 6 m* Wasser in der Sekunde. Der Stollen endigt in einem am sogenannten Grafenspitz angeordneten WasserschloB. Von hier führt die am Hange des Dürrenberges offen zu verlegende Druckrohrleitung zu dem rund 54 m unterhalb der Station Danöfen gelegenen Kraftwerk, in dem voriaufig drei, im Vollausbau aber sechs Maschinensatze zu 456 St. Christof am Arlberg, Tirol Die Elektrisierung der Bundesbahnen 8000 PS, insgesamt also 48.000 PS Höchstleistung, zur Aufstellung gelangen. Das verfügbare RohgefSlle betragt im Mittel rund 800 m. Was den maschinellen Teil des Spullerseewerkes betrifft, so sind als Antriebsmaschinen für die Stromerzeuger zunachst drei Hochdruck-Freistrahlturbinen mit liegender Welle vorgesehen, die mit den zugehörigen Stromerzeugern starr gekuppelt werden. Die Höchstleistung jeder Turbine betragt 8000 PS. Die Regulierung erfolgt selbsttatig durch Strahlablenker und Nadelverstellung mittels eines Servomotors. Jede Turbine erhalt eine Sicherheitseinrichtung gegen Durchgehen bei allfailigem Bruch des Reglerantriebriemens. Zum raschen Stillsetzen des Laufrades nach Abstellen der Turbine dient eine Gegendüse. Die Lieferung der Turbinen wurde im Oktober 1920 der Leobersdorfer Maschinenfabrik A.-G. Obertragen. In Hinsicht auf seine elektrotechnische Ausrüstung besteht das Spullerseewerk im künftigen vollstandigen Ausbau aus sechs gleichen Einphasenstromerzeugern, von denen im ersten Ausbau drei zur Aufstellung gelangen. Jeder Einphasenstromerzeuger mit einer Spannung von 6000 Volt ist mit einer NebenschluB-Erregermaschine unmittelbar gekuppelt und arbeitet über einen Transformator mit den übrigen Stromerzeugern auf ein 55.000 Volt-Doppelsammelschienensystem, von dem die beiden Fernleitungen einerseits zum Rutzwerk und anderseits nach Bregenz, beziehungsweise Bludenz abzweigen. An das Schalthaus des Kraftwerkes wird unmittelbar das Unterwerk Danöfen angebaut; es steht mit demselben durch einen Kupplungsschalter in Verbindung. Das Unterwerk erhalt vorlaufig zwei — spater drei — Transformatoren. Diese sind Ober Trennschalter und Schutzdrosseln an die 55.000-Volt-Sammelschienen angeschlossen. Die Ausführung der gesamten elektrotechnischen Ausrüstung des Kraftwerkes ist den österreichischen Siemens-Schuckert-Werken übertragen. Die Durchführung der Bauarbeiten für das Spullerseewerk hat bisher trotz auBergewöhnlicher Schwierigkeiten einen befriedigenden Fortgang genommen. Wahrend das Jahr 1920 und zum Teil auch das Jahr 1921 zum groBen Teile den wegen des auBerordentlich schwierigen Baugeiandes besonders zeitraubenden und umfangreichen BauvorbereitungsmaBnahmen (Absenkung des Spullersees, Errichtung einer Seilbahn von Danöfen nach Spullers, eines Schragaufzuges von Danöfen zur Grafenspitze, eines Bremsberges von der Station Danöfen 457 Die Elektrisierung der Bundesbahnen zum Kraftwerksplanum, Errichtung von Kompressoranlagen usw.) gewidmet war, konnten im Jahre 1921 und 1922 die eigentlichen Bauarbeiten bedeutend gefördert werden, so daB, die Fertigstellung der Anlage für Mitte 1924 erwartet werden kann. Es würde hier zu weit führen, auf Einzelheiten des Baues einzugehen und sei auf die Abb. 1 bis 4 und die diesen Abbildungen beigefügten Bemerkungen verwiesen. Das schon im Jahre 1912 für den Betrieb der Mittenwaldbahn erbaute Rutz-Kraftwerk nutzt den Rutzbach zwischen Fulpmes und der Einmündung in die Sill aus. Das Nutzgefaile betragt rund 180 m, das Leitungsvermögen des Oberwasserkanals 5 t»8 in der Sekunde, was dem durch etwa sieben Monate des Jahres im Rutzbach vorhandenen Wasser entspricht. Die Leistung bei Niederwasser von etwa 2i ms in der Sekunde ist rund 3900 PS. Für den Betrieb der Mittenwaldbahn wurde seinerzeit das Kraftwerk mit zwei Maschinensatzen von je 4000 PS Leistung ausgestattei Die Ausnutzung des Werkes durch die Mittenwaldbahn allein war keine vollkommene. Durch etwa acht Monate des Jahres flossen betrachtliche Wassermengen ungenutzt ab. Als nun anfangs 1919 die Elektrisierung der Arlbergstrecke greifbare Formen angenommen hatte, lag es nahe, das Rutzwerk auch für die Stromversorgung der Strecke Innsbruck—Landeck —Bludenz, und zwar in Verbindung mit dem Spullerseewerk heranzuziehen. Zu diesem Zwecke wurde das bestehende WasserschloB des Werkes mit einem nutzbaren Inhalt von 3000 m8 durch einen Zubau auf einen Wasserinhalt von 7000 m3 vergröBert, zu dem vorhandenen Druckrohrleitungsstrang ein zweiter verlegt und die Werksleistung durch Aufstellung eines driften Maschinensatzes von 8000 PS entsprechend vergröBert, derart, daB die im Rutzbache zur Verfügung stehende Wassermenge zu allen Jahreszeiten nahezu restlos wird ausgenützt werden können. Hand in Hand mit diesem Ausbau geht eine vollstandige, den erhöhten Betriebsanforderungen entsprechende Ausgestaltung der vorhandenen Schaltanlage und der Nebenanlagen für elektrische Beheizung und Beleuchtung, Betatigung der Schalter, Signaleinrichtungen usw. Alle diese, zum Teil sehr schwierigen, weil wahrend des Betriebes der Anlage durchzuführenden Arbeiten nahern sich der Vollendung, so daB die Inbetriebnahme des ausgebauten Werkes für Anfang 1923 zu erwarten steht. Die gesamten baulichen Herstellungen für die Ausgestaltung des Rutzwerkes — wozu auch der Bau zweier neuer Wohnhauser für das 458 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Personal gehört — sind — ebenso wie der bauliche Teil des Spullerseekraftwerksbaues — der Bauunternehmung Innerebner und May er in Innsbruck übertragen, wahrend die elektrische Ausrüstung die A. E. G.—Union Elektrizitatsgesellschaft in Wien durchführt. Die neue Turbine hat die Maschinenfabrik und GieBerei J. M. Voith in St Pölten, die Rohrleitung die Lokomotivfabrik Kraus & Co. in Linz geliefert. Die schon eingangs erwahnte Obertragungsleitung für eine Betriebsspannung von 50.000 bis 55.000 Volt hat den Zweck, den langs der Strecke angeordneten Unterwerken die für die Zugförderung erforderliche Energie zuzuführen. In den Unterwerken erfolgt dann die Transformierung des 50.000 bis 55.000-Voltstromes auf die Fahrleitungsspannung von 15.000 bis 16.500 Volt. Die Obertragungsleitung kuppelt die beiden Kraftwerke elektrisch, wodurch nicht nur eine weitgehende Betriebssicherheit gegeben, sondern auch die Erfüllung der wichtigen Aufgabe möglich ist, die Kraftwerke wasserwirtschaftlich gut auszunützen. Die Obertragungsleitung zwischen Rutzwerk und Spullerseewerk wird zum Teil auf eigenem Gestange abseits der Bahn, zum Teil auf dem Fahrleitungsgestange geführt. Ihr interessantester aber auch schwierigster Teil ist die Strecke St. Anton—Arlberg—Langen. (Siehe Abb. 5 und 6.) Für die Obertragungsleitung von St Anton nach Langen kamen zwei Wege in Betracht: der Arlbergtunnel und der ArlbergpaB. Von der Führung der Obertragungsleitung als Kabelleitung durch den Tunnel wurde aus technischen und wirtschaftlichen Gründen abgesehen. Nach dem heutigen Stande der Kabeltechnik waren zwei Einleiterkabel in Betracht gekommen, deren Unterbringung im Tunnel Schwierigkeiten begegnet ware, da die seitlichen Kabelgraben von Schwachstromkabeln in Anspruch genommen sind. Die Kabelleitung ware zwischen Freileitungsstrecken eingeschaltet gewesen und hatte durch besondere Schutzvorrichtungen gegen das Eindringen von Überspannungen geschützt werden müssen. Wie vorsichtig in dieser Beziehung vorgegangen werden muB, zeigen unter anderem die Erfahrungen, die von den Schweizerischen Bundesbahnen auf der Gotthardbahn mit der Kabelanlage gemacht wurden. Der Hauptgrund aber, der für die Wahl der FreileitungstraBe über den Arlberg maBgebend war, bestand in den wesentlich höheren Kosten der Kabelleitung. Bei der Wahl der FreileitungstraBe muBte das Augenmerk vor allem darauf gerichtet sein, einen lawinenfreien Übergang heraus- 459 Die Elektrisierung der Bundesbahnen zufinden. Deshalb muBte davon abgesehen werden, die Leitung durchwegs langs oder in nachster Nahe der ArlbergstraBe zu verlegen, obwohl hiedurch die Bauarbeiten wesentlich vereinfacht worden waren. Besonders ungünstig für eine Leitungsführung ist die Strecke zwischen St. Christoph und der Alpe Rauz; die StraBe wird hier beiderseits von lawinengefahrdeten Hangen begleitet Die Leitung wird daher von St Christoph aus bergauf geführt und steigt zur Hochfiache der sogenannten Brunnenköpfe, bis auf eine Höhe von 2019»», führt sodann zur Alpe Rauz hinunter und erreicht schlieBlich wieder die Bahn am tunnelseitigen Ende des Bahnhofes Langen. Der endgültige Bauentwurf sieht 83 Zwischenstützpunkte bei einer gesamten wagrechten Leitungsïange von 11.655 »» vor, so daB die mittlere wagrechte Spannfeldïange etwa 140 m betragt Die gröBte Spannweite miBt 2263 m. Das Gewicht aller Maste und Gittertürme für die ArlbergpaBleitung St Anton—Langen betragt rund 234.000 kg. Für die A r 1 b e r g p a B1 e i t u n g sind im Bauabschnitt St. Anton— St. Christoph samtliche Maste und Gittertürme schon aufgestellt Dieser Leitungsteil hatte noch im heurigen Herbst fertiggestellt werden können, doch trat eine Verzögerung in der Lieferung der bestellten Isolatoren ein. Im Bauabschnitt St. Christoph—Rauz wird an der Aufstellung der Stützen für die zur Beförderung der Baustoffe notwendigen Seilbahn St Christoph—Brunnenköpfe gearbeitet. Für die Leitungstürme werden die Baugruben ausgehoben und für die nahe der ArlbergstraBe gelegenen Maste die Sockel hergestellt lm Bauabschnitt Rauz—Langen wird an der Aushebung der Baugruben und der Herstellung der Mastsockel gearbeitet. * Was die vier Unterwerke der Strecke Innsbruck—Bludenz betrifft, so erhalten die auf den Steilrampen des Arlbergs gelegenen „groBen" Unterwerke Flirsch und Danöfen zunachst je zwei, im vollen Ausbau je vier Transformatoren für eine Dauerleistung von je 2400 kVA und eine kurzzeitige Höchstteistung von je 9600 kVA, wahrend die auf den flacheren Zufahrtslinien angeordneten Unterwerke Zirl und Roppen zunachst je zwei, im vollen Ausbau aber je drei Transformatoren von je 1900 kVA Dauerleistung und 7600 kVA Höchstleistung erhalten. Das Übersetzungsverhaltnis aller Transformatoren ist 50.000/15.000 bis 55.000/16.500 Volt bei gleichbleibender Leistung. Im ErdgeschoB der Unterwerke sind, von der Werkstatte und den übrigen Nebenraumen abgesehen, die ölschalter und in einem 460 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Vorbau die Transformatoren samt ihren Rückkühlanlagen untergebracht. Die Betatigung der Schalter erfolgt durch elektromagnetische Fernsteuerapparate, die von einer Akkumulatorenbatterie für 110 Volt gespeist werden; bei einem allfailigen Versagen der Fernsteuerung können die Schalter vom Bedienungsgang aus mittels Handhebeln betatigt werden. Zwischen den Transformatorzellen finden die Ölkühlanlagen für die einzelnen Transformatoren Platz. Als Ölkühler gelangen Kühlkörper nach Patent Dr. O. Zimmermann zur Verwendung. Das Unterwerk Zirl ist baulich nahezu vollendet, mit der Montierung der elektrischen Ausrüstung wurde bereits begonnen und steht die Inbetriebnahme für 1923 zu erwarten. Das Unterwerk Roppen ist unter Dach gebracht, die Inangriffnahme der Bauarbeiten für das Unterwerk Flirsch wird im Frühjahre 1923 erfolgen. Der Fahrleitungsbau ist auf der Strecke Innsbruck-Landeck— Bludenz in vollem Gange und auf der Strecke Innsbruck—Telfs — wo die A. E. G.—Union Elektrizitatsgesellschaft arbeitet — nahezu vollendet. (Siehe Abb. 1 und 8.) Diese Teilstrecke wird bereits in nachster Zeit unter Spannung gesetzt und dem Probebetriebe übergeben werden können. Aber auch auf der Strecke Landeck—St. Anton und im 103 km langen Arlbergtunnel (Siemens-Schuckert-Werke) sind die Arbeiten weit vorgeschritten und steht die Fertigstellung der gesamten Fahrleitungsanlage von Innsbruck bis Bludenz für Anfang 1924 in Aussicht. Die Arbeiten für die Anbringung der Fahrleitungen in den zahlreichen, zum Teile langen Tunnels bilden einen besonders schwierigen Teil des Leitungsbaues, da bei der seinerzeitigen Ausführung der Tunnels auf eine spatere Elektrisierung natürlich keine Rücksicht genommen wurde; die Profile sind fast durchwegs sehr knapp. Die Montierungsarbeiten sind auBerst anstrengend und mühevoll, um so mehr, als ja die Tunnels mit Dampflokomotiven befahren werden und schlecht gelüftet sind. Zur Durchführung der Arbeiten für den Einbau der Tragwerke in den Tunnels wurde ein Bauzug zusammengestellt, der aus einem Dienstwagen, drei Gerüstwagen, dem Maschinenwagen und einem Personenwagen besteht. Im Maschinenwagen ist eine Ingersoll-Druckluftbohranlage und eine elektrische Beleuchtungsanlage, beide mit Antrieb durch Benzinmotoren, untergebracht. Zum Schutze gegen Rost erhalten alle in den Tunnels zur Verwendung gelangenden Eisenteile einen doppelten metallischen Überzug, und zwar aus Zink mit einer darüberliegenden Bleischichte. Diese 461 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Metallüberzüge werden mittels des Schoopschen Metallspritzverfahrens aufgebracht. HiefOr wurde in St. Anton eine eigene Anlage mit PreBlufterzeuger und Sandstrahlgeblase eingerichtet lm groBen Arlbergtunnel und auch in einigen kürzeren Tunnels der Strecke Landeck—Bludenz muBte eine Oberaus zeitraubende Verfugung des Tunnelmauerwerkes mit Sikamörtel durchgeführt werden, um insbesonders die Leitungsstützpunkte vom Tropfwasser frei zu halten. Durch die Einführung der elektrischen Zugfördeiung wurde auch ffir die österreichischen Bundesbahnen das schwierige Problem der Vermeidung, beziehungsweise Behebung störender Beeinflussungen der Schwachstromanlagen durch die Bahnbetriebsströme aufgerollt. Gegenwartig verlaufen langs der Strecke Innsbruck—Bregenz zehn bis zwölf Staatstelegraphenleitungen, davon sieben bis acht internationale, ferner zwei, streckenweise drei Staatstelephonleitungen, von denen eine dem direkten Schweizer Verkehr dient und von Innsbruck bis ötztal je eine Telegraphen- und Telephonleitung für den Nahverkehr. Hiezu kommen die Bahntelegraphenleitungen, die BahnwSchter- und Glockenlinien und in einzelnen Teilstrecken noch Zugmelde- und Blockleitungen. Es würde zu weit führen, auf den Umbau der staatlichen Schwachstromanlagen anlaBlich der Elektrisierung naher einzugehen. Es genüge hier der Hinweis, daB nach eingehendem Studium der verschiedenenLösungsmöglichkeiten zur Kabelung der wichtigen Telegraphen- und Telephonleitungen trotz der hohen Kosten gegriffen werden muBte. Von den ausschlieBlich dem Bahnverkehr und der Verstandigung der Kraft- und Unterwerke dienenden Leitungen wurde bereits ein bahneigenes pupinisiertes Kabel von Innsbruck bis Bludenz (rund 137 km) verlegt und in Betrieb gesetzt Die bei der Obernahme gemessenen elektrischen Werte dieser ersten groBen Pupinkabelanlage in österreich, die von der Firma Siemens und Halske A.-G. als Hauptlieferantin im Verein mit Feiten und Guitleaume und der Kabelfabriks- und Drahtindustrie-A.-G. ausgeführt wurde, waren sehr günstige. Die Umlegung der staatlichen Schwachstrotnleitungen dürfte in der Strecke Innsbruck—Haiming bis Ende 1922 vollendet sein, worauf die langs des Bahnkörpers befindlichen Leitungen in dieser Strecke abgetragen werden können. Ein besonders wichtiges und unter den heutigen Verhaltnissen doppelt schwieriges und verantwortungsvolles Kapitel der Elektrisierung 462 Die Elektrisierung der Bundesbahnen von Vollbahnen bildet die Beschaffung der elektrischenTriebfahrzeuge. Wenngleich auf diesem Gebiete nun schon vielfach Erfahrungen vorliegen, so kann doch nicht übersehen werden, daB die österreichische Bundesbahnverwaltung, die österreichischen' elektrotechnischen Firmen und die Lokomotivfabriken vor ein nach Art und Umfang vielfach neues Problem gestellt sind, dessen erfolgreiche Bewaitigung die starkste Hingabe und das verstandnisvolle Zusammenwirken aller bei der Lösung dieser groBen und schönen Aufgabe Beteiligten erfordert. Erschwert wird der wirtschaftliche Bau leistungsfahiger elektrischer Vollbahnlokomotiven, insbesondere solcher für Gebirgsstrecken, in Österreich voriaufig auch noch dadurch, daB mit Rücksicht auf den bestehenden Oberbau und zahlreiche aitere Brücken der gröBte Achsdruck 145 t nicht überschreiten darf. Der im Zuge befindliche Ausbau des Oberbaues und der Objekte der österreichischen Bundesbahnen für einen Achsdruck von 16 < wird in Zukunft den Bau der elektrischen Triebfahrzeuge von dieser lastigen Fessel befreien. Voriaufig ist für die zunachst auf elektrischen Betrieb umzuwandelnden Linien der österreichischen Bundesbahnen die Beschaffung von vier Typen elektrischer Lokomotiven in Aussicht genommen, und zwar: i. Schwere Gebirgsschnellzugslokomotiven mit der Achsanordnung I C + C I für eine Dauerleistung von rund 1850 PS bei der Normalgeschwindigkeit von 50 km in der Stunde und einer kurzseitigen Höchstleistung von 3000 PS am Umfange der Triebrader. Die höchste Laufgeschwindigkeit betragt 65 km in der Stunde. Diese Lokomotiven erhalten je zwei Doppelmotoren und je einen zwischen den beiden Führerstanden angeordneten Transformator zur Umwandlung des dem Fahrdraht entnommenen Stromes auf die Motorenspannung. Das Gewicht der Lokomotiven betragt rund 114 t, ihre Lange über die Puffer gemessen rund 203 m. Zur Kennzeichnung der Leistung dieser Lokomotiven im Vergleiche mit der jetzt auf der Arlbergstrecke für die Beförderung der Schnellzüge verwendeten fünffach gekuppelten Dampflokomotiven sei angeführt, daB diese Dampflokomotiven bei Einhaltung der regelmaBigen Fahrzeiten auf der Arlberg-Ostrampe Züge von 320 t in je 47 Minuten befördern. Die elektrische IC-|-CI-Lokomotive dagegen wird über dié Ostrampe Züge von 360 t in 33 Minuten befördern, das heiBt also um mehr als 12% schwerere Züge in einer um rund 25% gekürzten Fahrzeit. Sieben solche Lokomotiven, die in erster Linie für die Arlbergstrecke Landeck—Bludenz bestimmt, sind bei den österreichischen 463 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Brown-Boveri-Werken bestellt, den mechanischen Teil liefert die Wiener Lokomotivfabrik A. G. in Floridsdorf. Die erste dieser Lokomotiven ist fertiggestellt und ist bereits dem Probebetrieb übergeben worden. Die übrigen sechs Lokomotiven sind im Bau weit vorgeschritten. 2. Personenzugslokomoti ven mit der Achsfolge I C 1, in erster Linie für Mittelgebirgsstrecken mit stark wechselnden Neigungs-* verhaltnissen — wie zum Beispiel Stainach—Attnang — bestimmt. Je zwei dieser Lokomotiven können aber auch mittels Vielfachsteuerung von einem Führerstande als Doppellokomotiven gefahren werden und derart zur Förderung schwerer Züge auch auf ausgesprochenen Gebirgsstrecken, zum Beispiel der Arlbergbahn, Verwendung finden. Das Gesamtgewicht dieser Lokomotiven betragt je 70 t, die Gesamtiange über Puffer 137 m. Die Dauerleistung der Lokomotive betragt rund 870 PS bei 50&mStundengeschwindigkeit und kann vorübergehend auf 1500PS gesteigert werden. Die Höchstgeschwindigkeit ist 65 km in der Stunde. Die Arbeitsübertragung erfolgt durch Zahnraderübersetzung 1:4 21 auf eine Blindwelle und von dieser mittels Triebstange und Kuppelstangen auf Triebrader. Zwanzig Stück dieser Maschinen sind bei der A. E. G.—Union Elektrizitatsgesellschaft bestellt, Unterlieferer für den mechanischen Teil ist die Lokomotivfabrik der Staatseisenbahngesellschaft. Die ersten Lokomotiven dieser Bauart nahem sich der Fertigstellung. 3. Güterzugslokomotiven mit der Achsfolge E für die Beförderung der schweren Güterzüge auf Gebirgs- sowie auch auf Mittelgebirgsstrecken. Auf der Arlbergstrecke müssen sie auf der Ostrampe mit gröBten Steigungen von 26 4°/0o Züge von 310 t mit 31 km in der Stunde, auf der Westrampe mit gröBten Steigungen von 31-4%nZüge von 260 t mit rund 30 km in der Stunde ziehen können. Auf Steigungen von 8%o können noch Züge von 1000 t mit beilSufig 30 km in der Stunde befördert werden. Die Höchstgeschwindigkeit betragt 50 km in der Stunde. Die Lokomotiven sind AuBenrahmenlokomotiven mit fünf gekuppelten Achsen, von denen die drei mittleren durch Zahnradmotoren unmittelbar angetrieben sind. Die Dauerleistung der Lokomotive betragt bei etwa 32 in der Stunde rund 1000 PS; vorübergehend kann die Leistung bis auf 2000 PS gesteigert werden. Das Gesamtgewicht jeder Lokomotive wird 72 5 t, die gesamte Lange, über die Puffer gemessen, 13 m betragen. Zwanzig solcher Lokomotiven sind bei den österreichischen SiemensSchuckert-Werken bestellt, den mechanischen Teil liefert die Lokomotivfabrik KrauB & Co. in Linz. 464 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Abb. 1. Eiserner Gittermast der 55.000 Volt-Übertragungsleitung Rutzwerk—Zirl Bliek auf die Stadt Innsbruck und die nördlichen Kalkalpen Abb. 2. Baustelle an der südlichen mit Betonmischanlage, Steinbrccher, Fördergerüsten, Barackenlager auf der Mulde hinter der Felsbarre Sperrmauer des Spullersees dem sogenannten „Grapsboden" usw. Der Spulleraee liegt in mit dem Fördergerüst Abb. 3. Die Baustelle auf Spullers im Winter 1921—1922 Rechts der zugefrorene und tief verschneite Spullersee, links davon die Steinbrecheranlage. In der Mitte des Bildes die Bergstation der Seilsi-liwebebahn". Danöfen— Spullers. Links im Vordergrunde das Arbeiterlager auf dem „Grapboden". Der spitze Berg in der Mitte ist das „Blattnitzer Joch". Abb. 4. Beginn der Montage der Druckrohrleitung des Spullerseewerkes Ende September 1922 durch Verlegung der drei Krümmerrohre auf Festpunkt V Die gesamte Druckrohrleitung, zwei Strange von je 1400 m Gesamtlange mit einem Gesamto-ewicht von 1400 t, ist bereits angeliefert. Die einzelnen Rohre von je 8 m Lange sind mittels Wassergas überlappt jeschweifit und werden untereinander durch Muffennietung verbunden. (In den sieben Fixpunkten werden schon jetzt die Krflmmer für den Vollausbau der Rohrleitung mit dr^i Rohrstrangen versetzt) Abb. 6. Eiserner Gitterturm für die 55.000 VoltFreileitung über den Arlbergpafi ArlbergstraBe Hosp-z St. Christoph Abb. 7. Bliek auf das BaugelSnde des Spullerseekraftwerkes vom Süden gegen den Hang des Dürrenberges"(mit der Rohrleitungstrasse) und gegen den Spreubach (rechts; derzeitiger Abflufi des Spullersees) In'der Mitte des Bildes die Stelle, an der die Rohrleitung die Arlbergbahn unterfahrt, unterhalb davon das Krafthausim Bau. Rechts vom Krafthaus die bereits fertigen Werksleiter- und Personalwohngebaude. Der vom oberen Ende der Rohrleitung (WasserschloB) in nördlicher Richtung zum Spullersee führende 1850 m lange Druckstollen ist zur Ganze aufgefahren, mit der wasserdichten Auskleidung wird demnachst begonnen Abb. 9. Fahrleitungsausrüstung in der Station Kematèn; durchwegs auf Eisenmasten mit Querjochen montiert Kleineisenindustrie Alte Büchsenmacherwerkstatte in Ferlach Genossenschaftswerkstatte in Fulpmes: Fall-, Luftfeder- und Branleyhammer Alte Schmiede in Fulpmes Waidhofen an der Ybbs Fachschule, LehrwerkstStte für Kleineisenindustrie, Waidhofen an der Ybbs Verfallenes Hammerwerk in St. Georgen am Reit, Niederösterreich Bergbau Eisenerz, Erzberg Braunkohlenbergwerk in Zillingdorf, Tagbau Die Elektrisierung der Bundesbahnen Nach dem Stande der Arbeiten kann damit gerechnet werden daB die erste Lokomotive Mitte 1923 zur Ablieferung gelangen wird' 4. Talschnellzugslokomotiven für Strecken mit maBfcen Steigungen mit der Achsanordnung IDI oder IB-f-BI mit einer Dauerleistung von rund 1800 PS bei der Normalgeschwindigkeit von öO&m ,n der Stunde und mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km m der Stunde. Fünf solche Lokomotiven gelangen demnachst in Bestellung. * Die Einführung des elektrischen Betriebes macht entsprechend weitgehendeVorsorgen für die Einrichtung des Zugförderungsdienstes dann aber auch für die Instandhaltung der elektrischen Lokomotiven notwendig. Für die Strecken westlich von Innsbruck ist der Bau zweier Zugförderungsanlagen, und zwar in Innsbruck-Westbannhof und in Bludenz notwendig. Der Zugförderungsdienst wird im groBen ganzen derart eingerichtet sein, daB Innsbruck den Schnell-, Personen- und Güterzugsdienst bis Landeck, Bludenz hingegen diesen Dienst von Bludenz bis Landeck und spaterhin von Bludenz bis Bregenz beziehungsweise bis Buchs übernehmen soll. Aus der Anzahl und der Bauart der in den Zugförderungsanlagen zu beheimatenden Lokomotiven ergab sich die GröBe der Lokomotivschuppen derart, daB nach Einrechnung einer entsprechenden Reserve sowohl der Lokomotivschuppen in Innsbruck als auch der in Bludenz 18 Lokomotivstande je zu 25 m Lange auf sechs Geleise verfeilt, erhalt. Da die Lange eines Standes für die voriaufig in Betracht kommenden Lokomotivbauarten nur 13 bis 22 m betragt, so lassen sich in jedem der Lokomotivschuppen 25 bis 28 Lokomotiven unterbringen. Bei der Anordnung der Zugförderungsanlagen wurde von dem Grundsatze ausgegangen, daB bei der Einstellung in den Schuppen sowie bei der Ausfahrt aus demselben tunlichst wenig Verschiebungen notwendig sein sollen. Aus diesem Grunde wurden Lokomotivschuppen mit rechteckigem GrundriB gewahlt, die von beiden Seiten befahren werden können, damit bei örtlichen Störungen nicht die ganze Anlage stillgelegt wird. s Die Lokomotivschuppen sind fflnfschiffig und enthalten je sechs Geleise, durchwegs mit je 60 m langen Arbeitsgruben. Der in Innsbruck seit Herbst vorigen jahres in Bau befindliche Schuppen ist bereits unter Dach und soll zur Zeit der Anlieferung der ersten elektrischen Lokomotiven fertig gestellt sein. 465 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Um der für einen geordneten und wirtschaftlichen elektrischen Betrieb ganz besonders wichtigen Instandhaltung der Lokomotiven vollauf GenOge leisten zu können, wird in Innsbruck-Westbahnhof und in Bludenz den Zugförderungsanlagen je eine mit den erforderlichen Hebevorrichtungen und Werkzeugmaschinen ausgestattete Nebenwerkstatte angegliedert, in der alle im regelmSBigen Dienste vorkommenden laufenden Instandhaltungsarbeiten an den elektrischen Lokomotiven durchgeführt werden können. Die groBen Instandhaltungsarbeiten sollen hingegen grundsatzlich in der mit allen Mitteln für solche Hauptreparaturen auszugestaltenden Hauptwerkstütte in Linz erfolgen. Was die Elektrisierung des Netzteiles Salzburg— Wörgl, Schwarzach-St. Veit—Villach anbetrifft, so war es hier — nicht zuletzt zwecks Vermeidung einer Zersplitterung der für die Elektrisierung zur Verfügung stehenden beschrSnkten Geldmittel — im allgemeinen bisher nicht möglich, über die Bauvorbereitungsarbeiten hinauszukommen. Immerhin haben diese Arbeiten beim Stubachund Mallni tzkraftwerk schon einen solchen Umfang angenommen, daB eine kurze Beschreibung auch dieser Werke angebracht erscheint Das Stubachwerk, das in elektrischer Verkettung mit dem Mallnitzwerk dazu bestimmt ist, die elektrische Energie für den Betrieb der Strecken Salzburg—Wörgl und Schwarzach-St. Veit— Villach zu liefern, stellt die oberste Stufe in einer überaus groBzügigen, technisch und wasserwirtschaftlich wohldurchdachten Ausnutzung der Wasserkrafte des bei Uttendorf in das Salzachtal einmündenden Stubachtales dar. Diese Anlage, die die zwischen dem Tauernmoosboden und dem Enzingerboden liegende Steilstufe ausnützt ist — wie das Spullerseewerk — ein ausgesprochenes Speicher- und Spitzendeckungswerk. Der Inhalt des auf dem Tauernmoosboden durch Errichtung einer 28 t» hohen Sperrmauer zu schaftenden Speicherbeckens wird rund 14,000.000 m* betragen, das mittlere Gefalle 510 tn. Die Jahresdurchschnittsleistung betragt 5800 PS, die volle Ausbauleistung 40.000 PS. lm ersten Ausbau sollen vier Maschinensatze zu 8000 PS zur Aufstellung gelangen. Seit der Mitte Mai 1920 erfolgten Inangriffnahme der Arbeiten wurden bisher bloB vorbereitende Herstellungen (StraBen- und Wegbauten, Unterkünfte, Magazine, Werkstatten usw.) ausgeführt, dagegen mit dem Bau der eigentlichen Anlageteile noch nicht begonnen. Zur Beschaffung der für Bauzwecke benötigten elektrischen Energie wird ein am Grünsee zu errichtendes Hilfskraftwerk mit 466 Die Elektrisierung der Bundesbahnen PS dienCn» d-e„ AusfOhrung schon'weit Das Kraftwerk an der Mallnitz bei Obervellach ist eine 2^^»; einem Nutzgefa-Ue von rund 300 Tüie 23Z ange Oberwasserführung wird aus einem Freispiegelsto len för Jï! Le.stungsfahigkeit von 45 bis 5 m* in der ^S^^^ emem WasserschloB fQr 5000 m» Inhalt zum AusgleicToer «gnchen zu Soo ?f WanAkUfnf n" endet ES W6rden vier MaschrnenSen zu 5000 PS zur Aufstellung gelangen. «"".enen Die Bauarbeiten sind im Oktober 1920 an die BaiiniitAm.h Kraus <& Co Gesellschaft m. b. H. übertragen worden. Auch beim Mallnitzwerk konnten die eigentlichen Bauarbeiten - nich zuletzt wegen der Unmöglichkeit der BereitstelIunT der ^erhchen Geldmittel - nur in eingeschranktem Mafif gefördert auch konnte-au6er den umfangreichen Bauinstallationen - auch hier schon em nicht geringer Teil der Bauarbeiten «Stat werden. Das Wehrwarterhaus ist fertigirestellt • d7vlvf Hauptatollens erfolgt von vier AngriffsSen ' m be^Cdem ESSiïSLsind rund 800/0 der o~J^ j /?mnE;nla.uf ist der Aushub für die Entsandungsanlage vollendet " ndl^~ Umf3S— - Arbeit. i £££ im GaAnge.AUSlaUf *" J!*" ^ der AuSbrUch des Wasserschlosses und Kellerrushub1^ ïf* d*m «rafthaus wurde der FundamentSnÏÏT dPr ii «te Hausergruppe vollendet und die Aufmauerung der Umfassungsmauern bis zu FuBbodenhöhe aus- Irdni^t8 ^SS^^K^^^'^^^Hiftii Stainach*n gA~ ang'Puchheim betrifft. sind dort die Arbeiten tLtéttS^i^T^ Steeg der^1z!ta" ï o ^'a (Aufstellung zweier neuer 4000 PS-Maschinenletngusw)Bamnstromlieterung,Verlegung einer zweiten DrucSpahT* }, V0Uen Gange und auch die Herstellung der Fahrleitungsanlage an der die Siemens - Sehuekert -Werke d e bet^lSrUn!°" EIektrizitategesellsehaft und die Brown-Boveri-Werke beteiligt s,nd,1St so weit vorgeschritten, daB - die rechtzeitige Fert> 467 Die Elektrisierung der Bundesbahnen stellung der Lokomotiven vorausgesetzt — die Aufnahme des Probebetriebes Mitte 1923 möglich sein dürfte. GewissermaBen als Vorlaufer der Elektrisierung kann man die versuchsweise Beschaffung von vier Akkumulatorentriebwagenzügen betrachten, die — unabhangig von einer Oberleitung — dazu bestimmt sind, noch vor einer weitausgreifenden Elektrisierung der Bundesbahnen, in bescheidenem Umfange und in den diesem Verkehrsmittel gezogenen technischen und wirtschaftlichen Grenzen, die Bedürfnisse des kleinen Lokalverkehres, hauptsachlich des Arbeiterund Schülerverkehres in der unmittelbaren Umgebung mittelgroBer Stadte, besser als derzeit zu befriedigen. Gleichzeitig wird durch die Indienststellung dieser Züge eine gewisse Kohlenersparnis erzielt werden, indem die zum Betriebe notwendige elektrische Energie aus Wasserkraftwerken entnommen wird. Zwei dieser Akkumulatorentriebwagenzüge stehen seit Mitte 1921 auf den Strecken Salzburg— Golling, beziehungsweise Salzburg—StraBwalchen, der dritte auf den Strecken Linz—Wels, beziehungsweise Linz—St. Valentin, seit September dieses Jahres in regelmaBigem Dienst. (Der vierte — ebenfalls für die zuletzt genannten Strecken bestimmt — wird Ende dieses lahres in Verkehr gesetzt werden.) Die Speichertriebwagenzüge haben den an sie gestellten Anforderungen in verkehrstechnischer Beziehung voll entsprochen und auch die Wirtschaftlichkeit des Betriebes ist befriedigend. Dank der hohen Entwicklung des Ingenieurwesens und der Industrie österreichs ist es möglich gewesen, nahezu alle Arbeiten für die Elektrisierung der österreichischen Bundesbahnen und den Ausbau der hiezu erforderlichen Wasserkrafte an heimische Unternehmungen zu übertragen, ein Umstand, der der Leistungsfahigkeit österreichs auf diesem Gebiete das beste Zeugnis ausstellt. An den Arbeiten und Lieferungen für die Elektrisierung der österreichischen Bundesbahnen sind in hervorragender Weise folgende Unternehmungen beteiiigt: Bauunternehmung Innerebner & Mayer, Innsbruck (baulicher Teil des Spullerseewerkes und der Ausgestaltung des Rutzwerkes); Bauunternehmung Gebrüder Redlich & Berger (baulicher Teil des Stubachwerkes); Bauunternehmung Franz Holenia & Co., Ingenieure Mayreder, Kraus & Co., G. m. b. H. (baulicher Teil des Mallnitzwerkes); Bauunternehmung Ing. A. Spritzer, Innsbruck (baulicher Teil der Unterwerke Zirl und Roppen); Bauunternehmung Ing. A. Korger, Innsbruck (Erdarbeiten und Fundierungsarbeiten für dieZugförderungsanlage Innsbruck-Westbahnhof); Leobersdorfer Maschinenfabrik A.-G. (Turbines 468 Die Elektrisierung der Bundesbahnen für das Spullerseewerk); Voith-Werke, St. Pölten (Turbinen für das Rutzwerk, für das Kraftwerk Steeg und für die Hilfskraftanlage am GrünseeabfluB); Österreichische Siemens-Schuckert-Werke, Wien (vollstandige elektrische Ausrüstung des Spullerseekraftwerkes samt Unterwerk Danöfen und des Kraftwerkes Steeg, Ubertragungsleitungen, elektrische E-LokofflDt.ven,Telegraphen-undTelephonkabelusw.); A.E G—Union Elektrizitatsgesellschaft, Wien (elektrischer und maschineller Teil der Ausgestaltung des Rutzwerkes, Obertragungs-und Fahrleitungsanlagen, elektrische I C I-Lokomotiven usw.); Österreichische Brown-BoveriWerke A.-G., Wien (Fahrleitungsanlagen, elektrische IC + CI-Lokomotiven usw.); „Elin«, Aktiengesellschaft für elektrische Industrie Wien (vollstandige elektrische Ausrüstung der Unterwerke Zirl, Roppen und Fhrsch); Feiten & Guilleaume, Wien; Kabelfabriks- und Drahtindustrie-AktiengeselIschaft, Wien (Telegraphen- und Telephonkabel, Fahrleitungsdrahte usw.); Wiener Lokomotivfabriks-Aktiengesellschaft, Wien; Lokomotivfabrik der Staatseisenbahn-Gesellschaft, Wien (mechanischer Teil der elektrischen IC + CI, beziehungsweise IC .-Lokomotiven); Lokomotivfabrik Kraus & Co., Linz (mechanischer Teil der elektrischen E-Lokomotiven, Druckrohrleitung für das Rutzwerk usw) sowie eine groBe Reihe von Unterlieferern der vorgenannten Firmen. Die geschweiBte Druckrohrleitung für das Spullerseewerk liefert die Firma Thyssen & Co. in Mühlheim a. d. Ruhr, die Porzellanisolatoren für die Leitungsanlagen werden von den bekannten Fabriken Deutschlands bezogen. Die im vorstehenden skizzierten Arbeiten für die Elektrisierung eines Teiles des Netzes der österreichischen Bundesbahnen hatten bei der Eigenart und teilweisen Neuheit der zu lösenden technischen Aufgaben schon unter normalen Verhaltnissen ganz auBerordentliche Anforderungen an die wirtschaftliche und technische Leistungsfahigkeit Osterreichs gestellt. Um wieviel mehr gilt dies bei der heutigen wirtschaftlichen Lage und bei den Hindernissen und Schwierigkeiten die sich produktiver Tatigkeit derzeit auf Schritt und Tritt entgegenstellen Es ist zu erwarten, daB die jetzt im Gange befindliche, so verheffiwgsvoll eingeleitete Aktion zur Sanierung des österreichischen Staatshaushaltes, wenn sie auch zunachst vielleicht eine vorübergehende Einschrankung der für die Investitionsbauten verfügbaren Mittel m.t sich bringen sollte, die im höchsten Grade produktiven Arbeiten zum Ausbau unserer Wasserkrafte und zur Elektrisierune unserer Eisenbahnen günstig beeinflussen werde. Die im vorstehenden kurz geschilderten Arbeiten sind bereits so weit gediehen daB ihre 469 Die Elektrisierung der Bundesbahnen Drosselung nicht nur einem Hauptziel und -zweck dieser Arbeiten, der Ersparung von aus dem Auslande zu beziehender Kohle, zuwiderlaufen, sondern auch eine nicht zu verantwortende Brachlegung und Entwertung von unter Aufwendung grofier Mittel geschaffener Anlagen mit sich bringen würde. Dazu kommt noch, daB die umfangreichen Bau- und LieferungsauftrSge für die Elektrisierung so weite Kreise in den verschiedensten Industriezweigen gezogen haben, daB eine Einschrankung weitgehende Steigerung der Arbeitslosigkeit zur Folge haben müBte. Es ist daher nicht daran zu zweifeln, daB es gelingen muB, Mittel und Wege zu finden, das begonnene groBe Werk zu einem gedeihlichen Ende zu bringen und damit in hervorragender Weise beizutragen zur Wiederaufrichtung und Qesundung der österreichischen Volkswirtschaft. Heimat O. Kernstock Als schuldbeladen unter lauten Klagen Das erste Paar aus Edens Pforten schritt, Gab ihnen Gott, daB sie nicht ganz verzagen, Ein kleines Stück vom Paradiese mit. Die Heimat, wo den ersten KuB du fühltest, Mit dem die Mutter dich willkommen hieB, Wo du die ersten Kinderspiele spieltest — Die Heimat ist ein Stück vom Paradies. Drum lehrt das Volk, dies edle Kleinod schützenl Ruft laut, daB man's in jeder Hütte hört: Nicht wert ist, eine Heimat zu besitzen, Der sich nicht tapfer um die Heimat wehrt 470 Industrie Gustav WeiB-Wellenstein VI /enn man die gegenwSrtige Lage, die Bedeutung und die Zukunfts" aussichten der österreichischen Industrie darlegen soll, ist es notwendig, wenigstens in knappen Zügen die Situation zu besprechen, in welche die österreichische Industrie durch den Zusammenbruch der alten Monarchie geraten ist Es sei zunachst festgestellt, daB die Industrie des heutigen österreich einerseits auf ein zollgeschütztes Absatzgebiet eines Staatengebildes mit 50,000.000 Einwohner eingestellt war, anderseits die wichtigsten für die Produktion notwendigen Rohstoffe, Betriebsstoffe und Halbfabrikate ohne Transportschwierigkeiten oder irgendwelche staatliche Behinderungen beziehen konnte, da die Bezugsorte innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie lagen. Aus diesem Zusammenhang wurde die österreichische Industrie durch den Zusammenbruch des alten Staates gewaltsam und unvermittelt gerissen. Die österreichische Industrie, die zum gröBten Teil Veredlungsindustrie ist hat nach dem gegenwSrtigen Stande, insolange die Wasserkrafte nicht ausgebaut sind, nur die Deckung von 20°/0 des Brennstoffbedarfës im Inlande, besitzt wohl eine wertvolle Eisenfundstatte, welche im Besitze der Alpinen Montangesellschaft ist, muB aber den zur Verarbeitung der Erze notwendigen Koks von weither beziehen, ausschlieBlich aus dem heutigen Ausland. Ergeben sich hiedurch Schwierigkeiten für die Produktion, so sind dieselben vielleicht noch gröBere für den Absatz. Denn die österreichische Industrie, welche auf ein Absatzgebiet von 50,000.000 Menschen eingestellt war, muB nun für ihre meisten Industrieprodukte in jenen Gebieten Absatz suchen, die heute Ausland geworden sind. Es ergab sich daher unmittelbar nach dem Zusammenbruch die Notwendlgkeit, sich auf diese neue Lage einzustellen, wobei gleichzeitig die Umstellung von der Kriegs- auf die Friedensproduktion durchzuführen war. Hiebei war die österreichische Industrie nicht allein von ihrem Willen und ihrer Tat- 47! Industrie kraft, sondern auch von dem Verhalten der nunmehr Ausland gewordenen Sukzessionsstaaten im weitesten MaBe abhangig. Im Anfange sperrten die Sukzessionsstaaten die Ausfuhr oder legten derselben groBe Hindernisse in den Weg, namentlich was den Bezug der Kohle anbelangte, und so konnte man erst sukzessive die Produktion in Gang setzen, wobei immer noch durch die mittlerweile erfolgte Wahrungstrennung, die Beschaffung der notwendigen Zahlungsmittel für die Rohstoff-, Brennstoff- und Halbfabrikate-Einfuhr Schwierigkeiten bestanden. Anderseits! wurden der Ausfuhr und dem Bestreben, die alten Absatzgebiete zu erhalten, Hindernisse in den Weg gelegt. Um diese Situation in einem Bilde zu veranschaulichen, müBte man sich vorstellen, daB ein Industriestaat der amerikanischen Union plötzlich zu staatlicher Selbstandigkeit verurteilt, von seinen Bezugsquellen, vom Zugang zum Meere abgesperrt, anderseits diejenigen Gebiete, in welche bisher der Absatz der Industrie ging, hohe Zollschranken errichten und über diesel ben hinaus noch Einfuhrverbote erlassen würden. So war die Lage der österreichischen Industrie nach dem Zusammenbruche. Sie muBte sich also erst die Bezugsmöglichkeiten für die notwendigen Rohstoffe und Halbfabrikate beschaffen, in manchen Fallen Halbfabrikate unter schwierigen Verhaltnissen erzeugen, die sie früher aus dem Auslande bezog, weil der Auslandsbezug unmöglich geworden war, auf der anderen Seite einen zahen Kampf um die Erhaltung der bisherigen, nunmehr aber auslandischen Absatzgebiete führen und ihr Absatzgebiet hauptsachlich in den neu entstandenen oder vergröBerten Oststaaten zu erweitern suchen. Hiebei muB daran erinnert werden, daB österreich, wie gesagt, ein Land der Finalindustrie ist und beim Bezuge wichtiger Rohstoffe durch seine geographische Lage eventuell zum Bezuge zu teuren Preisen gezwungen ist, wodurch der Vorteil der geographischen Lage für den Absatz zum gröBten Teil aufgehoben wird, daB die Konkurrenzfahigkeit österreichs auf diesen Neuauslandsmarkten, auf welchen dieselbe früher durch gemeinsame Zollschranken gesichert war, mit Staaten erkampft werden muBte, welche in bezug auf den Einkauf der zur Produktion notwendigen Rohstoffe, wenn nicht gunstiger, so doch mindestens ebenso günstig daran waren, wie österreich. Die Wettbewerbfahigkeit konnte nur, abgesehen von dem Umstande, daB die österreichische Industrie den qualitativen Bedarf dieser neuen Auslandsstaaten besser kannte wie die Konkurrenten, ausschlieBlich durch eine VerbiHigung,der Produktion hergestellt werden. DaB diese Notwendigkeit der Unterbietung der auslandischen Konkurrenz zunachst nicht deutlich in die Erscheinung trat, war eine 472 Industrie Folge der fortschreitenden Geldentwertung in österreich, welcher Geldentwertung die Steigerung der Löhne nicht immer unmittelbar folgte, wie auch die zwischen dem Einkauf der Rohmaterialien und dem Verkauf der Fertigprodukte liegende Spanne Zeit und die dazwischen liegende Geldentwertung wiederum den Schein einer Verbiltigung der Produktionskosten brachte. So konnten mit kurzen Unterbrechungen bis zum Herbst des Jahres 1922 die österreichische Industrie einen groBen Teil ihrer alten Absatzgebiete, insoferne sie durch staatliche Eingriffe der Sukzessionsstaaten nicht daran behindert war, behaupten und den Export nach den Oststaaten ausdehnen. Doch mit dem Hochsommer 1922 begann eine Veranderung der Lage. Unter dem Einflusse der fortschreitenden Geldentwertung entstand im Zusammenhange mit anderen unglficklichen StaatsmaBnahmen eine derartige Verteuerung der Lebenshaltung, daB derselben Lohnsteigerungen folgten, durch welche das Lohnniveau der konkurrenzierenden lndustriestaaten der Nachbarschaft wesentlich überschritten wurde. Im Zusammenhang damit erfolgten auch Hinaufsetzungen der Eisenbahn- und Posttarife. Diese beiden Umstande führten dazu, daB die Produktionskosten der österreichischen Industrie die des Auslandes vorübergehend überschritten und sofort begann der Absatz der österreichischen Industrie zu stocken. Zunachst wurden noch die alten Bestellungen aufgearbeitet und nun trat ein neuer Umstand ein: Die Stabilisierung der österreichischen Krone. Hiedurch vollzog sich zunachst automatisch die Angleichung der österreichischen Inlandspreise an die Auslandspreise, allerdings auch zum Vorteil der österreichischen Produktion, weil das Oberspringen der Lohnparitat der Nachbarstaaten sich rachte und langsam, wenn auch bescheidene Lohnreduktionen zum Ausgleich durchgeführt werden konnten. Die scheinbare Exportförderung des entwerteten Geldes hörte allerdings auf. Der Schleier, der über all unseren Verhaltnissen durch die Inflation und die fortschreitende Geldentwertung gezogen war, wurde mit der Stabilisierung der Krone und der Einstellung der Notenpresse einfach zerrissen, wir muBten den Verhaltnissen gerade ins Gesicht sehen und nunmehr ohne Tauschung unsere zukünftige Lage erkennen. Die ist nun die, daB die österreichische Industrie, wenn sie lebensfahig sein soll und ihre Absatzgebiete behaupten will, eigentlich etwas billiger wie die Konkurrenzstaaten produzieren muB, bei gleichen Produktionskosten wird sie die Konkurrenzfahigkeit nur in jenen Fallen aufrecht erhalten können, wo sie dank der glücklichen geographischen Lage und dadurch, daB sie den Exporthandel mit dem Transithandel verbinden 473 Industrie kann, die Kosten des Exporthandels etwas ermaBigt. Immerhin muB das Losungswort der österreichischen Industrie, von welchem ihre Existenzmöglichkeit abhangt, billige Produktion sein. Gleichzeitig mit den vorerwahnten, in unseren eigenen Verhaltnissen begründeten UmstSnden treten zwei weitere Ereignisse ein, durch welche die österreichische Industrie stark bedrangt wurde, tier Marksturz und die wirtschaftliche Krisis in der Tschecho-Slowakei Die Folgen des Marksturzes, die sich ja in der ganzen Welt fühlbar machen, bestanden darin, daB die österreichische Industrie nicht bloB auf den Auslandsmarkten, sondern auf dem Inlandsmarkte durch deutsche Konkurrenz bedrangt wurde. Diese abnormen Verhaitnisse müssen aber aufhören, die Produktionskosten der deutschen Industrie werden sich selbst bei fortschreitender Geldentwertung doch schlieBlich dem Geldwerte anpassen und hiedurch wird auch das Dumping der deutschen Industrie aufhören. Allerdings steht dies mit der Gestaltung der weltpolitischen Verhaitnisse im innigen Zusammenhang. Die tschecho-slowakische Wirtschaftskrise hat insoferne einen Druck auf die österreichische Industrie ausgeübt, als die tschecho-slowakische Industrie, die im Inlande nicht Absatz finden konnte, selbst zu starken Verlustpreisen Waren auf den österreichischen Markt wart. Dieser Ausverkauf hat vorübergehend die österreichische Industrie stark bedrangt und sie leidet noch unter dessen Nachwirkungen. Aber immerhin muB damit gerechnet werden, daB diese Notverkaufe ihr Ende finden und die neu hergestellten Produkte der tschechischen Industrie werden bei Kalkulierung der richtigen Produktionskosten auf die Dauer weder auf dem inlandischen noch dem auslandischen Markte die österreichische Konkurrenz unterbieten können, wenn letzterer die Möglichkeit einer gesunden Produktionskostenpolitik geboten wird. Es entsteht nun die Frage, ob die österreichische Industrie in der Lage sein wird, so billig zu produzieren, als zur Erhaltung ihrer Konkurrenzfahigkeit notwendig ist Hiebei muB von vorneherein hervorgehoben werden, daB unter Billigkeit nicht absolute, sondern relative Billigkeit zu verstehen ist. Die österreichische Industrie ist, wie gesagt, eine Finalindustrie und gerade bei -einer solchen kommen zum Teil gewisse Vorzüge zum Ausdruck, welche in der Qualitat der Produktion gelegen sind. Dies kommt namentlich bei allen jenen Produkten in Betracht, bei welchen österreichischer Geschmack eine ausschlaggebende Rolle spielt. Aber immerhin muB gefragt werden, ob eine Herabsetzung der Produktionskosten überhaupt möglich ist Dies ist allerdings der Fall. Erstens durch MaB- 474 Industrie nahmen, die von Seite der Industrie und der an der Iudustrie interessierten Arbeiterschaft getroffen werden können, zweitens durch entsprechende Berücksichtigung der Produktion bei der inlandischen Steuer- und Tarifpolitik, drittens durch Schaffung einer günstigen, zumindesten normalen handelspolitischen Situation mit den Nachbarstaaten. Wahrend also die Herstellung der beiden ersten Voraussetzungen von österreich selbst abhangig ist, ist die dritte Voraussetzung nicht von österreich allein, sondern auch von dem Verhalten der Nachbarstaaten abhangig. Die österreichische Industrie kann zunachst, was die Tatigkeit des Unternehmers anbelangt, durch entsprechende technische und kaufmannische Organisation die Produktionskosten ermaBigen. Die Intelligenz und die Tatkraft der österreichischen Unternehmer wird hier sicher das möglichste tun. Allerdings setzt die Intensivierung der industriellen Produktion zunachst gewisse Investitionen zur Verbesserung des Produktionsapparates voraus. Die Inflation hat nun das Kapital der österreichischen Industrie derart aufgezehrt, daB sie selbst die Mittel zur Durchführung dieser Investitionen nicht aufbringen kann, hiezu wird die Beteiligung auslandischen Kapitales notwendig sein. Diese wird jedoch nur erfolgen, wenn die Rentabilitat gesichert ist und gewisse staatliche MaBnahmen getroffen werden, welche das Einströmen auslandischen Kapitales erleichtern und nicht gar, wie dies jetzt zum Beispiele der Fall ist, verhindern. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Auch der in vielen Fallen notwendigen Betriebskonzentration wird durch gewisse steuerrechtliche MaBnahmen entgegengearbeitet, welche beseitigt werden müssen. Die Arbeiterschaft wird sich dazu bequemen müssen, zu billigeren Lohnbedingungen als die gegenwartigen zu arbeiten. Wenn entgegengehalten wird, daB dies ohne Herabsetzung der Lebensmittelpreise nicht möglich sein wird, letztere jedoch mit .Rücksicht darauf, daB österreich die Nahrungsmittel aus dem Auslande beziehen muB, nicht in entsprechendem MaBe zu erwarten ist und daher eine Lohnherabsetzung nur in bescheidenem MaBe möglich sei, ist dies nicht richtig. Zunachst besteht noch immer ein Überkonsum der arbeitenden Bevölkerung in gewissen Luxusartikeln, auf welchen die Bevölkerung eines verarmten Landes unbedingt verzichten muB. Ferner ist die Arbeitsleistung der Arbeiter gegenüber der Friedensleistung gesunken, nicht bloB wegen der Reduktion der Arbeitszeit, sondern weil die Stundenleistung des Arbeiters in manchen Betriebszweigen um 20%, in manchen sogar um 30% gegenüber der Friedensleistung zurück- 4*5 Industrie geblieben ist. Nachdem der gröBte Teil der industriellen Arbeitsleistung sich im Akkord vollzieht, ware eine Verbilligung des Lohnes auch dadurch zu erzielen, daB der Arbeiter die Arbeitsleistung erhöht, wodurch sein Einkommen nicht sinken, die Produktionskosten aber eine wesentliche ErmSBigung erfahren würden. Ebenso wie die Unternehmer an die Intensivierung der Produktion schreiten müssen, muB es auch die Arbeiterschaft. Der Staat müBte in seiner Steuerpolitik daran festhalten, daB Steuern nur vom Reineinkommen und vom Konsum eingehoben werden, niemals aber in einer Belastung der Produktion bestehen dürfen. Gegen diesen Grundsatz verstöBt die österreichische Steuerpolitik, indem sie eine Anzahl von Steuern einhebt, welche die Produktion und nicht das Einkommen oder den Konsum belasten, wie zum Beispiele eine 4%ige Lohnabgabe. Ferner ist auch die Besteuerung der Aktiengesellschaften eine wirtschaftlich vollkommen nnrichtige, indem im Effekte 70 bis 80% des Einkommens der Aktiengesellschaften weggesteuert werden. (Nach der Technik der Steuerveranlagung verwandelt sich namlich die nominelle Steuer von 50% in eine solche von 70 bis 80%.) Da das auslandische Kapital in österreich nur in der Form der Beteiligung an Aktiengesellschaften zur Mitwirkung bereit sein wird, muB diese Besteuerungsart aufgehoben werden. Die österreichische Industrie leidet auch unter den für unsere Verhaitnisse übermaBig hohen Post- und Telegraphengebflhren, die mit der schlechten Situation dieser staatlichen Betriebe begründet werden. Die schlechte Situation ist aber die Folge einer unkaufmannischen Verwaltung. Wenn hier, was zu erhoffen ist, Wandel geschaffen wird, werden diese Betriebe auch bei Tarifreduktionen sicher kein Betriebsdefizit, vielleicht sogar Ertrage aufweisen. Hiebei kann nicht auBer acht gelassen werden, daB die unsinnige, buchstabliche Auslegung des Achtstundentaggesetzes auf die Verkehrsbetriebe, wobei die Arbeitsbereitschaft mit Arbeitsleistung verwechselt wird, mit eine der Ursachen der ungünstigen, finanziellen Verhaitnisse der österreichischen Staatsbahnen bildet und ohne Anderung dieser Bestimmungen überhaupt an eine Besserung der finanziellen Situation der staatlichen Verkehrsunternehmungen nicht zu denken ist, wie denn überhaupt die staatliche Verwaltung vereinfacht werden muB, weil der österreichische Staat nicht in der Lage ist, einen so groBen Beamtenapparat, wie ihn heute die Verwaltung des Bundesstaates, der Bundeslander und der Bundesgemeinden erfordert, zu erhalten und die Kosten dieser un- 476 Industrie produktiv tatigen Personen indirekt die österreichische Produktion belasten. Endlich aber müBte auch eine vernünftige Handelspolitik von Seite der Nachbarstaaten ermöglicht werden, der freie Verkehr wieder eintreten und nur normale Zollsatze den Verkehr regeln. Unter der Absperrung leiden heute die Sukzessionsstaaten nicht minder wie österreich und es ist zu hoffen, daB hier wiederum die wirtschaftliche Vernunft einzieht. Im Zusammenhange damit müBten auch die Hemmungen im Devisenverkehre aufhören, die in vielen Fallen die Unmöglichkeit der Warenausfuhr nach sich ziehen. Wenn das Urteil fiber die heutige Situation zusammengefaBt werden soll, so muB gesagt werden, daB die österreichische Industrie, dank ihrer geographischen Lage, der Intelligenz der Unternehmerschaft, der bei gutem Willen möglichen Leistungsfahigkeit der Arbeiterschaft und bei entsprechender staatlicher Verwaltung, in der Zukunft unbedingt konkurrenzfahig ware und ihre alten Absatzgebiete erhalten könnte, wenn gleichzeitig jene Hindernisse beseitigt werden, die ja heute dem Verkehr mit den Sukzessionsstaaten entgegenstehen. Hiebei brauchte es sich selbstverstandlich um kein besonderes handelspolitisches Vorzugsrecht oder etwa gar um eine Zollgemeinschaft mit den Sukzessionsstaaten zu handeln, sondern lediglich um ein handelspolitisches Verhaltnis, wie es in normalen Zeiten zwischen Nachbarstaaten besteht, das heiBt ein Regime der Verkehrsfreiheit bei handelsvertraglich gebundenen Zöllen. Es sind hier mit vollkommener Offenheit die allgemeinen Verhaitnisse der österreichischen Industrie dargelegt. Es erübrigt sich noch zu konstatieren, welche Industriezweige in österreich bestehen: Zunachst besitzen wir eine groBe Eisenfundstatte in Steiermark und im Zusammenhang hiemit eine groBe Eisen verarbeitende Industrie im weitesten Sinne des Wortes. Darunter genieBt zum Beispiel die Feinstahlindustrie Obersteiermarks und die Sensen- und Sichelindustrie, die in den Alpenlandern, vor allem in Oberösterreich ihren Sitz hat, einen Weltruf. Aber auch samtliche übrigen Zweige der Maschinenindustrie sind in österreich auBerordentlich entwickelt, ebenso eine Metallwarenindustrie, wobei insbesondere auf die sogenannten KruppWerke hingewiesen wird, die ebenfalls einen Weltruf besitzen. Eine technisch und finanziell so gut fundierte Industrie wird gewiB in der Lage sein, sich durch Spezialisierung noch weiter den neuen Verhaltnissen anzupassen. Dies ist um so mehr zu erhoffen, wenn durch den 477 Industrie Ausbau der Wasserkrafte in österreich eine weitere Verbilligung der Produktionskosten möglich sein wird. In Steiermark ist weiter ein Magnesitvorkommen, in welchem österreich fast ein Weltmonopol besitzt. Eine Elektrizitatsindustrie zeigt heute schon eine groBe Leistungsfahigkeit, kann übrigens in dem Ausbau der Wasserkrafte nicht nur entsprechende Beschaftigung, sondern eine Grundlage für weiteren Ausbau und Spezialisierung finden. Eine technisch vorzüglich eingerichtete Papierindustrie genieBt den Vorzug, in ihrem Rohstoffbezug vom Ausland nicht abhangig zu sein, einen Vorzug, den sie mit den holzverarbeitenden Industrien teilt Eine leistungsfahige Lederindustrie, welche sich allerdings nur auf die Erzeugung bestimmter Qualitaten beschrankt hat, aber darum um so sicherer konkurrenzfahig sein wird, eine wahrend des Krieges wesentlich ausgebreitete Schuhindustrie, eine ebenfalls wahrend des Krieges stark entwickelte Automobilindustrie, unter welcher sich ein Etablissement befindet, das auf eine groBe Serienerzeugung eingerichtet ist, eine leistungsfahige Seifenindustrie, eine Schokoladen- und Kanditenindustrie, deren Erzeugnisse schon heute auf dem internationalen Markte sehr geschatzt sind, eine entwicklungsfahige Glasindustrie bilden neben zahlreichen anderen Spezialindustrien den Bestand der österreichischen Industrie. Nicht unerwahnt darf bleiben, daB in Oberösterreich groBe Caolinfunde gemacht wurden, deren Ausbeutung mit groBem Kapitalsaufwand und Energie nunmehr in Angriff genommen wird und welche die Grundlage für eine im Entstehen begriffene Porzellanindustrie bilden sollen. Hier sind jedoch alle Spezialitaten nicht genannt worden, in welchen die österreichische Geschmacksindustrie heute schon einen Weltruf genieBt Es ist dies Kleider- und Waschekonfektion, die Ledergalanterie und Luxuswarenindustrie. Man braucht nur durch die StraBen Wiens oder eine der Hauptstadte der Bundeslander zu gehen und in den Schaufenstern die Erzeugnisse dieser Geschmacksindustrie zu sehen und wird sofort die Oberzeugung gewinnen, daB hier in dem seltenen Geschmack der Bevölkerung und dem groBen Ausführungsgeschmack der Arbeiterschaft ein Schatz gelegen ist, der nicht bloB sorgfaitig gehütet, sondern in vielen Fallen erst gehoben werden muB. So kann man wohl behaupten, daB die österreichische Industrie, auf deren Entwicklung die Zukunft, der Bestand des österreichischen Staates aufgebaut sein wird, leistungsfahig ist und in Zukunft es noch weit mehr sein wird. Allerdings — und dies ist das wichtigste — 478 Kleineisenindustrle muB durch eine Sanierung des Budgets und die Kredithilfe des Völkerbundes die Grundlage zur Stabilisierung unserer Wahrung gegeben sein. Denn ohne Wahrungsstabilisierung wird die österreichische Produktion ein alealorisches Geschaft, die Industrie wird immer zwischen einer Scheinkonjunktur und gefahrlichen Rückschlagen dahinpendeln, so lange nicht eine Stabilisierung des Geldwertes den Boden, auf welchem die Industrie aufgebaut sein muB, von allen Giften der Inflation befreit. Kleineisenindustrie Hugo Scherbaum ll/enn in den nachfolgenden Zeilen die Kleineisenindustrie Deutsch" österreichs geschildert werden soll, so muB zum besseren Verstandnisse der jetzigen Verhaitnisse ein kurzer geschichtlicher Oberbliek der Eisenindustrie im allgemeinen gegeben werden. Den Ausgangspunkt der gesamten Eisenverarbeitung bildete der Reichtum an Eisenerz in Steiermark und Karnten. Der steirische Erzberg bietet geradezu unerschöpfliche Lager an gutem Spateisenstein. In den an Wasserkraften so reichen Taiern von Steiermark, Karnten, Ober- und Niederösterreich entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte' eine stattliche Zahl von Werksanlagen, welche die Gewinnung des Eisens aus den Erzen und die Verbesserung des Roheisens zu Schmiedeeisen und Stahl zum Ziele hatten. Die waldreichen Bergabhange lieferten genügend Holz zur Verkohlung; allenthalben herrschte reges Leben; neben den Radwerken, welche in Schmelzöfen aus den Erzen das Roheisen gewannen, bestanden die Stahl- und Zerrennhammer, die das Roheisen raffinierten. Neben diesen Hammerwerken bestanden weiters zahlreiche Anlagen, die das so gewonnene Eisen umarbeiteten in die mannigfaltigen Werkzeuge und Gebrauchsgegenstande des werktatigen Schaffens. Die Gewinnung von Eisen und Stahl erfolgte in jenen Zeiten auf rein empirischem Wege. In groBen Herdfeuern wurde das Roheisen eingeschmolzen, die so erhaltene Eisenmasse unter Schwanzhammern ausgestreckt, in Stücke geteilt, neuerlich eingeschmolzen, wiederura 479 Kleineisenindustrie ausgestreckt bis das Eisen gut schmiedbar war. Der EinfluB desKohlenstoffgehaltes auf die Eigenschaften des Eisens war unbekannt; Ober diese für die Bearbeitung von Eisen und Stahl so wichtigen Wechselbeziehungen zwischen Kohlenstoffgehalt und der Schmied- und SchwëiBund Hartbarkeit brachte erst die moderne Chemie Aufklarung. Die staunenswerten Erfolge der Naturwissenschaften griffen ein in die praktische Arbeit, die Arbeit des menschlichen Qeistes in der stillen Denkerstube gewann taglich an EinfluB, Theorie und Praxis arbeiteten erfolgreich zusammen und zeitigten die schönsten Erfolge bei den verschiedenartigsten Arbeitsprozessen. Kein Wunder, daB auch die Eisengewinnung und die Verarbeitung dieses Metalles im neunzehnten Jahrhundert Wege einschlugen, die zur vollstandigen Vernichtung der althergebrachten Gewinnungsart des Eisens führen muBten. Auch die Verbesserung der Feuerungsanlagen, die in Form von Flammöfen im Jahre 1784 in England eingeführt wurde, hob die Eisengewinnung. Die Entwicklung der Technik nach Erfindung der Dampfmaschine steilte an die Eisenindustrie immer gröBere Anforderungen; allüberall wurde an deren Vervollkommnung gearbeitet. Den durchschlagendsten Erfolg, der die gesamte technische Welt der damaligen Zeit zum Stauden brachte, errang Heinrich Bessemer durch seinen weltberühmten WindfrischprozeB (1855). Diese neue Verfahrungsart und die sich daran knüpfende groBzügige Ausgestaltung der Walzwerke muBten die althergebrachten Verfahrungsarten vollstandig lahmlegen; insbesonders trug dazu die durch Thomas eingeführte Verbesserung und Erweiterung dieses Prozesses bei, wodurch auch phosphorhaitiges Roheisen rasch raffiniert werden konnte. Die neuen, machtigen Hüttenanlagen, zu denen das GroBkapital die materielle Grundlage und das technische Studium im Verein mit den Naturwissenschaften die geistige Führung steilten, zeitigten die Errungenschaften der Eisen- und Stahlindustrie. Die Tage der Zerrenn- und Streckhammer waren gezahlt; so wie das Radwerk, der kleinere Schmelzofen dem gewaltigen Hochofen weichen muBte, so vernichteten Bessemer- und Thomas-ProzeB im Verein mit den modernen Walzwerken die Hammerwerke für die Eisen- und Stahlgewinnung. Der Verfall vollzog sich in Österreich verhaitnismaBig rasch; im Jahre 1895 waren von den 140 Zerrennhammern des Jahres 1789 nur noch 11 in Betrieb; doch auch die Tage dieser Anlagen waren gezahlt Ein wirtschaftliches Leichenfeld trat an Stelle der früheren Arbeit; ein Hammerwerk nach dem andern muBte gesperrt werden. Heute noch begegnet man bei Wanderungen in den Alpentalern vielfach Ruinen der zerfallenen Hammerwerke. Die damaligen Regierungen 480 Kleineisenindustrie Österreichs hatten nicht das geringste Verstandnis für die Tragweite dieses wirtschaftlichen Trauerspieles. Die Taler der Ybbs, der Erlaf der Enns, der Mur und der Mürz litten schwer unter diesem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Jene Werksbesitzer, welche rechtzeitig erkannten, daB die Zeit der Zerrennhammer abgeschlossen sei und die sich neuen Hammerwerksarbeiten zuwandten, retteten ihre Anlagen vor dem sicheren Ruine. Die Entwicklung des Maschinenbaues brachte es mit sich, daB die Handarbeit bei der Erzeugung von vielen Artikeln vollstandig verdrangt wurde. Die Feilenhauer, die Ahlschmiede viele Messerschmiede, die Nagel-, Ketten-, Striegel- und Pfannenschmiede wurden nahezu ganzlich von der GroBindustrie verdrangt. Wenn trotzdem die durch die GroBindustrie so hart bedrSngte und an eigenen Fehlern schwer leidende Kleineisenindustrie Österreichs nicht zugrunde ging, so liegt dies einerseits in dem auch auf wirtschaftlichem Gebiete sich geltend machenden Beharrungsvermögen das der Kleinindustrie über die schwersten Zeiten hinweghalf, und in dem Umstande, daB mittlerweile auch in Österreich die Ansicht durchdrang, daB der Staat verpflichtet sei, für die Lebensfahigkeit von Gewerbe und Handwerk Vorsorge zu treffen. Der Staat schritt an die Gründung von Fachschulen für einzelne gewerbliche Zweige und die Gewerbegesetzgebung brachte dem Gewerbestande eine breitere und bessere Grundlage zur Entwicklung; das Jahr 1891 bildete durch die Schaffung des staatlichen Gewerbeförderungsdienstes einen Markstein in der Gewerbegeschichte Österreichs. Besonders für die Kleineisenindustrie war die Organisation der Gewerbeförderung vom segensreichsten Einflusse. Neben einzelnen Zeug-, Hacken- und Grobschmieden, die nahezu in allen gröBeren Alpentalern zerstreut heute noch anzutreffen sind besitzen wir in Österreich noch viele Orte, in denen die Kleineisenindustrie seit Jahrhunderten den Haupterwerbszweig bildet so in den Taiern der groBen und kleinen Ybbs und Erlaf, mit den Hauptorten Waidhofen an der Ybbs, Ybbsitz und Scheibbs, der Steyr mit der alten Eisenstadt Steyr, im Stubaitale bei Innsbruck mit dem Hauptorte Fulpmes, im Rosentale in Karnten mit der Ferlacher Waffenindustrie. Die leistungsfahige Sensen- und Sichelindustrie Deutschösterreichs failt als ein Spezialzweig der Stahlindustrie nicht in den Rahmen dieser Abhandlung; erwahnt sei nur, daB diese Werke den guten Ruf ihrer Erzeugnisse bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. Neben den angeführten Kleinindustriebezirken ist naturgemaB auch in Wien eine groBe Anzahl von Meistern im Eisen- und Stahlgewerbe tatig. 31 481 Kleineisenindustrie Die Kleineisenindustrie der niederösterreichischen Eisen wurzen Die Gebiete der althistorischen niederösterreichischen Eisenwurzen umschlieBen die Taler der groBen und kleinen Ybbs und jene der groBen und kleinen Erlaf. Hier herrschte einst das regste Leben, nicht nur in den vier Haupttaiern, sondern auch in den Nebentalern èrklang der kraftvolle Schlag der Eisenhammer, das Roheisen lieferten die Schmelzöfen in Eisenerz und Hieflau; schwere Fuhrwerke brachten die Lasten über die steilen GebirgsstraBen in die lieblichen Taler, die von den smaragdgrünen Wassern der Ybbs und der Erlaf durcheilt werden. Hier waren die Eisenherren oder die schwarzen Grafen zu Hause. Ihre Wohnstatten, die Herrenhauser, geben heute noch deutlich Zeugnis von dem ehemaligen Wohlstande der Hammerwerksbesitzer. Der alte Ybbsturm von Waidhofen an der Ybbs, ein trotziger Zeuge der einstigen Stadtbefestigung, tragt noch die Inschrift: „Ferrum chalybsque urbis nutrimenta" („Eisen und Stahl nahren die Stadt"). Die Eisenherren sind verschwunden, die Werksanlagen sind teils zu Ruinen zerfallen, teils wurden sie umgebaut zu Sagewerken, Holzstoffabriken usw. Im groBen Ybbstale sind neben einem Sensenwerke in Göstling, zwei Sichel- und Gabelwerken in Opponitz, nur noch zwei eisenverarbeitende Werkstatten in Grofi-Hollenstein, wahrend ehedem im ganzen Tale die regsamste Arbeit herrschte. Auch Waidhofen an der Ybbs hat von den Kleinbetrieben viel eingebüBt, ebenso das benachbarte Zeil an der Ybbs. Allerdings schuf die GroBindustrie im Ybbstale bei Waidhofen an der Ybbs machtige Walzwerke und Fabriksanlagen, aber die vielen kleinen Werkstatten mit ihren emsigen Meistern, die der Bergstadt das charakteristische Geprage gaben, sind groBenteils verschwunden. Am besten erhielt sich die Kleineisenindustrie im Markte Ybbsitz im kleinen Ybbstale. Furchtbare Verluste hatte das kleine Erlaftal zu verzeichnen, wahrend im groBen Erlaftale rechtzeitig gröBere Fabriksanlagen entstanden, die sich hauptsachlich mit der Erzeugung von Wagenachsen befaBten. Die Kleinbetriebe sind bis auf wenige eingegangen. Es ist ein unstreitig groBes Verdienst der Handels- und Gewerbekammer in Wien durch zielbewuBte Tat hier helfend eingegriffen zu haben. Im Jahre 1888 wurde durch sie die Kaiser Franz Joseph-Stiftung zur Hebung der niederösterreichischen Kleineisenindustrie gegründet. Diese Stiftung stand vor einer vollstandig neuen volkswirtschaftlichen 482 Kleineisenindustrie Aufgabe, für deren Ausführung keinerlei Vorbild vorhanden war Das Arbeitsprogramm der Stiftung schloB folgende Punkte in sichErziehung eines tüchtig herangebildeten gewerblichen Nachwuchses in einer zu schaftenden Lehrwerkstatte mit nur praktischem UnterrichteAnlegung von Mustersammlungen aller einschlagigen Artikel der Kleineisenindustrie; Einführung des Wanderunterrichtes durch tüchtige Praktiker, welche mit den Fortschritten der modernen Erzeugungsarten vertraut sind; Entsendung von jungen Kratten In auslandische BetriebeAnsiedlung von auslandischen Arbeitern; Einführung von neuen lebensfahigen Artikeln; Organisation der Schmiedemeister für den gemeinsamen Einkauf von Rohstoffen und den gemeinsamen Verkauf der Erzeugnisse auf werksgenossenschaftlicher Grundlage. Viele Jahre groBe Geduld und Ausdauer hat es gebraucht, bis die Hauptpunkte dieses weitreichenden Arbeitsprogramms erreicht wurden; aber sie wurden erreicht und damit ist nicht nur dem weiteren Rückgange Einhalt geboten worden, sondern es macht sich seit Jahren ein erfreulicher Aufstieg bemerkbar. Die Lehrwerkstatte konnte bereits am 19. Oktober 1890 in Waidhofen a. d. Ybbs eröffnet werden. Das Unterrichtsprogramm, anfangs nur auf die Erlernung der Herstellung bestimmter Werkzeuge zugeschnitten wurde 1894 wesentlich erweitert, nachdem auch die maschinelle Einrichtung der Anstalt zeitensprechend ausgestaltet worden war Der allgemeinen Schulung im Feilen, Drehen, Frasen, Bohren, Schmieden folgte ein systematisch geordneter Lehrgang für die Ausbildung zum Zeugschmied beziehungsweise zum Werkzeugschlosser. Im Laufe der Jahre machte sich der Mangel einer theoretischen Ausbildung immer starker bemerkbar; neben dem gewerblichen Rechnen, den kaufmSnnischen und technischen Fachern, fehlte vor allem die gründliche Einführung des Fachzeichenunterrichtes. Erst im Jahre 1906 konnte diesem Umstande durch die Gründung der fachlichen Fortbildungsschule für Schlosser und Werkzeugmacher Rechnung getragen werden, nachdem durch den Neubau der Oberrealschule in Waidhofen entsprechende Kaume für den theoretischen Unterricht freigeworden waren. Die Schülerzahl stieg sofort ganz bedeutend. Mit 1. Janner 1911 wurde die Lehrwerkstatte mit der fachlichen Fortbildungsschule zur Fachschule für das Eisen- und Stahlgewerbe vereinigt. Das Hauptgewicht liegt nach wie vor in der Ausbildung zur praktischen Arbeitdoch sorgt ein gutes, übersichtliches Unterrichtsprogramm in den theoretischen Fachern für eine gediegene Ausbildung in den kaufmanmschen und technischen Lehrgegenstanden. Der Lehrgang umfaBt st* 483 Kleineisenindustrie drei lahre, mit 48 Stunden pro Woche, wovon 10 Stunden für den theoretischen Unterricht entfallen. Diese Organisation hat sich nach den jahrelang gemachten Erfahrungen als trefflich erwiesen. GröBere Schwierigkeiten steilten sich der Stiftung bei der Inangriffnahme der weiteren Aufgaben in den Weg, denn hier muBte mit einem schwerwiegenden Faktor von ungeahnter GröBe gerechnet werden und dies war die allzu konservative Anschauung der Schmiedschaft Die Anlage der Mustersammlung ging klaglos vor sich, aber es fehlten die Meister, die nach den Mustern auch mustergerecht arbeiteten. Junge, tochtige, aufnahmsfahige Manner wurden nach Remscheid und Solingen geschickt; sie arbeiteten dort monatelang in Betrieben, die mit allen Errungenschaften der modernen Technik eingerichtet waren. Sie kamen zurück nach Waidhofen und gingen daran, die neuen rationellen Arbeitsweisen in der neugegründeten Anstalt einzuführen. In der Lehrwerkstatte fanden die Neuerungen freilich Eingang, aber der überwiegende Teil der Schmiedschaft verhielt sich ablehnend. Ebenso zerschlugen sich die Bemühungen um die Schaffung einer kaufmannischen Organisation immer wieder, denn das gegenseitige MiBtrauen, das jahrelang vergiftend unter den Meistern gewirkt hatte, machte ein gemeinsames Vorgehen unmöglich. Ein wesentlicher Schritt nach vorwarts wurde durch die Schaffung des Hilfswerkstattendienstes in Angliederung an die Lehrwerkstatte getan. Diese vollstandig neue Organisation muB als eine vorzügliche Lösung der praktischen Gewerbeförderung bezeichnet werden. In den Konkurrenzgebieten von Deutschland war die Handarbeit, besonders aber das Schmieden von Hand aus, schon seit Jahren für viele Erzeugnisse durch das Schmieden im Gesenke unter den Fallhammern oder Pressen verdrangt worden. Diese Arbeitsart eignete sich in erster Linie für die Massenerzeugung. An Stelle der Handfertigkeit des Schmiedes trat die Geschicklichkeit des Gesenkschlossers, der die Werkzeuge für das Schmieden unter dem Fallhammer fertigstellt. Die rationelle Herstellung von Gesenken erfordert jedoch neben tüchtig geschulten und gewissenhaften Schlossern auch eine Reihe von Werkzeugmaschinen. Nachdem die einzelnen Meister ihre Betriebe nach der neuen Arbeitsweise nicht umgestalten wollten und konnten» so ging die Stiftung daran, in der Lehrwerkstatte den Fallhammerbetrieb mit der Gesenkschlosserei einzuführen; es wurde mit der Herstellung von Halbfabrikaten, im Gesenke geschmiedet oder mittels Pressen gestanzt, begonnen; die so erzeugten Halbfabrikate gelangten an die Meister zum Selbstkostenpreise zur Abgabe. Die Beschaffung der teuren Spezialmaschinen war der Stiftung nur durch das Zusammen- 484 Kleineisenindustrie wirken der Gewerbeförderung von Staat, Land und Kammer möglich. Diese Arbeiten brachten die vielfaitigsten Anregungen und wirkten neu betrachtend auf die alte Kleineisenindustrie. Formgerecht und geschmackvoll konnte nun geschmiedet werden. Aber auch diese Bemühungen muBten jahrelang unter groBen Opfern durchgeführt werden, ehe ein praktischer, nennenswerter Erfolg durch die Schmiedmeister erzielt wurde. Jene Meister aber, die es verstanden haben, die gebotenen Vorteile des Hilfswerkstattendienstes auszunützen, machten rasche Fortschritte. Mittlerweile war es aber trotz aller örtlichen Schwierigkeiten gelungen, in die Reihen der Ybbsitzer Schmiedmeister Einigung zu bringen. Bereits im Jahre 1893 wurde in Ybbsitz durch die Stiftung eine neue Schleiferei errichtet, damit die Meister Gelegenheit hatten, ihren Waren durch richtiges Schleifen ein gefailiges Aussehen zu geben. Die Bestrebungen zum gemeinsamen Einkauf von Rohmaterialien führten endlich im Jahre 1894 zur Gründung der Rohstoffgenossenschaft. War durch die Errichtung dieser genossenschaftlichen Unternehmung der groBe Wert der Einigkeit und des Zusammenschlusses der Meister einwandfrei bewiesen, so brauchte es trotzdem noch lange Zeit, bis auch die Verkaufsgenossenschaft gegründet werden konnte; neun kostbare Jahre muBten verstreichen, bis endlich die bessere Einsicbt siegte; am 28. Februar 1903 fand die gründende Versammlung der Werks- und Verkaufsgen ossen schaf t „Vereinigte Schmiedgewerke" in Ybbsitz und Waidhofen a. d. Ybbs, r. G. m. b. H. statt. Die Durchführung der Organisation brachte naturgemaB sehr groBe Schwierigkeiten. Als Grundsatze galten : die Preise der Waren werden durch die Meister der einzelnen Erzeugergruppen festgestellt; s3mtliche Erzeugnisse dürfen nur durch die Genossenschaft in VerschleiB gebracht werden; die Bestellungen von den Stammkunden der einzelnen Meister werden dem betreffenden Betriebe gewahrt. Alle Artikel werden in ein neues Preisbuch zusammengefaBt; neben derGenossenschaftsleitungwird durch tüchtige Reisende für die Hebung desümsatzes gesorgt. Eine genossenschaftliche Werkstatte mit moderner Einrichtung wurde eröffnet, dessen Personal den Schmiedmeistern mit Rat und Tat an die Hand geht Eine Subvention des Landes ermöglichte den Ausbau des Gehossenschafts-Hammerwerkes, die staatliche Gewerbeförderung sorgte für die Einrichtung mit modernen Maschinen. Um eine zielbewuBte, einheitliche Leitung zu erreichen, muBte die Rohstoffgenossenschaft mit der Verkaufgenossenschaft zu einem 485 Kleineisenindustrie Unternehmen vereinigt und ein fachmannisch gebildeter, kaufmannischer Leiter angestellt werden. Der Umsatz stieg von Jahr zu Jahr. Auch die Lehrwerkstatte, beziehungsweise die Fachschule entwickelte sich in erfreulicher Weise; nach MaBgabe der Mittel wurden die maschinellen Einrichtungen der Werkstatte von Jahr zu Jahr erweitert. Heute sind die Arbeitsraume schon zu klein, weswegen alljahrlich zahlreiche Aufnahmswerber wegen Platzmangel zurückgewiesen werden müssen. Die Mustersammlung wurde stetig erweitert; sie bildet heute infolge ihrer Reichhaltigkeit und Vielfaitigkeit für jeden Fachmann eine Sehenswürdigkeit. Die mannigfaltigsten Arbeiten wurden durch das Schmieden im Gesenke zufriedenstellend gelöst. So wurde im Ybbstale durch den steten Ausbau des genossenschaftlichen Gedankens und durch die unmittelbare praktische Förderung der Schmiedschaft die Kleineisenindustrie nicht nur vor dem weiteren Rückgange glücklich bewahrt, sondern dieser Erwerbszweig erhielt durch zahe, zielbewuBte, aneifernde Tatigkeit neues Leben! Im Laufe der Jahre fanden moderne Arbeitsmaschinen auch Eingang in die Werkstatten der Meister. Die Hackenerzeuger gingen bahnbrechend voran. Die Erzeugung der geschmiedeten Pfannenware wurde zum gröBten Teile aufgelassen; neue, mustergültig eingerichtete Werksanlagen mit den leistungsfahigen Göppinger Ziehpressen wurden durch die Firma Brflder RieB ausgebaut. Und in diese Zeit des friedlichen Ringens nach vorwarts schlugen unerwartet die Flammen des Weltkrieges. Die kraftige Jungmannschaft und viele der rüstigen Meister folgten dem Rufe des Vaterlandes. Manche davon sahen ihr schönes Heimatstal nicht wieder. In den ersten Monaten des Krieges schien es, als ob jede Arbeit in Friedensartikeln und Werkzeugen ein Ende nehmen müBte. Doch bald anderte sich das geschaftliche Bild. Bestellungen in nie geahnten Mengen liefen ein, unmöglich war es, alle Auftrage zu erledigen. Aber groBe Schwierigkeiten traten einer flotten Betriebsführung taglich starker entgegen. Die rüstigsten Arbeitskrafte standen fern von der Heimat im Felde. Die ungeheuren Anforderungen, die der Krieg an die gesamte Volkswirtschaft steilte, die Unsummen von Arbeit und Material, die der jahrelange Kampf verschlang, muBten Mangel und Not nicht nur an Lebensmitteln, sondern auch an allen Betriebsstoffen bringen; die Zwangswirtschaft setzte ein; die zahllosen Zentralen erwiesen sich durch die Art ihrer Führung als eine Qual und niederdrückende Hemmung für die werktatige Arbeit. Vielschreiberei und Ansuchen ohne Ende waren an der Tagesordnung. 486 Kleineisenindustrie Tage-, ja wochenlang muBte die Arbeit in den Werkstatten unterbrochen werden aus Mangel an Eisen und Stahl; kam endlich das von der Eisenzentrale karg zugemessene Material, so fehlte wieder die Kohle; um jeden Riemen mufite man ansuchen, ja selbst Putzhadern und Lumpen unterlagen der zentralen Bewirtschaftung bei der Hadern- und Lumpenzentrale. Und dazu die qualvolle Not an den einfachsten Lebensmitteln! Wenn man heute zurückdenkt an dieses jahrelange Ringen, so muB man sich tiet wundern, daB die Arbeit aufrecht erhalten werden konnte! Wie alle Betriebe der Eisen- und Stahlverarbeitung, so war auch die Fachschule mit Auftragen für die Heeresausrüstung überhauft. Munitionskistenbeschlage, Tragsattelbestandteile, Stollenschlüssel, Tempiergabeln, Revolverbestandteile, Teile für das Telephon- und Telegraphenwesen, chirurgische Instrumente, Zangen aller Art, Prothesenschienen, Teile für Luftfahrzeuge, kurz die mannigfaltigsten Aufgaben muBten gelöst werden. Und nun die Zeit nach dem Zusammenbruche! Die Nachfolgestaaten im Norden und im Süden boten alles auf, um Industrie und Gewerbe, Handel und Verkehr Deutschösterreichs zu vernichten. Besonders die Kleineisenindustrie hat durch die neue, politische Umgruppierung sehr stark gelitten. Die groBen Absatzgebiete nach Galizien und nach RuBland kommen derzeit vollstandig auBer Betracht, die Tschecho-Slowakei schreibt derartige Einfuhrzölle vor, daB ein Wettbewerb ausgeschlossen ist. Ungarn hat seine frühere Kaufkraft infolge des Landesverlustes eingebüBt, Jugoslawien stellt derzeit unhaltbare Einfuhrbestimmungen auf*) und die übrigen Balkaniander sind heute für deutschösterreichische Waren schwer erreichbar. Ungeheure Schwierigkeiten brachte in den letzten Jahren der verhangnisvolle Sturz der Krone. Nun zeigte sich erst recht die Kraft der genossenschaftlichen Organisation. Die Gesamtheit ist tragfahiger als der Einzelne; die schwere Bedrangnis schlieBt die Reihen fester; was dem einzelnen Meister nicht oder nur sehr schwer gelingen möchte, der genossenschaftlichen Vereinigung gelingt es leichter. Mit besonders günstigem Erfolge für den Umsatz wirkt ein reichhaltiges Lager, das in Wien errichtet wurde. Die Kleineisenindustrie der Eisenwurzen, die im Laufe der Jahrhunderte schon so viele schwere Krisen überstanden hat, wird durch gediegene Arbeit, festen ZusammenschluB und gute, kaufmannische Leitung dem Niedergange *) Hat sich mittlerweile gebessert. 487 Kleineisenindustrie vorbeugen und frisch pulsierendes Leben schaffen im waldgrünen liebiichen Alpentale der Ybbsl Die Kleineisenindustrie von Oberösterreich Das schöne Land Oberösterreich bot mit seinen wasserreichen Taiern gleich der niederösterreichischen Eisenwurzen reichlich Gelegenheit zur Errichtung von Werksanlangen für die Eisenindustrie. Neben zahlreichen Zerrenn- und Streckhammern entstanden insbesondere im Tale der Steyr eine Reihe von Betrieben, die sich mit der Erzeugung von Messerwaren und Bestecken befaBten. Die Zerrennhammer hatten das gleiche Schicksal wie in Niederösterreich, Karnten und Steiermark, die abrigen Betriebe blieben der Hauptsache nach bis heute erhalten. Insbesondere entwickelte sich in Oberösterreich auch eine sehr leistungsfahige Sensen- und Sichelindustrie. Die Fortschritte in der Massenerzeugung der Kleineisenartikel durch die neuen Verfahrungsarten unter Anwendung von Spezialmaschinen muBten auch auf die Betriebe von Oberösterreich stark einwirken und sie zwingen, gleichfalls nach den neuen Verfahrungsarten zu arbeiten. Die Übergangszeit war für die Kleineisenindustrie des Landes gleichfalls eine sehr schwere. lm Jahre 1878 wurde in Steyr eine Fachschule in sehr bescheidenem Umfange eröffnet, nach kurzer Zeit errichtete die Stadtgemeinde Steyr ein neues Fachschulgebaude. Die maschinelle Einrichtung wurde wesentlich erganzt; neben den Werkzeugmaschinen gelangten Fall-, Breit- und Luftfederhammer zur Aufstellung. An die Fachschule wurde die Versuchsanstalt angegliedert Eine moderne Klingenschmiede kam in Betrieb; deutsche Arbeiter aus dem Bergischen Lande wurden nach Steyr berufen, um insbesonders den Solinger Knieschliff einzuführen. Meister und Gehilfen wurden in der Schleiferei der Anstalt in dieser Arbeitsart unterrichtet. In der Klingenschmiede wurden Messerklingen, unter den Fallhammern Gabeln als Halbfabrikate erzeugt und an die Meister abgegeben. So wirkte auch hier die Lehranstalt befruchtend und aneifernd auf die althistorische Messerindustrie des Steyrtales ein. * Neben der Erzeugung von Klingen und Gabeln wurde ferner die Fertigstellung der übrigen Hilfsartikel, wie jene der Messerschalen und der Zwingen rationell eingerichtet. Selbstverstandlich ging mit der technischen Hebung auch die wirtschaftliche Organisation der einheimischen Meister durch den ZusammenschluB zu Werk-, Verkaufs- und Produktivgenossenschaften Hand in Hand. Auch hier stieB 488 Kleineisenindustrie die Absatzorganisation auf groBe Schwierigkeiten, die jedoch dadurch beseitigt wurden, daB alle Erzeugnisse an die betreffenden Genossenschaften abzuliefern sind. In Steinbach, Grünburg, Molln, Neuzeug und Sirninghofen entstanden Genossenschaften, die sich wiederum zur Zentralgenossenschaft der Messerschmiede in Steyr zusammenschlossen. An die Spitze dieser Unternehmung wurde ein Geschaftsleiter berufen, der aus öffentlichen Mitteln besoldet wurde. Ein Hauptabsatzgebiet für die Messerklingen bildete die groBe Kruppsche Fabrik in Berndorf. Taschenmesser gelangten hauptsachlich in Steinbach und Sirninghofen in mittlerer Qualitat zur Fertigstellung. Dieser Industriezweig wurde jedoch durch die Konkurrenz von Solingen und Nixdorf überholt und gelangte zu keiner Blüte. In Kleinraming, an der Grenze von Niederösterreich gelegen, wurde eine Gabelschmiederei im Anschlusse an die bestehenden alten Werkstatten neu errichtet. Nach Kriegsende konnte die Fachschule mit der Versuchsanstalt ein neues Heim in der ehemaligen jagerkaserne beziehen. Die Klingenschmiederei wurde aufgelassen. Die Fachschule hat sich der Werkzeug- und Maschinenschlosserei sowie der Veredelungstechnik zugewendet. Im Atzen, Gravieren, Ziselieren, Tauschieren, in der Plastik und in der Stahlschneidekunst werden schöne Erzeugnisse erzielt. Die Kleinmeister liften am schwersten durch die flbermachtige und rasche Entwicklung der weltbekannten Steyrer Waffenfabrik. Angelockt durch die guten Verdienste strömten die Arbeiter und die Jugend in die neuen, groBzügig angelegten Fabriksbetriebe, neben denen die bescheidenen Werkstatten der Kleinmeister allerdings zurückstehen muBten. Viele kleine Betriebe sind im Laufe der Jahre eingegangen, die mittleren wuBten sich jedoch zu behaupten und arbeiten heute noch mit Erfolg weiter. Allerdings brachten auch hier die elenden wirtschaftlichen Verhaitnisse in Deutschösterreich derzeit eine groBe Stockung des Absatzes, so daB viele Arbeiter entlassen werden muBten Durch die Schmalkaldener Firma Brüder Heller wurde die Bohrererzeugung in gröBerem MaBstabe in Angriff genommen. Diese Betriebsanlage ist jedoch durch einen alten Steyrer Meister wiederum in eine Messererzeugungswerkstatte umgewandelt worden. Der Bericht ware unvollstandig, wenn nicht auch auf die Erzeugung von zwei charakteristischen Spezialartikeln der Kleineisenindustrie hingewiesen würde. So werden in Molln seit Jahrhunderten Maultrommeln erzeugt und in Trattenbach, in einem Seitentale der Enns unterhalb Steyr gelegen, die bekannten Taschenfeitel. Die Erzeugung dieser bescheidenen Messer kam insbesonders wahrend der 489 Kleineisenindustrie Kriegszeit zu neuem Aufschwung, nachdem bessere Messer nur schwer zu haben waren. Die Gewehrindustrie in Ferlach. Wer das Glück hatte, das schöne Rosental in Karnten durchwandern zu können, wird die Oberzeugung gewonnen haben, daB dort eine geschickte und fleiBige Bevölkerung an der Arbeit ist. Die Gewehrindustrie in Ferlach reicht zurück bis in das sechzehnte Jahrhundert. Nach den geschichtlichen Aufzeichnungen hat Kaiser Ferdinand I. im Jahre 1558 niederlandische Waffenschmiede in dieses Tal berufen, um die Erzeugung von SchieBwaffen systematisch einzuführen. Auch dieser Industriezweig blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Schönen Blütezeiten im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert folgten Zeiten schwersten Rückganges, so daB diesem Erwerbszweige der Verfall drohte. Die Waffenfabrik in Steyr sowie die Arsenale in Wien überflügelten die bescheidenen Meisterwerkstatten, wo groBenteils noch die Handarbeit zu Hause war, in der kurzesten Zeit. Die Erzeugung von Militargewehren ging in Anbetracht der machtigen Konkurrenz vollstandig ein; man schritt an die Erzeugung von Jagdgewehren. Die österreichische Regierung griff im Jahre 1876 fördernd ein. Die Bestrebungen muBten auf die Verbesserung der Qualitat der herzustellenden Erzeugnisse gerichtet werden. Im Jahre 1878 konnte die Fachschule für die Gewehrindustrie und im Jahre 1882 die Probieranstalt für Handfeuerwaffen eröffnet werden. Die Landesregierung hat im Vereine mit der Fachschule die Maschinenh&user der Büchsenmachergenossenschaft errichtet; in diesen wurden moderne Spezialmaschinen aufgestellt und Halbfabrikate zu Gewehren, wie Laufe, Schienen, Schrauben und dergleichen zeitgemaB hergestellt. Die Qualitat der Erzeugnisse nahm von Jahr zu Jahr zu, so daB die Ferlacher Gewehrindustrie bei allen Jagdfreunden einen guten Ruf genieBt. Wahrend der Kriegszeit war Ferlach selbstverstandlich ungemein gut beschaftigt, neben verschiedenen Kriegsartikeln wurden hauptsachlich auch Reparaturen durchgeführt. In den schweren Tagen der Isonzoschlachten trug man sich schon mit dem Gedanken, die Erzeugung in andere sicherere Gebiete zu verlegen. Damals war Waidhofen beziehungsweise Zeil an der Ybbs in Aussicht genommen. Da jedoch unsere eiserne Front am Isonzo trotz aller Anstrengungen der Feinde nicht durchbrochen werden konnte, blieb die Gewehrindustrie in ihrer alten Heimat. Nach dem Zusammenbruche ging Ferlach und die dortige Industrie mit den fleiBigen Meistern, die treu an der Heimat hingen, den schwersten Tagen ent- 490 Kleineisenindustrie gegen. Viele Büchsenmacher, darunter auch der Bürgermeister und der Fachschuldirektor, wurden verschleppt und muBten lange Zeit in der Gefangenschaft verbleiben. Die Maschinenhauser wie auch die Fachschule haben wahrend der Zeit der Besetzung aufs schwerste gelitten. Auch in den heutigen Tagen hat insbesondere die Fachschule noch an den schweren Folgen der P/zjahrigen Besetzung zu tragen. Trotz aller Verlockungen, trotz aller Drohungen konnte die Liebe zur Heimat, zum schönen Karntnerlande, nicht erschüttert werden. Die Volksabstimmung ergab hiefür den glanzendsten Beweis. Die Ferlacher Industrie, welche heute Jagdgewehre auch in vornehmster Ausstattung fertigstellt, wird in dem schönen Rosentale von Karnten dauernd gesichert sein und einer guten Zukunft entgegengehen, wenn die Büchsenmacher mit den Fortschritten der Technik gehen und einig und geschlossen nach auswarts auftreten. Die Stubaier Kleineisenindustrie Wer je von Innsbruck auf der BrennerstraBe südwarts wanderte und nach Oberschreiten der Stephansbrücke, die mit kühnem Steinbogen die tiefe Schlucht der Rutz übersetzt, der alten steilen Römeroder Maria Theresien-StraBe folgte, wird in der Nahe der bekannten Goethe-Zirbel überrascht gehalten haben, denn seinen Augen eröffnete sich der entzückende Bliek in das Stubaital. Tief unten in der Talsohle sucht sich das wilde Bergwasser der Rutz seinen Weg zur Sill, die vom Brenner dem Inn entgegeneilt. Eine herrliche Kette von riesigen Bergen umschlieBt das liebliche Tal; die machtige Serlos- oder Waldrastspitze, von der Alexander v. Humboldt sagte, daB sie der Herrgott mit dem Zirkel gebaut habe, ragt in edler Symmetrie in den Himmel; ihr gegenüber grüBt die Saile mit den steilen Nordwanden in das Inntal; an die Saile schlieBen sich die Schlicker Wande, allgemein die Stubaier Dolomiten genannt, vom Ampferstein bis zum Hohen Burgstall, die Heimat der Gemse, ein Paradies für die kühnen Kletterer unter den Bergwanderern. Als Gegenstück zum Hohen Burgstall baute die Hand des Schöpfers die Riesenmassen des Königs von Stubai auf; der stolze Habicht überragt mit seinem schimmernden Eispanzer majestatisch seine trotzigen Nachbarn. Und der Hintergrund des Tales wird abgeschlossen durch die Stubaier Gletscher; Freiger, Sonnblick, Pfaff und Zuckerhütl urngrenzen mit ihren massigen, abwechslungsreichen Formen das Gebiet von Stubai; heute führt über jene Höhen die welsche Grenze. 491 Kleineisenindustrie Und in diesem herrlichen Tale, abgelegen von dem Getriebe der übrigen Welt, findet der Wanderer in Fulpmes eine Kleineisenindustrie auf hoher Entwicklungsstufe. Die Wande des Hohen und des Kleinen Burgstalls, gegen das Oberbergertal und gegen die herrliche Schlickeralm zu, boten gute Fundorte von Eisen-, Blei- und Silbererzen. Auch am FuBe des Habichts wurden vorzflgliche Bleierze gefunden. Der Bergbau zog die Ansiedlung von Zeugschmieden nach sich. Der tosende Schlickerbach, Fulpmes im raschesten Laufe durcheilend, eignete sich vorzüglich zum Betriebe von schweren Schwanzhammern; ohne kostspielige Wehrbauten konnten hier auf die einfachste Art genügend Wasserkrafte gewonnen werden. Der Bergbau muBte im Laufe der Zeit aus Mangel an ergiebigen Erzen eingestellt werden. Die Zeugschmiede blieben jedoch im Orte, ihre Zahl vermehrte sich stetig, denn nirgends bot die Wasserkraft eine bequemere Arbeitsgelegenheit. Zu den Artikeln der Zeugschmiede kamen andere Werkzeuge und so herrscht seit Jahrhunderten in Fulpmes eine regsame Tatigkeit in der Eisenund Stahlverarbeitung. Die Stubaier waren seit jeher nicht nur tflchtige, fleiBige Schmiede, sondern auch geschickte Handelsleute. Und doch schienen auch ihre Betriebe dem Untergange geweiht An dem Niedergange wirkte die allgemeine Entwicklung des Wirtschaftslebens mit. Der Schienenweg durchzog die anderen Industriebezirke und bot billige und rasche Förderung von Rohstoff und fertiger Ware — Fulpmes lag abseits in dem Alpenhochtal, 940 m über dem Meere, stundenweit entfernt von der Bahn; schlechte BergstraBen führten in die AuBenwelt Erfindung folgte auf Erfindung, Spezialmaschinen arbeiteten im Konkurrenzgebiete von Deutschland, Fulpmes blieb jahrzehntelang ohne technische Neuerung. Da griff gerade noch rechtzeitig die Innsbrucker Handelskammer ein. Durch die Neubelebung der abgelegenen Industrie, infolge Zusammenwirkens von Kammer, Land und Staat, wurden die schlummernden Talente im schonen Stubai geweckt, zielbewuBter, trotziger Mut vereint mit Arbeitseifer erzielten langsam wieder schöne Erfolge. Im Jahre 1897 wurde die Fachschule für Eisen- und Stahlbearbeitung in Fulpmes eröffnet, bald darauf auch hier eine Werks- und Verkaufsgenossenschaft in Fulpmes gegrOndet. Der werksgenossenschaftliche Gedanke hatte FuB gefaBt und mit aller Zahigkeit wurde dafür gearbeitet Die Fachschule wirkt anspornend auf die talentvollen Meister; mit Hilfe der Gemeinde wurde eine eigene Werkstatte erbaut. Segensreich wirkte die Genossenschaft durch den VerschleiB von RohmateriaL 492 Kleineisenindustrie Fachschule und Fortbildungsschule bildeten eine arbeitslustige, geschickte Jugend heran; sSmtliche Werksanlagen wurden bis auf die Küchenwarenschmiede von Grund aus umgestaltet. Turbinen verdrangten die Wasserrader, Schmidtsche Federhammer, LuftfederhSmmer, Fallhammer, Pressen und die mannigfaltigsten Spezialmaschinen traten an Stelle der veralteten Einrichtung; die Genossenschaft zahlte im November 1902 bereits 72 Mitglieder. Im Jahre 1904 wurde das Tal dem modernen Verkehre durch die elektrische Stubaitalbahn eröffnet Die Stubaier Erzeugnisse, Werkzeuge aller Art, traten der auslandischen Konkurrenz in vielen Belangen wirksamst entgegen: Spezialartikel von Fulpmes, wie zum Beispiel Steigeisen und Eispickel, sind von vorzflglicher Güte. Ein Meister muB besonders erwahnt werden.es ist dies Franz Rail ing. Mit diesem einfachen Manne, der leider allzufrüh von dieser Erde Abschied nahm, tritt uns ein Talent entgegen von staunenswerter Leistungsfahigkeit; Ralling erlernte in der Jugend das Messerschmiedegewerbe; schon als junger Meister baute er sich verschiedene Arbeitsbehelfe selbst, darunter auch eine Presse, die ihm jahrelang gute Dienste leistete. Die Eröffnung des Fachschulbetriebes wirkte nach jeder Richtung anregend auf den talentvollen Mann; zum ersten Male sah er moderne Arbeitsmaschinen; bald entwickelte er sich zum vorzOglichen Mechaniker; er baute Polierzeuge, Schleifzeuge und ersann die verschiedenartigsten Arbeitsbehelfe für die Betriebe seiner Kollegen. Auf eine Kopierfrasmaschine wurde ihm das Patent erteilt. Den schönsten Erfolg aber errang er durch die Konstruktion seines Patent-Fallhammers. Die Hubhöhe des Hammers und damit die Schlagstarke kann wahrend der Arbeit jeden Augenblick geregelt werden. Mit dieser Maschine wurden schöne Erfolge durch das Schmieden im offenen Gesenke erzielt Auch mit dem Bau von Wasserradern und Turbinen erzielte Ralling schöne Erfolge. In Fulpmes dflrfte keine Werkstatte stehen, in der Ralling nicht irgend eine Verbesserung durchführte. Neben Ralling arbeiteten seine Jugendfreunde auf kaufmannischem und finanztechnischem Gebiete mit gleich gutem Erfolge. — Die schweren Kriegsjahre, besonders der Kampf gegen Italien, kostete dem Stubaitale schwere Opfer. In den industriellen Anlagen von Fulpmes herrschte naturgemaB die regste Tatigkeit. Der Krieg im Hochgebirge verbrauchte alpine AusrüstungsgegenstSnde in ungeahnter Zahl; auch sonst muBten Kriegsartikel der mannigfaltigsten Art fertiggestellt werden. Die glanzende Beschaftigung forderte für 493 Kleineisenindustrie die Unterbringung der Rohstoffe ein neues gerSumiges Lagerhaus, das wahrend der Kriegszeit in groBzügiger Weise gebaut wurde. — Die Kanonen des Weltkrieges sind verstummt; Tirol, das die schwersten Opfer gebracht, wurde zerrissen, der schönste Teil des Landes ist derzeit unter fremder Herrschaft. Die Stubaier Industrie leidet in den heutigen Tagen wohl schwerer als die übrigen Industriebezirke von österreich. Die hohen Frachtsatze beim Bezuge von Eisen und Stahl verteuern das Material und erschweren dem Eisenhandler den Warenbezug. Trotz alledem aber wird sich die Stubaier Industrie gut behaupten, wenn die Meister in fester Einigkeit beisammenstehen und die Genossenschaftsleitung das Interesse der Allgemeinheit über das Interesse des Einzelnen stellt. Ein Hauptvorteil bleibt für Fulpmes gewahrt: Die Wasserkraft, welche keine kostspieligen Wehranlagen und Nebenbauten verlangt und die angeborene Geschicklichkeit in der Eisenbearbeitung der einheimischen Bevölkerung. Diese herrlichen Gottesgaben — richtig angewendet und gut geleltet — sichern der Stubaier Kleineisenindustrie nach menschlicher Voraussicht eine gediegene Zukunft und geben ihr gegenüber den anderen Bezirken einen wesentlichen Vorteil als natüriichen Ausgleich für die ungünstige geographische Lage. ego 494 Das Messewesen Richard Soukup Wenn man heute die Entwicklung der Messen österreichs und insbesondere die der Wiener Messe Oberblickt, glaubt man die Behauptung wagen zu dürfen, daB die Wiener Messe eigentlich verspütet geschaffen wurde. Von der groBen Leipziger Messe abgesehen, sind fast alle Auslandsmessen Notgründungen, die der Verwirrung und den Erschwernissen des Wirtschaftslebens, wie sie durch den Krieg und durch die ersten Nachkriegsjahre herbeigeführt wurden, mit einem Schlage abhelfen zu können glaubten. Die Tatsache, daB sich fast bei allen Einfuhrbehörden die Gepflogenheit entwickelt, MessekSufe bevorzugt zu behandeln, wirkte im gewissen Sinne als Antrieb, wobei noch hinzukam, daB sowohl dem Aussteller als auch dem EinkSufer durch den Besuch der Messe viele Reisen, die er sonst zu absolvieren gehabt hatte, erspart blieben, Reisen, die, abgesehen von hohen Fahrt- und Verpflegungskosten, unliebsame PaB- und Aufenthaltsschwierigkeiten mit sich zu bringen pflegten. Wenn wir die Wiener Messe aus der Reihe dieser Notgründungen, von denen einige sich im Wirschaftsleben ihres Landes nicht ohne Erfolg zu verankern wuBten, bewuBt herausheben, so geschieht dies mit gewisser Berechtigung. Denn Wien ist seit jeher Messeboden gewesen, alles, was eine Messe verlangt (Gebaude, Verkehrseinrichtungen, Banken, industriell entwickelte Umgebung, Vergnügungsmöglichkeiten usw.) war gegeben, bloB Mangel an Initiative und ausreichenden Geldmitteln lieB die Gründung, die schon in der Vorkriegszeit zur Tat hatte werden sollen, immer wieder undurchführbar erscheinen. Erst als die Jahre nach dem politischen Umsturz zugleich mit dem stetig sinkenden Kronenwert ungeahnte Exportmöglichkeiten brachten, entschlossen sich private Kreise zur Schaffung einer groBzügigen Export*organisation, der man von allem Anfang internationalen Charakter zu geben bemüht war. Gerade in diesem Kriterium scheint auch der 495 Das Messewesen besondere Wert und die besondere Bedeutung der Wiener Messe gelegen zu sein. Wahrend Leipzig im'Grunde genommen die Beteiligung internationaler Aussteller nicht gerne sieht, ist die Wiener Messe in dieser Hinsicht von vornherein auBerst liberal gewesen. MaBgebend für diese Politik ist in erster Linie der Umstand gewesen, daB Wien vor den meisten anderen Messen eines voraus hat — die geographische Lage. Die Phrasen vom „Hamburg des Ostens", vom „Tor nach dem Balkan", von der „Brücke zwischen dem Oriënt und dem Okzident", sind in den zahlreichen Abhandlungen über die Wiener Messe zu oft gebraucht worden, als daB sie hier wiederholt werden müBten. Diese Phrasen enthalten jedoch im Gegensatz zu anderen eine Tatsache, die an und für sich auf Wahrheit Anspruch erheben darf. Denn es steht fest, daB es fast aller Nationen Bestreben ist, in Wien, das ihnen ein wichtiger Punkt zu sein scheint, festen FuB zu fassen. Vor allem ist es die deutsche Industrie, für die Wien unzweifelhaft einen wertvollen wirtschaftlichen Auslug nach dem Oriënt und dem weiteren Osten bedeutet In dieser Richtung wird auch die weitere Entwicklung der Wiener Messe liegen. Als voriaufiger Beweis hiefür mag die Tatsache gelten, daB die Besucher der ersten drei Messen sich hauptsachlich aus den Balkanlandern sowie aus den Orientgebieten rekrutierten, wenn auch die Westausiander sowie die Besucher aus den nordischen Staaten ein überaus starkes Kon tingent steilten. Zum Unterschied von anderen Messen, die gezwungen waren, für ihre Aussteller kostspielige Hallen und Bauten aufzuführen, hatte die Wiener Messe die Wahl zwischen zahlreichen Kasernen und anderen Staatsgebauden, die durch die Gründung der Republik ihre Bestimmung verloren hatten. Die österreichische Regierung hat dadurch, daB sie dem Messeunternehmen drei groBe Gebaude (die ehemals kaiserlichen Hofstallungen, die neue Hofburg und das weltbekannte Ausstellungsgebande, die „Rotunde") zur Verfügung steilte, klar und deutlich zum Ausdrucke gebracht daB der Gedanke der Gründung einer Wiener Messe das Wiederaufbauprogramm zu beleben und zu fördern geeignet sei. Die der Messe überlassenen Gebaude gewahren — das freie Gelande der Rotunde nicht mitinbegriffen — einen verwertbaren Gesamtbelagraum von rund 40.000 w*,ein FlachenausmaB, durch das die Wiener Messe in die erste Reihe der Gegenwartsmessen gerückt wird. Dem Muster der modernen Messen folgend, entschied sich die Messeleitung für die branchenmaBige Einteilung der Messe, die von den Einkaufern zufolge ihrer idealen Orientierungsmöglichkeit als ein bedeutender Vorzug gegenüber den nicht branchenmaBig gegliederten Messen 496 Landschafts- und Stadtebilder Ruinen von Theben an der Donau Lobau Burg Kreuzenstein, Niederösterreich Ennstal, Hochtorgruppe Maria-Zell Elektrische Bundesbahn nach Maria-Zell mit Ötscher Wallfahrtsort Josefsberg mit ötscher Gmünd in Karnten Millstatt, Karnten Zeil am See Tennengebirge, Eingang zur Eisriesenwelthöhle Eisvorhang in der Eisriesenwelt im Tennengebirge Imst, Tirol Die Weifikugel im Ötztale, Tirol Kalkkögeln bei Innsbruck Mutterbergersee im Stubaitale Heiiigenblut mit GroBglockner Eisen stadt, Burgenland Messewesen Rotunde, Messehaus Das Messewesen empfunden wird. Die Gebaude selbst, obwohl nicht unmittelbar nebeneinander liegend, sind auf bequeme Weise (StraBenbahn, Autoomnibus) miteinander verbunden, so daB das Moment der Dezentralisatïon, das im Falie Wiener Messe unleugbar gegeben ist, eigentlich nicht besonders ms Gewicht failt. Was die bisherigen Ergebnisse der ersten drei Wiener Messen betrifft, so muB betont werden, daB die Veranstaltungen, die jedesmal eine Ausstellerbeteiligung einiger Tausend Firmen aufzuweisen hatten, sich bei gflnstigerer Situation und Konjunktur leicht zu Glanzerfolgen hatten eatwickeln können, da alle Voraussetzungen für solche (internationale Ausstellerschaft und zahlreiches internationales Einkauferpublikum) geeeben waren. Leider fiel die erste Messe (Herbst 1921) zeitlich mit einem jahen Sturz der Krone zusammen, so daB der auf der Messe erzielte, für die damaligen Verhaitnisse überaus respektable Umsatz von 40 Milliarden österreichischer Kronen nur zum Teil effektuiert werden konnte, weil die österreichischen Aussteller bei rigoroser Einhaltung ihrer Lieferungspflicht Riesenverluste erlitten hatten. Allerdings erschwerte dieser Umstand die Propaganda für die nachste Messe ganz bedeutend. Wenn die Frühjahrsmesse 1922 trotzdem rund 20000 auslandische Messebesucher brachte, so war dies nur ein neuerlicher Beweis für die Lebensfahigkeit des Unternehmens. Obwohl die damals m fast allen Landern herrschende Stagnation das konkrete Geschaft in hohem MaBe beeinfluBte, wurde doch ein Gesamtumsatz von zirka 120 Milliarden Kronen erzielt. Die dritte Messe stand unter einem besonders ungünstigen Stern Die wirtschaftliche Unsicherheit Deutschlands wirkte auch in Österreich nach, die Stagnation war noch wenig durchbrochen, die auslandischen Grossisten hatten noch immer volle Lager österreichischer Waren zu weit billigeren Preisen, als auf der Messe begehrt wurden Der Besuch der driften Messe war allerdings in jeder Hinsicht ein mternationaler. Es waren — um nur einige Beispiele zu nennen — Einkaufer aus Indien, Japan, China, Kanada, Tunis, Tripolis, Java Südund Nordamerika, aus Mesopotamien, Afghanistan und Neuseeland gekommen. Bemerkenswert war der starke Besuch aus Agypten (über 400 Einkaufer) sowie das groBe Interesse, das Italien der Wiener Messe entgegenbrachte. Holland steilte auf allen drei Messen ein ganz bedeutendes Kontingent von Interessenten. Auch das Wort Messezersplitterung, das in Deutschland ununterbrochen zur Debatte sieht, hat sich in Österreich - wenn auch nicht m dem MaBe wie in der deutschen Republik — eingebürgert. Graz, 32 497 Das Messewesen die Hauptstadt der Steiermark, ist dem Beispiele Wiens gefolgt und bat SËine seit Jahren bestehende Messe neu organisiert. Trotzdem kann von Gründen, die zur Rivalitat berechtigen würden, nicht gesprochen werden. Die steirische Hauptstadt hat sich von allem Anfang an ein beschranktes Programm gesetzt, das den internationalen Aufgabenkreis der Wiener Messe nur wenig tangiert. Sie ist eine lokale Messe, die vor allem als Absatzorganisation für das benachbarte Jugoslawien gedacht ist. In diesem Sinne hat die Grazer Messe bisnun ihre Aufgabe in glücklicher Weise erfüllt Es liegt die Frage nahe, ob die Messeeinrichtungen in österreich von Bestand sein werden. Eine Antwort auf diese Frage ist umso schwieriger, als die kflnftige politische und wirtschaftliche Entwicklung österreichs derzeit noch nicht schart genug umrissen erscheint Eines aber darf mit gewisser Sicherheit behauptet werden: daB Wien seine Eigenschaft als Markt für die neuen Nachfolgestaaten und für den Osten kaum verlieren dürfte, schon deshalb nicht, weil der Tscheche, der Jugoslawe, der Pole, Ungar und Balkankaufmann, weiters der Grieche und der Türke seit jeher in Wien einkaufen, sich hier heimisch fühlen und in Wien ihre erprobten, verlaBlichen Verbindungen haben. Da überdies die Messe die vorzüglichste Einkaufsmöglichkeit darstellt, ist der SchluB naheliegend, daB die Wiener Messe zu jenen wenigen Messen gehören wird, denen neben der Leipziger Messe eine dauernde Zukunft gesichert erscheint. ego 498 Die Mineralschatze Paul I p p e n In früheren Jahrhunderten waren die österreichischen Alpenlanden welt* hin durch ihren Mineralreichtum bekannt und die frühe Gewerbe blüte in Süddeutschland ist wohl zu keinem geringen Teil diesem Bergsegen zuzuschreiben. Inzwischen aber haben die verschiedensten politischen und wirtschaftlichen Umstande das Blatt gewendet und heute muB unser kleiner Staat als arm an Bodenschatzen bezeichnet werden. Zunachst hat die Entdeckung der groBen überseeischen Goldlager unseren einst blühenden Goldbergbau in den Tauern allmahlich erstickt und in ahnlicher Weise teilten dieses Schicksal im Laufe der Zeit die anderen ausgedehnten Erzbergbaue unserer Alpen. Nur die gröBten und reichsten von ihnen konnten sich halten, vielfach auch nur nach der AufschlieBung des schwer zuganglichen Landes und durch die technische Vervollkommnung der Gewinnung. Vor allem aber fehlte den Alpenlandern bei dem raschen Aufstieg der GroBindustrie ,m verflossenen jahrhundert eine der Hauptrohstoffquellen • aie Stemkohle. Alle diese Mangel waren im Verbande der alten Monarchie die eine überaus glückliche Vereinigung der mannigfachsten wirtschaftlichen Grundlagen darstellte, nicht so fühlbar. Durch die AbschlieBung aber, die unserem Lande im Friedensvertrage von Saint Uermain aufgezwungen wurde, sind diese Schwachen mit einer Harte zutage getreten, die unser Volk vielfach in die bitterste Notlage ver8e2teJ"! ,?en BeSt3nd unseres Staates noch heute auf das auBerste gefahrdet Kein Wunder, daB sich sogleich alle Krafte rührten, um dieser Not zu steuern. Alles suchte nach Bodenschatzen und zahllose Vorkommen, die früher unbeachtet geblieben oder gar vergessen waren S5°,t g ?uffegriffen worden> u"i ihrer Verwertung zuzuführen.' Nicht überall konnte ein Erfolg erzielt werden. Aber in manchen Zweigen ist es den unablassigen Anstrengungen doch gelungen der 499 Die Mineralschatze Not an Rohstoffen wenigstens teilweise zu begegnen. Vor allem gilt das für die Kohle. Die Erzbergbaue dagegen, insbesondere die auf unedle Metalle, hatten zunachst an Bedeutung eingebüBt, nachdem der durch den Krieg verursachte auBergewöhnliche Metallverbrauch mit einem Schlage aufgehört hatte. Allmahlich beginnen aber auch sie sich wieder zu entwickeln, wie ja auch hier die Unternehmungen selbst in den schlimmsten Zeiten nicht aufgehört haben, ihre Betriebe mit dem Aufgebot aller Krafte zu halten und zu heben. Freilich stöBt der Bergbau bei all seinen Bemühungen auf eine andere empfindliche Schranke. Die Verbindungen zwischen Rohstoffgewinnung und -verhüttung sind durch die Zertrümmerung des alten Staates vielfach zerrissen worden, zum Teil sind die Rohstoffe (Koks), zum Teil die Hüttenanlagen (Blei, Zink) in den Handen übelgesinnter Nachbarstaaten. Und so wird sich nur schwer und langsam ein neues Gewebe von erzeugenden, verhüttenden und verarbeitenden Industrien bilden können und den Boden bereiten, worauf ein mannigfaltiges Gewerbe neu erblühen kann, wie es dem uralten, regen Gewerbesinn der Bevölkerung entspricht Mit der Entwicklung aller unserer heimischen Krafte wird auch der Bergbau wieder die feste und gesunde Grundlage unserer Wirtschaft werden, die er immer war. Hier soll nun versucht werden, im kurzen ein Bild über den heutigen Stand des Bergwesens in österreich zu geben. Es ist nicht möglich, dabei samtliche Vorkommen von nutzbaren Mineralien aufzuzahlen, die unser Boden birgt. Die Darstellung muB sich damit begnügen, die wichtigsten Lagerstatten herauszugreifen und in groBen Umrissen ihre Verteilung und ihre Stellung in der Volkswirtschaft des neuen Staates zu kennzeichnen. Kohle und Torf Österreichs Schatz an Mineralkohlen ist gering. Vom ganzen Kohlenbedarf des Landes konnte nach dem Umsturze nur ein Siebentel durch iniandische Kohle gedeckt werden. Inzwischen haben die Anstrengungen der österreichischen Unternehmungen die Deckung des Bedarfes bis zu einem Fünftel ermöglicht. Dabei ist die heimische Kohle zum groBen Teil niederwertig und zur Kokserzeugung ungeeignet. Steinkohle wird nur in Niederösterreich gewonnen, ein ganz kleiner Teil jenseits der Grenze in Oberösterreich (Weyer). Keines dieser Vorkommen gehört der eigentlichen Steinkohlenformation, dem Karbon, an. Sie sind durchaus jünger. Die alteste Steinkohle ist die, welche in einem Zuge von der oberösterreichischen Grenze langs des' 500 Die MineralscMtze Ybbstales bis herüber nach Schrambach bei Lilienfeld zutage tritt Sie S?4 LI™" Lunzerschichten der Trias, ist sehr rein und hochwertig (bis 7500 Warmeeinheiten), aber infolge der zahlreichen gebirgsbildenden Vorgange, denen sie unterworfen war, in ihrer Lagerung auBerordentlich gestört und in ihrem Gefüge grieBig. Sie kommt nur als Schmiedekohle in Betracht und hat ihrer teueren Gewinnung wegen nur einen beschrankten Absatz. Von geringer Bedeutung ist die Liasköhle von Gresten und Hinterholz bei Waidhofen an der Ybbs Der Wlchtigste Betrieb auf Steinkohle ist jedenfalls der Bergbau Grünbach am Schneeberg, dessen Flötze der Kreideformation angehören und eine Kohle von rund 6000 Warmeeinheiten führen. Er liefert etwa 4500 g taglich. Im ganzen werden die Vorrate an Steinkohle in Österreich mit rund 120 Millionen Meterzentner angegeben. Von ungleich gröBerer Bedeutung sind die Vorkommen Österreichs an Braunkohle, die samtlich dem Tertiar angehören. Das gröBte Braunkohlenlager ist das von Köflach. Es wird auf 900 Millionen Meterzentner geschatzt und besteht aus Braunkohle von holzigem Gefüge und lichtbrauner bis fast schwarzer Farbe. Der Heizwert der Kohle schwankt von 3200 bis 4900 Warmeeinheiten. Das Vorkommen zerfailt in viele Muiden und Flötze und wird von einer groBen Zahl von Bergwerken abgebaut. Der Hauptteil der Gewinnung ist in den Handen der Graz-Köflacher Eisenbahn- und Bergbaugeselischaft verenigt', die mit ihren vier Bergbauen fast doppelt so viel Kohle fördert wie die übrigen Betriebe zusammen. Im Durchschnitt bewegt sich die Tagesförderung dieses Revieres um 25.000 g. Die Ausgestaltung der dertigen Bergwerksunternehmungen ist seit dem Umsturze auBerordentlich betrieben worden und wird noch immer fortgesetzt. Es ist kein Zweifel daB hier eine der günstigsten Grundlagen für die industrielle tntwicklung überhaupt gegeben ist. Etwas südlich davon liegt das Wies-Eibiswalder Kohlenrevier Die ?JÏ n ?d Umfang dem Köflacher G^iet weit nachsteht vnn iL« jedoch 'f besser (4°00 bis 5000 Warmeeinheiten) und H?nH . r?' muschel,eem Bruc«- Sie kommt als Glanzkohle In den Mandel Die Leistungsfahigkeit des Revieres ist rund 7000 g taelfch Auch hier ,st bereits viel für die Ausgestaltung des Bergbaues geschenen oder noch im Zuge. 8 faCrHÖStiiCh V0" ?r3Z U"d Sehr zerstreut «eIe«en sil*d viele kleine fast durchaus mmderwertige Kohlenvorkommen in Bau, die im groBen ganzen nur örtliche Bedeutung haben. Die meisten sind untfr dll Namen des Weizer und des Ilzer Revieres zusammengefaBt. 501 Die Mineralschatze Mit in erster Reihe steht das obersteirische Kohlenrevier mit den zwei gröBten Kohlengruben österreichs, Fohnsdorf und Seegraben. Das Revier hat zwar nur noch eine begrenzte Lebensdauer (die Vonate werden mit 380 Millionen Meterzentner angegeben), es enthalt aber die beste Braunkohle (bis 6000 Warmeeinheiten) und fördert taglich Ober 20.000 q. Sein groBer Wert liegt in der unmittelbaren Nahe des stehischen Erzberges. Um diesen hatte sich schon von altersher ein sehr ansehnliches EisengroBgewerbe gebildet und nach dem Aufhören der Eisenverhüttung mit Holzkohle haben die hier befindlichen Kohlenlager die Errichtung aller Arten von Eisen- und Stahlveredlungsbetrieben ermöglicht, wie sie sonst in keinem Teile österreichs wieder zu finden sind. Die hier vor allem in Betracht kommenden Kohlengruben sind in den Handen der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft und liefern ihre Kohle fast ausschlieBlich den groBen Eisenhütten dieser Gesellschaft Diese Kohlenwerke waren schon vor dem Kriege gut eingerichtet und erfahren fortlaufend neue Verbesserungen. Neben den steirischen Braunkohlenlagern haben zwei groBe Lignitvorkommen seit dem Kriege eine besondere Bedeutung erlangt: das Wolfsegg-Thomasroither Revier in Oberösterreich und das von Zillingdorf-Neufeld an der niederösterreichisch-burgenlandischen Grenze bei Ebenfurth. Beide führen eine minderwertige Braunkohle von lichtbrauner Farbe, holzig-faserigem Gefüge und etwa 3300 Warmeeinheiten Heizwert Das Wolfsegg-Thomasroither Lager wird auf 800 Millionen Meterzentner geschatzt und bildet für Oberösterreich und Salzburg die wichtigste iniandische Brennstoffquelle. Der dortige Bergbaubetrieb ist ganz in den Handen der Wolfsegg-Trauntaler Kohlenwerks A. G, die seit dem Kriege mit allen Kratten bemüht ist neuzeitlich ausgestattete Anlagen zu schaffen. Die gegenwartige Förderung betragt durchschnittlich 16.000 q taglich. Das Zillingdorf-Neufelder Becken mit seinem Kohlenvorratvon über 500 Millionen Meterzentner ist eine der Grundlagen für die Erzeugung von elektrischem Strom für die Stadt Wien. Die geförderte Kohle (rund 15.000$ taglich) wird im naheliegenden Ebenfurth verheizt und die ihr innewohnende Energie in ganz modern eingerichteten Werken in elektrischen Strom umgewandelt. Die Kraftleitung nach Wien speist auch einige unterwegs liegende Ortschaften, insbesondere Baden. Diese Art der Ausnützung minderwertiger Kohlenvorkommen ist die weitaus wirtschaftlichste und es ist anzunehmen, daB die groBen 502 Die Mineralschatze Kohlengruben in Köflach und in Wolfsegg einen ahnlichen Weg zur Verwertung ihrer Brennstoffe gehen werden. Ein Ansatz dazu isf bereits im Köflacher Revier durch die Errichtung des Überlandkraftwerkes in Barnbach gegeben. Die übrigen Kohlenvorkommen österreichs sind von untergeordneter Bedeutung. Sie liegen zerstreut in Niederösterreich, im Mürztal, in Karnten, in Tirol und im Burgenland. Ihre Förderung ist gering. Nur bei St. Stefan im Lavanttal ist ein gröBeres Kohlenvermögen vorhanden, das eine nennenswerte Ausgestaltung des Betriebes zulaBt. Im ganzen betrug die Kohlenförderung österreichs im Jahre 1921 rund 26,165.000 q. Neben der Kohle ist seit dem Umsturze auch der Torf zu einem geschatzten Brennstoff geworden, der — wenn er getrocknet ist — eine Heizkraft von über 3000 Warmeeinheiten entwickelt. Er wurde früher nur ganz örtlich hauptsachlich zu Streu verwendet, war aber volkswirtschaftlich belanglos. Nach dem Friedensschlusse ist unter dem Drucke der Kohlennot die Alpeniandische Torfindustrie A.-G. gegründet worden, welche die hauptsachlichsten Torflager Österreichs zusammenfaBte und planmaBig auszubeuten begann. Die GröBe der österreichischen Torflager wird auf etwa 17.500 ha geschatzt. Die wichtigsten sind: Wörschach in Steiermark, Lamprechtshausen in Salzburg, Tiffen in Karnten und Windischgarsten in Oberösterreich. Im lahre 1921 sind zusammen rund 133.000 q Torf geliefert worden. Erze und Metalle Eisen Hier besitzt Österreich seinen gröBten Schatz an nutzbaren Mineralien: den steirischen Erzberg in Eisenerz. Es ist ein Stock umgewandelter palaozoischer Kalke, dessen erzführende Schicht eine Machtigkeit von nahezu 200 m hat. Die Erze bestehen hauptsachlich aus Spat- und Brauneisensteinen, die letzteren mit einem Eisengehalt bis 52%. Daneben findet sich sogenannte Rohwand, ein Bindeglied zwischen Erz und Kalk, das auch vielfach mitgewonnen wird, mit etwa 20% Eisen. Im Durchschnitt ist der Eisengehalt der geförderten Erze etwa 32%. Das Erz ist fast frei ven Schwefel und Phosphor. Die Machtigkeit des Lagers und die vorzügliche Eignung der Erze zur Erzeugung von Eisen und Stahl haben hier schon in den frühesten Zeiten des Mittelalters einen blühenden Bergbau- und Hüttenbetrieb erstehen lassen, dessen Erzeugnis als steirisches Eisen weltbekannt geworden ist. Viele Stadte der Nordalpen sind durch den Handel mit 503 Die Mineralschatze diesem Eisen groB geworden und weitherum hat die Bevölkerung vom Segen dieses Berges gelebt Heute ist der Erzberg im Besitze der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft und wird als gröBter Tagbau der Welt in 60 Stufen von etwa 13 m Höhe abgebaut. Die Erzeugung ist nach dem Umsturze plötzlich getallen, weil der Koks zur Verhflttung der Erze, der früher aus dem Ostrauer Steinkohlenrevier bezogen wurde, fehlte. Durch die Verbindung mit der reichsdeutschen GroBindustrie im Frühjahr 1921 ist dieses Hindernis zum Teile überwunden worden und allmahlich steigt die Erzgewinnung wieder an. Immerhin betrug sie im Jahre 1921 mit fast 6,500.000? erst wenig über ein Viertel des höchsten Standes von 22,600.000? im Kriegsjahre 1916. Im gleichen Gesteinszuge, dem der steirische Erzberg angehört, liegt noch eine groBe Zahl von Eisenerzvorkommen, die perlenschnurartig ungefahr von Jenbach in Tirol bis nach Payerbach in Niederösterreich streichen. Sie sind in der Nahe des Erzberges mehr gehauft, haben aber nirgends sonst AnlaB zu einem gröBeren Bergbaubetrieb gegeben. Zumeist liegen die begonnenen Schürfungen stilt Nachst dem steirischen Erzberge ist nur der Hüttenberger Erzberg in Karaten von Bedeutung. Es ist ein in den Glimmerschiefer eingelagerter Erzstock von Spateisenstein, zum Teile umgewandelt in Rot- und Brauneisenstein. Das Erz hat einen sehr betrSchtlichen Mangangehalt Der Durchschnittsgehalt der geförderten Erze an Eisen ist etwa 40%. Der Hüttenberger Erzberg bildete vor Zeiten die Grondlage für eine blühende Eisenindustrie, der Betrieb lag aber um die Wende des Jahrhunderts fast still. Er erholte sich dann rasch und erreichte im Jahre 1916 eine Förderong von 1,240.000?. Im Jahre 1921 wurden nur 584.000 2 gefördert. Er ist im Besitz der ÖsterreichischAlpinen Montangesellschaft. Auch im Zuge des Hüttenberger Erzvorkommens liegt eine betrachtliche Zahl kleinerer Eisenerziager, die samtlich in Karaten sind, aber nicht abgebaut werden. AuBer diesen zwei Erzbergen sind nur noch kleine Eisenerzgruben in Betrieb, von denen der Bergbau Schöfferrötz bei Werfen in Salzburg, der das Erz für die dortige Konkordia-Eisenhütte liefert, am gröBten ist. Alle anderen sind unbedeutend, doch ist zu hoffen, daB aus den vielen Schürfungen, die in sSmtlichen Landern österreichs betrieben werden, der eine oder andere kraftige Bergbau noch erstehen werde. Die Bereitung von Eisen und Stahl ist weit überwiegend an die von altersher berühmten Verhüttungsstatten der sogenannten 504 Die Mineralschatze Eisenwurzen geknüpft, bestimmt durch die hervorragende Bedeutung des steirischen Erzberges. Hier, also im nordöstlichen Teile Steiermarks und in den angrenzenden Teilen von Nieder- und Oberösterreich, lagen ehedem die zahlreichen Schachte und Schlote der alten Hochöfen und ZerennhMmmer und hier befinden sich heute jene Mittelpunkte des GroBeisengewerbes, die mit ihren Erzeugnissen den alten Ruf des steirischen Eisens bewahrt und weiter verbreitet haben. Sehr viele der alten Öfen und Hammer haben inzwischen ihren Betrieb eingestellt oder sich nur noch mit der Eisenverarbeitung beschaftigt und sich allen möglichen Zweigen der Maschinenindustrie zugewendet. Um so mehr sind die eigentlichen Ausgangspunkte der Eisen- und Stahlindustrie selbst gewachsen. Hiezu hat der wirtschaftliche Grundzug der neuen Zeit, dieTatigkeit in wenige Betriebsstatten zusammenzuziehen und hier in vollkommenster Weise auszufflhren, nicht wenig beige tragen. So hat sich Donawitz im Besitze der ÖsterreichischAlpinen Montangesellschaft zum zweitgröBten Hüttenwerk der alten Monarchie entwickelt, umgeben von einem Kranz kleinerer eisenverhüttender und -verarbeitender GroBbetriebe derselben Gesellschaft wie Eisenerz, Hieflau, Zelfweg und Neuberg. Und mit ihnen gleichen Schrittes haben sich die alten Tiegelstahlhütten vervollkommnet und entfaltet und stehen heute mit ihren Erzeugnissen an Edelstahl auf dem Weltmarkt in erster Reihe; so die Böhlerwerke in Kapfenberg, die Phönix-Stahlwerke von J. E. Bleckmann in Mürzzuschlag, beide in Steiermark, und die Schöller-Stahlwerke zu Ternitz in Niederösterreich. Noch bis in die letzte Zeit hat man trotz der Fortschritte in der Reinigung des Roheisens von Schwefel und Phosphor für die Herstellung der besten Stahlsorten des reinen Holzkohlenroheisens nicht ganz entraten können und so ist im alten Bergort Vordernberg auch heute noch ein Holzkohlenhochofen der Gebrüder Böhler mit etwa 40 t Fassungsraum in Betrieb. Weitaus der gröBte Teil an Roheisen wird aber in sieben Kokshochöfen erzeugt, die im genannten Gebiet im ausschlieBlichen Besitz der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft sind. Der gröBte von ihnen hat 400 t Tageserzeugung. Die Menge des erzeugten Roheisens schwankt mit der des gewonnenen Erzes. Sie war im Jahre 1916 am gröBten und betrug rund 6,500000?. Im Jahre 1921 hatte sie sich nach dem starken Rückgange im lahre 1919 wieder auf Ober 2,000.000? erholt, hauptsachlich infolge der im April dieses lahres einsetzenden Kokslieferungen aus Deutschland. 505 Die Mineralschatze Ebenso schwankend war infolge der politischen Lage Österreichs die Erzeugung an Stahl in den groBen Hotten des MQrztales und in Ternitz. Aber auch sie ist in der letzten Zeit wesentlich gestiegen und betrug im ersten Halbjahre 1922 schon Ober 2,000.000 ?. Neben diesen groBen Eisenbetrieben kommt nur noch die Konkordiahfltte des Eisenwerkes Sulzau-Werfen in Salzburg in Betracht, die ihre höchste Leistung wahrend des Krieges im Jahre 1917 erreichte. Sie erzeugte damals an 55.000 q Roheisen, zum gröBten Teile unmittelbar GuBwaren. Nach dem Kriege stand sie eine Zeitlang still und hat im Jahre 1921 mit 23.000 q noch nicht die Halfte der Höchstleistung erreicht. Alle übrigen Hochofenanlagen Österreichs sind gegenwartig stillgelegt und werden ihren Betrieb wohl sobald nicht wieder aufnehmen können. Kupfer und Schwefel AuBer dem Eisen findet sich in österreich vor allem Kupfer in bedeutender Menge, wenn auch für den hohen Eigenbedarf unserer Industrie noch eine groBe Menge aus den Vereinigten Staaten Amerikas und aus Deutschland bezogen werden muB. (84.000 q Einfuhr gegen 31.000 q Ausfuhr im Jahre 1921.) Die Lagerstatten auf Kupfer in Form von Kupferkies sind auBerordentlich zahlreich und über die ganzen Alpen verfeilt. Von Bedeutung sind aber gegenwartig nur die Kupferkiesvorkommen der nördlichen Grauwackenzone in Salzburg und Tirol, allen voran der Bergbau am Mitterberg bei Bischofshofen. Hier findet sich ein schon in vorgeschichtlicher Zeit bekanntes, aber erst im letzten Jahrhundert zur Blüte gediehenes Kupferlager. Das Vorkommen besteht aus Kupferkies, der als Gang in Quarzphyllit eingebettet ist, begleitet von Schwefelkies, Spateisenstein und Ankerit. Der Kupfergehalt der Roherze ist im Durchschnitte 2 5 bis 4%. Die Fördejung ist insbesondere durch den Metallbedarf im Kriege sehr gestiegen und hat im Jahre 1917 über 800.000? Roherz erreicht. Nach dem Umsturze ist sie bedeutend gesunken, erholte sich aber wie bei allen anderen Erzgruben allmahlich wieder und betrug im Jahre 1921 rund 200.000? Das Erz wird in der nahe gelegenen Kupferhütte in AuBerfelden, der weitaus gröBeren der beiden in österreich befindlichen Kupferhütten, verarbeitet. Im Jahre 1921 erzeugte sie etwa 42.000? Kupfer. Die vielen übrigen Kupferkiesfundstellen in Salzburg, Tirol und Karnten sind so wenig reich und ergiebig, daB sie einen groBen anhaltenden Betrieb nirgends ermöglicht haben. Die Bergbaue sind bald eingestellt, bald wieder aufgemacht worden. Gegenwartig sind elf solcher Gruben in Betrieb, von denen als die gröBte Falkenstein 506 Die Mineralschatze bei Schwaz in Tirol, die silberbaitige Fahlerze fördert, genannt sein möge. Auch der Staat besitzt mehrere Kupferkiesgruben in Karnten und Tirol und verschmilzt die Erze in der eigenen Kupferhütte in Brixlegg. Der gröBte staatliche Kupferkiesbergbau ist augenblicklich lochberg bei Kitzbühel. Mit Kupfer findet sich fast überall in gröBerer oder geringerer Menge die Schwefelverbindung des Eisens, der als Schwefelerz für die Zelluloseerzeugung wichtige Schwefelkies. Invielen Fallen geht das Kupferlager in der Tiefe in ein Schwefelerzlager über, indem der Kupfergehalt mehr und mehr gegen den an Eisen zurücktritt. Aber einige Vorkommen sind als ausgesprochene Schwefelkieslagerstatten hervorzuheben. Es sind drei Vorkommen in Steiermark: Kallwang, öblarn und Stübing; eines in Karnten: GroBfragant; eines in Tirol: Panzendorf-Tessenberg und eines in Glashütten im Burgenland. Im allgemeinen ist durch die wirtschaftliche AbschlieBung österreichs die Bedeutung des Schwefelkiesbergbaues gestiegen, weil die heimischen Papierfabriken bei dem gesunkenen Kronenwerte vielfach den inlandischen Schwefelkies dem teueren auslandischen vorzogen. Im Jahre 1921 lieferten alle Gruben österreichs zusammen 60.300 q Schwefelkies mit etwa 37% Schwefel und einem verschwindenden Gehalt an Kupfer, das ist ein Viertel des Gesamtverbrauches, der zum andern Teil vorwiegend durch spanische, sehr reiche Schwefelkiese gedeckt wurde. Blei und Zink Diese beiden Metalle finden sich in den Lagerstatten fast immer vereint vor, wenn auch in den Erzen bald das eine, bald das andere überwiegt. Sie sollen deshalb auch hier gemeinsam besprochen werden. Ahnlich wie mit Kupfer ist österreich mit Blei verhaitnismaBig gut versehen. Trotzdem ist es aufs tiefste zu bedauern, daB ihm das reichste und wohl ausgestattetste Lager der alten Monarchie: das Mieser Revier in der südöstlichen Ecke Karntens und ein zweites groBes Bleivorkommen im Gebiete von Raibl bei Tarvis, samt den dort befindlichen Hütten, ungeachtet der tapferen Abwehr der Karntner, durch den Frieden von Saint Germain entrissen wurden, so daB wir nun gezwungen sind, einen Teil des benötigten Bleies einzuführen. Geblieben ist uns das sehr alte und reiche Lager von Bleiberg, westlich von Villach. Hier tritt das Erz in den oberen Schichten der alpinen Trias in Spalten und Schiauchen auf. Es ist in der Hauptsache Bleiglanz, ausgezeichnet durch seine seltene Reinheit von Kupfer, Silber 507 Die Mineralschatze und Antimon. Daneben findet sich vor allem Zinkblende und das durch seinen Molybdangehalt wertvolle Qelbbieierz. Der Bergbau ist im Besitze der Bteiberger-Bergwerks-Unlon und technisch vorzügltch ausgestattet. Ér hat wie alle Erzbergbaue im Kriege die höchste Leistung erreicht und im Jahre 1916 rund 88.000 ? Bleierze und 15.000? Zinkerze erzeugt lm Jahre 1921 betrug die Bleierzgewinnung nicht einmal die Halfte (37.000 ?) und Zinkerz wurde des sehr schlechten Absatzes wegen nur in ganz versctawindender Menge mitgewonnen. Die Bleierze werden in der eigenen Hotte in Gailitz bei Arnoldstein, der einzigen Österreichs, zu Weich- und Schrotblei verschmolzen. Die Zinkerze mussen zur VerhOttung ins Ausland genen. Westlich von Bleiberg liegen im selben Gebirgszuge noch viele kleine Vorkommen, deren Abbau sich zumeist nicht lohnt. Dagegen haben sich die alten Betriebe auf Blei und Zink in Nordtirol vielfach erhalten, wenn sie auch infolge der wirtschaftlichen AbschlieBung Osterreichs nach dem Kriege schwer zu kampfen haben und sich nur mit gröBter Anstregung behaupten können. Sie gehören densèlben Gebirgsschichten an wie das Bleiberger Vorkommen. Von Bedeutung sind nur drei Gruben in der Umgebung des Fernpasses bei Nassereith die zusammen im Jahre 1921 etwa 12.000 q Blei- und Zinkerze geliefert haben, die fast ganzlich nach Deutschland ausgeführt wurden. Eine ziemlich gleich groBe Ausdehnung wie diese haben zwei Blei- und Zinkerzbergbaue Steiermarks: Haufenreith bei Weiz und Rabenstein bei Frohnleiten. Sie gehören einer Gruppe von Bleierzvorkommen an, die in den devonischen Schiefern des Grazer Paiaozoikums liegen. Die Haupterze sind auch hier Bleiglanz und Zinkblende. Die beiden Bergbaue fördern ungefahr gleich groBe Mengen und annahernd ebensoviel Blei- wie Zinkerze. Auch ihre Erzeugung betragt zusammen gegenwartig rund die Halfte des höchsten Kriegsstandes, der im Jahre 1916 über 18.000? Blei- und Zinkerze erreichte. Sie ist überdies auBerordentlich schwankend, weil die Erze zur Verhüttung ins Ausland gehen müssen und ihr Absatz daher vom augenblicklichen Geldwert abhangt. Im ganzen wurden im Jahre 1921 rund 23.500 ? Blei gewonnen. Gold Die Ostalpen, insbesondere im heutigen Gebiete Österreichs, waren von altersher bekannt durch ihren Reichtum an Gold. Es findet sich vor allem im Zentralgneis und seiner Schleferhülle vom Brenner bis nach Steiermark. Ihm ist in den Bergen nachgegangen, 308 Die Mineralschatze es ist aber auch vielfach aus den Flüssen gewaschen worden, die den goldführenden Alpen entströmen. Heute kommt die Gewinnung solchen Waschgoldes nicht mehr in Frage. Dagegen hat die bergmannisehe Gewinnung des Goldes nie ganz aufgehört, wenn sie auch nach der Entdeckung der reichen Oberseeischen Goldlager stark zurückgegangen ist. Aber kurz vor dem Kriege erst, veranlaBt durch den Bau der Tauernbahn und begunstigt durch einschneidende Erfindungen in der Verhüttung des Goldes, wodurch auch noch arme Erze verwertet werden können, haben die groBen Goldlager der Hohen Tauern neuerlich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und seit der AbschlieBung Österreichs durch den Frieden von Saint Germain sind viele Kreise bemüht, sie wieder aufzuschlieBen und diesen Goldschatz Österreichs groBzügig auszuwerten. Vor allem ist es der sogenannte Sonnblickkern der Hohen Tauern mit dem uralten Bergbau Rauris, der zunachst dem AufschluB zugeführt wurde. Es hat sich die Gewerkschaft Rathausberg gebildet, die im Anschlusse an frei gewordene Kraftanlagen der Tauernbahn die Arbeiten in Angriff nahm. Der Staat ist hieran erheblich beteiligt und alle Aussichten dieses Unternehmens sind günstig. Augenblicklieh werden ausgedehnte Stollen geschlagen, um die tieferen Teile der Golderzgange anzufahren. DemgemaB ist die Ausbeute voriaufig noch gering. Ahnlich steht es mit der Aufnahme des Goldbergbaues im Lungau am nordöstlichen Abfall des Hochalmmassivs. Wenn hier auch ein sofortiger Nutzen nicht winkt, so ist es doch zu begrüBen, daB die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Unternehmungen erkannt wurde und ungeachtet eines erst spateren Erfolges alle Lasten getragen werden, um diesen Zweig unseres Volkse vermögens fruchtbxingend zu gestalten. Zwei kleinere Bergbaue auf Gold, die seit langerer Zeit in Betrieb stehen, aber zeitweise still lagen, sind der am Fundkofel bei Unterdrauburg und der am Hainzenberg bei Zeil am Ziller. Es ist noch zu erwahnen, daB sich sowohl in den Gold-, als auch insbesondere in den Kupfererzlagern fast immer Silber findet und auch überall gewonnen wird, wo silberhaMtige Erze verhüttet werden. Doch ist seine Ausbeute nicht sehr groB. Im Jahre 1921 wurden im ganzen 311 kg Silber erzeügt Sonstige Metalle Neben den erwahnten besitzt Österreich noch manche Lagerstfttten wertvoller Erze mit betrachtlichem Gehalt an Silber Quecksilber, Mangan, Kobaid, Nickel, Chrom, Antimon und Arsên, doch 509 Die Mineralschatze sind die Bergbaue groBenteils eingestellt oder sie beschranken sich darauf, nach ergiebigen Lagern zu schürfen, ohne daB bisher die Grundlagen für einen ertragfahigen Bergbau gewonnen worden waren. Hervorzuheben ist noch der Antimonbergbau in Schlaining im Burgenlande, der seit langem besteht und noch manchen Fortschritt erwarten laBt. Vielversprechend sind in letzter Zeit einige Vorkommen von Aluminiumerz, sogenanntem Bauxit, geworden, nachdem es gelungen ist, daraus mit Hilfe der aus unseren groBen Wasserkraften in den Alpen gewonnenen elektrischen Energie auf einfache Weise Aluminium herzustellen. Hier kommt insbesondere das Bauxitvorkommen am Untersberg bei Salzburg in Betracht, das im Jahre 1921 über 25.000? Erze mit einem Durchschnittsgehalt an Aluminium von 56°/0 förderte. Das Aluminiumerz findet sich hier in Klüften und Höhlen des Kalkes als Verwitterungsergebnis mergeliger Kalke. Da österreich einen groBen Reichtum an nutzbaren Wasserkraften hat und damit imstande sein wird, billig elektrische Kraft zu erzeugen, so ist anzunehmen, daB auch noch andere Lager von Bauxit, wie sie in Oberösterreich und Niederösterreich bereits gefunden wurden, ihrer Verwertung werden zugeführt werden können. Sonstige Mineralien Graph it Steiermark hat in der alten Monarchie neben Böhmen die österreichische Monopolstellung in Europa für Graphit begründet. Es ist uns also auch noch nach dem Weltkriege ein Teil dieses Vermogens geblieben. Die steirischen Graphite, ausgezeich.net durch ihren hohen Kohlenstoffgehalt und das Fehlen von Schwefel, worauf von altersher ihre Verwendung bei der Tiegelstahlerzeugung beruhte, finden sich in einem Karbonzuge an der Grenze der Zentralalpen gegen die nördlichen Kalkalpen in Tonschiefern und Sandsteinen eingelagert und sollen umgewandelte Steinkohlenflötze darstellen. Sie sind von Trieben im Paltental über St Michael bis zum Semmering zu verfolgen. Die Hauptvorkommen sind im Palten- und Liesingtal, der wichtigste Bergbau ist Kaisersberg bei St Michael. AuBerdem findet sich in Niederösterreich die Fortsetzung des böhmisch-mahrischen Graphitzuges bis herab zur Donau. Im allgemeinen ist es ein feinschuppiger, durch Schwefelkies verunreinigter Graphit, der sich aber als Farbe und zur Bleistifterzeugung vortrefflich verwenden laBt Die hauptsachlichsten von den vielen mit seiner Ge- 510 Die Mineralschatze winnung beschaftigten Betrieben sind Mühldorf bei Spitz an der Donau und Rastbach bei Krems. Die ganze Graphiterzeugung österreichs betrug im Jahre 1921 rund 133.000 q Rohgraphit, aus dem gegen 25.000 q Raffinadegraphit hergestellt wurden. Von dieser Menge ist der weitaus gröBte Teil ausgeführt worden. An Mineralfarben, richtiger natüriichen Farberden, hat österreich einige Fundorte, die aber volkswirtschaftlich belanglos sind (Eisenglimmer im Lavanttale bei Waldenstein und Ocker bei Graz). Magnesit, Talk, Asbest Der Magnesit ist ein für die Eisen- und Stahlbereitung unentbehrliches Gestein, da er der einzige Baustoff ist, der im gebrannten Zustande Hitzen bis gegen 3000° C aushalt. In früheren Zeiten unbeachtet, ist sein Wert mit der Ausbreitung der Stahlindustrie ungemein gestiegen, um so mehr als auf der ganzen Erde nur sehr wenige reiche Fundstellen brauchbaren Magnesites anzutreffen sind. Die besten und reichsten finden sich in unserem sonst so armen Staate, so daB Österreich hierin eine Art Monopolstellung einnimmt. Darauf beruhte der groBe Absatz schon vor dem Kriege, der 2,000.000 q überstieg und der sich über die ganze Welt erstieckte. Der Absatz hat inzwischen unter den wirtschaftspolitischen Veranderungen in den einzelnen Staaten sehr gelitten und ist insbesondere gedrosselt worden durch einen sehr hohen ©fflihrzoll der Vereinigten Staaten Amerikas. Immerhin betragt er heute noch etwa die Halfte des höchsten Vorkriegsstandes. Die Trager dieses Schatzes sind ahnlich wie bei Graphit die Karbonschichten an der Grenze zwischen Urgestein und alpiner Trias. Wichtig ist vor allem der Zug vom Semmering durch das Mürz- und Murtal ins Liesing- und Paltental. Hier sind es durchaus kristalline Magnesite von groBer Reinheit, die sich in betrachtlichen Lagern finden. Die bedeutendsten sind die von Veit sch und Trieben, beide im Besitze der Veitscher Magnesitwerke. AuBerdem gewinnt dieselbe Unternehmung noch Magnesit in Breitenau bei Bruck an der Mur und in Eichberg am Semmering. Er wird überwiegend an Ort und Stelle zu Sintermagnesit gebrannt und zum Teile sogleich zur Herstellung von Magnesitsteinen verwendet. Die Tatigkeit dieser Unternehmung ist durch den Krieg stark unterbunden worden, doch steigt die Erzeugung jetzt wieder an und betrug im Jahre 1920 rund 600.000 q woraus etwa die "Halfte an Sintermagnesit gewonnen wurde. 511 Die Mineralschatze Neben diesen ist besonders das Vorkommen kristalliner Magnesite auf der Millstatteralpe bei Radenthein in Karnten wichtig, das de* Österreichisch-amerikanischen Magnesitgesellschaft gehört. SchlieBlich ist ein Bergbau auf amorphen Magnesit, der an sich wertvoller ist als der kristalline, zu Kraubath in Steiermark zu nennen. Die Lagerstatte ist aber wenig machtig und vielfach gestört, die Gewinnung daher teuer, so daB dieser Magnesit nur für die chemische Industrie in Betracht kommt Kleinere Vorkommen finden sich noch im Enns- und Salzachtale. Es ist nicht unwahrscheinlich, daB auch diese einmal gröBere Wichtigkeit erlangen werden. In enger Gesellschaft des kristallinen Magnesites findet sich haufigTalk, der an einer Fundstelle: bei Mautern in Obersteiermark, eines der gröBten Lager Europas bildet Seine Verwendung als feuerfester Stein in der chemischen Industrie und als FederweiB in der Hautpflege hat hier einen blühenden Bergbaubetrieb ermöglicht, der vor dem Kriege jahrlich etwa 150.000 q Talk geliefert hat wovon mehr als die Halfte ausgeführt werden konnte. Auch heute ist Talk eines der wichtigsten Ausfuhrguter insbesondere nach Deutschland. Kleinere Vorkommen in der Nahe Mauterns und in der Oststeiermark treten an Bedeutung zurück. Bemerkenswert sind noch die beiden Asbest vorkommen im Gasteinertale und bei Trieben im Paltentale. Doch sind sie nicht reich genug, um wirtschaftlich eine nennenswerte Rolle zu spielen, and sie genügen nicht einmal, den eigenen Bedarf Österreichs zu decken. Gips und Industrieerden Nicht wegen ihres örtlichen Reichtums, sondern ihrer groBen Zahl willen, die eine bemerkenswerte Gewinnung ermöglicht hat müssen die Gipsvorkommen erwahnt werden, die sich im Zuge der Werfener Schiefer in den nördlichen Kalkalpen von Wien bis Vorarlberg finden. Gips ist ein standiger Begleiter der alpinen Salzlager, die auch die wasserfreie Form, den Anhydrit, regelmaBig führen. Einige der wichtigsten Fundorte sind Puchberg am Schneeberg, der Semmering, Seewiesen bei Aflenz, Admont und Hallein. Für die Industrie von Wichtigkeit sind noch zwei Gesteine: der Zementmergel und die Porzellanerde. Der Zementmergel gehört im allgemeinen der Kreide oder dem Alttertiar an und findet sich in vorzüglicher Beschaffenheit in der Gegend von Kufstein und Haring 512 Die Mineralschatze in Tirol und in Judendorf bei Graz. An beiden Stellen wird der gewonnene Rohstoff sogleich zu Zement verarbeitet. Porzellanerde findet sich in genügender Reinheit seiten, so beispielsweise bei Schwertberg in Oberösterreich. Mit Rücksicht auf den völligen AbschluB der nordwestböhmischen Kaoline und der darauf beruhenden reichen Porzellanindustrie besteht für unsere weit armeren Vorkommen immerhin die Aussicht auf einen gedeihlichen Bergbaubetrieb, der es nach und nach ermöglichen könnte, uns von der sehr kostspieligen Einfuhr aus Böhmen unabhangiger zu machen. Auf Quarzsand zur Glasverarbeitung wird an vielen Stellen geschürft, bekannter sind nur Vorkommen in der Oststeiermark und im Hausruck in Oberösterreich geworden. Erdöl und ölschiefer So reich die Monarchie an Erdöl durch die Naphthagruben in Galizien war, so arm ist bis jetzt Österreich an Erdöl geblieben. Dennoch werden von manchen Fachleuten auch in dieser Richtung groBe Reichtümer vermutet und nach dem Umsturze sind eine zeitlang die schon früher begonnenen Bohrungen eifriger betrieben und neue angesetzt worden. Vielversprechend galt von jeher die Welser Heide, die durch ihre Gasausströmungen bekannt ist, was auf unterirdische' Naphthaquellen hinweist. Wirkliches Erdöl ist aber bis jetzt nirgends erbohrt worden. In Tirol findet sich im Zuge der nördlichen Kalkalpen sehr haufig ein ölhaltiger Schiefer oder Kalk eingelagert, gewöhnlich A s p h a 11stein genannt, der beim Erhitzen eine fast schwarze, teerige Masse ausschwitzt, die ihrer Heilkraft wegen schon seit langer Zeit die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Das Erzeugnis des gröBten dieser Bergbaue ist bisher als Ichthyol in den Handel gekommen und erfreut sich in der Heilkunde eines sehr guten Rufes. Inzwischen sind mehrere Bergbaue auf dieses Mineral eröffnet worden, vielfach mit der Absicht, die gewonnenen Öle auch für industrielle Zwecke zu verwerten, doch hat sich der Betrieb bisher überall nur für Heilmittelzwecke gelohnt. Die wichtigsten Bergbaue sind bei Seefeld, Kufstein und am Aachensee bei Pertisau. Salz Die Salzlagerstatten im Gebiete der nördlichen Kalkalpen sind von den altesten Zeiten an von gröBter Wichtigkeit gewesen. Sie 33 513 Die Mineralschatze haben schon in der Vorzeit die Menschen zu festen Siedlungen bewogen, wie die Hallstatter OrSberfunde beweisen, und sind seitdem immer wieder einer der Mittelpunkte der Wirtschafts- und Kulturentwicklung unseres alpenlandischen Volkes gewesen. Seiner hohen Bedeutung für das Leben überhaupt ist es zweifellos auch zuzuschreiben, daB das Salz von allen wertvollen Mineralien das einzige ist, das trotz aller Wandlungen im Wirtschaftsleben des alten österreich im alleinigen Eigentum des Landesfflrsten geblieben ist, der die Salzbergbaue einer besonderen Verwaltung, der Salzkammer, unterstellte. Und noch heutigen Tages ist es ein Monopol des Staates. Die Salzvorrate in unseren Alpen sollen selbst bei der jetzigen, noch recht unvollstandigen Art der Gewinnung für mehrere hundert Jahre reichen. Zum Teil sind die tieferen Lager überhaupt noch unerforscht. Die bestehenden Salinen würden es ermöglichen, weit mehr Salz zu erzeugen, als gegenwartig für den Bedarf des eigenen Landes nötig ist, so daB eine groBe Menge davon ausgeführt werden künnte, insbesondere nach den ganz salzlosen Sudeteniandern. Daneben kommt es in immer steigendem MaBe für das chemische GroBgewerbe zur Erzeugung von Soda und Zellulose in Betracht. Augenblicklich ist die Salzerzeugung eingeschrankt, doch besteht kein Zweifel, daB mit der Gesundung der staatlichen Verhaitnisse auch diese Quelle wirtschaftlicher Kraft im vollen Umfange verwertet werden wird. Die alpinen Salzvorkommen sind überall von derselben Art Es sind Stöcke von mit Salz getranktem Ton oder Mergel, die in die Schichten der Trias eingelagert sind und langs der nOrdlicben Kalkalpen in einer Kette von Hainfeld in Niederösterreich bis Hall in Tirol zutage treten. Kristallsalz ist seiten und gewöhnlich verunreinigt. Das Salz wird durch Auslaugen des Gebirges und Versieden der Sole gewonnen. Es bestehen derzeit fünf Salzbergbaue mit ebensoviel Sudhütten in Aussee, Hallstatt, Ischl, Hallein und Hall in Tirol, daneben eine groBe, gut eingerichtete Sudhütte in Eb en see, welche Sole von Hallstatt Aussee und Ischl versiedet, die von dort in langen Rohrleitungen zuflieBt Das reichste Salzvorkommen ist in Bad Aussee, das ausgedehnteste in Hallstatt. Das Vorkommen des Halleiner Salzberges reicht nach Bayern hinflber, wird aber in diesem Teile von österreich aus abgebaut lm Jahre 1921 betrug die Gewinnung an Stein- und Sudsalz rund 1,300.000 q, das sind etwa drei Viertel der Friedenserzeugung. 514 Die Mineralschatze Mineralquellen Soviel Mineralquellen im Boden unserer Alpenlander auch entspringen, von volkswirtschaftlicher Bedeutung sind doch nur wenige, Diese freilich glanzen auch weiterhin durch ihren Weltruf und vermögen uns einigermaBen über den schweren Verlust der böhmischen Bader und Weltkurorte zu trösten. Allen voran steht Bad Gastein, eine warme Quelle, die seit den frühesten Zeiten des Mittelalters bekannt ist und ihre Entstehung einem tief reicbenden Spaltensystem im Ankogelmassiv der Zentralalpen verdankt. Nun hat man für ihre besondere Heilkraft auch die Erklarung gefunden in der auBerordentlichen Radioaktivitat der Quellen, die im alten österreich nur von Joachimstal in Böhmen, dem hauptsachlichsten Gewinnungsort des Radiums, übertroffen wurde (bis 150 Macheeinheiten). Im ganzen bestehen acht Quellen oder Quellsysteme, alle im Besitze der Gemeinde Bad Gastein, mit einer Ergiebigkeit von rund 3100 Minutenlitern und eitter Temperatur von 30 bis 50° G. Die Zahl der Kurgaste betrug im Frieden jahrlich etwa 15.000 Personen. Nach Bad Gastein sind als die bekanntesten warmen Quellen zu nennen: Vöslau mit einer Quelltemperatur von 300 C, Villach mit 280 C und Tobelbad bei Graz mit 300 C, welche zumeist auf Brucln linien im Aufbau der Erdrinde zurückzuführen sind. Neben der Therme von Gastein ist es vor allem eine Schwefelquelle, die ein österreichisches Bad von Weltruf begründet hat, die von Baden bei Wien. Hier sollen es in der Tiefe liegende Gipsmassen der unteren Trias sein, die den am Bruchrande der Alpen aufsteigenden Quellen ihren hohen Schwefelgehalt verleihen, dieselbe Ursache, die noch bei vielen anderen im Zuge der nördlichen Kalkalpen auftretenden Schwefelquellen angenommen wird, so bei Wörschach in Obersteiermark und bei Fieberbrunn in Tirol.' Die Badener Quellen waren schon den Römern bekannt und wurden von ihnen zweckmaBig ausgenützt. Sie sind aber erst vom Ausgang des Mittelalters an zu ihrer heutigen Bedeutung aufgestiegen. Es sind dreizehn Quellen mit einer Gesamtergiebigkeit von 2100 Minutenlitern, die eine Temperatur von 30 bis 400 C aufweisen. Aber auch ihre Radioaktivitat ist beachtenswert (bis acht Macheeinheiten). Der Besuch Badens schwankt um 30.000 standige Kurgaste im Jahre die vielen flüchtigen Besucher nicht gerechnet. Damit steht Baden an. der Spitze aller österreichischen Bader. 33* 515 Die Mineralschatze Bekannte Sch wef elquel Ien sind neben den schon genannten DeutschAltenburg bei Hainburg und Obladis in Tirol. Im Jahre 1919 ist auBerdem gelegentlich einer Erdölbohrung in Schallerbach bei Wallern im Gebiet der Welser Heide eine Schwefelquelle erschlossen worden, deren ungewöhnliche Heilkraft seitdem viel Aufsehen erregte und die neben ihrer Ergiebigkeit von 3600 Minutenlitern und einer Temperatur von 37° C auch in den sonstigen Eigenschaften den Badener Quellen nicht nachstehen soll. Erst die Erfahrung und genauere Untersuchungen können lehren, ob die Quelle anhaltend sein wird und tatsachlich die wertvollen Eigenschaften besitzt, die ihr zugeschrieben werden. Jedenfalls ist damit schon heute dem Lande Oberösterreich, das am Eigentum dieser Quelle ausschlaggebend beteiligt ist, eine weitere Grondlage wirtschaftlichen Wohlstandes geboten. AuBer den warmen und den Schwefelquellen sind für österreich noch die Salzwasser und die Sauerlinge wertvoll. Die Salzquellen finden sich stets in örtlichem Zusammenhange mit den alpinen Salzlagerstatten. Auch bestehen bei allen Salinen Solbader, die ihre Sole aus den Salzbergbauen beziehen und von denen die in Aussee und in Ischl am meisten besucht sind. Daneben ist aber eine.Quelle besonders durch ihren hohen Brom- und Jodgehalt ausgezeichnet und weltbekannt: Bad Hall in Oberösterreich. Sie entspringt dem jungtertiaren Schlier des Alpenvorlandes und soll schon von den Kelten zur Salzgewinnung verwertet worden sein. Sie gehört dem Lande Oberösterreich, ist aber nicht sehr ergiebig (etwa 50 Minutenliter) und kali Als bedeutendster Sauerling ist Glei ehen berg in der Oststeiermark hervorzuheben. Die Ursache des Entstehens der Quellen wird in vulkanischen Trachytausbrüchen an der östlichen Abbruchlinie der Alpen gesehen. Auch dieses Heiibad ist uralt und wird von vier Quellen mit einer Ergiebigkeit von etwa 80 Minutenlitern gespeist Das Wasser ist fast kalt Die Besuchsziffern von Bad Hall und Gleichenberg sind ungefahr gleich groB und betrogen im Frieden um 6000 Personen. In die gleiche Reihe von Sauerlingen am Ostabbruch der Alpen gehören auch die ziemlich zahlreichen Mineralquellen des Burgenlandes, von denen aber nur Sauerbrunn und Tatzmannsdorf bei Oberwarth besonders genannt zu werden verdienen. Die dortigen alkalischen Sauerlinge und Schwefelquellen spielen bei weitem nicht die Rolle wie die österreichischen. Zu den bedeutenderen Sauerlingen in österreich gehört Preblau in Karnten. 516 Die Mineralschatze Überblicken wir nun die Bodenschatze österreichs und die Tatigkeit der Betriebe, die sich ihre Nutzbarmachung zur Aufgabe gesetzt haben, so finden wir neben manchen Rohstoffen, deren Mangel ons sehr empfindlich drückt wie der Kohle und dem Erdöl, doch wieder andere, die wir entweder fast allein erzeugen, wie den Magnesit, oder doch in solchen Mengen, daB sie für lange Zeit ein sicherer Ausfuhrgegenstand bleiben werden, wie Eisenerz, Graphit, Talk und Gips, und deren Ertrag ein Gegengewicht bildet für die hohen Kosten, die uns der Mangel an den ersteren auferlegt. Manche andere Zweige unseres Bergwesens wieder, deren Rohstoffgewinnung gerade dem eigenen Bedarf genügt oder um diesen herum schwankt, wie es bei Salz, Blei, Zink und Kupfer der Fall ist, sind noch in hohem Grade entwickiungsfahig, und einer zielbewuBten Wirtschaftspolitik wird es mit Hilfe einer tuchtigen und arbeitsfreudigen Bevölkerung zweifellos gelingen, auch auf diesen Gebieten Quellen des Volkswohlstandes zu erschiieBen. Freilich ist das erst dann zu erwarten, wenn die uns feindlich gesinnten Nachfolgestaaten und ihre groBen Beschützer aufgehört haben werden, die wenigen hoffnungsvollen Wirtschaftszweige des kleinen Staates für sich auszubeuten und ihm jede Entwicklungsmöglichkeit durch Verhinderung des Anschlusses an ein groBes, naturgemafies Wirtschaftsgebiet zu unterbinden. Aber auch für Österreich wird einmal die Stunde der Befreiung von den drückenden Fesseln kommen, in die es ein unwürdiger Vertrag, aufgebaut auf die Lüge von der Schuld am Kriege, geschlagen hat. Dann wird es wieder frei aufatmen und die schöpferischen Krafte regen können; aber nicht mehr in dem undankbaren Bemühen um die Hebung des Wohlstandes kulturarmerer Nachbarn, für deren Vorwartskommen gerade auf dem Gebiete des Bergwesens es Jahrhunderte lang hervorragende Leistungen vollbracht hat, sondern im Dienste der Wohlfahrt des eigenen Volkes, zu Nutz und Frommen der österreichischen deutschen Heimat 5t7 Elemente Franz Herold Hoch trotzt der Berg: „Ich bin von Ewigkeit, Gespielin meiner Launen ist die Zeit Von Erz mein Thron, der Himmel mein Gezelt, Und Sonn' und Mond zu WSchtem mir bestellt!" „Ich aber lach' der ew'gen Majestat, Ich nag' an ihr, ich höhl' sie stet und stet, Zum Meer hin schwemm' ich deine stolze Wucht! Der GieBbach höhnt's auf wilder Wogenflucht. Da zürnt die Wolke dem empörten Sohn: „Aufzog ich dich an deines Vaters Thron. Versiegen muBt du, elend schleichst du hin, Ein Rieselquellchen, wenn ich fern dir bin!" Der Sturm vernahm's, der rauhe Lufttyrann, Hersaust er jSh, es blitzt die Wolk' ihn an, Auf Donnern wêüzt sich ihres Kampfes Wut, Zur Schlucht sie •stürzt in Zornestranenflut. Und über alle her sinkt nun die Nacht, Voll steht der Mond in seiner Totenpracht, Und Meteore schreiben glühend auf Der Weiten Wesen und der Zeiten Lauf. 518 Landwirtschaft Hermann Kallbrunner In der zweiten Halfte des vergangenen Jahrhunderts vollzog sich in 1 Österreich — in ahnlicher Weise wie ja auch in anderen Staaten Mittcleuropas — ein allmahlicher Übergang von einem ausgesprocheneh Agrikulturstaat in einen solchen mit gröBeren gewerblich-industriellen Interessen, was in der statistisch genau nachweisbaren Verschiebung der Bevölkerung vom flachen Lande in Stadte zum sinnfailigen Ausdrucke kommt. Wahrend im Jahre 1843 nur 19% der gesamten Bevölkerung Österreichs in Orten mit mehr als 2000 Einwohnern lebten, wurden im Jahre 1900 bereits 38%, als in gröBeren Siedlungen lebend' gezahlt. Trotz des Rückganges der absoluten und relativen Anzahl der Landwirtschafttreibenden war doch die Landwirtschaft österreichs in der Lage, die gesamte Bevölkerung zu ernahren, ja Überschösse gewisser landwirtschaftlicher Erzeugnisse, insbesondere Zucker und Braugerste, dann aber auch Vieh, Eier und Obst, an das Ausland abzugeben; freilich erwies es sich als notwendig, immer gröBere Mengen von Getreide und Schlachtvieh aus Ungarn, das mit Österreich ein gemeinsames Zollgebiet bildete, zu beziehen. In den Jahren 1900 bis 1914 war jedoch die Landwirtschaft nicht mehr in der Lage, den' gesteigerten Bedarf des Inlandes regelmaBig zu decken; in Jahren mit ungünstigeren Ernten muBten gröBere Mengen von Getreide — meist aus RuBland — eingeführt werden. Gleichzeitig ging auch die Ausfuhr der oben genannten Erzeugnisse in starkerera Umfange zurück. Nichtsdestoweniger kann von einem bemerkenswerten Aufschwunge der Landwirtschaft österreichs in derVorkriegszeit gesprochen werden; dadurch, daB die Ergebnisse der Forschungen der Naturund der jungen Landwirtschaftswissenschaften sinngemaB in der Praxis angewendet wurden, daB neue bessere und leistungsfahigere 519 Landwirtschaft Maschinen Anwendung fanden und das Beispiel der fortgeschrittenen Weststaaten nachgeahmt wurde, stiegen die Ertrage der Grundstücke wahrend durch Urbarmachung und Meliorationen, mehr aber noch durch eine rationelle Ausnutzung der Felder, die landwirtschaftlich genützte Flache wesentlich vergröBert wurde. Von günstigstem Einflusse auf die Produktion war auch die auBerordentliche Entwicklung der landwirtschaftlichen Industrien, der Zucker-, Spiritus- Bier- und Starkefabrikation.*) Schwer hemmend auf die Entwicklung der österreichischen Landwirtschaft wirkte, insbesondere im letzten Viertel des Jahrhunderts, die Konkurrenz jener Auslandsstaaten ein, die unter günstigeren natüriichen Produktionsbedingungen erzeugen und deren billigere Waren — dank der grofiartigen Ausgestaltung des Verkehrs — in solchen Mengen angeboten wurden, daB die inlandischen Produkte zu Preisen verkauft werden muBten, die nicht einmal die Gestehungspreise deckteh. Besonders schwer machte sich diese Preiskrise in jenen Gegenden fühlbar, in denen die Erzeugungskosten — eine Folge der schwierigen klimatischen, wirtschaftlichen und Bodenverhaitnisse — unverhaitnismafiig hoch sind; namentlich in den Alpenlandern, also in jenen Gebieten, die das heutige Österreich bilden, waren die Wirkungen groB. Viele Wirtschaften wurden verkauft, viele muBten in der Folge extensiver bewirtschaftet werden. Tausende Hektare wurden aufgeforstet, hunderte Anwesen verlassen. (Zu der durch den Getreidepreissturz verursachten Krise kam noch die durch die Umgestaltung der bisherigen kleinen, Holzkohle verbrauchenden Eisenhammer in groBe, nur Steinkohle verwendende Industrieanlagen, hervorgerufene Senkung der Holzkohlenpreise, von deren Höhe das finanzielle Leben der „Waldbauern* abhing.) Erst die Festsetzung höherer Zölle, insbesondere jene des Tarifes vom Jahre 1906, bot der Landwirtschaft einen wirksamen Schutz •*> Freilich kam derselbe nur in jenen Gebieten zur vollen Auswirkung, in denen die natüriichen Produktionsbedingungen gunstigere sind. Der schwer geschwachten alpenlandischen Landwirtschaft konnte er nur in gewissen Gegenden gröBere Vorteile bringen. Aber auch noch andere Umstande waren der Entwicklung der landwirtschaftlichen Erzeugung hinderlich, so die namentlich in den südlichen und östlichen Kroniandern noch höchst ungenügende Volk* *) Siehe Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihre Industrien. 1848 bis 1898. Wien, 1899. 5 Bande. **) Strakosch, Die Grundlagen der Agrarwirtschaft in Österreich. Wien 191T. 520 Landwirtschaft bildung, die unzureichende und vielfach unzweckmSBige Förderung der Landwirtschaft durch den Staat, Mangel in den örtlichen Verkehrsverhaltnissen usw. Im allgemeinen aber kann gesagt werden, daB sich die österreichische Landwirtschaft im Zeitpunkte des Kriegsausbruches in einem Stadium ruhiger Entwicklung befand. Ein im Ausbau begriffenes System von Fachschulen, Versuchs- und Untersuchungsanstalten, dann von mit der Bearbeitung bestimmter Sonderaufgaben betrauter Anstalten (für Wildbachverbauung, Zusammenlegung, dann Entwasserung landwirtschaftlicher Grundstücke), von auf gemeinnOtziger Grundlage arbeitenden Landeshypotheken- und -versicherungsanstalten und autonomen Fachkörperschaften (Landwirtschaftsgesellschaften und Landeskulturrate), ein engmaschiges Netz von Genossenschaften und Fachvereinen waren bemüht, die Landwirtschaft zu neben. Der Kriegsausbruch erfolgte in jener Jahreszeit, in der die Landwirtschaft gegen jede Störung am empfindlichsten ist, in der Erntezeit, knapp vor dem Anbau der Herbstsaaten. Es ist klar, daB er mit der unvermittelt erfolgenden Einberufung der meisten kraftigen Manner, dann auch der Pferde samt Wagen und Geschirr, die schwierigsten Verhaitnisse in den meisten landwirtschaftlichen Betrieben hervorrufen muBte. Nur der gröBten aufopfernden Tatigkeit der wenigen zurückgebliebenen Manner, der Frauen, Greise und Kinder ist es zu danken, daB die Ernte geborgen und der gröBte Teil der Felder bestellt wurde. Alle Grundstücke konnten freilich nicht überall bebaut, nur wenige mit der gewohnten Sorgfalt bestellt werden. Es war eben mit dem besten Willen nicht möglich, alles Nötige zu leisten. In den kommenden Kriegsjahren wurden die Verhaitnisse meist noch viel schlimmer. Immer neue Musterungen wurden vorgenommen, fast alle Manner zu den Fahnen gerufen, beinahe alle Pferde von der Heeresverwaltung angefordert. Wohl wurden verschiedene MaBnahmen der Regierung ergriffen, um der Not an Arbeitskraften einigermaBen entgegenzuwirken. Landwirte erhielten langere Ernte- und Anbauurlaube, wurden sogar unter gewissen Voraussetzungen vom Heeresdienste auf einige Zeit enthoben. In Reservestellungen befindliche oder zu Ausbildungszwecken kommandierte Mannschaften, Rekonvaleszente, vor allem aber Kriegsgefangene, wurden — in den ersten Kriegsjahren — den Gemeinden, spater auch den einzelnen Grundbesitzern zur Arbeitaleistung zugewiesen.Vermittlungsanstalten wurden organisiert, besonders bemerkensweite MaBnahmen zur Rückführung kriegsbeschadigter Land- 521 Landwirtschaft wirte zu ihrer ursprOnglichen Beschaftigung getroffen; Kurse zur Fortbildung invalider Landwirte, dann zum Einlernen des Gebrauches eigener ErsatzgliedmaBen (Prothesen) und zur Wiedereingewöhnung der Arbeit mit gelahmten oder verkrüppelten Gliedern wurden mit bestem.Erfolge abgehalten.*) In bescheidenem Umfange wurden auch Schuier stadtischer Schulen in der Landwirtschaft verwendet. Wichtig waren die MaBnahmen der Regierung, die getroffen wurden, um die Landwirte nach Möglichkeit mit Zugtieren die für den Felddienst nicht mehr verwendbar, ausgemustert wurden dann mit Zugmaschinen zu versehen. Nach Zulassigkeit verrichteten auch die Pferde militarischer in Ruhestellungen befindlicher Formationen landwirtschaftliche Arbeiten.**) Aber alle diese Hilfskrafte genügten nicht zur Aufrechterhaltung des landwirtschaftlichen Betriebes in gewohntem Umfange und in der üblichen Sorgfalt. Trotz strenger Vorschriften der Behörden muBten immer gröBere Teile der Feldfiache unbebaut liegen bleiben, muBte m Kultur der viele und sorgfaltige Bearbeitung erfordernden Feldfruchte, namentlich von Zuckerrübe, in immer gröBerem Umfange unterbleiben. Aber aucb der Anbau der übrigen Feldfrüchte muBte nachlassiger durchgeführt werden. Vielfach wurde an Stelle von Getreide Klee angebaut. Zu der Not an Arbeitskraften gesellten sich bald weitere Schwierigkeiten. Um die Verpflegung des Heeres mit Fleisch sicherzustellen, wurde Viett in groBen Mengen angefordert: erst nur die ScWachttiere, als dieselben aber zu Ende waren, auch Zugochsen, Kühe, Jungrtader und Schafe. Die Viehbestande gingen infolgedessen stark zurück. Aber nicht nur die Zahl der Tiere ging um ein Viertel bis ein Drittel zurück. Auch die Qualitat derselben lieB - eine Folge der minder sorgfaitigen Pflege, der schiechteren und ungleichmaBigeren FOtterung und der Unmöglichkeit einer richtigen Viehzucht — gewaltig nach. Der verminderte Viehstand konnte natürlich auch nur eine geringere Menge von Dünger liefern. Da es auch an Kunstdünger gebrach, lieB die Produktionskraft der Böden rasch nach. Die Ernteertrage gingen auBerordentiich stark zurück. •) Spitzy, Unsere Kriegsinvaliden. Einrichtungen zur Heilung und Fürsorge Wien, 1915. - Mitteilungen des Vereines: Die Technik für die Kriegsinvaliden. •*) Kallbrunner, Mesures pour attenuer 1'insufRsance de la main d'oeuvre agricole pendant la guerre. — Bulletin mensuel des Institutions Economiques et Sociales. — Rome. — Annee XIII. Numeros 3-4. 1922. 522 Landwirtschaft Dazu kam, daB der Witterungsverlauf in den Kriegsjahren der Landwirtschaft seiten günstig war. Dürreperioden wechselten mit Zeiten anhaltender Regen. Von ungünstigstem EinfluB ffir das Gedeihen der Landwirschaft waren auch verschiedene MaBnahmen der Regierung, die im Bestreben, eine gleichmaBige Versorgung der Bevölkerung zu tunlichst niederen Preisen zu ermöglichen, die gesamte Ernte beschlagnahmte, Höchstpreise festsetzte und die Verteilung der Lebensmittel einem schwerfalligen und komplizierten Apparate übergab.*) Leider wurden die MaBnahmen, die ja sehr gut gemeint waren, so durchgeführt, daB die Landwirtschaft das Interesse verlor möglichst viel zu produzieren. Ja, viele Landwirte versuchten sich ihrer Lieferpflicht zu entziehen und Produkte im „Schleichhandel", also auf unerlaubtem Wege und zu höheren Preisen, an Konsumenten direkt zu verkaufen. Es ist klar, daB sich die verschiedenen Schaden der Kriegswirtschaft — es waren noch viele aufzuzahlen — in den verschiedenen Landstrichen verschieden stark fühlbar machten. Die vorzüglichen Böden der Hanna in Mahren vertrugen selbstverstandlich eine minder gute und fachgerechte Behandlung viel eher, als die steinigen und seichten Gründe der Alpenlanden Auch ihre Ertrage waren, selbst wenn sie um ein Fünftel geringer waren, noch lohnend. Im Gebirge aber und überall dort, wo in normalen Jahren kaum die Ertrage die Aufwendungen decken, machten sich die Schaden am deutlichsten fühlbar. Leider bestanden mancherlei Verhaitnisse, die in den Landwirten den Schein erweckten, daB sie riesig verdienten. Konnten sie doch die Erlöse für beschlagnahmtes Vieh, Getreide und Futter, gegebenenfalls auch für „hinten herum" verkaufte Milch oder Hülsenfrüchte, Schatze an Papiergeld ansammeln, Betrage, die sie früher nie gekannt hatten. Freilich bedachten sie nicht, daB jene Geldnoten, deren Wert übrigens von Tag zu Tag geringer wurde, eigentlich nur die verkaufte Kraft ihres Bodens darstellten, daB sie an Stelle starker Pferde, gut melkender Kühe und freudig wachsender Jungrinder vorhanden waren und daB sie nur angesammelt werden konnten, weil die Vornahme dringlicher Herstellungen an den Gebauden, notwendige Nachschaf- *) Denkschrift über die von der k. k. Regierung aus Anlafi des Krieges getroffenen MaBnahmen. 4 Bande. Wien 1915 bis 1918. — Kallbrunner. Les mesures promulguées par le gouvernement autrichien dans le domaine de 1'agriculture pendant la guerre de 1914 a 1918. — Bulletin mensuel des institutions économiques et sociales. Numeros 11 et 12, année XII. — Rome 1921. 523 Landwirtschaft fungen von Geraten und Maschinen unterblieben waren. Es war also nur schembarer, unfruchtbarer Reichtum, der nur verblendete und die S.? ^ S0" hlCr Dichts beschöni«t werden - in manchen Fallen verlettete, überflüssige, ja unnütze Ausgaben zu machen Als im Oktober 1918 die Monarchie zerfiel und sich aus den Trümmern die Nachfolgestaaten, zuletzt am 12. November die österreichische Republik, bildeten, war die Landwirtschaft in' einer sehr traungen Verfassung. c*«., D'e Wohn«ebaude wafen in einem schlechten Zustande. In den Stallen standen einige magere Jungrinder und wenige schlecht melkende Kühe. Die Felder waren verunkrautet, schlecht bestellt, durch umrenügende Düngungen erschöpft. Wagen, Gerate und Maschinen waren abgenützt und es fehlte an Kohle zum Beheizen der Lokomobile an Benzin zum Betrieb der Motoren. ' Wahrend aber die Stadter staunend und zweifelnd das Chaos der Umsturztage verfolgten, abgespannt von Entbehrungen und Enttauschungen den furchtbaren Winter 1918/19 durchhungerten, unfahig sofort mit dem Wiederaufbaue zu beginnen, wahrend die heftigsten Stürme das junge Staatswesen erschütterten, schwere politische Gefahren seinen Bestand gefahrdeten, setzte sofort der Landwirt, als er «r"* ?^e.ngraben verlassen ha«e, mit dem Wiederaufbau seiner Wirtschaft em. Er versaumte keinen Tagl Der österreichische Bauer hat — und das verdiente wohl allgemein anerkannt zu werden - ganz nach den Worten des Dichters gehandelt, der nach dem Zusammenbruche den Menschen zurief: Setzt darum in die Trümmerstatte Fest des Pfluges Eisen ein, DaS sich in die Schollen bette, Sonniger Tage Hoffnungsschein. (Mfinzerj Der Wiederaufbau der Wirtschaft wurde dem Landwirte nicht leicht gemacht. Die Regierung, die Sorge tragen muBte, um die stadtische Bevölkerung vor der bittersten Not zu bewahren, muBte noch immer die Freiheit der Bewirtschaftung einschranken, Getreide und Vieh beschlagnahmen. Noch bestand keine Möglichkeit, Saatgut oder Zuchttiere zu beschaffen, obwohl dasselbe ganz abgebaut, die Tiere durch Inzucht und fehlerhafte Haltung herabgekommen waren. Kunstdünger Kraftfutter, Kohle und Benzin waren nur in bescheidensten, lange nicht in zureichenden Mengen erhaitlich. Der Zahigkeit des Bauers aber gelang es, trotzdem, daB von einer staatlichen Förderung der Landwirtschaft kaum eine Rede sein 524 Landwirtschaft konnte, diese, sich nur allmahlich vermindemden Schwierigkeiten zum groBen Teile zu überwinden. Wenn auch noch lange nicht die Verhaitnisse, wie sie vor dem Kriege bestanden, erreicht sind, so sind doch die meisten Gebaude wieder instand gesetzt, die Staile wieder aufgefüllt, die Felder gut bearbeitet und die Bodenkraft verbessert. Freilich, dieHaustiere sind hinsichtlich ihrer Leistungsfahigkeit und ihres Körpergewichtes, ja auch ihres Zuchtwertes noch lange nicht auf der Höhe; und die intensive Handarbeit verlangenden Feldfrüchte, wie namentlich die Zuckerrübe, werden noch in viel geringerem Umfange gebaut Auch die Flache der Weingarten hat sich nicht unwesentlich vermindert : die unterlassenen Vorkehrungen gegen die Reblaus wahrend des Krieges haben die Vermehrung dieses Feindes des Weinbaues begunstigt, der allmahlichen Zerstörung weiter Weingelande wirksamen Vorschub geleistet. Auch hungert der ausgesogene Boden noch nach viel mehr Dünger, nach Ersatz für die Pflanzennahrstoffe, die ihm wahrend des Krieges in Form von an die Front gelieferten Getreides, Strohs und Heus entzogen wurden. (Bei der normalen Wirtschaft kehren ja die in Stroh und Heu enthaltenen Pflanzennahrstoffe, wenn sie ihre Aufgabe der Bildung von tierischen Futtermittel erfüllt haben, in Form von Stalldünger wieder auf das Feld zurück.) Auch rachen sich' noch die Unterlassungen des Krieges, die nichtausgeführten Bauten, die onterbliebenen Ankaufe von Maschinen und Geraten. Doch ohne Zweifel ist es, daB die Landwirtschaft auf dem bestem Wege ist, ihre Höhe wieder zu erreichen, ihre Pflicht der Allgemeinheit gegenüber wieder voll zu erfüllen und ihre wichtige Stellung im Staate einzunehmen. Die alten, im Kriege zugrundegegangenen Genossenschaften werden wieder aufgerichtet, versorgen die Landwirte wieder mit Bedarfsartikeln und besorgen die Verwertung ihrer Erzeugnisse. Das Schul- und das Vereinswesen blüht wieder auf und die verschiedenen Stellen und Anstalten tun, soweit es die beschrankten staatlichen Mittel zulassen, ihr Bestes, um den Wiederaufbau und den Fortschritt der Landwirtschaft zu fördern. lm September 1923 wird die deutsche Landwirtschaftsgesellschaft für Österreich in Wels die erste groBe landwirtschaftliche Ausstellung nach dem Kriege veranstalten, um die Ergebnisse der Auf bautatigkeit zu zeigen, die Landwirte zu belehren und zur Weiterarbeit anzuregen. * Sich über die bestehenden landwirtschaftlichen Verhaitnisse österreichs, über die Zustande in den einzelnen Bundeslandern ein klares 525 Landwirtschaft Bild zu machen, ist für jedermann sehr schwer. Denn schon eine oberfjachliche Beurteilung, wie dies etwa auf einer Eisenbahnfahrt auf einer betiebigen Strecke möglich ist, zeigt in raschem Wechsel die verschiedensten Bilder in einer Mannigfaltigkeit, wie sie kaum ander* warts anzutreffen sein dürften. Wir treffen groBe Dörfer an, ringsum von weiten, fruchtbaren Feldern umgeben, auf denen Weizen und Zuckerrübe vorzüglich gedeihen. Im Gebirge fahren wir an weit auseinanderliegenden kleinen HSusern vorüber, an die sich üppig grüne Wiesen und winzige Felder anschlieBen, auf denen kaum, von tief dunklen Waldern eingerahmt, der Hafer reift. An steilen und steinigen Lehnen treffen wir Weingarten an Weingarten, ganze Taler einfassend, anderwarts auf niederen, runden Hügeln stoize, weit ins Land hinaus schauende Bauerngehöfte, gröBer oft als Herrensitze, frei und unabhangig inmitten eigenen Landes, nur durch eine gemeinsame Kirche, den Kramer, das Wirtshaus und die Schule mit anderen Bauern zu 'einem Gemeinwesen verbunden. Ausgedehnte Weidefiachen dehnen sich, mit rotscheckigen oder grauen Rindern, schwarzen und weiBen Schafen, braunen Pferden besetzt, in den weiten Alpentalern. Almen treffen wir auf den Spitzen und höchsten Hangen der Bergriesen, oberhalb der Waldgrenze, dicht am ewigen Schnee und Eis. Nasse Wiesen, zum groBen Teile mit Rohr bestanden, treffen wir an den flachen Ufera des Neusiedlersees, Forellenbrutanstalten am Rande der klaren Alpenseen. Prüfen wir diese auBerlich ungemein mannigfaltigen Bilder naher, untersuchen wir die klimatischen, geologischen und wirtschaftlichen Verhaitnisse, so finden wir tiefgehende Unterschiede im Klima, in der Gestaltung der Erdoberflache, in der Art und Machtigkeit der dasGestein überziehenden, den Ackerbau überhaupt erstermöglichenden Bodenschichte, in den Wasserverhaltnissen, in den Gewohnheiten und Siedlungseigenarten der Bevölkerung und dadurch bedingt, in der Ausnützung der Grundstücke, in der Fruchtbarkeit, in der Art der Felderbestellung, in der Form der Siedlungen, in der Bevölkerungsdichte und vielem anderen mehr. Es würde viel zu weit fQhren, die einzelnen Landstriche hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Verhaitnisse darzustellen, weshalb nur der Versuch gemacht werden soll, die Art des Landwirtschaftsbetriebes in den typischesten Gegenden kurz zu skizzieren. Die Landwirtschaft in den Alpeniandern, die den gröBten Teil des Gebietes Österreichs ausmachen, ist in erster Linie durch die hohe Lage derselben über dem Meere, dann durch die starke und 526 Landwirtschaft mannigfaltige Gestaltung der Erdoberflache beeinfluBt. Die landwirtschaftlich und kulturell wichtigsten Teile, die aber in ihrer Gesamtheit nur ein ganz geringes Bruchstück der Gesamtflache der Alpentónder bilden, sind die Taler der groBen Alpenflüsse, des Inn, der Salzach, der Mur, der Enns und der Drau. Hier sind die gröfiten Siedlungen, hier findet ein gewisser Getreide- und Hackfruchtbau statt. Aber auch hier wiegt die Viehzucht, für die die günstigsten natüriichen Voraussetzungen vorhanden sind, vor. Die berujimtesten österreichischen Viehrassen, es seien nur die Pinzgauer Pferde und Rinder, die Inntaler und Murbodner, die Montafoner und die Tuxer Rinder genannt, sind hier bodenstandig. Die Hochlage dieser Taler, bis zu 700 m über dem Meere, die Nahe der hohen Berge, auf welchen den gröBten Teil des Jahres hindurch, wenn nicht sogar immer, Schnee liegt und die dunne auf Schotter lagernde Erdschicht, lassen freilich nicht zu, daB die Ertrage dieser Felder, Wiesen und Weiden etwa so groB werden, wie jene der Ebene. Teilweise hilft sich der Alpenbauer dadurch, daB er seine Haustiere wahrend des Sommers auf die Almen, auf die Weideflachen hoch oben im Gebirge treibt, um das im Tale wachsende Futter für den sechs bis acht Monate langen Winter aufbewahren zu können. Oben ist die Vegetationsperiode nur ganz kurz. VeriaBt doch der Schnee die Almen erst im Mai, manche auch erst im Juni, um im September die Matten vom neuen weiB zuzudecken. Dafür beeilen sich die Graser, die kurze Zeit der Besonnung gui auszunützen. Mit der Bildung langer Stengel und kraftiger Blatter geben sie sich nicht erst ab, sondern bilden frühzeitig Blüten und Früchte, voll von Duft und Gehalt. Dies macht das Alpenfutter so sehr bekömmlich und es wird jedermann klar, daB bei solchem kraftigen Futter, bei standigem Aufenthalt der Tiere in reiner, dünner, lichtdurchstrahlter Luft, widerstandsfahiges, gesundes und wertvolles Zuchtvieh heranwachsen muB. Ahnlich wie die Wirtschaftsweise der Bauern in den groBen Alpentalern, ist jene der Bewohner der kleineren, schmaiéren Nebentaler und der letzten Seitenverzweigungen, der „Graben". Nur hört hier der Getreidebau fast ganz auf; ist er ja doch in solchen Lagen ganz unrentabel. Die Viehzucht, dann gewisse Nutzungen der Hauswaider, müssen die oft ganz einsam wohnende Familie erhalten. Die zu diesen Siedlungen gehörigen Flachen sind, da sie ja nur aus minder ertragsfahigen Kuituren bestehen, in der Regel so groB, daB fast jeder Bauer das lagdrecht auf seinem Gute hat, das bekanntlich 527 Landwirtschaft nur ein solcher beanspruchen darf, der mindestens eine Flache von 115 ha zusammenhangender Grundstücke besitzt. Kleinere An wesen sind in solchen ungünstigen Lagen nicht lebensfahig. Natürlich bestehen überall besondere örtliche Verhaitnisse, die die Eigenart des landwirtschaftlichen Betriebes weitestgehend beeinflussen. Südseitig gelegene AbhSnge ermöglichen stets eine bessere Kultivierung. Kalkböden, wie sie in der nördlichen Zone der Alpen vorwiegen, neigen zur Verkarstung, sind minder graswüchsiger als die Verwitterungsböden der aus Urgebirgsgestein gebildeten Zentralalpen. In der Nahe der groBen Alpenseen ist das Klima ausgeglichener, was sofort auch in der Art der landwirtschaftlichen Bodennützung zum Ausdrucke kommt Die eigenartigste Rückwirkung besonderer klimatischer Erscheinungen auf die Landwirtschaft kann aber in einzelnen Talern Nordtirols festgestellt werden, wo der regelmatig wiederkehrende feuchtwarme Südwind Getreide- und sogar Maiskultur in Hochlagen ermöglicht in denen sonst nur kümmerliche Grasnützung erfolgt. Allen Wirtschaften in den Alpen sind die Schwierigkeiten gemeinsam, die der Bauer tagtaglich zu überwinden hat. Die einzelnen Teile des Besitzes sind oft viele Kilometer von einander entfernt, liegen oft hunderte Meter verschieden hoch über dem Meere. Die Verbindungswege sind meist schlecht, erfordern dennoch groBe Erhaltungskosten. Nachbarliche Hilfe ist nur schwer erreichbar, viele Erzeugnisse können, insbesondere wenn sie, wie Milch, leicht verderblich oder, wie Langholz, nur schwierig transportabel sind, in vielen Lagen nicht verwertet werden. Sehr schwierig sind hier auch die Arbeiterverhaitnisse. Denn der Gebirgsbauer ist nicht in der Lage, bei der geringen Rentabilitat seiner Wirtschaft dem Knechte jenen Lohn zu bezahlen, den ihm die Fabriken im Tale oder in den Stadten, bei ungleich kürzerer und meist auch leichterer Arbeit bieten. So ist der Gebirgsbauer, mehr wie jener der Ebene, auf die Mitarbeit seiner Kinder und der seiner ledigen Magde angewiesen. Tatsache ist es, daB schon viele Wirtschaften verkauft werden muBten, weil das kinderlose Bauernpaar nicht in der Lage war die nötigsten Arbeiten zu verrichten und Dienstboten nicht zu erhalten waren. Die natüriichen Verhaitnisse bringen es mit sich, daB hier ein Ersatz der Handarbeit durch Maschinenarbeit nur zum geringsten Teile möglich ist, weshalb sich hier immer mehr die Notwendigkeit herausstellt, den Getreidebau ganz aufzulassen und den Viehzuchtbetrieb auf modernster Grundlage umzugestalten. (Das Beispiel der Schweiz zeigt, daB diese Anderung 528 Landwirtschaft der Betriebsweise nicht mit einer Extensivierung verbunden zu sein braucht.) Dann werden sich die Alpenlander eigentlich erst ihrer natüriichen Bestimmung zuwenden und wertvolies Zuchtvieh in solchen Mengen erzeugen, daB sehr viel davon in das neue und alte Ausland abgegeben werden kann. Alle Nachbarstaaten Österreichs, die Schweiz ausgenommen, verfügen über minder günstige natürliche Vorbedingungen für die Entwicklung der Viehzucht, kennen die wertvollen Zuchttiere der Alpen und werden — sobald die letzten Hemmungen politischer Natur von der freien Entfaltung der Wirtschaft weggefallen sein werden — gerne solches Vieh kaufen und damit die Möglichkeit geben, Nahrungsmittel und Bedarfsartikel aus dem Auslande zu beschaffen. Bemerkt muB werden, daB es sich hier nur um Zuchtvieh, also um meist wenig fleischige, nie um fette Tiere handelt, also um solche, die als Schlachtvieh wenig taugen, die aber, gefüttert mit dem Massenfutter der Landwirtschaft der Ebene, wertvolies Fleischvieh werden können. Wahrend also die Alpen vorzügliches Zuchtvieh in groBen Mengen zu liefern imstande sind, können sie nur geringe Mengen von Schlachtvieh liefern, das kaum für die Versorgung der Stadte der Alpen hinreicht. Die natüriichen Verhaitnisse weisen also auch in dieser Beziehung zwanglaufig auf einen intensiven Handelsverkehr zwischen Österreich und den Nachbarstaaten hin und beweisen das Unsinnige aller AbsperrmaBnahmen einzelner Staaten. Die natüriichen Vorbedingungen für die Entwicklung der Landwirtschaft im übrigen österreich sind vielfach ahnlich jener in den Alpengegenden; nur treten alle geschilderten ungünstigen Erscheinungen weit milder, alle besprochenen günstigen — mitAusnahme jener, die die Viehzucht betreffen — noch viel vorteilhafter auf. Die Seehöhe ist durchwegs geringer, die Gestalt des Geiandes flacher. Die Erdkrume ist im allgemeinen machtiger, das Klima milder. Die Sommer sind langer, die Winter kürzer und weniger streng. Im allgemeinen sind die Verhaitnisse für den Betrieb der Ackerwirtschaft günstiger, ebenso für die Viehhaltung. Für eine rationelle Viehzucht fehlen vielfach die Weidegelegenheiten, ohne die die Aufzucht von gesundem und abgehartetem Vieh nicht möglich ist. Es ist daher auch ganz natürlich, daB wir in den den Alpen vorgelagerten Gebieten im allgemeinen viel mehr Felder antreffen, in einzelnen Gebieten, so im östlichsten Burgenland, im Marchfeld und Steinfeld, fast überhaupt nur Felder. Je nach der Lage und der Beschaff enheit des Bodens werden Roggen und Weizen, Gerste und 34 529 Landwirtschaft Haler, in warm eren Gegenden auch Mais gebaut Überall treffen wir Kartoffeln und Futterrflben an, im Marchfeld und dessen Umgebung auch Zuckerrüben. In einzelnen Lagen in Oberösterreich wird auch Cichorie, als Rohmaterial für die Kaffeezusatzerzeugung gebaut. Rund ein Viertel der Flache wird mit Futtergewachsen, vorwiegend mit Klee, bestellt; das hier gewonnene Futter, ferner das Stroh der Körnerfrflchte und ein Teil derselben dient zur Ernahrung der Haustiere, die in erster Linie bei der Bestellung der Felder mithelfen müssen, in zweiter Linie die kaum verkauflichen Futtermittel in verkaufliche Lebensmittel, in Milch und Fleisch, umwandeln müssen. Die hohen Ertrage der Felder und Wiesen bringen es mit sich, daB auf einem Quadratkilometer Land hier, in den ebeneren Gebieten, mehr Vieh gehalten wird, als in den Alpenlandern und daB auBerdem noch viele landwirtschaftliche Erzeugnisse, vor allem Getreide, Zuckerrüben, Kartoffeln, Obst etc auf den Markt gebracht werden können. Dadurch ist es möglich, daB eine Familie auf einer — im Verhaltnis zu den Alpengegenden — viel kleineren Flache genug Verdienstmöglichkeit findet, ferner, daB gerade auch deshalb eine viel dichtere Besiedlung des Landes möglich ist Wir finden daher auch hier gröBere Ortschaften, oft sogar in ganz geringen Abstanden von einander. Am dichtesten sind die Siedlungen natürlich dort, wo die Fruchtbarkeit des Bodens die Erzielung der gröBten Ernten ermöglicht oder wo intensive und lohnende Kuituren betrieben werden, in den Gebieten des Wein- und Gartenbaues. Die Verkehrsverhaltnisse sind in diesem Teile Österreichs natürlich viel günstiger, als in den Alpengegenden. Das StraBennetz ist ziemlich dicht und Bahnen sind fast überall leicht erreichbar. Dadurch ist die Verwertung fast aller Erzeugnisse an allen Orten möglich, was wiederum günstig auf die Entwicklung der Produktion zurückwirkt Wie bereits früher erwahnt wurde, sind die Erzeugungsverhaltnisse sehr verschieden. In einzelnen Gebieten, so nahe von Flüssen und dem Fufie des Gebirges, tritt der Schotter zutage. Einzelne Flachen bestehen sogar aus reinem, leichtem Flugsand, den zu binden erst mühsame nnd kostspielige Aufforstungen der letzten Jahrzehnte imstande waren. Diese Gebiete sind natürltch für die Landwirtschaft fast immer unbrauchbar. Leider gibt es weite Flachen östlich von Wien — also in einer Gegend mit den günstigsten Absatzverhaltnissen — die aus Schotter im Untergrund und einer seichten Erdkrume bestehen. Diese liegen überdies auch noch in einer Zone mit fast steppenartigem Klima, mit geringen Niederschlagen im Sommer und plötzlichem Oebergang von Winter auf Sommer. Hier treten also zwei Umstande auf, die der 430 Landwirtschaft Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion sehr entgegenstehen. Wenig günstig für die Entwicklung eines rentablen Landwirtschaftsbetriebes sind auch die Verhaitnisse des „Waldviertels" und des „Mührviertels", die geologisch zu dem aus Urgestein gebildeten Sudetengebirge gehören, seichte Böden besitzen und infolge ihrer Hochlage ein ziemlich rauhes Klima besitzen. Die Arbeiterverhaitnisse sind im allgemeinen etwas gunstiger als in den Alpengebieten. Nichtsdestoweniger macht aber auch hier die Beschaffung genügender und tüchtiger Arbeitskrafte den Grundbesitzern viele Sorge. Namentlich schwierig wird das Arbeiterproblem dort, wo es sich um die Verrichtung schwieriger und besondere Kenntnisse oder Übung erforderlicher Arbeiten, wie im Wein- oder Zuckerrübenbau, oder dort, wo es sich um die Verwendung einer groBen Anzahl von Arbeitern, also im GroBbetriebe handelt. Hier werden in manchen Betrieben auch Saisonarbeiter verwendet, die sich teils aus dem österreichischen Burgenlande oder aus der Slowakei rekrutieren. Neben diesen, vom zeitlichen Frühling bis zum Ende der Rübenernte auf den Gütern tatigen Arbeitern finden vielfach auch solche, die sich bloB in der Erntezeit verdingen, Verwendung. Manche Kleinbauern aus hochgelegenen Gebieten, in denen die Feldfrüchte erst spat reifen, helfen gerne auch bei der um mehrere Wochen früheren Ernte in der Ebene aus, um sich auf diese Weise das Fortkommen zu erleichtern. In den letzten Jahren hat sich die landwirtschaftliche Arbeiterschaft zum gröBten Teile organisiert, teils in sozialistischen, teils in christlichen Verbanden. Natürlich haben sich auch die Bauern und GroBgrundbesitzer zusammengetan und pflegen die beiderseitigen Verbande Kollektivvertragé abzuschlieBen. Im allgemeinen vollzogen sich bisher die Auseinandersetzungen — wenn von einzelnen vorübergehenden Arbeitseinstellungen abgesehen wird — meist in recht friedlichen Formen. Im groBen und ganzen ist auch die nervöse Unruhe, die sich nach dem Zusammenbruche der Monarchie in den Kreisen der Landarbeiterschaft fühlbar machte, einer viel ruhigeren Stimmung gewichen. Ja, vielfach machen sich Anzeichen wiederkehrenden Vertrauens und eines neuhergestellten, patriarchalischen Zusammenarbeitens zwischen Arbeitsgeber und Arbeitsnehmer bemerkbar. Bedauerlich, im Interesse der Versorgung der Konsumorte, sind die hohen Naturalbezüge der Angestellten, die vief ach über den Bedarf derselben hinausgehen und einen unverhaltnismaBig hohen Anteil der Ernteertrage verzehren. 34' 531 Landwirtschaft lm Gegensatze zur alpeniandischen Landwirtschaft ist jene der Voriande in ungleich gröBerem MaBe im Stande, fehlende oder teure menschliche Arbeitskraft durch billigere Maschinenarbeit zu ersetzen. Die sich standig vermehrende Anwendung von Maschinen in der Landwirtschaft, insbesondere im GroBbetriebe, beweist, daB die Landwirte die Vorteile der Maschinenarbeit kennen und schatzen gelernt haben. Leider verbieten die hohen Kohlen- und Benzinpreise, die noch geringe AufschlieBung der vorhandenen Wasserkrafte, teilweise auch die ungünstige veraltete Flureinteilung eine so intensive Maschinenverwendung, wie sie im groBartigsten AusmaBe heute in der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten von Nordamerika üblich ist. Im übrigen sind die Maschinenfabriken im Interesse eines groBen Absatzes bemüht, den Bedürfnissen der Landwirte durch entsprechende Konstruktionen gerecht zu werden. Anderseits finden, nachdem bereits etwa 80 Gemeinden vorangegangen sind, vielfach Zusammenlegungen landwirtschaftlicher Grundstücke (Kommassationen, Verkoppelungen) unter weitestgehender Förderung durch den Staat statt Die dadurch erzielten Arbeitsersparnisse, teils durch Verminderung der Wegstrecken zu den Feldern, teils durch die Erleichterung der Arbeit teils durch die Ermöglichung vermehrter und rationeller Maschinenarbeit sind sehr bedeutend. (Bei einer Zusammenlegung wird die Zahl der Grundstücke bedeutend vermindert die Form derselben verbessert, werden entsprechende Zufahrtswege und nach Bedarf auch Wasserabzugsgraben angelegt) Das meiste Ackerland ist im Besitze von mittelgroBen Bauern. Neben diesen gibt es in den einzelnen Gemeinden eine wechselnd groBe Anzahl von Kleinbauern und verstreut auch GroBgrundbesitze. Dagegen gehört der Wald, soweit er nicht Staats- oder Gemeinde-, Stiftungs- oder Pfarrbesitz ist, teilweise Gemeinschaften von Grundbesitzern, zum groBen Teil gröBeren Besitzern. In den meisten Failèn wird der GroBgrundbesitz sehr gut, ja vorbildlich bewirtschaftet und liefert er den gröBten Teil der Zuckerrübe, die in vier nieder-, in einer oberösterreichischen und in zwei burgeniandischen Fabriken verarbeitet wird. Vergleicht man die Ertrage der österreichischen Landwirtschaft mit jenen der deutschen oder der Weststaaten, so findet man, daB sie — pro Hektar gerechnet — fast durchwegs, teilweise sogar nicht unbedeutend geringer sind, was auf eine gewisse Rückstandigkeit in der Entwicklung der Landwirtschaft schlieBen laBt So führt zum Beispiel Naumann in seinem Werke „Mitteleuropa" folgende Ertrage eines Hektars Acker an: 532 Landwirtschaft Belgien 26 q Weizen, 27 q Gerste, 211 q Kartoffel Irland 26» „ 25 „ „ 161 „ „ Holland 25, „ 27„ „ 174, „ Deutschland ... 24 „ „ 22 „ „ 159 „ „ Schweiz 22 „ „ 19 „ „ 155 „ „ England 21 „ „ 18 „ „ 164 , „ Schweden .... 21 „ „ 17 „ „ 100 „ Norwegen ....18, „ 20» „ 168 „ „ Österreich .... 15 B „ 16 „ „ 100 , „ Eine gewisse Rückstandigkeit besteht sonach (freilich nur im Vergleiche zu den hochentwickeltenWeststaaten, nicht zu den östlichen und südlichen) ohne Zweifel. Doch müssen auch jene Umstande berücksichtigt werden, die diese Erscheinung verursachen. In erster Linie sind verschiedene natürliche Verhaitnisse, das mehr kontinentale Klima, das gebirgige Gelande, das Fehlen von Kunstdüngervorkommen in Österreich und andere mehr zu nennen, in zweiter Linie solche, die in den politischen Verhaltnissen der alten österreichischen Monarchie begründet waren. Diese können, nicht aber die ersteren, allmahlich beseitigt werden. Im alten österreich wogen die landwirtschaftlichen Interessen der gesegneten Sudeten- und Karpathenlander und Ungarns vor. Auf die besonderen, schwierigeren wirtschaftlichen Verhaitnisse der das heutige österreich bildenden Lander konnte — und brauchte damals nicht Rücksicht genommen werden. So hatte, wenn vor der früher bestandenen Möglichkeit der freien Ausfuhr von Zuchtrindern aus den Alpeniandern abgesehen wird — deren Wert oben besprochen wurde — die wirtschaftliche Loslösung der Nachfolgestaaten das Ergebnis gezeitigt, daB nunmehr die besonderen Bedürfnisse individuelier behandelt werden können. Es besteht sonach, wenn vorerst die ruhige politische Entwicklung des Staates gewahrlqistet ist und die Konsolidierung der Finanzlage gesichert sein wird, die bestimmte Aussicht, daB sich die Landwirtschaft immer mehr von den Schaden der Kriegszeit und jenen der furchtbaren Nachkriegsjahre befreien -wird, daB sie bald die Leistungsfahigkeit der Vorkriegsjahre wieder erreichen und bei glücklicher Führung und Förderung, zu der auch die Bereitstellung gröBerer Kredite gehört, ohne die eine Durchführung eines erschöpfenden Investitionsprogrammes nicht möglich ist, noch weit überholen wird. Nach Schatzungen des gewesenen Landwirtschaftsministers Hennet ist die österreichische Landwirtschaft auch dann in der Lage, 533 Landwirtschaft einen groBen Teil des staatlichen Gesamtbedarfes an Lebensmitteln zu erzeugen, wenn auch nur die Vorkriegserzeugung erreicht wird. Bei Zugrundelegung durchaus auskömmlicher Mengen pro Kopf der Bevölkerung rechnet er, daB folgende Teile des Bedarfes gedeckt werden können: Weizen- und Roggen mehl 5qo; Kartoffeln 1000/ RUbenzucker mo," Milch ' .f™,0 Fett '° re" 430/ Fleisch (in den ebeneren Teilen österreichs kann ein Teil des alpenlandischen Magerviehs gemastet werden) . 80"/ Wenn man nun annimmt, daB die Menge der Erzeugnisse gewiB weiter zunehmen, daB namentlich auch ohne jeden Zollschutz nur dank dergünstigen natüriichen Verhaitnisse, die Zahl der exportfahigen Zuchttiere gewaltig steigen wird, kommt man zu dem Ergebnis, daB die österreichische Landwirtschaft stets einen wichtigen Faktor der Volkswirtschaft darstellt, der begründeterweise sachlichen Schutz und notwendige Förderung beanspruchen darf. Selbstverstandlicherweise soll und kann von einer künstlichen Erhaltung der Landwirtschaft, etwa auf Kosten und zum Nachteil der übrigen Zweige der Volkswirtschaft, keine Rede sein. Wohl aber kann eine starkere Dotierung des Landwirtschaftsdienstes (im Voranschlage der Republik Österreich sind für das Jahr 1923 nur 11,000.000 Goldkronen vorgesehen) gefordert werden und eine Verdichtung des Netzes der Fachschulen. Kommen doch auf je 1000 landwirtschaftliche Betriebe in der GröBe zwischen 5 und 200 ha nur fünf Schüler an Fachlehranstalten! Wie sehr sich Aufwendungen am richtigen Platze bezahlt machen, zugleich auch welche Aussichten für die österreichische Landwirtschaft für den Fall einer standigen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Erfahrung, Theorie und Praxis bestehen, zeigen die Ergebnisse der Tatigkeit der Bundessamenkontrollstation in Wien, deren aus dem einheimischen Getreide gezüchteten Sorten Mehrertrage von 5 bis 6 q auf einem Hektar unter sonst gleichen Verhaltnissen gegen die Stammpflanzen abwerfen. Dies eine Beispiel zeigt, welche Entwicklungsmöglichkeiten für die österreichische Landwirtschaft bestehen und wie leicht es möglich ist, wenn die bisherigen Erfolge weiter ausgebaut werden, österreichs derzeitiges Nahrungsmitteldefizit auf ein geringes MaB herabzudrücken. 534 Landwirtschaft Die Besprechung der landwirtschaftlichen Produktion kann nicht abgeschlossen werden, ohne nicht — wenigstens anhangsweise — des jüngsten Zweiges der Landwirtschaft Erwfthnung zu tun, der Kleingarten. Es sind dies kleine Grundstücke in der nachsten Umgebung der Stadte und Industrieorte, Parzellen im AusmaBe von 100 bis 300 m*, die von einem Stadter gartenmaBig zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse, im kleinen Umfange auch von Blumen und Arzneipflanzen, hlufig auch von Obstbaumen und BeerenstrSuchern verwendet werden. Nachdem es sich meist um Flüchen handelt, die vor dem Kriege brach lagen oder kaum genutzt wurden, die heute aber dank der liebevollen Arbeit tausender Industriearbeiter, Angestellter und Angehöriger freier Berufe sehr ansehnliche Ertrage von Gemüse liefern, so daB dieselben imstande sind, den ganzen, oder fast den ganzen Bedarf der Familie an Gemüse zu decken, so handelt es sich hier um eine Kleinarbeit auf dem Gebiete der landwirtschaftlichen Produktion, deren wirtschaftlicher Wert nicht verkannt werden darf.*) Die wirtschaftlichen und natüriichen Grundlagen der österreichischen Landwirtschaft sind in vielen Belangen ahnlich jener der schweizerischen. Es besteht auch allgemein das Bestreben, dem Beispiele der Schweiz zu folgen. Möge es allen Schwierigkeiten zum Trotze gelingen! *) Kallbrunner. Die wirtschaftliche Bedeutung des Kleingartenwesens. — österreichischer Volkswirt, Nr. 32, vom 6. Mai 1922. 535 Forstwirtschaft Forstwirtschaft Leo Tschermak Qufgabe der Forstwirtschaft ist ein dem jeweiligen * » Stande des menschlichen Wissens entsprechendesHandeln in bezug auf den Forst behufs Erzeugung, Gewinnung und kaufmannischer Verwertung von Gütern und zugleich behufs dauernder Erhaltung des Waldes mit Rücksicht auf seine Wohlfahrtswirkungen, auf seine Bedeutung für die Volkswirtschaft und für die Schönheit des Landschaftsbildes, die Wohnlichkeit des Landes. Eine Forstwirtschaft, die solche Aufgaben zu erfüllen sucht, ist bisher nur in verhaitnismafiig wenigen Gebieten des Festlandes der Erdoberflache gegeben. Weite Strecken der festen Erdoberflache dienen mit ihrem Walde nur der Ho 1 zwirtschaft, derAusnützung durch den Menschen, aber nicht der nachhaltigen Forstwirtschaft, andere sind waldlos, wieder in anderen ist der Wald noch unberührt usw. Auch kann die Forstwirtschaft, die ja überall durch die natüriichen, die sozialen und die allgemein kulturellen Verhaitnisse bedingt ist, keineswegs an allen Orten nach den gleichen Gesichtspunkten betrieben werden. Mitteleuropa (und vor allem Deutschland) ist eine vorzügIiche Pflegestatte der Forstwissenschaft und die Statte einer geregelten intensiven Forstwirtschaft Somit gehört auch Österreich zu jenen Gebieten, in denen der Wald nicht bloBes Naturprodukt, sondern zugleich auch Produkt des menschlichen Willens und Gegenstand einer nachhaltigen Wirtschaft, also Wirtschaftswald ist Der vorherrschende Hochgebirgscharakter des österreichischen Gebietes aber, die mit ihm zusammenhangende minder dichte Besiedlung, geringere Zuganglichkeit und weniger vollkommene AufschlieBung des Waldes durch Verkehrsanlagen bedingen es, daB in vielen Forsten Österreichs noch nicht jene hohe Stufe der Wirtschaftsintensitat erreicht ist, wie sie etwa in dichter besiedelten ebenen Gebieten Mitteleuropas vorherrschend ist. Dieselben Ursachen bringen es aber auch mit sich, daB gerade der österreichische Forstwirt eine besondere Befahigung 536 Gesause Forstwirtschaft für die AufschlieBung, Betriebseinrichtung und Bewirtschaftung entlegener Gebirgsforste erlangt hat und deshalb nicht seiten als Pionier der Forstkultur nach anderen Staaten, insbesondere nach jenen des nahen Ostens, berufen wurde. So haben innerhalb des letzten Jahrzehntes die Regierungen sowohl Griechenlands als auch der Türkei österreichische Forstwirte in ihre Lander berufen, in Albanien sind gegenwartig österreichische Fachleute tatig usw. I. Das Objekt der österreichischen Forstwirtschaft Die Waldfiache österreichs umfaBt im ganzen 3,024.526 ha, das sind rund 38°/0 der Gesamtfiache österreichs, beziehungsweise 42% der produktiven Flache. Dieser hohe Prozentanteil der Kulturgattung „Wald" entspricht dem vorherrschend gebirgigen Charakter des neuen Österreich. (Das alte Österreich hatte eine Waldfiache von zirka 9,800.000 ha aufzuweisen, also mehr als dreimal so viel als Neuösterreich, mit einem jahrlichen Einschlage von zirka 27,000.000 Festmeter Holz.) Die Republik Österreich umfaBt von dem alten Wirtschaftsgebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie 134%, und zwar von deren unproduktiven Flachen 234%, von den extensiv genutzten 16'4%,von den intensiver genutzten Flachen aber nur 97%, von den Ackern allein noch weniger: 8 4%. Innerhalb der Republik sind die gebirgigen Teile die dichter bewaldeten. In jenen Landern, welche ausgedehnte flache Gegenden enthalten: Burgenland, Ober-und Niederösterreich. ist die Bewaldungsdichte geringer und ausgedehnte Ackerfluren und Weingarten herrschen vor. Der Anteil an in ten si v genutzter Flache, namlich Weingarten, Garten, Acker und Wiese, betragt in den drei genannten Landern an der Donau (nach R. Engelmann, Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Wien, 1920, 5/6) 60 3 bis 63 8%. In den fünf anderen Landern dagegen, im „Alpenland", treten diese intensiver genutzten Kulturflachen hinter den extensiv genutzten, den Waldern und Alpenweiden und den betrachtlichen Flachen ödlandes, zurück. Im niedrigeren „östlichen Alpenlande" (Steiermark und Karnten) nehmen die Wal der die gröBten Flachen ein (produktive Flache 23.714 km2, davon Wald 12.314 im2), wahrend im höheren „westlichen Alpenlande": Salzburg, Tirol und Vorarlberg, weite Gebiete nur Fels und Firn sind und die meisten Alpenweiden vorkommen (Gesamtfiache 22.154 km*, davon unproduktiv 4392 km*, Wald 7283 km* Weide 7496 km1). 537 Forstwirtschaft lm neuen österreich entfallen auf die einzelnen Waldbesitzkategorien folgende Anteile: Tabelle 1. Waldstandsdaten (ohne Burgenland; fflr jene Lander, in denen Grenzbestimmungen noch im Zuge sind, ist die Ermittlung der Zahlen noch nicht endgültig feststehend). II °/o Flache in ha «/, |Flachein/?a »/0 Flache in ha lm ganzen 44 3 1,339.534 557 1,684.992 100 3024.526 Hievon entfallen auf: 1. Staatsforste 12 4 376 233 — — 12*4 376.233 2. sonstige unter staatl. Verw. steh.Forste (Fonds u.dgl.) 18 53.153 0*1 3.661 1"9 56 814 3. Gemeindeforste u. dgl. . . 6 8 175.011 4*5 134.456 10"3 309.467 4. Landern u. Bezirken gehorig 0*5 15.103 — 596 0*5 15.699 5. anderen öffentlichen Fonds gehörig — I 1.367 0*1 4320 0*1 5.687 6. Kirchen, Pfründen u. dgl. gehörig 3-1 93.692 0"9 28.369 4 0 122.061 7. Genossenschaften, Gemein- schaften gehörig • • • • 10 29.362 26 79.801 36 109.163 8. FideikommiBwaider. ... 6*8 175.949 1*5 44.236 7*3 220.185 9. sonstige Privatwalder . . | 13*9 419.664 46 0 1,389.553 599 1,809.217 Unter den Waldern befinden sich Schutzwafder BannwSlder . 12-30/,,, 370.939 ha l-3°/„ 38.802 n zusammen . . . 13-6%, 409.741 ha Für die Kenntnis der Verbreitung derHolzarten innerhalb österreichs ist vor allem die Unterscheidung gewisser Regionen je nach der Meereshöhe maBgebend. Der flache, tiefer gelegene Teil der Donaulander: Burgenland, Nieder- und Oberösterreich, failt derRegion der Ebene und des Hügellandes, der Eichenregion, zu. Der Waldbestand: dieser setzt sich zusammen aus Stiel- und Traubeneiche (jedoch fast nur im Nieder- und Mittelwalde), Ulme, Spitzahorn, der gemeinen Kiefer, Schwarzpappel, Silberpappel, Linde, Birke, Erlen- und Weidenauen. Im Osten des Landes, in Niederösterreich nahe der ungarischen Grenze, noch innerhalb des pannonischen Klimagebietes, finden sich in der Region der Ebene und des Hügellandes warmebedürftige sOdeuropSische Holzarten, so die weich- 538 Forstwirtschaft haarige Eiche, Quercus pubescens (insbesondere in der Umgebung Wiens, an der Südbahnstrecke), die Zerreiche (Quercus Cerris), die unmittelbar westlich von Wien, im sogenannten „Vorderen Wienerwalde", in den aus Rotbuche mit eingesprengten Eichen bestehenden Waldbestanden vorkommt und wegen ihres minderwertigen Holzes eine unerwünschte Konkurrentin der Stiel- und Traubeneiche darstellt; endlich ein für österreich charakteristischer und nach unserem Vaterlande benannter wertvoller Baum, die österreichische Schwarzkiefer, Pinus Laricio var. austriaca Endl.; diese österreichische Form der Schwarzkiefer kommt in gröBerer, natürlicher Verbreitung nur in Niederösterreich auf den östlichen Auslaufern der Kalkalpen vor, und zwar in einem Verbreitungsbezirke südlich von* Wien, der eine Flache von zirka 80.000 ha umfaBt. Sie ist ein Baum hauptsachlich der Vorberge, verlangt warmes und trockenes Klima und zeichnet sich forstwirtschaftlich insbesondere dadurch aus, daB sie, als die genügsamste Holzart des Ertragswaldes, für Aufforstungen auf armen Böden in warmen Lagen auch auBerhalb ihres natüriichen Verbreitungsgebietes in Betracht kommt, wo sie, dank ihrem dichteren Baumschlag, ihrer reicheren Benadelung zur Bodenverbesserung in höherem MaBe als die gemeine Kiefer beizutragen vermag. Sie liefert nicht nur wertvolies Nutzholz, sondern auch Harz. Ihr Vorkommen in Niederösterreich stellt sich, wenn man die horizontale Verbreitung der Schwarzföhre (Pinus Laricio) als ein Ganzes auffaBt, als das am weitesten nach Norden reichende Gebiet dar. Für die Arbeiten zur Wiederbewaldung des Karstes, die ein Ehrenblatt in der Geschichte der Forstwirtschaft des alten österreich bilden, erwies sich die Schwarzkiefer als die geeignetste Holzart; die alteste Karstaufforstung mit Schwarzföhren am kahlen, felsigen Plateau oberhalb Triests wurde im Jahre 1859 begründet; auf die Untersuchungen Cieslars über die vorzüglichen Wuchsleistungen und das Bodenbesserungsvermögen dieses (nunmehr auBerhalb österreichs liegenden) Waldbestandes im Karste (Zentralblatt für das gesamte Forstwesen, Wien, Frick, 1922, 13 ff.) sei hiemit hingewiesen, desgleichen auf das Werk Seckendorffs „Beitrage zur Kenntnis der Schwarzföhre", Wien, Gerold, 1881. In der Ebene, in der Eichenregion, sind die intensiveren landwirtschaftlichen Kuituren ausgebreitet und ist der Wald aus wirtschaftlichen Gründen auf die minderen Standorte zurückgedrangt. Die nachst höhere Region in den österreichischen Donau- und Alpen landern ist die der Buche und Tanne oder die „Bergregion" gekennzeichnet durch starkeres Zurücktreten des Feldbaues, reich- 539 Forstwirtschaft lichere Wiesenbildung und mehr zusammenhangende Bedeckung mit Laub- und Nadeiwald. Die obere Grenze wechselt nach den örtlichen klimatischen Verhaltnissen. Hieher gehören Rotbuche (Fagus silvatica), Tanne (Abies pectinata), Bergahorn (Acer pseudoplatanus), Esche (Fraxinus excelsior), WeiBkiefer (Pinus silvestris), WeiBbuchen, Erlen, Elsbeeren, Ulmen usw., im warnieren Teile auch noch die Eichen, besonders Traubeneiche (Quercus sessiliflora). Die vorherrschende Holzart dieser Region, das haufigste und wichtigste Laubholz, ist die Rotbuche, sie bildet in dem nach ihr benannten Höhengürtel haufig den Grundbestand, in welchem die anderen hier vorkommenden Holzarten nur einzeln eingesprengt sind. In den nördlichen Kalkalpen reicht die obere Grenze für'Rotbuchenbestande höher hinauf als in den Zentralalpen; dieses Zurückbleiben wird auf den in den Zentralalpen herrschenden mehr kontinentalen Charakter des Klimas zurückgeführt. Im Osten des Gebietes, in Niederösterreich am Nordabfalle der Alpen in der Nahe Wiens, also im Wienerwald e, bildet die Rotbuche die weit Qberwiegende Bestockung. Der Buchenhochwald auf besseren Standorten des Berglandes gleicht grünen Hallen mit hohen, schnurgeraden, fast astreinen saulenförmigen Schaften und hoch angesetzten Kronen. Im klimatischen Optimum der Buche erwies sich ihre aus wirtschaftlichen Gründen angestrebte Verdrangung zugunsten des Nadelholzes als nahezu undurchführbar. In den etwas höheren Lagen des BuchengOrtels aber ist dem Laubholz haufig Tanne und Fichte beigemischt, ja die Tanne bildet, besonders in den höheren Lagen des Wienerwaldes und vor allem auf Nordabhangen, auch reine Bestande. Die obere Grenze für Buchenbestande in den nördlichen Kalkalpen österreichs hat Kerner mit 1300 m angegeben, für vereinzelte Hochstamme mit 1430 m, für verkrüppelte Straucher mit 1540 m Seehöhe. Die Buchen- und Tannenregion geht nach oben zu in die Voralpenregion über, in welcher fast ausnahmslos die Fichte den Wald beherrscht, an dessen Bildung noch insbesondere die Larche und in geringerem MaBe die Zir bel kief er Anteil nimmt Laubhölzer kommen in dieser Region nur in geschützteren Lagen oder einzeln eingesprengt vor, so der Bergahorn und die Vogelbeere. Die strauchförmige Grünerle oder Alpenerle (Alnus viridis) erhebt sich bis gegen 2000 m Seehöhe. Die weitaus wichtigste Holzart der Alpen ist die Fichte, sie hat an der Bewaldung der Republik österreich und insbesondere des Alpenlandes den gröBten Anteil. Dies drückt sich auch in den Waldstandsdaten aus, insofern als der Nadelholzwald (haupt- 540 Forstwirtschaft sachlich Fichte) den Oberwiegenden Prozentanteil des Gesamtwaldgebietes besitzt; vom Gesamtwaldgebiete des Bundesstaates österreich (ohne Westungarn) entfallen namlich: Auf den Nadelholzwald zirka 74%, auf den Laubholzwald zirka 8%, auf gemischten Bestand von Laub- und Nadelholz zirka 18 %. (Auch sind 94 % des gesamten Waldgebietes Hochwald und nur 6% Mittel- und Niederwald.) Die wegen ihres wertvollen Holzes in Mitteleuropa vielfach, jedoch nicht immer mit bef ried igendem Erfolge, angebaute Laren e hat in der Voralpenregion der Alpen eine natürliche Heimat. Sie findet sich nach Cieslar Qberall in Tirol, Vorarlberg, Salzburg und Karnten, dagegen in Ober- und Niederösterreich nur südlich der Donau, dieselbe bei weitem nicht erreichend, wohl aber in den Vorbergen der Alpen vielfach bis 450 m Seehöhe hinabsteigend, in Steiermark von Natur aus nur bis zu einer Ost-, beziehungsweise Südostgrenze. Im Wienerwalde ist die Larche künstlich eingefOhrt, im Gebiete zwischen den nördlichen Kalkalpen und der Donau sind die Grenzen des natüriichen Larchenvorkommens durch künstlichen Anbau stark verwischt. Ein besonderer Schmuck der Hochregionen der österreichischen Alpen ist die Zirbelkiefer, die dem rauhen Hochgebirgsklima mit kaum zu beugender Kraft zu trotzen vermag und wegen ihres wertvollen Holzes geschatzt ist, jedoch nur in bescheidenerem MaBe an der Waldbildung teilnimmt. Die Niederschlage in der Voralpenregion sind bedeutend, sie erreichen die Höhe von durchschnittlich etwa 1000 mm jahrlich, wahrend sie in der Region der Ebene durchschnittlich nur etwa 600 mm betragen, in einzelnen Gebieten in Niederösterreich, im Hügellande nördlich der Donau, zum Beispiel bei Feldsberg, gar nur kaum 450 mm ! Gegen die obere Grenze der Voralpenregion werden die Waldbestande immer lichter, die Schafte kürzer, kegelförmiger, bis herab beastet; die Masse und die Qualitat des Holzes auf der Fiacheneinheit ist geringer als in den günstigeren, tieferen Lagen! Die Reihe der Waldregionen wird im Alpenlande haufig nach oben hin abgeschlossen durch die Region der Legföhre oder die Krummholzregion. Diese Holzart geht zum Beispiel in Niederösterreich in gröBeren und geselligen Verbanden bis gegen 1900 m Höhe, am Wiener Schneeberg bis 1860 m, vereinzelt noch etwas höher, in Tirol bis 2300 m. Die Verteilung des österreichischen Waldes auf die einzelnen Bundesiander der Republik österreich enthalt die Tabelle II. 541 Tabelle II. Lünderweise Waldstandsübersicht. Von der Oesamtwaldfliche entfallen auf ====T .. ^^===TS : . Von der staatliche und unter _ \ " » I P I - aesamtwaldfliirlii. staatlicher Ver- 72 E «t* S = -S 8 8 8 , uesamtwaldtlacne Oesamt- waltung stenende oS| c'3 Öo ga-S_ gïiS è 9ind Land waldfiache wilder >g| 3-5b •§ >||5 S Ih a.2 i Aa ^ osss. ift ji* i| im lil P li sih,r B,r forste fonds *%£ 3'S g 8 & | | g f wilder II || | n. dgl.) | Q° g |g5|ga|o° Niederösterreich. 673.705 28.954 2.382 28.205 196 4.759 44.667 19.891 130.000 414651 33.432 121 | Oberösterreich . 406.646 63.885 25.956 2.060 61 242 16.630 3.206 33.714 260.892 7.046 1.317 ■e | Salzburg .... 235.616 125.251 8.259 46 131 1.314 4.818 95.797 43.472 3.207 o Steiermark . . . 796513 54.272 25.719 10.996 15235 198 39.614 36.888 13.748 599.843 117.056 2.665 Karnten409 320 12-836 2.359 6 513 30 62 12.500 23.486 41.823 309.711 75.666 7.338 Tiro1-*35-251 89 990 353 222.708 78 257 6.570 13.744 622 100.929 73.296 21.688 Vorarlberg . . . 67.4751 1.045 45 30.726 53 38 766 7.130 278 27.394 20.972 2.466 Zusammen. . 3,024.526 376.233 56314 309.467 15.699 5.687 122.061 109.163 220.185 1,809.2171370.939 38.802 i 542 Forstwirtschaft Aus den beiden Tabellen I und II ist ersichtlich, daB der staatliche Waldbesitz nur rund 12% der gesamten Waldfiache betragt, daB auf den sonstigen groBen Waldbesitz (über 500 ha für den einzelnen Betrieb) insgesamt rund 32% der Waldfiache österreichs entfallen, wahrend rund 56% des österreichischen Waldes zum Kleinwaldbesitze (unter 500 ha) gehören. Die Staatsforste, deren Fiachenanteil somit ein verhaltnismaBig geringer ist, sind auBerdem noch mit Servituten zugunsten der bauerlichen Bevölkerung belastet, und zwar mit Holz-, Streubezugs- und Weiderechten. Die Summe der Holzbezugsrechte an den Bundes-und Fondsforsten zusammen betragt 22*9% des gesamten Jahreshiebsatzes. 2. Die Bewirtschaftung der österreichischen Forste lm folgenden soll die Bewirtschaftung der österreichischen Forste nur für die Zeit von den letzten Kriegsjahren an bis zur Gegenwart dargestellt werden. Auf die Geschichte der österreichischen Forstwirtschaft einzugehen, ist also nicht Zweck der vorliegenden Abhandlung, vielmehr wird in dieser Hinsicht auf das eingehende Werk „Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien 1848 bis 1898", IV. Band, Wien 1899, Kommissionsverlag M. Perles, verwiesen sowie auf das altere Buch „Die österreichischen Alpen land er und ihre Forste" von J. Wessely, Wien, Verlag Braumüller, 1853. a) Die Erzeugung von Holz und sonstigen wirtschaftlichen Gütern lm allgemeinen kann in Österreich mit einem jahrlichen durchschnittlichen Holzzuwachs von rund 3 Festmetern je Hektar gerechnet werden, so daB ein jahrlicher Holzertrag für das ganze Gebiet von rund 9,000.000 Festmetern angenommen werden kann. Eine erschöpfende Erhebung aller Daten, aus denen einerseits der Bedarf der eigenen Volkswirtschaft an Holz, anderseits die Exportfahigkeit ziffernmaBig festgestellt werden könnte, lieB sich in der verhaltnismaBig kurzen Zeit seit der Bildung des neuen österreich noch nicht durchführen, doch steht zweifellos fest, daB Holz der wichtigste Ausfuhrartikel des neuen österreich ist und es folgen weiter unten, in dem Abschnitte über Holzhandel, Angaben über die bisherige Ausfuhr. Was den gegenwartigen Stand der Technik der Holzerzeugung oder des Waldbaues (Bestandesbegründung und 543 Forstwirtschaft -erziehung) und die in der Kriegs- und Nachkriegszeit aufgetretenen besonderen Schwierigkeiten anbelangt, so ist zunachst in erstèrer Hinsicht festzustellen, daB in der Hauptsache sowohl in den Donau- als auch in den AlpenlSndern der Kahlschlagbetrieb in Verbindung mit der Pflanzkultur vorherrschend ist. Nur stellenweise kommt natürliche Verjüngung in Anwendung, so in den Ausschlagwaldern der flachen Gebiete im Donaulande (auf Grund der Reproduktionsfahigkeit der Laubhölzer), durch Samen in den Buchenbestanden des Wienerwaldes (Schirmschlagbetrieb) und in manchen Gebirgsforsten (Femelschlagbetrieb beziehungsweise Plentersaumschlage), endlich in den Schutzwaidern des Hochgebirges (Plenterbetrieb). MaBnahmen der Bestandeserziehung kommen — insbesondere in den schwerer zuganglichen Gebirgsforsten des Alpenlandes — nur in geringerem Grade zur Durchführung. Der heutige Zustand der Wirtschaft in bezug auf die zumeist angewandten Methoden der Bestandesbegründung und -erziehung ist aber keineswegs als ein abgeschlossener zu betrachten. Soweit es alle jene Verhaitnisse, welche die Wirtschaft bedingen, zulassen, bereitet sich ein Obergang insbesondere von der GroBflachen- zur Kleinflachenwirtschaft, von der geringeren zur intensiveren Bestandespflege und mitunter auch von der künstlichen Bestandesbegründung zur natüriichen Verjüngung vor. Die durch den Krieg herbeigeführten Zustande haben allerdings auf diesen Obergang zunachst verzögernd gewirkt. Den angestrebten Fortschritten im Betriebe standen wahrend des Krieges und in den ersten Jahren der Nachkriegszeit mancherlei Hemmungen im Wege. Sie darzustellen ist der Zweck der folgenden Zeilen. Was zunachst die Kriegs jahre anbelangt, so zwangen die Verhaitnisse dazu, an Stelle der pfleglicheren, eine Steigerung des Holzzuwachses ermöglichenden Wirtschaft, die nicht nur beabsichtigt, sondern auch durch die allmahlich erfolgte Wert zunahme des Holzes begründet war, einen weniger pfleglichen, nur auf rasche Holzernte gerichteten Betrieb einzuführen, denn es fehlte in den Kriegsjahren an Forstpersonal, an Holzarbeitern und an Fuhrwerk, an Nahrung für Mann und Pferd; zugleich aber waren die Anforderungen an die Nutzung aus dem Walde sehr wesentlich gesteigert, denn es muBte nicht nur der groBe Holzbedarf für Heereszwecke gedeckt werden, sondern es galt auch, Holz als Heizmaterial bereitzustellen. Das Ergébnis dieser Verhaitnisse (Nutzung bei gleichzeitigem Mangel an Arbeitskraften und Fuhrwerk) war meist die Beibehaltung der GroBflachen wirtschaft, eine Schmalerung und 544 Forstwirtschaft teilweise Vernachlassigung des Aufforstungsbetriebes und der Nachzucht von Waldpflanzen in ForstgSrten. Nach Kriegsende wurden die Verhaitnisse zunachst keineswegs besser. Die Preise für Nutzholz erfuhren, da die Verhaitnisse auf dem Weltmarkte wieder auf die Preisbildung einwirken konnten, eine wesentliche Steigerung und veranlaBten manche Waldbesitzer zu einem vermennen Einschlage. AuBerdem trat ein aufierordentlicher Mangel an Brennstoffen und eine gewaltige Steigerung der Nachtrage nach Brennholz ein, weil die groBen Stein-und Braunkohlenbergwerke der alten Monarchie an die Nachfolgestaaten übergegangen waren und österreich nur Kohlenlager von untergeordneter Bedeutung behalten hatte. Trotz aller MaBnahmen der Forstwirtschaft litt die Bevölkerung auBerordentlich unter dem Brennstoffmangel, die Zuweisung von Kohlen aus den Nachfolgestaaten war eine völlig unzureichende, die öffentlichen Verkehrsmittel, Eisenbahnen und die StraBenbahn der GroBstadt, muBten zeitweise wegen Kohlenmangels den Verkehr einstellen, die Brennstoffversorgung der groBen Masse der stadtischen Bevölkerung war nahezu ganzlich unterbunden. Wahrend des Krieges, im Jahre 1917, war (mittels Verordnung des Ackerbauministeriums vom 10. April 1917, R.-G.-Bl. 160) vom Ackerbauministerium eine „Holzwirtschaftsstelle" errichtet worden, welche die Vorrate an schlagbarem, an geschlagenem und gesagtem Holze zu erheben, bei der Deckung des Holzbedarfes der Militflrverwaltung und der Zivilbevölkerung, besonders der Industrie, des Gewerbes und des Bergbaues mitzuwirken und die Holzgewinnung, den Transport und die Verarbeitung von Holz durch Unterstützung bei Beschaffung von Arbeitskraften, von Transport-, Betriebs- und Lebensmitteln sowie von sonstigen Bedarfsgegenstanden zu fördern hatte. An Stelle dieser Körperschaft wurden im Jahre 1919 die „Landesholzstellen" in den einzelnen Landern österreichs errichtet. Den Landesholzstellen kam (laut § 3 der Vollzugsanweisung vom 26. Marz 1919, St.-G.-Bl. Nr. 198) zu: 1. Die Erhebung des Holzbedarfes im Lande; 2. die Feststellung der Bestande an schlagbarem Holz, der Vorrate an gefailtem, aufgearbeitetem, geschlagenem und gesagtem: Holz sowie der in den einzelnen Unternehmungen vorhandenen Betriebsmittel; 3. die Ausarbeitung eines Holzwirtschaftsplanes im Rahmen der Vorschlage des Landesforstinspektors; 35 545 Forstwirtschaft 4. die Vorsorge ffir die rechtzeitige Vornahme der Schiagerungen und die Unterstützung der Waldbesitzer, Schlagsunternehmer usw. bei Durchführung der Arbeiten; 5. die Begutachtung der Gesuche um Erteilung der Ausfuhrbewilligungen ffir Holz nach dem Auslande; 6. die Antragstellung zu Verfügungen im Sinne des § 4; gemaB diesem Paragraphen konnten namlich die Landesregierungen zur Wahrung öffentlicher Interessen anordnen: a) die Vornahme von Schiagerungen, b) Verfögungen von Schiagerungen unter Festlegung der Verkaufsbeziehungsweise Kaufsbedingungen, c) die Bringung von Holz und dessen Verarbeitung zu Bau-, Nutz- und Brennholz sowie die Abgabe von Holz zu den von den Landesholzstellen zu bestimmenden Preisen. Eine Berufung gegen diese Anordnungen und Verfügungen der Landesregierungen war unzulassig, dieselben waren vielmehr sofort in Vollzug zu setzen. Auch diese Verhaitnisse waren für eine Verfeinerung der Wirtschaft keineswegs günstig und als Folgen dessen ergaben sich: eine Verzögerung der — infolge der sonstigen Anderungen in der Volkswirtschaft möglich und notwendig gewordenen — Fortschritte, eine teilweise Aufzehrung des Holzvorratskapitals ia den Bauernwaldern, Rückstandigkeit in den Aufforstungen, in der Instandsetzung der Waldwege, in der Pflege der Forstgarten usw. In einer Eingabe des österreichischen Reichsforstvereines, die in der „Wiener allgemeinen Forst- und Jagdzeitung" vom 15. Dezember 1922 von H. Lorenz veröffentlicht und besprochen wurde, finden sich folgende Daten über die Aufforstungsrückstande: „Der Waldfiache österreichs (ohne Burgenland, für das uns Daten fehlen) von rund 3,000.000 ha entspricht eine normale jahrliche Kultur- und Nachbesserungsflache von rund 30.000 ha. Von dieser sind seit 1915 kaum mehr als 50% tatsachlich aufgeforstet worden, also bis einschlieBlich Frühjahr 1921 etwa 15.000 X 7 = 105.000 ha als mehr oder minder kahler Schlag verblieben; hiezu kommt noch die Kulturflache des Frühjahres 1922 mit zirka 30.000 na, so daB heuer streng genommen etwa 135.000 ha zu kultivieren waren; diese Ziffer erscheint unter anderem auch deshalb nicht übertrieben, weil sie ja nur normale Schlagführungen voraussetzt und bei ihrer Errechnung die groBen Mehrfallungen der letzten jahre nicht in Anschlag gebracht worden sind. Für die Aufforstung sind zirka 135.000X5000 — 546 Forstwirtschaft 675,000.000 Pflanzen erforderlich, davon 525,000.000 Pflanzen zur Behebung der Kulturrückstande und 150,000.000 jahrlich zur Kultur der neuen Schiage. Der Kulturkostenaufwand stellt sich für die 105.000 ha Kutturrückstande auf 315 Milliarden Kronen und das überwiegend im kleinen und mittleren, meist bauerlichen Besitz 1" Die forstliche Öffentlichkeit österreichs befaBt sich eifrig und eingehend mit Vorschiagen zur Behebung sowohl des hier skizzierten, in der Kriegszeit entstandenen Mangels als auch mit sonstigen, die Förderung der forstlichen Produktion betreffenden Bestrebungen. Soweit alle diese auch das Offentliche Interesse berührenden Aufgaben über die finanziellen Krafte des einzelnen, speziell des Klein wal dbesitzers, hinausgehen, ist die Zuwendung von Bundesmitteln für die Durchführung, und zwar auf Grund eines (voriaufig im Entwurfe vorliegenden) „Landeskulturförderungsgesetzes" geplant. Die beabsichtigten Verbesserungen an der österreichischen Forstwirtschaft betreffen sowohl die Reform der österreichischen Bundesforstwirtschaft, die einen für den Staat sehr wichtigen Betrieb, und zwar sowohl in privat- als auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht, darstellt, als auch beziehen sie sich auf die MaBnahmen zur Hebung und Sicherung der forstlichen Rohproduktion in österreich überhaupt. Die wichtigsten VerbesserungsmaBnahmen wfirden betreffen: Die AufschlieBung aller Forste durch leistungsfahige Verkehrsmittel, beziehungsweise Bringungsanlagen zur Ermöglichung oder Verbiliigung des Holztransportes, weil nur dort, wo das Erzeugnis tatsachlich, und zwar auch in kleineren Mengen, genutzt werden kann, die Voraussetzungen für eine auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhende, sorgfaltigere Wirtschaft auch in bezug auf die Veiftegungsund Bestandeserziehungsmethoden gegeben sind; die Verkleinerung derWirtschaftsbezirke, beziehungsweise Vermehrung des Personats und der Forstverwaltungen beim groBen Waldbesitze, einschlieBlich des staatlichen, da ja eine der Leistungsfahigkeit des Wirtschaftsführers angemessene GröBe des Wirtschaftsbezirkes eine der ersten Voraussetzungen für die Intensivierung des Betriebes ist; die Einführung eines schSrferen Durchforstungsbetriebes, wodurch — nach Schatzungen in der oben erwahnten Eingabe des österreichischen Reichsforstvereines — der Materialertrag der Forste theoretisch um 20 und mehr Prozent, tatsachlich und in der nachsten Zeit unter Berücksichtigung unserer besonderen Verhaitnisse sicner um 10 bis 15% gehoben werden könnte; die Durchführung dieser VerbesserungsmaBnahme hangt aber zum groBen Teile von den beiden vorher 35' 547 Forstwirtschaft genannten, von der AufscblieBung der Forste durch Bringungsanlagen und der Verkleinerung der Bezirke ab; die Einschrankung des Kahlschlagbetriebes auf zusammenhangenden groBen Flachen weil dieser Betrieb zur Verflüchtigung des Humus, Verunkrautung und sonstigen Verschlechterung des Bodens AnlaB gibt; ferner eine ganze Reihe von MaBnahmen, die der Österreichische Reichsforstverein in einer im Jahre 1918verfaBten Denkschrift vorgeschlagen hat u nd die in dem knappen Rahmen dieser Abhandlung nur andeutungsweise Erwahnung finden können: Wahl der wertvolisten unter den standortsgemaBen Holzarten beim Anbau, Vorsorge für die Gewinnung von Saatgut entsprechender Herkunft gemaB den Ergebnissen der Forschungen Cieslars, Englers u. a., sorgfaitige Bestandesbegründung; Erhaltung, beziehungsweise Hinaufrückung der oberen Waldvegetationsgrenze im Gebirge, deren Rückgang wohl nur auf kühstliche Eingriffe zurückzuführen ist, dader natürliche Vorgang in dergegenwartigen Klimaperiode der Gletscherrückgangund Vegetationsvormarsch ist (Zentralblatt für das gesamte Forstwesen 1816, 223); Mischwuchs-: pflege; Bedachtnahme auf die Anzucht edler Laubhölzer; tunlichste Verhinderung des Eintrittes von Rauchschaden, welche, von manches Fabriken ausgehend, den Holzwuchs auf weite Strecken beeintrachtigen, Vorsorge für technische Vorbeugung durch entsprechende Schlotanlagen (Dissipatoren etc), zumal bei Neuanlagen von Fabriken mit schadlichen Abgasen; Vorsorge für die fachliche Beratung und Belehrung der Kleinwaldbesitzer, für die Fortbildung der Forstwirte usw. Zur Durchführung dieses nur angedeuteten reichhaltigen Programmes, das zum gröBeren Teile vor Kriegsende aufgestellt wurde, wird es in Hinkunft gewiB nicht an dem guten Willen und auch nicht an der Tatkraft der österreichischen Forstwirte, wohl aber möglicherweise in dem einen oder anderen Belange an den finanziellen Mitteln fehlen! In der Staatsforstverwaltung zum Beispiel ist — an Stelle der als notwendig erkannten Verkleinerung und Vermehrung der Wirtschaftsbezirke — aus Ersparungsrücksichten bei Durchführung des Sanierungsprogrammes in gewissem Sinne das Gegenteil, namlich einAbbau des Hilfspersonales und schon seit 1919 eine streng durchgeführte.Drosselung der Neuaufnahme von Anwartern für den Wirtschaftsführerdienst eingetreten, trotz vermehrter Arbeit infolge verschiedener Reformen, Neueinführung der doppelten Buchführung usw. Noch immer hat eine Anzahl von Wirtschaftsbezirken der Bundesforstverwaltung im Alpenlande eine Waldfiache von je 6000 bis 8000 ha 548 Forstwirtschaft und ein AusmaB einschlieBlich der produktiven und unproduktiven Nebengründe von je 10.000 bis 40.000 ha aufzuweisen. Auf eine Vermehrung der staatlichen Wirtschaftsbezirke ist derzeit wohl keineswegs zu hoffen. AuBer dem Haupterzeugnisse Holz, wie: Bauholz, Schnittholz (Sageware), Grubenholz, Papierholz, Schwellenholz, sonstigem Nutzholz und Brennholz, liefert die Österreichische Forstwirtschaft noch eine Reihe von sonstigen Waldnutzungen: Die Nutzung der Rinde zur Gewinnung von Gerbstoffen spielte wahrend des Krieges eine wichtige Rolle, da die Einfuhr auslandischer Gerbstoffe, besonders des aus Amerika bezogenen Quebrachoholz-Extraktes, unterbunden war. Auch die Harznutzung, die im niederösterreichischen Schwarzföhrengebiete (siehe Abschnitt 1) eine von altersher geübte, forstliche Nebennutzung ist, erlangte wahrend des Krieges eine auBerordentliche Bedeutung, da Harz aus dem Auslande nicht eingeführt werden konnte, die aus dem Harz durch Destillation gewonnenen Stoffe aber, Terpentinöl und Kolophonium, wichtige Rohstoffe für die chemische Industrie sind (Terpentinöl dient namentlich zur Lackund Firnisbereitung und zur Erzeugung des künstlichen Kautschuks, Kolophonium zur Kitt-, Siegellack- und Firniserzeugung, zur Herstellung von Harzölen, Harzseifen und Brauerpech). Die iniandische Harzerzeugung ist aber keineswegs ausreichend (die jahrliche Erzeugung an Harz und Terpentin im niederösterreichischen Schwarzföhrengebiete betrug vor dem Kriege rund 2,000.000 kg), nach Kriegsende erfolgte daher wieder die Einfuhr, die sich — nach Professor J. Marchet („Holzhandelspolitische Untersuchungen", Wien und Leipzig, Gerold, 1922) — im Jahre 1921 von 98 Waggons auf 227 Waggons erhöht hat, dabei hat auch die überseeische Einfuhr von Harz und Kolophonium wieder begonnen. Der Anbau auslandischer Kiefernarten mit gröBerer Harzergiebigkeit als die der österreichischen Schwarzkiefer ist mit Rücksicht darauf, daB diese Holzarten bei dem in österreich herrschenden Klima nicht gedeihen können, keineswegs aussichtsreich. Eine weitere in österreich geübte, forstliche Nebennutzung ist das Sammeln der Baumfrüchte und Gewinnen der Samen der Waldbaume. Mehrere seit Jahrzehnten bestehende Firmen (Waldsamenklenganstalten), deren Sitz sich in Wiener-Neustadt und in Innsbruck befindet, versorgen nicht nur das Inland, sondern teilweise auch das Ausland mit dem für den Waldbau nötigen Saatgute. 549 Forstwirtschaft • Ü ^"ü Rei e sonsti«erNebenn«tjiungen dient der heimischen U«dwirtschaft: Die Gewinnung von Waldstreu, von Fuéterlaub die Grasnutzung im Walde und die Waldweide. Zum Teile lasten Berechtigu ngen zugunsten von Bauerngütern (Servitutsrechte) zum Bezuge von Streu, zur Waldweide usw. auf den Forsten Der Waldstreubedarf der Undwirtschaft ist zum groBen Tefle dadurch bedingt, daB im rauheren Gebirgsklima der Getreidebau zurucktreten muB, die Viehzucht zum Hauptzweige der landwirtschaftlichen Erzeugung wird, der Bedarf an Streu daher groB die Stroherzeugung aber gering ist Die innerhalb kurzer Zeitraume am gleichen Waldorte wiederholte Bodenstreunutzung (Entnahme des am Boden verwesenden, abgefallenen Laubes, der Nadeln und Bodengewachse usw.) ist dadurch, daB sie dem Waldboden jene Stofte entzieht, die ihn in physikalischer und chemischer Hinsicht in günstigem Zustande zu erhalten vermögen, je nach den Umstanden insbesondere bei ungeregelter Nutzung, in gröBerem oder geringerem Grade der Forstwirtschaft abtraglich. Diese strebt daher nach Zuweisung von Ersatzmitteln für die Waldstreu an die bezugsberechtigten Landwirte und es wurden aus diesem Anlasse (behufs Ermöglichung einer gerechten Bemessung des Ersatzes) neue Untersuchungen über den landwirtschaftlichen Wert der Waldstreu von L. Tschermak (Zentralblatt für das gesamte Forstwesen 1919, 193) ausgeführt. Nach dem statistischen Jahrbuche des (ehemaligen) k. k. Ackerbauministeriums für das Jahr 1910 wurden im genannten Jahre in nachbenannten üebieten folgende Mengen von Waldstreu gewonnen: Niederösterreich 1,224.100 ? Oberösterreich 22,379 f?lzb"ïë 64.800, Vorarlberg 8 740 ^ Steiermark (die bei österreich verbliebenen Bezirke) 3731 000 " 5?™*" - - - . 901.120 '9 01 " " » 333900 „ Zusammen . . 6,485.039 q h) Die MaBnahmen zur Sicherung der Nachhaltigkeit der österreichischen Forstwirtschaft. Das neue Österreich ist zum weitaus überwiegenden Teile Gebirgsland. In einem solchen ist die Nachhaltigkeit der Forstwirtschaft die dauernde Erhaltung des Waldes, in hohem MaBe, auch mitRücksicht auf das öffentliche Interesse p-ehoten 550 Forstwirtschaft Zwar haben einzelne, bezüglich der Wohlfahrtswirkungen des Waldes herrschende Ansichten vor den Ergebnissen der exakten, wissenschaftlichen Untersuchung nicht standhalten können, aber dennoch steht fest, daB dem Walde, insbesondere in GebirgsISndern (und auf lockeren, fluchtigen Sandböden auch in der Ebene) eine groBe Bedeutung für das Gesamtwohl zuzusprechen ist. lm Gebirge spielt die Erhaltung der Vegetationsdecke und insbesondere des Waldes eine groBe Rolle, um der Gefahr des Bodenabtrages entgegenzuwlrken. Was zunachst den „Abtrag" selbst anbelangt, so wirken im Gebirge die Verwitterung der Gesteine, der trockene Abtrag der Verwitterungsprodukte durch die Schwere, die Abtragung derselben durch das Wasser und durch Wind, also eine Reihe von Kratten, zusammen, um unablassig das Material höher gelegener Punkte zu zerstören und es nach tieferen Punkten hinabzuführen und dort abzulagern. Die Tatigkeit dieser Krafte ist eine einebnende. So führt zum Beispiel die Donau im Durchschnitte taglich 25,000.000 kg gelöster Stoffe, hauptsachlich Kalk und Magnesia, und 15,000.000 kg feinsten Schlammes an Wien vorbei (nach Leon, Festigkeit und Wetterbestandigkeit der natüriichen Gesteine, 1912). Der Bodenabtrag, der überall auf der Erde wirksam ist, nimmt im allgemeinen mit der Erhebung über den Meeresspiegel zu, nicht nur wegen der Neigungsverhaltnisse, sondern auch weil mit der Meereshöhe die Menge der Niederschlage und die Starke des den Gesteinszerfall fördernden Frostes zunimmt, sowie wegen der mit der Erhebung über den Meeresspiegel zunehmenden Wind starke. Die Gebirge sind inseiartige Raume haufigeren und versterkten Regenfalies, so hat zum Beispiel in Niederösterreich der südliche, hochgebirgige Landesteil zirka 1500 mm mittleren jahrlichen Niederschlages, hingegen die Niederung im nordöstlichen Teil des Landes nur bis 500 mm jahrlich; die von den Gebirgen infolge der weit höheren Niederschlage abflieBenden bedeutenden Wassermassen (auch die Verteilung der Niederschlage spielt neben ihrer Menge eine ausschlaggebende Rolle) begunstigen, insbesondere im geneigten Gelande und bei Bodenverwundung, den Vorgang des Bodenabtrages! Durch die Pflanzennarbe des Bodens wird nun die Tatigkeit der Wassermassen in ihrer Wirkung wesentlich abgesch wacht, und zwar ist in dieser Hinsicht auch nach neueren, in der Schweiz durchgeführten, exakten Untersuchungen (Engler, Untersuchungen über den EinfluB des Waldes auf den Stand der Gewasser, Zürich, 1919) 551 Forstwirtschaft HnrZihkUng dCS ^3ldè' Jener der sonsti*en K«It«rgattunge„ de* Hochgebirges, so insbesondere der Alpenweiden, wesentlich über" IVk S" m m°Se ,0Ckere WaIdboden ^mag eine gröBere Menge des Niederschlagwassers aufzunehmen, der momentane AbfluB ist daher ,m bewaldeten Terrain geringer. AuBerdem spielt auch dTe mechanische Wirkung des Waldes bei der Verlangsamung des 1TrJf rïf65 R°lle' ebenS0 derSchutz des Verwitterungsbodens durch die Pflanzendecke. Der Wald bietet Schutz gegen die Büdung L^Tn' V°n Geschiebe» g^en die Bildung von Wildbflchen mit schadhchem Abtrag und schadlicher Ablagefung in den Tale™ Diese günstigen Wirkungen des Waldes treffen im allgemeinen zu, wenn auch manchmal solche enorme Mengen von Niederechlagen ;il hUrar *" fa,len> da* der Wald sie nicht zurückhaltrE ifntnft WCnHn „ B°den, geff0ren ist Und rasche Schneeschmelze eintntt, sind auch in waldreichen Gebieten Oberschwemmungen unvermeidlich.) s Auch gegen den Bodenabtrag durch die in höheren Regionen ganz gewöhnlich herrschenden heftigen Winde bietet der Wald bchutz. p ./.f1161" !,St dxf Gebir*swald. eben infolge des Aufspeicherns und re«885ÏÏen!. d6.r N,ederschlage durch den lockeren Waldboden, auch befanigt, die Quellen zu speisen, die Unterschiede im Wasserstande der Flüsse (Anschwellen nach Regengüssen usw., allzu niedriger Wasserstand bei Trockenheit) zu mildern und einigermaBen auszugleichen. Diese nichts weniger als erschöpfenden, knappen HinweISe mögen die Gesichtspunkte andeuten, um deren willen die Wohfahrtswirkungen des Gebirgswaldes in Österreich auch heute noch anerkannt werden. Die MaBnahmen, welche demgemaB auf die Erhaltung des Waldes hinzielen, liegen auf dem Gebiete der Forstbetriebseinrichtung und des Forstschutzes, weiters auf jenem der üesetzgebung, der politischen Verwaltung und der Technik des forstlichen Systems der Wildbachverbauung . Was zunachst die Forstbetriebseinrichtung anbelangt, so hat diese die Aufgabe, den gesamten Wirtschaftsbetrieb im Walde planmaBig nach Raum und Zeit zu ordnen und dabei auch auf die Notwendigkeit der dauernden Erhaltung des Waldes im Hmbhcke auf das allgemeine Wohl Rücksicht zu nehmen. Im Jahre 1910 waren (laut statistischen Jahrbuches) 552 Forstwirtschaft eingerichtet : 302.071 ha 163.833 „ 153.208 „ nicht eingerichtet: in NiederOsterreich „ Oberösterreich „ Salzburg ... . 382535 ha 242.923 „ 82.436 „ ahnlich in den anderen Landern, betreffs deren die Zahlen hier deshalb nicht wiedergegeben werden, weil der Anteil der von Österreich infolge des Friedensvertrages abgetretenen Teile dieser Lander an eingerichtetem und nicht eingerichtetem Walde nicht feststeht. Wenn man berücksichtigt, daB auf den Kleinwaldbesitz in österreich rund 56% der Waldfiache entfallen, so ist der betrachtliche Anteil des nicht eingerichteten Waldes weniger auffallend. Die MaBnahmen auf dem Gebiete des Forstschutzes zum Zwecke der Walderhaltung werden in österreich sowohl von den Forstwirten und den ihnen unterstellten Forstbetriebs- und Forstschutzorganen durchgeführt, als auch von besonderen Organen des Staates, den „Forsttechnikern der politischen Verwaltung", auf deren Aufgabenkreis im folgenden (weiter unten) hingewiesen werden wird. Auf dem Gebiete der Gesetzgebung ist vor allem auf das bereits seit 70Jahren in Wirksamkeit befindliche österreichische Reichsforstgesetz hinzuweisen, das wahrend des Krieges, im ■65. Jahre seines Bestehens, einen modernen, eingehenden und wissenschaftlich hochwertigen Kommentar erhalten hat; dieser ist unter dem Titel „Das österreichische Reichsforstgesetz mit Erlauterungen zu seiner Handhabung", bearbeitet von R. Fischer, Ministerialrat, und Dr. A. Hirsch, Edler von Stronstorff, Sektionsrat, Wien 1917, im Selbstverlage seiner Verfasser erschienen. Ziel und Leitgedanke beim Entstehen dieses Gesetzes war, das „allgemeine Wohl fordere nicht bloB in Anbetracht der nachhaltigen Befriedigung der Holzbedürfnisse, sondern auch in Rücksicht der Gesundheit, Fruchtbarkeit und Wohnlichkeit der Lander, daB eine gewisse Menge Wald fortwahrend erhalten werde". Das Gesetz verbietet die ohne behördliche Bewilligung vorgenommene Rodung (Kulturumwandlung, bestehend darin, daB ein Waldgrund der Holzzucht entzogen und zu anderen Zwecken verwendet wird); schreibt die Wiederaufforstung frisch abgetriebener Waldteile und alterer BlöBen innerhalb einer bestimmten Frist vor; untersagt jede Waldverwüstung, das ist eine solche Waldbehandlung, durch welche die fernere Holzzucht gefahrdet oder ganzlich unmöglich gemacht wird; schreibt des weiteren vor, daB „Schutzwalder", das sind Walder mit im Gesetze naher bezeichneten besonders schwierigen Standortsverhaitnissen, einer bestimmten vorsichtigen Behandlung bei der Bewirtschaftung zu unterziehen sind usw. 553 Forstwirtschaft AuBer diesem Reichsforstgesetze bestehen in den Landern mit Ausnahme von Oberösterreich noch Landesforstgesetze. Sie suchen das Reichsforstgesetz zu ergfinzen insbesondere durch die Vorschrift, daB in einzelnen naher bezeichneten Gebieten Kahlschlage, die ein gewisses AusmaB überschreiten, im vorhinein der Behörde anzumelden sind. Der Zweck der Anmeldepflicht ist hauptsachlich der, zu ermöglichen, daB vor Ausführung des Kahlschlages entschieden werde, ob nicht die Bestimmungen des Reichsforstgesetzes gegen die betreffende Kahlschlagerung sprechen. Zur Durchführung der das Forstwesen betreffenden Gesetze und für eine Reihe sonstiger, die Förderung der Forstkultur bezweckenden Aufgaben sind der politischen Verwaltung in österreich eigene Organe zugeteilt, die Forsttechniker der politischen Verwaltung. Da in österreich der Staatswaldbesitz im Verhaitnisse zur gesamten Waldfiache gering ist, in groBen Gebieten daher staatliche Forstverwaltungsbeamte fehlen, denen der Vollzug der Forstpolizei übertragen werden könnte, so wurde in den ehemals österreichischen Landern schon seit dem fünfzehnten Jahrhundert die Notwendigkeit der Aufstellung eigener Organe für den Vollzug der staatlichen Forstaufsicht anerkannt (Gesch. d. österr. Land- u. Forstw., IV, 366 ff.). In den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Anstellung von staatlichen Forsttechnikern bei den politischen Landesstellen und Bezirksbehörden nach MaBgabe des Bedürfnisses der einzelnen Lander verfügt. Die Einrichtung, neben den eigentlichen Berufsforsttechnikern auch Privat- und Staatsforstbeamte im Nebenamte als „delegierte Forstinspektionskommissare" mit der staatlichen Forstaufsicht zu betrauen, bewahrte sich nicht und wurde im Jahre 1892 wieder aufgehoben. Die Aufgaben des forsttechnischen Personals der politischen Verwaltung bestehen hauptsachlich darin, die politischen Behörden in der Ausübung der Forstaufsicht und in der Handhabung der das Forstwesen betreffenden Gesetze und Verordnungen überhaupt zu unterstützen, die Forstkultur durch Belehrung der Waldbesitzer und entsprechende Anregungen zu fördern, die im Bezirke aus staatlichen Mitteln errichteten Saat- und Pflanzschulen zu bewirtschaften, die staatlich subventionierten Aufforstungen (einschlieBlich Ödlandsaufforstung, Rekultivierung von durch Bergbau verwüstetem Gebiet usw.) durchzufflhren, unter bestimmten Umstanden die Bewirtschaftung von Gemeinde- und anderen Waldern selbst zu leiten, die durch besondere Gesetze (Jagd, Fischerei usw.) zugewiesenen Obliegenheiten zu erfüllen, im Auftrage der politischen Verwaltung Lokal- 554 Forstwirtschaft erhebungen zu pflegen, Wirtschaftsplane oder Betriebseinrichtungen zu prflfen und zu beurteilen, die forstlichen Staatsprüfungen abzuhalten, die Verfassung der Forststatistik und des Waldkatasters durchzuführen usw. Die oberste Stelle dieses Dienstzweiges ist das Departement ffir den forsttechnischen Dienst der politischen Verwaltung im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft. Dieses Departement ist der unmittelbaren Leitung eines Forsttechnikers als selbstandigen Referenten untersteltt Für die Republik österreich ist in Anbetracht des vorherrschenden Gebirgscharakters ihres Gebietes dieser Dienstzweig wohl noch wichtiger als er es für das Gesamtgebiet des österreich der ehemaligen Doppelmonarchie war. Auch die Schweiz als Gebirgsland besitzt ahnliche Einrichtungen, die eidgenössische Oberaufsichtsbehörde für Forstwesen istdasOberforstinspektorat in Bern, die Kantone als Bundesglieder der Eidgenossenschaft unterstehen unter anderem auch hinsichtlich der Forstaufsicht dem Bunde (gemaB dem „Bundesgesetz, betreffend die eidgenössische Oberaufsicht über die Forstpolizei vom 11. Oktober 1902"), den Forstdienst im Kanton leiten kantonale Forstamter („Forstinspektorat" in Graubünden, „Forstdirektion0 in Bern, „Oberforstamt" in Zürich usw.), jenen in den einzelnen Kreisen die Kreisforstamter. Auch den Wildbachverbauungsdienst hat die Republik österreich bereits von der Monarchie übernommen. Die auBerordentlichen Hochwasserschaden vom Herbste 1882 in Tirol und Karaten veranlafiten die betreffenden gesetzgeberischen MaBnahmen zur Verbauung jener Gebirgswasser, die — meist aus kurzen, steilen Rinnsalen herabkommend — nach heftigen Regengüssen oder zur Zeit der Schneeschmelze plötzlich auBerordentlich starke Wassermassen führen, Sohle dnd Ufer angreifen, Schutt und Gerölle talwarts schaffen und sie an anderen Stellen unter Hervorrufung gewaltiger Schaden ablagern. Mit Rücksicht auf die günstige Wirkung des Waldes als Reglers der AbfiuBverhaitnisse im Einzugsgebiete der Wildbache wurde (wie in Frankreich) die mit den MaBnahmen für die Walderhaltung und Waldbegründung zu verbindende Wildbachverbauung den Forsttechnikem übertragen. Die Hochwasserkatastrophen vom September 1920 (im westlichen Alpenland) und vom l.Juni 1921 (in den Bezirken St. Pölten und Lilienfeld in Niederösterreich) haben neuerdings die Notwendigkeit der Arbeiten auf dem Gebiete der Wildbachverbauung in österreich erwiesen. 555 Forstwirtschaft c) Holzindustrie, Holzhandelspolitik und die im öffentlichen Interesse dem privaten Waldbesitz auferlegten Lasten. Das neue Österreich ist an Holzindustrien verhaitnismaBig reicher als es das Österreich der Monarchie war. Es ist dies darauf zurückzuführen, daB Lander mit groBer Rohholzproduktion, aber verhaitnismaBig geringer Industrie, wie Qalizien und Bukowina, durch den Friedensvertrag von Saint Germain von österreich abgetrennt wurden. Nach der Statistik vom Jahre 1910 betrug damals die Anzahl der Sagewerke: In Niederösterreich 80 Dampfsagen 885 Wassersagen „ Oberösterreich 44 „ 1130 , Salzburg 14 n 277 " , Steiermark 103 , 2337 "„ „ Karnten 29 „ 1065 " » Tirol und Vorarlberg... 26 „ 1962 Zusammen ... 296 Dampfsagen 7656 WassersSgen mit 963 Bundgattern, 7304 einfachen Gattern, 15.459 Biattern 4179ZirkuIarsagen und 353 Bandsagen, wahrend Galizien und Buko-' wina mit ihrer bedeutenden Waldfiache von zusammen 2,431.627 ha nur über 167 Dampfsagen und 535 Wassersagen verfügten. Auch die übrigen Rohholz verarbeitenden Holzindustrie-Unternehmungen waren in den Landern des jetzigen Österreich weit zahlreicher als in den genannten abgetrennten (zum Beispiel Holzstoffabriken in den obigen Landern 160, in Galizien und Bukowina nur 5, usw.). Seit 1910 hat aber die Industrialisierung der österreichischen Forstwirtschaft bedeutend zugenommen, zahlreiche Sagewerke und sonstige Unternehmungen sind entstanden, die Anderungen sind voriaufig noch nicht statistisch erfaBt. In einer Veröffentlichung vom Jahre 1919 hat Prof. J. Marchet („Waldfiachen und Holzproduktion von Deutschösterreich", Gerolds Sohn, Wien und Leipzig) den Gesamtbedarf der österreichischen Sagen und Holzstoffabriken, ferner jenen an Schwellen, Grubenhölzern und Telegraphenstangen an der Hand der Statistik geschatzt und auf Grund dessen geschlossen, daB bei Vollbeschaftigung unserer Holz verarbeitenden Industrie kaum auf eine sehr groBe Rohholzausfuhr zu rechnen sein dürfte. Er hat ferner darauf hingewiesen, daB Österreich an hartem Holz aller Art einem Mangel ausgesetzt sein dürfte und daB die österreichischen Forstwirte in Zukunft auf die Anzucht von Eichen und anderen wertvollen Harthölzern bedacht sein sollten. 556 Forstwirtschaft Je eine Übersicht über den Holzhandel Deutschösterreichs im Jahre 1920 und im Jahre 1921 hat ebenfalls Prof. J. Marchet veröffentlicht („Holzhandelspolitische Untersuchungen" von Prof. Jul.: Marchet, Gerolds Sohn, Wien und Leipzig 1922). Wir entnehmen dieser Veröffentlichung, daB tatsachlich der Anteil des Rundholzes an der Ausfuhr, der vor dem Kriege im alten österreich 31*8% der ganzen Holzausfuhr betragen hatte, im Jahre 1920 auf nur 5% der ausgeführten Holzmasse gesunken ist. Die Schnittholzausfuhr dagegen hatte sich bedeutend gehoben, denn wahrend sie im alten österreich nur 52 5% der ausgeführten Masse an Holz betragen hatte, war ihr Anteil im Jahre 1920 922%! Die gesamte Holzausfuhr 1920 betrug 10% der Holzproduktion des neuen österreich, also weniger als die Ausfuhr des österreich der Monarchie, deren Anteil 14% der Erzeugung war. Im Jahre 1921 war der Anteil der Sageware an der Ausfuhr etwas zurückgegangen (844%), in gleichem MaBe hatte jedoch der Anteil an „behauenem Holz" zugenommen, die Ausfuhr an Rundholz betrug nur 44%. Die Sageware wurde hauptsachlich versandt nach Italien (23.107 Waggons), nach Ungarn (5491 Waggons), nach Deutschland (2891 Waggons), nach der Schweiz und nach den Niederlanden. Die gesamte Holzausfuhr 1921 war gröBer als die vom Jahre 1920; denn wahrend die Ausfuhr an den Warengruppen: Brennholz, Rundholz, behauenes Holz, gesagtes Holz, Holzkohle (einschlieBlich jener Gewichtszuschlage, die bei Bauholz, gesagtem Holz und Holzkohle zur Umrechnung auf Rohholz erforderlich sind) im Jahre 1920 5,882.450 g betragen hatte, bezifferte sich das Gewicht der Ausfuhr der gleichen Warengruppen bei der gleichen Umrechnung im Jahre 1921 mit 6,547.395 g. AuBerdem wurden aber nach J. Marchet noch folgende, für die Forstwirtschaft und den Holzhandel wichtige Produkte (1921) ausgeführt: Ungebleichter Holzstoff (1704 Waggons), Zellulose (1325 Waggons), Holzstoffpappe (2056 Waggons), Friesen, Parketten und ahnliches (48 Waggons), Fourniere (216 Waggons), Möbel und Möbelteile (901 Waggons) und andere Holzwaren. Den Ausfuhrziffern waren jene über die Holzeinfuhr entgegenzuhalten, die, wie aus der zitierten Veröffentlichung zu ersehen ist, an und für sich nicht gerade sehr bedeutend waren, immerhin aber die Forderung nach einem, wenn auch bescheidenen Zollschutze, beschrankt auf weiche Schnittware und auf die in Österreich stark verbreitete Rotbuche, gerechtfertigt erscheinen lassen. 557 Forstwirtschaft lm Wege der Devisenabrechnung beim Holzexporte hatte der Waldbesitz in der Nachkrfegszeit bedeutende Abgaben zugunsten des Staates und der Lander iu leisten. Auch sonst wurden dem Waldbesitze bedeutende Lasten auferlegt, auf die der Österreichische Reichsforstverein in der vorhin angefOhrten Eingabe hinweist. So muBten zum Beispiel in den Nachkriegsjahren die gröBeren und mittleren nicht bauerlichen WaldbesHzer das B r e n n h o 1 z, hinsichtlich dessen ein überaus groBer Bedarf bestand, zu den von den Preisprüfungsstellen recht niedrig vorgeschriebenen „Richtpreisen" abgeben, welche oft hinter den tatsachlichen Gestehungskosten weit zurückblieben. Zur Befriedigung dieses Brennholzbedarfes mufite oft auch wertvolies Nutzholz ins Brennholz geschnitten werden, um die Schlagflachen nicht noch weiter vergröBern zu müssen. Auch die Einführung einer Holzproduktionsabgabe, die eine sehr bebedeutende Belastung für den Waldbesitz gewesen ware, war geplant Zur Vermögensabgabe, Zwangsanleihe, Fürsorgeabgabe und Exportabgabe wurde der Waldbesitz herangezogen. d) Unterricht und Versuchswesen, Zei tsch rif ten und Vereine. Die höchste Pflegestatte des forstwissenschaftlichen Unterrichtes in österreich ist die Hochschule für Bodenknltur in Wien. Diese wurde vor 50 Jahren gegründet, ihre forstwirtschaftliche Studiennchtung ist aus der im Jahre 1813. also vor 110 Jahren in Mariabrunn errichteten Forstlehranstalt, spateren Forstakademie, hervorgegangen. Dem Studium an der Hochschule für Bodenkultur obliegen derzeit nicht nur die Forstbeflissenen Österreichs, sondern auch zahlreiche Auslander; der Anteil dieser an der Gesamtzahl der Hörer der forstwirtschaftlichen Studienrichtung betragt gegenwartig rund 65%. An sonstigen forstwirtschaftlichen Unterrichtsanstalten bestehenEine forstfiche Mittelschule, namlich die höhere Forstlehranstalt in Bruck an der Mur, die nicht vom Bunde (Staate), sondern vom Lande Steiermark erhalten wird und Anwarter für den privaten Forstverwaltungsdienst heranbildet; ferner zwei Försterschulen, das smd Lehranstalten zur Heranbildung des Forstschutz- und technischen Hilfspersonals; von diesen Schulen wird die eine, in Waidhofen an der Thaya, aus privaten Mitteln von einem Forstschulvereine erhalten die andere in Ort bei Gmunden befindliche dagegea, die der Heranbildung von staatlichen Förstern dient vom Bunde 558 Forstwirtschaft Für die Zwecke des forstlichen Versuchswesens besteütm österreich eine Bundesaastalt, und zwar die fast 50 Jahre alte forstliche Versuchsanstalt in Mariabrunn. Sie hat — bei Aufwand bescheidener. Mitl el und geringer Beamtenzahl (gegenwartig vier wissenschaftliche Beamte) — seit ihrem Bestande rund 400 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, die als Bausteine des Wissens über die Forstwirtschaft in zahlreichen, innerhalb der letzten Jahrzehnte erschienenen fachlichen Lehrbüchern Berücksichtigung gefunden haben. Das fachwissenschaftliche Organ der staatlichen forstlichen Versuchsanstalt in Mariabrunn und der forstlichen Lehrkanzeln an der Hochschule für Bodenkultur in Wien ist das „Zentralblatt für das gesamte Forstwesen", das im Verlage von Wilhelm Frick in Wien erscheint und bereits das 49. Jahr seines Bestandes erreicht hat. AuBer dieser fachwissenschafdichen Monatsschrift wird in Wien auch eine fachliche Wochenschrift herausgegeben, namlich die auf 40 Jahrgange zurückblickende, auch im Auslande sehr verbreitete „Wiener allgemeine Forst- und Jagdzeitung" (früher „österreichische Forstund Jagdzeitung"), herausgegeben von R. und H. Hitschmann, Wien. Die bereits 72 Jahrgange aufweisende „österreichische Vierteljahrsschrift für Forstwesen" ist das Organ des österreichischen Reichsforstvereines. Dieser Verein, dessen Tatigkeitsgebiet sich in der Zeit vom Jahre 1852 bis 1918 auf die Gesamtheit der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Lander erstreckte, bezweckt satzungsgemaB die Wahrung, Förderung und standige Vertretung aller forstlichen Interessen in seinem gegenwartigen' Tatigkeitsgebiete, insbesondere der allen Landern gemeinsamen Interessen der Forstwirtschaft in ihrem ganzen Umfange und in allen ihren Zweigen, sowie des Holzhandels und der mit der Forstwirtschaft im Zusammenhang stehenden Industrien und Gewerbe. Seinen Zweck sucht er durch Verbreitung und Verallgemeinerung forstlicher Kenntnisse und Erfahrungen, durch Zusammenwirken der Waldbesitzer und Forstwirte, durch Bildung von Ausschüssen für bestimmte Vereinsaufgaben, durch Antrage und Gutachten an die maBgebenden öffentlichen Behörden, durch Herausgabe der Vereinszeitschrift usw. zu erreichen. Weitere Forstvereine, die ebenfalls die Fürsorge für den vaterïandischen Wald, die Förderung der forstlichen Wirtschaft und Wissenschaft und die Vermittlung persönlichen Gedankenaustausches der Forstwirte und Waldbesitzer bezwecken, deren Tatigkeitsgebiet jedoch bloB der engere Heimatsgau ist, sind die einzelnen Landes- 559 Forstwirtschaft forstvereine (die als selbstandige Forstvereine zu einer Zeit begründet wurden, in der die Monarchie noch verschiedene Völker, Königreiche und Lander umfaBte): Der niederösterreichische Forstverein, begründet 1879 beziehungsweise 1872, der Forstverein: für Oberösterreich und Salzburg (1855), der steiermarkische Forstverein (1884), der karntnerische Forstverein (1872), der Forstverein für Tirol und Vorarlberg (1852). AuBer den Forstvereinen bestehen Verbande des österreichischen Waldbesitzes und sonstige Berufsorganisationen. In der nachsten Zukunft dürfte wohl die österreichische Forstwirtschaft alle Krafte dafür einzusetzen haben, daB eines der wenigen wertvollen Güter, die unserem verkleinerten und verarmten Vaterlande geblieben sind, daB der rauschende, grüne Wald und seine Erzeugnisse so zweckmaBig als nur irgend möglich bewirtschaftet werden, damit auch diese Wirtschaft nach Tunlichkeit zur Milderung und Behebung der Not und Armut unseres Volkes. beitrage. Durch das Wachsen der Industrie in Europa nahm der Wert des Waldes zugleich mit der gesteigerten Nachtrage nach seinen Erzeugnissen zu. DaB die Folgerungen aus dieser Tatsache auch in den österreichischen Alpeniandern in forstwirtschaftlicher Hinsicht in Taten umgesetzt werden (die durch den Krieg und seine Folgen bisher zum Teile verzögert wurden), dafür zu wirken ist trotz aller finanziellen Schwierigkeiten eiaes der nachsten Ziele 1 560 Pioniere. [Bau einer Brücke über die Lafnitz, Oststeiermark, durch einen Zug eines technischen Bataiilons Wehrfrage Max Hoen pveutsche Volksgenossen waren die Grundlage, auf welcher sich die M eigenartige habsburgische Staatenschöpfung aufbaute, deutsche Krieger blieben auch fernerhin die feste Stütze, gleichsam das Rückgrat des im Laufe der Zeiten sich immer bunter zusammensetzenden Kriegsinstruments, dessen die Herrscher an der mittleren Donau zur Bewflltigung der an sie herantretenden vielfachen politischen Aufgaben bedurften. Mochte sich jeder der im Heere vertretenen, so verschiedenartigen Volksstamme ganz besonders entwickelter kriegerischer Eigenschaften rühmen dürfen, so war doch allen der Deutsche in seiner gleichmafiigen VerlaBlichkeit, Bestandigkeit des Charakters, gleichen Zahigkeit im Angriff wie in der Verteidigung überlegen. Das Deutschtum drückte der habsburgischen Kriegsmacht den charakteristischen Stempel auf, was rein auBerlich im Gebrauch der deutschen Sprache als dienstliches Verstandigungsmittel zum Ausdruck kam, sich aber noch kraftiger in der kulturellen Rolle fühlbar machte, die in des Heeres Bestimmung fast mehr in den Vordergrund trat als der eigentliche Beruf des Kampfes. Als nach dem jahen Zusammenbruch der Doppelmonarchie das alte Österreich auf jene Gebiete zusammenschrumpfte, die im groBen und ganzen mit dem deutschen Kern zusammenfielen, aus dem dereinst das Donaureich erwuchs, hatte man glauben können, daB die Lösung der Wehrfrage die geringste unter der nach unglücklichem Kriegsausgang sich anstürmenden Masse von Sorgen sein müBte. Doch auch hier durchbrach kein günstiger Stern das über dem neuen Österreich zusammengeballte Gewölk, verschworen sich alle Umstande, um den Weg zur Einfachheit, zur Selbstverstandlichkeit zu versperren. Um den Leidensweg der Wehrfrage zu erfassen, muB man auf die schicksalschweren letzten Oktobertage des Jahres 1918 zurflck- 36 561 Wehrfrage greifen. Letzter Heldenkampf der zum überwiegenden Teile in der Front gegen Italien stehenden deutschösterreichischen Soldaten, dessen Ausgang angesichts des eigen machtigen Abmarsches oder doch passiver Resistenz vieler bisheriger Waffenbrüder das eben entstehende Deutschösterreich der Oberflutung durch die infolge der Reichsauflösung auBer Rand und Band gekommenen Massen plündender und sengender Soldateska auszusetzen schien. Auf die im Lande verteilten Ersatzkörper und Landsturm-Wachbataillone war als schützender Damm nicht zu rechnen. Zogen doch die nunmehr fremden Staaten angehörigen Offiziere und Soldaten eilends in ihre Heimat ab, ohne sich weiter um die ihnen obliegenden Pflichten, Bewachung staatlichen Gutes und der Kriegsgefangenen, zu kümmern, wodurch nicht nur die gröBere Halfte der Besatzungstruppen sich völlig auflöste, sondern auch die Reihen der bodenstandigen Formationen gewaltig gelichtet wurden. Denn die unbedingte VerlaBlichkeit der Kampfer deutschen Stammes hatte es mit sich gebracht, daB die österreichisch-deutschetf Truppenkörper im Verlaufe des langen Ringens zu allen schweren Angriffsunternehmungen herangezogen, oft dort eingesetzt worden waren, wo verhangnisvolle Wendungen drohten. Nicht genug daran, daB sie infolgedessen die gröBten Blutopfer brachten, zu deren Ersatz teilweise Leute anderer Volksstamme eingereiht werden muBten, lieBen bedenkliche Erscheinungen bei den slawischen Truppenkörpern allgemach zu dem Auskunftsmittel greifen, deutsche Elemente als Stützen einzuteilen. So kam es, daB in den Ersatzkörpern der sich aus dem neuen österreich erganzenden Truppen die Deutschösterreicher die Minderheit bildeten. Selbst einem sehr energischen Willen ware es in der gebotenen Kürze der Zeit kaum möglich gewesen, die damals zweifellos noch vorhandenen Hemmungen und Bindungen an Eid und Pflicht auszunützen, um aus dem Chaos wirrer Reste eine zum Schutz des Landes und zur Bewachung der vielen staatlichen Güter brauchbare Truppe zu schaffen. Gar bald fielen auch Bindungen und Hemmungen, als die neuen Machthaber den Weg zur scheinbar kürzesten Demobilisierung wahlten, indem sie jedem freistellten, den Dienst zu verlassen. Diese Erlaubnis kam dem Wünsche aller entgegen, nach dem langen Kriege endlich wieder heimzukehren, sich den allzu lange vernachlassigten eigenen Verrichtungen und Geschaften widmen zu dürfen. Diese volkstümliche MaBnahme förderte aber auch die Absichten jener, welche die Gelegenheit zum Umsturz der herkömmlichen Ordnung, 562 Wehrfrage deren machtigste Stütze die alte Armee war, herangekommen sahen. Die Armee hatte aber durch die im Laufe des Krieges eingetretene Oberspannung der allgemeinen Wehrpflicht, die auf kaum der Schule entwachsene Jünglinge wie auf angehende Greise grilf und selbst die sonst vom Dienst ausschlieBenden körperlichen Gebrechen nicht achtete, auch die bürgerlichen Kreise in Gegnerschaft gedrangt. Der Militarismus, dem einen ein gefraBiger, Blut, Gesundheit und Leben verschlingender Moloch, dem anderen das starkste Hindernis für ihre volksbeglückenden Piane, fand nur Angreifer und keinen Verteidiger. So erhob sich kein Widerstand und kein Bedenken, als der Vorschlag auftauchte, in der Not des Augenblickes eine „Volkswehr" ins Leben zu rufen. Sie konnte, den herrschenden Strömungen entsprechend, nicht aus einem allgemeinen Volksaufgebot bestehen, sondern nur aus Freiwilligen mit voriaufig dreimonatiger Dienstverpflichtung, die ein Taggeld von sechs Kronen immerhin locken mochte, wenn man es mit der bisherigen dürftigen Löhnung der Soldaten in Vergleich zog. Den Bauer, der ungeduldig daheim erwartet wurde und den es trieb, seinen Hof gegen plündernde Heimkehrer und ausgebrochene Kriegsgefangene selbst zu schützen, den Bürger und Handwerker, ja selbst den Arbeiter, der einen Posten in Aussicht hatte, konnten sechs Kronen allerdings nicht reizen. So hatte die Volkswehr vornehmlich aus den untersten Schichten Zulauf, bestenfalls Arbeitslose, welche die Einstellung der Kriegsindustrie auf die StraBe setzte, ferner in dem MaBe, als der rasche Gang der Ereignisse zum Umsturz der bestehenden Ordnung führte, dunkle Existenzen, die sich auf diese Weise die neuen Verhaitnisse nutzbar machen wollten. Die in den politischen Bezirken und in einzelnen Gemeinden aufgestellten Volkswehrbataillone sehr verschiedener Starke traten wohl unter Führung von Offizieren der alten Armee, HeBen aber nach Art der Zusammensetzung und dem Geiste, der die Massen zu jener Zeit erfaBt hatte, kaum annehmen, daB die notwendige Disziplin in absehbarer Zeit hergestellt werden könnte. Mehr als vier Jahre lang waren die Bemühungen der feindlichen Parteien unablassig mit allen Mitteln der Gewalt und der List bemüht gewesen, die Grundlage des militarischen Widerstandes, den Kitt jeglicher Organisation, die Disziplin, bei ihrem Gegenüber zu lockern und zu untergraben. Werden doch Kampfe viel weniger durch die physische Vernichtung der Streiter als durch Einwirkung auf deren Psyche entschieden. Die beiderseitigen Bemühungen zeitigten reiche Früchte in allen Formen 36* 563 Wehrfrage von der dumpfen Abneigung gegen jeden Höheren und Vorgesetzten bis zum reinen Bolschewismus. Unter diesen Umstanden würde die zum Schutz gegen die von der italienischen Front drohenden Gefahren aufgebotene Volkswehr selbst die gröBte Gefahr für die Ruhe im Innern gewesen sein, wenn nicht die sozialdemokratische Partei in unleugbar geschickter'Weise die Führung an sich gerissen hatte. Sie bewog organisierte Arbeiter, in die Volkswehr einzutreten. In der durch alle bisherigen Ereignisse' nicht erschütterten, durch die plötzlich winkenden unverhofften Erfolge eher noch gefestigten Parteidisziplin aufgewachsen, in der Behandlung auch unruhiger, aufgeregter Massen geschuif, über einen reichen Schatz die Wirkung nie verfehlender Schlagworte jederzeit verfügend, waren sie vorzüglich geeignet, den Wildbach entfesselter Leidenschaften, Begierden und Gelüste in ein der Partei genehmes, geregeltes Bett zu' leiten. Leicht war ihre Aufgabe keineswegs und es bedurfte umso gröBererGeschicklichkeit, derWichtigtuerei, die damals jeden einzelnen erfaBte und zur merkwürdigsten Betatigung trieb, dem Drangen der radikalen Elemente nach proletarischer Soldatenherrschaft, Aufrichtung des Kommunismus, den Wind aus den Segeln zu nehmen, als es dem Parteiinteresse entsprach, der Volkswehr den ausgesprochenen Charakter einer Revolutionsarmee zu verleihen, der mit dem Schlagworte „Schutz der Republik und Volksherrschaft" ein leicht zu begreifender Daseinszweck verliehen wurde. Die Zügelung der kommunistischen „Roten Garde", des spateren 41. Bataillons bis zu dessen Auflösung, die Ablehnung des Kommunistenputsches im Sommer 1919 bedeu'teten Geschicklichkeitsproben, die umso schwerer wogen, als in nachster Nachbarschaft die Kommunistenherrschaft auf der Höhe der Macht stand. Arge Verlegenheiten bereiteten den Vertrauensmannern die Streiche der unlauteren Mitlaufer, welche die Volkswehr stark diskreditierten. Nur allgemach konnte der Schlamm, den die Wogen der Revolution aufgewirbelt hatten, beseitigt werden. Die Gefahr, der die Volkswehr ihr Entstehen verdankte, trat tatsachlich nicht ein. Dank der Zucht und Ordnung, die viele Truppenkörper des Feldheeres trotz allem bewahrt hatten, dann dem hingebungsvollen Eifer des Eisenbahnpersonals, vollzog sich die Heimkehr nach dem Waffenstillstand, dessen vorzeitige Verlautbarung übrigens ein Drittel der Streiter der Gefangenschaft überlieferte, ohne wesentliche Reibungen. Viele der in die Heimat gelangten Truppen hatten sofort den Sicherungsdienst übernehmen können, wenn nicht die eilige Demobilisierung zu ihrer sofortigen Auflösung geführt hatte. Nur jene 564 Wehrfrage Soldaten, die kein besseres Unterkommen fanden, übertraten zur Volkswehr, die Ende Dezember 1918 mit rund 58.000 Mann, darunter 1700 Offiziere, ihren Höchststand erreichte. Der sozialdemokratische Einschlag, der diesem Aufgebot die Ruhe bedrohende Spitze benahm, hatte zur Folge, daB daraus eine Art von Parteigarde entstand, deren Soldatenrate als Vertrauensmanner ihrer Kameraden eine politische Kontrolle zum Schutze der Republik ausübten und sich auch zu Übergriffen berechtigt glaubten, wenn sie ihnen im republikanischen Interesse oder in jenem ihrer Parteidoktrinen gelegen zu sein schienen. Am schwersten aber fiel in die Wagschale, daB sie den Klassenkampf in die Reihen der Volkswehr trugen, der seine Angriffe gegen die Offiziere richtete. DaB in der von vielen Entbehrungen zermürbten, am Hungertuche nagenden und nur um Beschaffung der nachsten Lebensnotwendigkeiten besorgten Bevölkerung niemand ernstlich im Interesse des monarchischen Gedankens die Republik bedrohte, war wegen Vermeidung eines unseligen Bürgerkrieges wohl höchst erfreulich, trug aber wesentlich dazu bei, daB sich Offiziere und Wehrmanner nicht eindeutigauf gleichemBoden zusammenfanden und der Klassenkampf in stets regem MiBtrauen einen wirksamen Bundesgenossen fand. Die Offiziere waren im alten Staate nach Tradition und Erziehung sozusagen die einzigen Trager des Gesamtstaatsgedankens, die einzigen wirklichen Österreicher, denen die Treue zum Monarchen, zur Dynastie, den Mangel eines nationalen Gedankens wettmachen muBte. Die im alten Heere übliche scharfe Scheidung zwischen Offizier und Mann, die im Kriege dadurch besonders hervortrat, daB wohl der junge Einjahrig-Freiwillige mit abgekürzter Schulbildung, nicht aber ein noch so tüchtiger Unteroffizier in gereiften Jahren, der sich oft schon eine geachtete, zivile Position errungen hatte, Leutnant werden konnte, lieB Obersehen, daB vielleicht kein Offizierskorps der Welt hinsichtlich des Nachwuchses so demokratisch war wie das Österreich-Ungarn. Es gehörte zu den mancherlei Inkonsequenzen des alten Systems, bei der Aufnahme in die Militarschulen auf die Herkunft keinen Wert zu legen, um nur die zur Erganzung nötige Zahl zu erlangen, Reserveoffiztere ohne vollen Studiennachweis auf Grund einer dürftigen Prüfung zu ernennen, im Leben erprobten Mannern aber den Eintritt zu verwehren. Zieht man noch in Betracht, daB bei den vielen Harten, die mit dem Kriegführen an der Front, wie im Innern des Landes naturgemaB verbunden waren, Offiziere als Vollstrecker eines höheren Willens 565 Wehrfrage auftraten, so versteht man, mit welchem MiBtrauen in die Gesinnung, mit welcher grundsStzlichen Abneigung jene Offiziere von Haus aus zu kampfen hatten, die, sich mit den Tatsachen abfindend und dazu erzogen, den Dienst zu machen, den ihnen eine höhere Stelle übertrug, in die Volkswehr eintraten, ganz abgesehen davon, daB sie sich nur schwer in die so geanderten dienstiichen Verhaitnisse hineinfinden konnten, in die öfters vielleicht übertrieben zur Schau getragenen und miBverstandlichen Auffassungen über demokratisches Wesen, die sich gern in ostentativ rüpelhaftem Wesen gefielen. Nicht zu übersehen ist überdies, daB der immer eher zur Auflehnung als zur Unterordnung geneigte Geist in Revolutionsarmeen blinden Autoritatsglauben nicht kennt, somit jeder einzelne Offizier die notwendige Autoritat als Führer das Vertrauen seiner Soldaten erst durch sein Auftreten, sein Wissen und Können, seine Haltung in schwierigen Lagen erwerben muB. Steht dem schon an sich die Institution des Soldatenrates entgegen, weil sie auf dem grundsatzlichen MiBtrauen in den berufenen Führer fu8t, so erschwert sie die Stellung des Offiziers unendlich, wenn sie sich auf den Standpunkt des Klassen gegensatzes stellt und die zur Verwendungsfahigkeit jeder Truppe unbedingt erforderliche Unter- und Überordnung, das Verlangen nach ungesaumter Durchführung eines Befehls, wenn Zeit und Umstande nicht langatmige Erklarungen und Begründungen zu lassen, als Ausflüsse eines nicht zeitgemaBen Herrentums bekampft. Die Schwachen einer doppelten Führung, der einen für die gleichsam handwerksmaBige Beherrschung des militarischen Apparates, der anderen für die Beherrschung der Soldatenseelen, werden auch von sozialdemokratischer Seite nicht verkannt. Sehr bezeichnend auBerte sich der Arbeiterführer Dr. Otto Bauer darüber in einem am 13. April 1921 vor Offizieren des Bundesheeres gehaltenen Vortrag: „So entsteht innerhalb der Wehrmacht ein Dualismus: auf der einen Seite der Kommandant, auf der anderen der Soldatenrat. Das ist, rein militarisch betrachtet, gewiB eine Schwachung. Ich zweifle nicht, daB daraus Schwierigkeiten entstehen, die in der Aktion bedenklich werden können. Ich bin überzeugt, daB die Armee leistungsfahiger sein kann, wenn sie diesen Dualismus nicht braucht, wenn der Kommandant selber der natürliche Vertrauensmann seiner Leute ist. Aber voriaufig ist dieser Dualismus in unserer Wehrmacht noch notwendig. Er hat seinen Grund darin, daB wir die Klassenscheidung innerhalb der Wehrmacht noch nicht überwunden haben." 566 Wehrfrage Nach der Meinung aller führenden Kreise, auch der Sozialdemokratie, sollte die Volkswehr durch eine Milizorganisation auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht ersetzt werden, also eine Wehrmacht, die in ruhigen Zeiten, von ganz kurzen Ausbildungsperioden abgesehen, auBer einer sehr geringen Zahl zur Schulung nötiger Berufsoffiziere keinen Soldaten im aktiven Dienste hat. Diese Stellungnahme für die allgemeine Wehrpflicht nimmt angesichts des noch frischen Eindruckes der Erlebnisse und Erfahrungen des kürzlich beendeten groBen Krieges einigermaBen wunder. Zeigte sich doch, daB arbeitende Manner im Lande nicht minder notwendig sind für den Bestand des Staates als Kampfer. Von einer wirklichen vollen Ausnützung der allgemeinen Wehrpflicht im Ernstfalle kann also nur in ganz besonderen Einzelfallen auf eng beschranktem Raum und auf kurze Frist die Rede sein. Die Erfahrung lehrte weiter, daB eine erkleckliche Zahl von Staatsbürgern keinerlei Beruf in sich empfindet, sich den Beschwerden und Gefahren des Kampfers zu unterziehen. Eines schickt sich nicht für alle und der Krieg lastete vielleicht viel drückender auf jenen, die vier Jahre lang mit Aufgebot aller Mittel kampften, um nicht kampfen zu müssen. Die Summe seelischer und moralischer Pein lieB sie den Staat hassen, der ihnen diesen Zwang auferlegte. Wenn sich gleichwohl so viele für das Milizsystem erwarmten, so mag neben der Hoffnung mancher, dadurch die Volkswehr los zu werden, die Empfindung vorherrschend gewesen sein, daB eine solche Heeresform den Gedanken an kriegerische Abenteuer völlig ausschlieBt, weil eine Milizarmee zu einer weitreichenden Offensive ungeeignet ist. Als Versicherung gegen Einfalle raublustiger Nachbarn, bis auswartige Hilfe kommt, kann sie genügen, obzwar die vielfach auf weite Strecken offene Grenze Österreichs die Aufgabe viel schwerer gestaltet, als sie der Schweizer Miliz beschieden sein könnte. Man nahm an, daB die Siegerstaaten mit dieser freiwilligen Ausscheidung österreichs aus der Reihe für Kriege in Betracht kommen der Staaten gerne einverstanden sein würden, unterschatzte somit die Furcht vor den erprobten trefflichen kriegerischen Eigenschaften der Alpendeutschen, denen vielleicht auch eine schwache Heeresform die Zahne nicht auszubrechen vermochte. Bestechend wirkte, daB die Miliz mit allgem einer Wehrpflicht der Demokratie am besten entspricht, indem sie nicht nur jeden Staatsbürger belastet, sondern auch der Leistungsfahigkeit jedes einzelnen insoferne Rechnung tragt, als jene, die nach Anlage und Zivilstellung für Führerstellen geeignet sind, viel Zeit und Mühe verwenden müssen, 567 Wehrfrage um über die soldatische Erziehung hinaus jene Kenntnisse zu erwerben die für höhere Dienstposten nötig sind, um so mehr Zeit und Mühe! je höher ihre Ziele in der militarischen Hiërarchie gesteckt sind. Vielfach nahmen die Verfechter der Milizarmee an, daB diese Heeresform ungemein billig sei, was nicht zutrifft. Bei allgemeiner Wehrpflicht muB eben jeder taugliche Mann ausgebildet werden wahrend aus volkswirtschaftlichen Gründen die im Ernstfalle aufzustellende Armee derart organisiert sein muB, daB sie nur einen Bruchteil der ausgebildeten Milizen in sich aufnimmt. Das teilweise Leergehen der wegen der Kürze der Schulung intensiv arbeitenden Ausbildungsmaschinerie, die an kostspieliger Übungsmunition nicht weniger benötigt als bei jeder anderen Heeresform, wenn die richtige SchieBausbildung nicht rückstandig werden soll, erkiart die relativ sehr hohen Wehrauslagen der Schweiz, im Voranschlag 1922 rund 82 Millionen Franken, durchschnittlich 21 auf jeden Kopf der Bevölkerung. Man machte sich auch keine Gedanken darüber, daB das Milizsystem einen hohen Grad staatsbürgerlicher Erziehung, eine bedeutende Entlastung der kurzen Ausbildungszeit durch Vorhandensein aller militarischen Vorbedingungen, Körperkultur und Geistesbildung vor allem aber groBe Vaterlandsliebe voraussetzt. Wie sollte diese in einem gegen den Willen der Bevölkerung zurechtgezimmerten Staate vorhanden sein, der insoferne das Erbe des alten Österreich übernahm, daB sich niemand als Österreicher fühlte, sondern als Karntner, Niederoder Oberösterreicher, Salzburger, Steirer, Tiroler oder Vora'rlberger, deren Gemeinsamkeit, das Deutschtum, in einem nach dem Willen der Siegermachte unerfüllbaren Traum, dem AnschluB an Deutschland, bestand, also von einem selbstandigen Österreich nichts wissen wollte. DaB ein Rahmenheer auf Grundlage allgemeiner Wehrpflicht von den Siegermachten nicht bewilligt werden würde, war von vorneherein klar. Als Rückkehr zum überwundenen alten System hatte es Überdies mit groBer Gegnerschaft im eigenen Lande zu rechnen. Die letzte mögliche Form, das Berufs- oder Söldnerheer, fand allgemeine Ablehnung. Man fürchtete das Entstehen einer dem Volke sich entfremdenden Kaste im Staate, die möglicherweise dessen Ruhe zu bedrohen vermochte. Soll das Söldnerheer zur scharfen Kriegswaffe werden, so gibt es zwei Wege, die jedoch für Österreich nicht beschreitbar waren: GroBe Geldaufwendungen, um gute Elemente anzulocken, sie vortrefflich auszurüsten und in der Benützung der durch den Weltkrieg reich entwickelten, aber sehr kostspieligen Technik der 568 Abfertigung einer Streifpatrouille Artillerie beim Scharfschiefien Wehrfrage Kriegsmiftel zu schulen, oder barbarisch strenge Disziplin, um alle dem Lande und den Gemeinden lastig fallenden Individuen zwangsweise, ohne hohes Entgeit, als Soldaten dem Staate nutzbar zu machen. Zur peinlichen Überraschung der Friedensdelegation in Saint Germain diktierten die Siegermachte zu all den anderen Unmöglichkeiten, die sie dem armen österreich aufbürdeten, die Aufstellung eines Berufs- oder Söldnerheeres. Alle Einwande der Delegierten verhallten fruchtlos und wenn die Absicht, Österreichs Bevölkerung zu entmannen, jeglicher Wehrhaftigkeit zu berauben, bei dieser Gelegenheit vielleicht noch nicht voll zu erkennen war, so zerstreute die rücksichtslose Zerstörung aller Mittel, die im Kriege irgendwie dienlich sein konnten, bis auf den notdürftigsten Bedarf für die bewilligten 30.000 Mann, durch die militarischen Kontrollkommissionen die letzten Zweifel, österreich sollte sein Vertrauen hinfort nicht mehr in die eigene Kraft, sondern in die neue, noch unerprobte Schöpfung des Völkerbundes setzen. Es ist begreiflich, daB Unmut und Enttauschung zunachst auf den naheliegenden Gedanken verfielen, von der Erkenntnis des Friedensdiktates überhaupt keinen Gebrauch zu machen und sich nur auf die zur Aufrechthaltung der Ordnung im Innern nötige Polizei und Gendarmerie zu beschranken. Dieser Regung trat alsbald die Erkenntnis entgegen, daB auch der friedliebendste Staat angesichts des das Völkerleben seit Jahrtausenden beherrschenden und allen edlen Bemühungen zum Trotz voriaufig wenigstens auch fernerhin Geltung behaltenden Grundsatzes, daB Gewalt vor Recht geht, eines militarischen Schutzes nicht entbehren kann. Selbst eine für die möglichen Aufgaben der Landesverteidigung unzureichende Armee ist besser als gar keine, da sie denn doch Hemmungen in die Raublust auch viel starkerer und besser ausgerüsteter Feinde einschaltet. Überlegenheit der Führung, Begeisterung und besondere Eignung der Kampfer haben in Umkehrung des geflügelten Wortes Gott zuweilen doch auch an die Seite der schwacheren Bataillone treten lassen. Zudem kann der Sicherungsdienst im Innern einer Wehrmacht nicht entbehren. Schon die Möglichkeit allein, daB eine festgefügte Truppe jederzeit hinter einem Polizisten oder Gendarmen aufzumarschieren vermag, verleiht diesen Vertretern der Staatsgewalt, die — wenn auch bis an die Zahne bewaffnet — in ihrer Vereinzelung einer entfesselten Menge hilflos gegenüberstehen, Autoritat und Energie im Auftreten. 569 Wehrfrage Also muBte man sich mit dem Berufsheere wohl oder übel befreunden. Ober die grundlegenden wehrgesetzlichen und organisatonschen Bestimmungen gab es kein Kopfzerbrechen. Alles dies war schon im Friedensvertrage bis ins Detail vorgezeichnet. Offen blieben nur die politischen Fragen, bezüglich welcher die beiden in der damaligen Koalitionsregierung vertretenen Parteien auf diametra! entgegengeseteten Standpunkten beharrten. Der konservattven christlichsozialen Partei schwebte als Vorbild das Heer der alten Monarchie vor, ein jeder eigenen politischen Betatigung entrücktes Werkzeug der Kegiereng. Die sozialdemokratische Partei hingegen trat für eine Permanierung der Volkswehr ein mit weitgehender EinfluBnahme der boldatenrate zur Sicherung der republikanischen Entwicklung des Heeres, also einen Staatsfaktor von eigener politischer Betatigung Die Chnstlichsozialen wollten den überwiegend konservativen Regierungen der einzelnen Lander den gröBtmöglichsten EinfluB auf ihre Landeskontingente sichern, die Sozialdemokraten eine scharf zentralistische Führung. Die Rückwirkung des Kapp-Putsches im Marz 1920 brachte die an den scheinbar unüberbrückbaren Gegensatzen stockende Frage plötzhch ,n FluB. Der Ruf „Die Republik ist in Gefahr!" erzwang dte unverzügliche Einbringung der Wehrgesetzvorlage und deren Erledigung mit einem KompromiB. Das neue Bundesheer, von armen Eltern in hauslichem Unfrieden erzeugt, dürfte einer schweren Jugend entgegensehen. Die Parteikampfe, welche die Geburtswehen auslösten begleiteten auch getreulich seine ersten Gehversuche, was stetiger fcntwicklung keineswegs zum Vorteil diente. Die Sozialdemokraten setzten die Gewahrung aller politischen Rechte an die Berufssoldaten, die Institution der Vertrauensmanner mit emjahnger Mandatsdauer, grundsatzliche Erganzung der ünteroffrziere und Offiziere aus den Reihen der Soldaten und Erleichterungen für den Übertritt von Volkswehrleuten in das neue Heer durch Als Gegengewicht erlangten die Christlidisozialen die unbedingte Fernhaltung des Heeres von jeder politischen Betatigung, Schweigen jeder Parteipo itik im Dienste, genaue Umschreibung des Wirkungskreises der Vertrauensmanner, welche die Kommandogewalt nicht beeintrachbgen dürfen, endlich Zugestandnisse bezüglich Qbernahme der Berufsofbziere der alten Armee in das neue Heer. Den Verianderuugsbestrebungen trug die Aufstellung von Heeresverwaltungsstellen in den Lande6ha.uptstadten, .landerweise Erganzung der grundsatzlich im Heimatland garnisonierenden Truppenkörper Rechnung. 570 Wehrfrage Von hohem Interesse sind neben der Verweisung aller Verbrechen vor die Zivilgerichtsbarkeit, militarischer Vergehen vor Kameradschaftsgerichte, die GeldbuBen, Gehaltsminderungen und Entlassung verhangen können, die eigenartigen, von hohem Idalismus getragenen Bestimmungen über die Ausbildung der im Alter von 18 bis 26 Jahren anzuwerbenden Soldaten. Um sie wahrend der gesetzlichen sechsjahrigen Prasenzdienstzeit dem Volke nicht zu entfremden, soll, unbeschadet der militarischen Ausbildung, ein besonderer Nachdruck auf allgemein staatsbürgerliche und republikanische Erziehung sowie auf eine Vorbereitung für das Erwerbsleben gelegt werden. Leichtathletik und Gymnastik, auch Schwerathletik und FuBballspiel haben der Ausbildung des Körpers ebenso zu dienen wie Geistespflichtschulen jener des Geistes. In letzteren lehren Offiziere, denen zu diesem Zwecke alle möglichen Bildungswege eröffnet werden, deutsche Sprache, Rechnen, Heimatkunde, Gesundheitslehre, Naturkunde, Gesellschaftslehre und Staatsbürgerkunde. Soldatenbüchereien sollen wissenschaftliche und schöngeistige Lektüre vermitteln. In die zweite Halfte der Prasenzdienstzeit failt die Arbeitsausbildung, teils in staatlichen und privaten Unternehmen, bei Gewerbetreibenden und in eigenen Handwerkerlehrstatten sowie in landwirtschaftlichen Betrieben. Wieviel sich von diesen schönen Pianen fruchtbringend auswirken wird, laBt sich heute nicht sagen. Noch ist zu wenig Zeit verstrichen, von welcher ein erklecklicher Teil auf die Expedition in das Bugenland entfiel, wo naturgemaB der militarische Dienst im Vordergrunde stand. Schwierigkeit in der Beschaffung der notwendigsten Behelfe gestaltete die Anfangsversuche zu schwachen Schatten der gehegten Absichten. Immerhin kann man es nicht für ganzlich ausgeschlossen halten, daB das auf gründlich geanderten Grundlagen aufgebaute neue Bundesheer, mit wenig oder gar keiner Tradition behaftet, das im Soldatentume steckende, derart akademischen Absichten widerstrebende Beharrungsvermögen überwindet und den idealen Vorsatzen — nach dem in der Praxis gewiB nötigen Herabschrauben des hohen Gedankenfluges in gröBere Erdennahe — zur Verwirklichung verhilft. Da kein Reengagement der Wehrmanner vorgesehen ist, wird diese der Selbsterhaltungstrieb zwingen, von den gebotenen Gelegenheiten, sich für einen Zivilberuf vorbereiten zu können, Gebrauch zu machen. Diese billige Art, wahrend des Militardienstes den Grund zu einer hoffnungsreichen Zukunft zu legen, könnte der Wertung jene Verlockung verleihen, die bei der Dürftigkeit 571 Wehrfrage Z^JSIT^"""**. Stehende" Mittel a~ 1920 ^nd^, k0n"te V°n,«Seinen Qes^tausgaben in den jahren 1920 und 1921 nur rund 3% für sein Heer widmen- 1922 sank tl7~ ^"L*? 3Uf ,'32°/«- In ^terreiehischen Kronen aus" gdrückt erpbt das allerdings gewaltige Ziffern, für 1922 4 5 MiLdë„ die durch d,e mit der Geldentwertung stürmisch gewachsenen Aus-' ^"^^"t^"8^ h3ben- Ma" bea"hte ab- cTa6AUd e früher erwahnten 82 Millionen Franken des Schweizer Heeresvoranschlages nach dem Valutastande vom Mitte Juli S^MiüTarden Kronen gleichzustellen waren. «innamen Die Absicht, die für Massenbelag eingerichteten, alten Kasernen zu verlockenden Soldatenheimen mit Schul-, Spei e- Lse unJ Unter altungszimmern umzugestalten, muB sich vorerst mit dürftigen Andeutungen begnügen. Die Kost für die fast durchwegs Infolge te Kriegsjahre schwachlichen und in der Entwicklung zurückgebliebenen Wehrleute kann trotzdem der Bund ein Drittel der GestehungskosteS tragt, nur verhaitnismafiig kraftig zubereitet und gerade zufeichenj K e^LnÏus h^; S°ldat mU'B dCm 'hm ei"~ Kieiderkredit hauszuhalten verstehen, wenn er darauf Wert le