DIE STELLUNG HOLLANDS IM WELTKRIEG w Die Stellung Hollands im Weltkrieg politisch und wirtschaftlich von Dr. N. Japikse Nach der Handschrift übersetzt von Dr. K. Schwendemann Haag Gotha Martinus Nijhoff F. A. Perthes a.-g. 1921 Einleitung Der Zweck des vorliegenden Buches ist, den Grundgedanken der hollan^ischen Politik wahrend des Weltkriegs, die Stimmungen des hollandischen Volks und die Bedrangnisse, in welche Hollandohne jegliche Schuld geriet, darzustellen. Ich erachte mich glücklich, einen Versuch zu einer derartigen Darstellung machen zu dürfen, weil mir dadurch zugleich die Gelegenheit geboten wird, einem auslandischen Publikum gegenüber zu_be£pnen, daB die hollandische Politik eine durchaus ehrlich neutrale gewesen ist, und weil ich dabei vielfachen falschen Vorstellungen, welche über Hólland verbreitet worden sind, entgegentreten kann. Ich bin darum der Meinung, dafi diese Arbeit auch für die Reputation meines Vaterlandes nützlich sein dürfte. Ob es schon möglich ist, eine rein historische, wissenschaftliche Darstellung der Kriegszeit zu geben? Warum nicht, möchte ich antworten, wenn man sich nur darüber klar bleibt, dafi das Material, das zur Benutzung vorliegt, lückenhaft ist, und erst spatere Geschichtschreiber über die archivalischen Akten verfügen werden, aus denen die gegenwartige Darstellung vervollstandigt, und insbasondere die Motive der führenden Staatsmanner erkannt werden können. Das gedruckte Material ist jedoch auch jetzt schon ziemlich ausgedehnt. Liefern doch die Zeitungen, die. offiziellen Publikationen (Orangebücher u. a.), die Aufpatze in den Zeitschriften, die Broschüren und einige Bücher, unter welchen Treubs Oorlogstijd hervorragt, schon viele zuverlassige Quellen, welche eine historische Auseinandersetzung durchaus ermöglichen. Bisweilen habe ich private Mitteilungen benutzt oder eigenen Erlebnissen Ausdruck gegeben, aber bei der Benutzung derartiger Quellen die aufierste Vorsicht beobachtet, wie ich überhaupt immer bestrebt gewesen bin, nichts zu sagen, was ich nicht völlig verantworten zu können glaubte. Die Belege, welche ich in den Fufinoten mitgeteilt habe, werden es jedermann leicht machen, mich nach Belieben zu kontrollieren. Abgesehen davon erschienen mir bei dem Charakter des Buches Zitate unerlafilich. Meinen auslandischen Lesern gegenüber fühlte ich mich verpflichtet, diesem Buche eine kurze Skizze der hollandischen Geschichte, besonders A) Holland ist in diesem Buche, dem auslandischen Sprachgebrauch gemaft, gewöhnlich aufzufassen im sinne von Niederland, die Niederlande. m im 19. Jahrhundert, voranzustellen. Denn ohne diese in ihren HauptJinien zu kennen, kann man Hollands Physiognomie wahrend des Krieges eigenthch nicht verstehen. Der behandelte Zeitraum schlieBt mit dem kneden von Versailles ab. Den zwischen Waffenstillstand und FriedensschluB liegenden langeren Zeitabschnitt, welcher für Holland überaus wichtig ist, habe ich in einem besonderen Kapitel behandelt. Selbstverstendhch habe ich die belgisch-hollandischen Schwierigkeiten dabei ausfuhrhch erwahnt. Die aus dem Friedensvertrag sich ergebenden Fragen im besonderen die Kaiserfrage, wurden dann in einem SchluBkapitel erledigt Man konnte dieses Buch auch Hollands Not nennen. Ohne iegliche bchuld am Entstehen des Krieges muBte Holland die welterschütternden Ereigmsse meistens passiv über sich ergehen lassen und geriet dabei in schwere Bedrangnis. Man kann, dieser Stellung Hollands gemafi, nicht erwarten, m diesem Buche in erster Linie etwas über die groBen Ereignisse unsrer Zeit zu lesen oder hier einen Beitrag zu ihrer Erklarung zu finden. Holland lebt das Leben der GroBmachte nur in beschranktem MaBe mit und hat bei der Entscheidung groBer weltpolitischer Fragen kaum EinfluB. Es gleicht einem kleinen stillen Landschaftsgemalde in emer ümgebung groBer Historienbilder voll dramatischer Bewegung. Allein auch das Kleine ist interessant, eben weil es klein ist und ruhig bleibt, und vielleicht können andere Völker aus Hollands Haltung sogar etwas lemen — diese Uberzeugung habe ich wenigstens als Hollander. Ich habe nicht ganz umhin gekonnt, meine Meinung über die groBen (*egensatze unsrer Zeit hier und da zu prazisieren, wenn auch Holland zu ihrer Entstehung nicht beigetragen hat. Dann bin ich immer bestrebt gewesen, das als neutraler Hollander zu tun, wie ich auch wahrend des Kneges immer versucht habe, als solcher zu urteilen. Neutral heiflt hierbtreben nach Wahrheit, nach gerechter, unparteüscher"ürteilsbildung. Meine Auffassung der eigentlichen Schuldfrage habe ich Seite 34 kurz zusammengefaBt. Ich-kann nicht erwarten, damit jedermann zu gefallen. Motfentlich werde ich jedoch meine Leser überzeugen, daB ich fortwahrend bestrebt gewesen bin, nur als Historiker zu schreiben. Ich bin Herrn Dr. Schwendemann zu groBem Dank verpflichtet für das Interesse und die Genauigkeit, womit er die Übersetzung dieses Buches vollbracht hat. Im Haag, Januar 1921. N. J. Vorwort des Übersetzers Als ich mich zur Übersetzung dieses Buches bereit erklarte, dachte ich in erster Linie daran, mit dieser Arbeit für mich selbst hinter einen langeren Aufenthalt in Holland, der gleichzeitig ein Lebensabschnitt voll reicher Förderung war, gleichsam einen Punkt zu machen. Je weiter die Übersetzung fortschritt und die Zeitgeschichte weitereilte, bekam meine Arbeit an dem Buche für mich noch einen andern Sinn. Das Bild Hollands vor, wahrend und nach dem Kriege und daneben das Bild des deutschen Vaterlandes, die mir beide durch mannigfache Beobachtung und Studium faBlicher wurden, enthüllten sich mir immer deutlicher in ihrer Verschiedenartigkeit. Wohl wurde ich mir der GröBendifferenzen — auch im Schwung innerer GröBe — bewuBt und erkannte, daB groBe Krafte haben heiBt, Aufgaben gestellt erhalten, deren Problematik den Schritt der GroBen an zahllose Abgründe führt, wahrend die Kleinen für ihr Handeln viel deutlicher ülberschaubare Bahnen vor sich sehen. Ich konnte mich jedoch der Erkenntnis nicht verschlieBen, daB Deutschland Holland gegenüber sich zweifellos in einem im Rückstand befand, im politischen Verstandnis seiner führenden Schichten und daB dieser Unterschied zum guten Teil auch die Verschiedenheit des Schicksals beider Lander beeinfluBt hat. Ein Gradmesser für die politische Entwicklung eines Landes ist die Presse, besonders ihre Haltung in auBenpolitischen Fragen. In Holland gab die Presse wahrend des Krieges erstaunliche Beispiele von Disziplin, von Verstandnis für die Situation, von Einmütigkeit und ruhiger nationaler Würde und von williger Gefolgschaft für die als richtig erkannte Politik der Regierung. Diese selbst war klar, konsequent, klug und vorsichtig, allerdiags durch Tradition und Lage deutlich vorgezeichnet. Die hollandische Gelehrtenintelligenz ist nicht bücherbestaubt und weltfern, sondern langst gewohnt, zu politischen Geschaften herangezogen zu werden — man hat von einem System der Nutzbarmachung der an den Universitaten konzentrierten geistigen Krafte für die Politik des Landes gesprochen — V und daher politisch urteilsfahig. Die Führer der politischen Parteien sind vielfach Leute von staatsmannischem Schnitt, oft gute Redner, Journalisten, Politiker, Schriftsteller und Gelehrte in einer Person. Ein jahrhundertelanges Leben an einer Kreuzungsstelle internationalen Verkehrs, eine frühe, führende Geltung in der internationalen Politik, ein Teilnehmen an mehreren, sehr verschiedenen Kuituren, vielseitige Auslandskenntnisse, eine jahrhundertelange, freie innerpolitische Entwicklung und anderes sind die ürsachen solcher Vórzüge, denen mancherlei kulturelle, übrigens bewuBt gepflegte Traditionen zu Hilfe kommen. Es mag wertvoll sein für viele Deutschen, solches zu erkennen und daraus Nutzanwendungen zu ziehen. Sie werden sich dabei klar sein, dafi es sich für sie — nur von Politik ist hier die Rede — keineswegs urn Anerkennung oder Nachahmung in Bausch und Bogen handeln kann und soll. Aber sie werden vom Hollander vor allem lernen können den Sinn für einfache, klare Realitat, für Nationalbewufitsein ohne hohen Ton und verletzende Übertreibung, für biegsame Geltendmachung des eigenen Ich, für die Relativitaten von Machtgröfien, für die Beschranktheit der Geltung von Programmen, Leitsatzen und „Idealen", für die Praktik, für die psychologische Einstellung auf die ümwelt und manches andere mehr, kurz für all jene Eigenschaften, die den Tüchtigen erst zum Erfolgreichen zu machen geeignet sind. Denn das ist ja eben des deutschen Volkes Tragik, dafi ihm trotz vielseitiger Begabung und Leistung das Geschick fehlt, dieselben auszuwerten zum Dauererfolg. Nichts anderes aber ist wahre Politik. Vielleicht wird das Studium von Hollands Schicksalen wahrend des Weltkrieges manchem Leser in dieser Richtung Erkenntnisse vermitteln. Dann ist es von weitergehendem Nutzen, daB dieses hollandisch verfafite Buch hiermit deutsch erscheint. Dr. K. Schwendemann. VI Inhalts verzeichnis Seitc Einleitung ...... in Vorwort des Übersetzers y * I nhal t s verz ei c b nis ' . Vil — § 1. Zur Einfübrung . . 1 — a) Geschichtliche Betrachtung über Hollands Stellung in Europa ... 1 - b) Hollands Beziehungen mit den Nachbarstaaten vor dem Weltkrieg . . 21 * c) Innerpolitische Verhaltnisse Hollands 27 — § 2. Der Ausbruch des Weltkrieges 33 ~ a) Erste Eindrücke in Holland 33 — b) Die ersten MaCnabmen der Regierung 39 - § 3. Art der niederlandischen Neutralitat. Stimmungen und Be- strebungen im Volke 57 — § 4. Die Handhabung der Neutralitat bis Anfang 1917 .... 82 § 5. Die Handhabung der Neutralitat seit dem Eintritt der Ver- einigten Staaten in den Rrieg 122' § 6. Die wirtschaftliche Lage ' 176 § 7. Finanzielle MaBnahmen 212 § 8. Die Wehrmacht wahrend der Kriegszeit 219 § 9. Die Stimmung der Kriegführenden Holland gegenüber . . 223 §10. Die innerpolitische Entwicklung 255 §11. Zwischen Krieg und Prieden 270 a) Der Waffenstillstand. — Hollandische Friedensversuche. — Der Kaiser in Holland 270 b) Innere Unruhen 294 c) Ein Konflikt mit der Entente 316 d) Die belgisch-hollandischen Reibungen 324 §12. Der Priede 362 a) Der Völkerbund 364 b) Arbeitsorganisation 370 c) Die Kaiserfrage 370 d) Die Regelung der Rheinschiffahrt 381 Anhang . . 384 VII § 1. Zur Einführung a) Geschichtliche Betrachtung über Hollands Stellung in Europa Die welterschütternden Ereignisse der Gegenwart haben jeden Staat und jedes Volk des alten Europas auf eine schwere Probe gestellt. Es ist gerade, als ob die Zeitbewegung, die niemand unberührt lieB, jeden nach seinem Geburtsschein und dem sich daraus ergebenden Daseinsrecht fragte. Man hatte den Eindruck, als ob die Geschichte ganz Europas in neuen FluB kame, auch da, wo eine Festigung für immer eingetreten zu aein schien. Das Staatensystem, das man als etwas Selbstverstandliches anzusehen gewöhnt war, krachte in allen Fugen und fiel zum Teil auseinander. Seit dem Mittelalter gefestigte Landesgrenzen drohten sich zu verschieben, und der alte schon in der klassischen Zeit vorhandene Gegensatz zwischen germanischen und romanischen Vólkern trat von neuem in scharfater^Form in die Erscheinung. Mitten in diesem Orkan stand das kleine Holland wie eine kr&ftige Eiche, nicht unerschüttert, aber doch fest. Man hat das im Ausland selten begriffen, weil man sich in den groBen Landern, auch in den angrenzenden, wenig mit Hollands Geschichte beschaftigt hatte. Wohl sind verschiedene Namen beriihmter Geachichtschreiber zu nennen, die ihre Aufmerksarakeit Hollands groBer Zeit gewidmet haben. Man denkt sofort an Motley und Macaulay, Ranke und Treitschke. Aber das Band zwischen der groBen Vergangenheit Hollands und seiner neuen so klein erscheinenden Stellung im 19. Jahrhundert wurde übersehen. Es liegt auch nicht unmittelbar vor Augen; selbst in Holland entging es den Blieken der meisten. Tatsachlicb scheint ja auch ein gewaltiger Abgrund zwischen der Weltmacht des 17. Jahrhunderts und dem „Kleinstaat" des 19. zu klaffen. Trotzdem besteht natürlich wie in jeder historischen Entwicklung auch hier ein Kausaizusammenhang, den man kennen muS, um Hollands Lage im Weltkriege zu begreifen. Die Gebürtsstunde des hollandischen Staates schlug am Ende dfes 16. Jahrhunderts. Er wurde geboren in einem Kampf um die Freiheit t Japikse, Holland 1 gegen den Despotismus Phüipps H. von Spanien, des Beherrschers einer Weltmacht. Damals wie heute erlebte die Menschheit eine grofle Zeit JUie Ahnhchkeit der Zeiten ist unverkennbar, waren auch die Dimensionen des btreites im 16. Jahrhundert so viel geringer. Die Welt war sehr viel kleiner, und das Interesse eines nur geringen Teiles der Menschheit konzentnerte sichauf die politischen, wirtschaftlichen, geseUschaftlichen undkirchlichen Fragen, wahrend diese heute beinahe die ganze Menschheit in Erregung versetzen. Aber das Grundproblem, um das es damals in ganz Westeuropa gmg, ist auch heute wieder mit auf der Tagesordnung des geschichthchen Werdens. Es ist die Frage nach völkischer Selbstandigkeit, die Frage des Selbstbestimmungsrechtes, um die es sich letzten Endes handelte, wenn sie auch damals nicht in derselben Form wie heute eestellt wurde. 6 Gegen den Absolutismus eines Fürsten, gegen die Bevormundung des treisteslebens durch eine Kirche stand damals der Wille, das Volk oder doch einen Teil desselben an der Befreiung des Geisteslebens teilnehmen zu lassen Die Hollander waren durch den Lauf der Ereignisse unter die Herrscnaft eines Fürsten gekommen, der sich mit dem Absolutismus identmzierte und dabei von seiten seiner spanischen üntertanen vollste Unterstutzung fand. Alle Bestrebungen und Interessen der Hollander, auch ihre wtscnafthchen, waren dadurch bedroht. Das war, wie der erste unter den hohandischen Geschichtschreibern des 19. Jahrhunderts mit vollem Rechte sagt, die beste Rechtfertigung ihres Aufstandes*). Für das Tiefland an der See begann mit diesem Aufstand eine schwere L-eidenszeit Es mufite von seiten der spanischen Soldateska sehr viel ertragen. Aber Leid bringt oft mehr GröBe zum Vorschein als Glück (ierade in diesem Kampfe ist es den Bewohnern Hollands vergönnt ge- > wesen, das Beste, was sie in sich trugen, zu aufiern und aufierdem die i'nnzipien, die auf die Dauer der ganzen Menschheit zum Heile gereicheu soilten, m feste Formen zu pragen. Es waren die Prinzipien der Freiheit, die schon im spaten Mittelalter aufkeimten und nun unter dem Einüuö des Humanismus und der Reformation sich kraftig entwickelten Erinnerte der erstere nicht an VorbÜder von Widerstand gegen Tyrannei und Zwangsherrschaft? Lehrte er nicht das freie Studium des Menschen? Und die letztere, die hierzulande in der Form des Calvinismus ihre starksteAuBerung fand, mufite von selbst den Kampf gegen den Absolutismus beginnen und gab dem Aufstand sogar einen Rechtstitel. • i. £n *?T laDgen Entwickl™gsfaden, die durch die Menschheitsgeschichte sich hmziehen, und von denen man die einen nur.mühsam, die anderen onne viel Anstrengung wahrnehmen kann, spinnt bald das eine, bald das I, S 273R' rruin' VersPreide Geschriften, 's Gravenhage, Martinus NijhofiF (1900 £f.)^ 2 andere Volk weiter. Es kommt dabei nicht zu Wiederholungen, denn die Geschichte wiederholt sich memals. Ofter sieht es so aus, als ob ein Draht abgebrochen gewesen ware, und seine Wiederaufnahme macht dann den Eindruck einer Wiederholung. In Wirklichkeit ist die Umgebung immer eine andere und daher auch die Geschehnisse. Sogar die Idee kann nicht die gleiche bleiben. Denn sie ist das Produkt früherer und gegenwartiger Umstande, die Reprasentation von Vergangenheit und Gegenwart, wenn sie überhaupt lebendig und wertvoll sein will. Die Entwicklung nun, die nach stets gröfierer menschlicher Freiheit für das Individuum sowohl wie für die Gesamtheit weist, haben die Hollander des 16. Jahrhunderts ein gutes Stück weitergefuhrt. Das ist ihr grofier Ruhmestitel. In dem Manifest, das durch die Generalstaaten, die damaligen Representanten der hollandischen Souveranitat am 26. Juli 1581 beschlossen wurde, stehen folgende stolzen Worte, die jetzt auch auf dem Reformationsdenkmal in Genf angebracht sind: „Dat d'ondersaten nyet en zijn van God geschapen tot behoef van den prince, om hem in alles wat hy beveelt, weder het godelijck of ongodelijck, recht of onrecht is> onderdanich te wesen ende als slaven te dienen, maer den prince om d'ondersaten wille, sonder dewelcke hy egeen prince en is, om deselve met recht ende redene te regeren, voor te staene ende lief te hebben als een vader zijn kinderen ende een herder zijn scapen, dye zijn lyf ende leven set om deselve te bewaren" 1). Sie machen das Manifest zu einem würdigen Gegenstück der englischen Deklaration of Rights von 1689 und der amerikanischen Unabhangigkeitserklarung von 1776, die beide mit wachsender Energie den VolkseinfluB vergröBerten. Das Manifest brach für immer die Brücke der Versöhnung mit Philipp n. ab. Mit ihm hatten die Hollander, oder wenigstens der Teil, der den Kampf bis zum Ende durchfocht, endgttltig gegen jeden Absolutismus Partei ergriffen: Der Kampf gegen Spanien kam zum offenen Ausbruch. Man kann eigentlich nichts mit gröBerer Berechtigung an den Anfang der Geschichte des hollandischen Staates stellen, als dieses Manifest. Aber natürlich hat dieser Staat seine Vorgeschichte. Nichts auf der Welt fallt fertig vom Himmel. Diese Vorgeschichte sind die Schicksale der Bewohner des Tieflandes an der See bis ins 16. Jahrhundert, die hier nur eben angedeutet werden können. x) „Dafi die Untertanen nicht für den Fürsten von Gott geschaffen sind, um ihm in allem, was er befiehlt, sei es göttlich oder ungöttlich, Recht oder Unrecht, untertanig zu sein und ihm als Sklaven zu dienen, sondern dafi der Fürst um der Untertanen willen geschaffen ist, ohne die er kein Fürst ist, um dieselben mit Recht und Vernunft zu regieren, ihnen vorzustehen und sie lieb zu haben, wie ein Vater seine Kinder und ein Hirte seine Schafe, der sein Leib und Leben einsetzt, um sie zu behüten". 1* 3 Friesen, Franken und Sachsen bildeten die Bévölkerung im Mündungsgebiet des Rheins, der Maas und der Schelde nach dem Untergang des römischen Weltreiches. Aus diesen Komponenten ist das hollandische Volk, erst lange nach der Gründung des hollandischen Staates, erwachsen. Die Franken haben, wie die Sprache ausweist, den staiksten Bestandteil für die hollandische Nation geliefert. Aber man braucht nur den Kern der Hollander mit den Flamen, Brabantern und Belgiern zu vergleichen, um sofort zu bemerken, dafi jeue auch noch andere Einfliisse in sich aufgenommen haben, und man deukt dann in erster Linie an die Friesen, die einst einen sehr groBen Teil Hollands nördlich des Rheins und auch Gebiete westlich und südlich davon bewohnt haben, wo sie durch die Franken zurückgedrangt oder assimdiert wurden. Eine staatliche Einheit haben die Bewohner des spateren Holland im Mittelalter nie gebildet. Ein Herzogtum Friesland war offenbar nur eine ephemare Erscheinung, und die Herzöge von Lothringen und Nieder-Loth^ ringen, zu deren Gebiet diese Landesteile gerechnet wurden, haben nur zeitweilig hier einige Macht ausgeübt. Dasselbe ist von den Herrschern des heiligen römischen Reiches deutscher Nation zu sagen, die nach der Teilung des Karolingerreiches nominell dieses Tiefland unter ihre Souveranitat brachten. In staatlicher Hinsicht war wahrend des Mittelalters die Lage so, daB die territorialen Fürstentümer, die hier ebenso wie anders wo im Deutschen Reiche entstanden, bald eine sehr selbstandige Stellung gegenüber der Reichsgewalt einnahmen, wahrend im eigentlichen Friesland sich irgendwelche Fürstenmacht überhaupt nicht entwickeln konnte, so daB dessen einzelne Teile, die sich zu einer Art kleiner Bauernrepubliken kohstituierten, sich einer weitgehenden Selbstandigkeit erfieuten. Hier konnte sich der germanische Drang nach „Freiheit" aufs starkste ausleben. Aber das Ende war Sterilitat *)• Es herrschte unendlich viel Zwist unter den einzelnen Landesteilen, wobei es zu einem Aufbau höherer Ordnungen oder einem Mitgehen mit der Entwicklung der Nachbarlander nicht kommen konnte. Weder Handel und Industrie noch die Entwicklung des geistigen Lebens gediehen über das Mit tel maft hiuaus. Der Schwerpuukt des Fortschritts in diesen Landern lag im Mittelalter schon früh im Westen. Da profitit rten die Bewohner von allen Vorteilen der Lage im Mündungsgebiet dieier groBen Ströme, von der Nahe der See und vom Fischreichtum der vielen Gewasser. Hier war der angewiesene Plata für den Austausch der Waren von Süd und Nord-, oder besser West- und Osteuropa, wie man sich damals ausdrückte. Am meisten und zuerst kam das den Flamen und Brabantern zugute, deren Land seit dem 13. Jahrhundert zu einem Brennpunkt der wirt- *) I. H. Gosses, Van Veete en Oorlog. Groningen, J. B. Wolters (1915), S. 10. 4 scbaftlichen und geistigen Entwicklung wurde. Aber die Hollander und Seelander folgten ibnen auf dem Fufi, wenn auch in anderer Weise. Das Aufblühen der Landstriche links und rechts der Schelde zeigt sehr viel Ahnliches, aber auch grofie Verschiedejiheiten. Man konnte Flandern und Brabant im allgemeinen mehr ein passives Handelsgebiet nennen, wo die Fremden von nah und fern zusammenkamen, um ihre Produkte untereinander und gegen die der Flamen und Brabanter auszutauschen. Der Handel Hollands und Seelands war dagegen mehr aktiv. Ihre Bewohner zogen selbst hinaus, um den Verkehr zu vermitteln und die Ergebnisse ihres Fischfangs, Landbaus und Gewerbes an den Mann zu bringen. Waren sie es nicht, die zuerst um Jutland herum nach der Ostsee fuhren1)? Zeigten sie sich hierdurch nicht als die kühnen Nachkpmmen der Friesen, die schon in römischer Zeit als Seefahrer einen Namen hatten? Man ist geneigt, hier an einen wesentlichen Nationalitatsunterschied zu denken, um so mehr, wenn man sieht, daB sich auf geistigem Gebiet, zum Beispiel in der Malerei, von vornherein zwischen Hollandern und Flamen eine groBe Verschiedenheit der Expression deutlich zeigte, ein Zug, den man zum Verstandnis des Folgenden gut festhalten muB. Der Fortschritjt der westlichen Landstriche wurde durch die Grafenherrschaft gefördert, die eine gröBere Sicherheit bot, als die ungebundene Freiheit im friesischen Gebiet. Man darf sich allerdiügs die Autoritat der Grafen nicht zu bedeutend vorstellen, da sie gezwungen waren, den verschiedenen Organen des politischen und gesellschaftlichen Lebens vielerlei ihre eigene Macht stark einschrankende Privilegiën zu verleihen. Das öffentliche Leben des Mittelalters konzentrierte sich vielfach in „Genossenschaften", die sich möglichst viel eigene Rechte zu verschaffen suchten. Diese Privilegiën, auch wohl „Freiheiten" genannt, gab es in Holland im ÜbermaBe. Sie drückten dem Lande mehr als irgendeinem anderen den Stempel individuelier Selbstandigkeit auf. Die Bévölkerung bekam auf diese Weise 'ein starkes Macht- und SelbstbewuBtsein, das vor allem in den sich seit dem 13. Jahrhundert schnell entwickelnden Stadten seinen Ausdruck fand. Der Fürst muBte dem in erster Linie in der Versammlung der Staaten oder Stande, die neben der seinen eine eigene Machtssphare schufen, Rechnung tragen. Adel, Geistlichkeit und Stadte waren darin vertreten. In den wichtigsten Gegenden bekamen die letzteren bald überall den gröBten EinfluB. Vergleicht man diese Zustande mit denen der Nachbarlander, so bemerkt man viel Ahnliches, aber auch viel Besonderes. Es 1 fallt manches auf, was ebenso ist wie die Zustande in Deutschland, Frankreich oder England. Besonders die groBen deutschen Stadte am Rhein zeigen in ihrer *) Vgl. die AuBfdhrnngen Ton Prof. D. Schaf er in Bijdragen en Mededeelingen van het Historisch Genootschap, gevestigd te Utrecht, XXVI (1906), S. LXIff. 5 Blütezeit Verwandtschaft mit den Stadten in den Niederlanden. Aber im allgememen ist nicht zu leugnen, dafi schon damals die wichtigsten Teile Hollands eine eigene Struktur bekommen hatten, durch die sie sich von ïhren östlichen wie westlichen Nachbarn stark unterschieden. Das war nicht zuletzt eine Folge ihrer Lage zwischen West und Ost, die auch weiterhin dauernd auf ihr Schicksal bestimmend einwirken sollte. Die westlichen Gebiete des alten Herzogtums Lothringen begannen schon im 13. Jahrhundert sich völlig von Deutschland loszumachen, zweifellos infolge der inneren Zustande im heiligen römischen Reich deutscher Nation, aber auch unter dem EinfluB ihrer Beziehungen zu den Machten Westeuropas1). btSrker bheben ganz von selbst auch noch im spateren Mittelalter die Bande, die die östlichen Teile Hollands, besonders Gelderland und Overijsel an Deutschland knüpften. Hier schlossen vsioh die Stadte bei der Hansa an, was in Holland und Seeland nie geschehen ist. Aus diesem bunten Gemenge weltlicher und geistlicher Territorien mit ïhren eigenen Rechten und mit den Rechten ihrer ünterteile, die diese wiederum zu selbstandigen Gebilden machten, versuchte seit dem 14. Jahrhundert das burgundische Herzogshaus eine Einheit zu formen. Die burgundischen Fürsten waren ein Zweig der französischen Valois, und ihr Regierungssystem war, wie sehr es auch in vieler Hinsicht den nationalen Bedurfmssen Rechnung trug, nach dem Vorbild des damaligen Frankreichs entworfen. Ihr Auftreten beförderte die Entwicklung Hollands iu westhchem Geiste, obwohl ihre moderne Staatsidee zu vielen seiner politischen lormen in Widerspruch stand. Dieser Kontrast wird scharf Jbeleuchtet durch eine AuBerung Utrechter Burger aus dem Jahre 1524, daB ihnen nicht gedient sei mit der „gallischen Sklaverei", sondern daB man auf die Erhaltung der „germanischen Freiheit" Wert lege 2). Die durchweg geschickt und tüchtig geleitete burgundische Politik versprach zuerst reiche Früchte zu tragen. Nach den Geschehnissen des 15. Jahrhunderts unter Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen schien im 16. Jahrhundert unter Karl V. der Aufbau eines niederlandischen Staates, der Siebzehn Niederlande, gesichert. Besonders im Süden, dem gegenwartigen Belgien, waren die Grundlagen fest gelegt. Im Norden waren Holland und Seeland sehr eng verbunden, die übrigen damals erst Jsurz erworbenen Gebiete wenigstens auf dem Wege sich ganz einzufügen. Karl V. regelte bereits das Verhaltnis seines niederlandischen Reiches zum deutschen Kaiserreich durch den Vertrag von Augsburg, der diese Gebiete, wenn auch auf besondere Weise, an Deutschland anschloB. *) Vgl. Oppermann, Studium Lipsiense. Berlin 1909. w ^ ) '.Mores germanicae quae gaudent libertate" gegen die „gallica servitus" Cfr. 328 na EPlscoP°rum Ultrajectensium, ed. A. Buchelïus (Utrecht 1612), 6 Da aber kam die Katastrophe. Die burgundischen Fürsten waren in den österreicbischen Habsburgern aufgegangen, und diese hatten ihr Weltreich gestiftet. Die Interessen der Hollander paBten schlecht in dieses Weltreich. Sie waren sich ihrer Bedeutung zu sehr bewuBt, um ein Vorposten des spanischen Weltreichs Philipps H. werden zu wollen. Die staatliche und kirchhche Pohtik des spanischen Königs Hef den Wünschen der Hollander völlig zuwider. Mit Ketzerverfolgungen war ihnen ebensowenig gedient wie mit unbeschrankter Fürstenmaoht. Sie steilten die Freiheit dem Absolutismus ihres Fürsten gegenüber. Wir haben die grofie welthistorische Bedeutung des nun entstehenden Kampfes bereits angedeutet. Man wird nach unserer kurzen Skizze des Vorangegangenen leichter begreifen, wie die Folgen sein mufiten. Sie brachten nicht nur Fortschritt, sondern auch Rückschritt. Neben einer für die damalige Zeit sehr entwickelten Idee der kirchlichen Freiheit, die positiven Gewinn für die ganze Menschheit brachte, kam auf politischem Gebiet eine Reaktion gegen den modernen Staat In einer Anzahl Staatsakten, die von der Regierung der Aufstandischen ausgingen, kann man lesen, daB diese auch für die Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Privilegiën stritten, die durch die zentralistischen Bestrebungen der Fürsten ins Gedrange gekommen waren. Diese „Freiheiten" der einzelnen Landesteile blieben in den nördlichen Gebieten, die sich die Freiheit erfochten, voll und ganz erhalten. Der hollandische Freiheitsgedanke des 16. Jahrhunderts war also ein zwiefacher: Gewissensfreiheit und politische Selbstandigkeit. Es schien zeitweilig — so stark wurden die zentrifugalen Neigungen .—, als ob die völlige staatliche Selbstandigkeit der einzelnen Gebietsteile aus der vorburgundischen Zeit wieder zurückkehren sollte. Aber die Notwendigkeit des Zusammenwirkens gegen den gemeinsamen Feind war zu groB. Deshalb blieb in der Folgezeit doch unter den sieben Provinzen, die sich von Spanien freimachen konnten, ein gewisser staatlicher Zusammenhang, und zwar in der sehr losen Form erhalten, die die Union von Utrecht (1579) schut Der Aufstand hatte indessen für diese Lander noch andere sehr wichtige Folgen. Vor dem Aufstand hatten die südlichen Teile der Siebzehn Niederlande den Vorrang vor den nördlichen. Brabant und Flandern waren kulturell und wirtschaftiich Holland und Seeland betrachtlich voraus. Der Aufstand brachte hierin eine Wendung. Der unter Spanien bleibende Süden geriet wirtschaftiich durch die SchlieBung der Schelde in die Enge und konnte kulturell auf der hohen Entwicklungsstufe, die er vor dem Aufstand einnahm, sich nicht behaupten. Der frei gewordene Norden dagegen blühte, unterstützt durch die vielen hierher geflüchteten Belgier, herrlich auf. Nie hat die hollandische Volkskraft, die sich besonders in der Provinz Holland, und hier wieder besonders in Amsterdam, konzentrierte, sich so nach allen Seiten geltend gemacht wie um die Wende 7 des 16. JahrhundertsJ), 'Und der Norden sollte seinen Vorrane lanse behalten. & 6 Das Verhaltnis der Niederlande zu Europa entwickelte sich in der schon vor dem Aufstand eingeschlagenen Richtung, insofern diese auf eine Absonderung vom Deutschen Reiche und eine Annaherung an die Westmachte gezielt hatte. Mehrmals hat der Prinz von Oranien, der grofie Leiter des Aufstandes, mehrmals haben auch die aufeinanderfolgenden Regierungen Hilfe gegen Spanien aus Deutschland zu erhalten versucht, wobei sie sich auch auf den Vertrag von Augsburg beriefen. Aber der deutsche Kaiser, der andere, besonders dynastische Interessen hatte, und weitaus die Mehrheit der deutschen Fürsten jener Tage, denen es an jeder höheren Einsicht fehlte 2), haben für die Sache der Hollander nichts gefiihlt, und die Trennung der Niederlande vom Reiche ist damals eine vollendete Tatsache geworden. England und Frankreich dagegen haben das eminente Interesse, das in der Beseitigung der Macht des spanischen Weltreichs in den Niederlanden für sie lag, sehr gut begriffen und deshalb den Aufstand immer begunstigt, oft auch direkt unterstützt. Die Bande Hollands mit diesen beiden Landern wurden infolgedessen sehr innige. Der neue Staat orientierte sich mit anderen Wörten noch starker nach dem Westen, als das mit Holland und Seeland bisher schon der Fall gewesen war. Es ist nicht deutlich, ob man eine andere für die internationale Stellung der Niederlande höchst bedeutsame Folge der Trennung zwischen Nord und Süd damals in ihrer Wichtigkeit verstanden hat. Das Aufhören des Reiches der Siebzehn Niederlande, sein Auseinanderfallen in zwei Teile, bedeutete, daB in Nordwest-Europa kein grofier Staat bestehen sollte. Man braucht es sich nur einen Augenbliek vorzustellen, um zu begreifen, wie völlig anders die Entwicklung des ganzen europaischen Staatensystems sich hatte vollziehen können, wenn im Mündungsgebiet des Rheins zwischen den groBen Nachbarstaaten ein machtiges Reich bestehen geblieben ware, wie es unter Karl V. schon gesichert schien. Die Trennung war eine Folge innerer Verhaltnisse, und keines der umliegenden Reiche scheint sie bewuBt gefördert zu haben, obwohl das vielleicht in ihrem Interesse gelegen hatte. Es ist ein anziehendes und farbenreiches Bild, das die junge Republik der vereinigten Provinzen zu Anfang des 17. Jahrhunderts darbot. Treitschke hat es in einer ausführlichen Skizze gezeichnet, die noch immer lesenswert ») Siehe besonders das klassisehe Werk von F ruin, Tien jaren uit den tachtigjangen oorlog, VI. Auflage. 's Gravenhage, Martinus Nijhoff, 1904. ó t3 ^1-„d^ h?rte aber richtiee ürteil Lamprechts in 'seiner Deutschen Geschichte V, 2. Halfte, 3. Auflage, S. 477 ff. 8 ist!). In folgenden Worten fafit er das Wichtigste zusammen: „In Holland zuerst hat das moderne Bürgertum die Macht seiner Arbeitskraft und seiner Sparkraft entfaltet, wahrend die Herrlichkeit der Hansa, der italienischen und flandrischen Stadte verkam und Englands Mittelklassen noch in unfertiger Bildung venharrten". Holland ist in der modernen Entwicklung seinen Nachbarlandern zuerst weit vorausgeeilt. Eine Nation von kaum zwei Mülionen Seelen, nahm es bald eine „hervorragende weltbeherrschende Stellung ein", und galt anderen Vólkern als Vorbild, von dem sie lernten. Will man die hollandische Kultur dieser Zeit durch ein Schlagwort kennzeichnen, so muB man das Wort „Freiheit" gebrauchen. Dieser hollandische Freiheitsbegriff umfaBt die verschiedenen Arten von Freiheit, die es vor und wahrend des Aufstandes in Holland gab. Eine sonst nirgends so ausgedehnte, mit Vertr&glichkeit gegen Andersdenkende verbundene Rehgionsfreiheit, weitgehende Handelsfrèiheit und pohtische Freiheit, die den einzelnen Landesteilen groBe Selbstandigkeit liefi und zur Teilnahme an der Regierung durch einen Teil der Bévölkerung sowie zu Abnèigung gegen jederlei persönlich-monarchisches Regiment führte, so dafi dieses nur noch in der Stellung des Hauses Oranien in gewissem Sinne fortlebte. Natürlich verkörpern sich in dieser Freiheit die hollandischen Interessen, aber nicht minder spiegelt sie den Charakter des hollandischen Volkes wieder. In dieser freien Luft war es den Hollandern damals eine Lust zu leben. Das Herz der Nation schlug in Amsterdam, wo Rembrand t und Vondel die hollandische Kunst zu den höchsten Höhen ftihrten, die sie je erreicht hat. Gerade in diesen beiden GroBen lebte ein starkes Freiheitsgefühl. Vondel singt von den „luiden vrij-geboren, vrij gevogten, vrij verkoren" und von der „gulden vrijheid" als „het waardste goed van 't vaderland". Und von Rembrandts Kunst sagt ein vortrefflicher Kenner2): „Seine hollandische Nüchternheit lieB ihn die alltaglichen Details beachten, seine Unbefangenheit aber half ihm, die Schönheit an sonst yerschmahter Stelle zu finden. Eben in dieser Unbefangenheit offenbart sich die Lust zur Freiheit". Aber neben Amsterdam gab es in der ganzen Republik eine Reihe anderer, wenn auch weniger wichtiger Kulturzentren. Das war gerade der groBe Vorteil des neuen Zustandes, daB in jeder Provinz Gelegenheit zu eigener Entwicklung geboten war, daB auch die Bévölkerung oder doch wenigstens der Teil, der an der Regierung mitwirkte, die Möglichkeit hatte, sich politisch zu entfalten. Auf die Dauer ging dabei von Holland, J) Zuerst in den Preufiischen Jahrbüchern 1869, dann abgedruckt in den historschen und politischen Aufsatzen, II. *) F. Schmidt-Degener, Kembrandts Pfauenbild in „ Kunstchronik und Kunstmarkt", 18. 10. 1918, S. 7. 9 das die weitaus machtigste und reichste der Provinzen war, ein groBer EinfluB auf die anderen aus: Die hollandische Kultur entwickelte sich zur niederlandischen, Die allmahlich dem Lande eine gewisse Einheitlichkeit verlieh und das Band formte, das die niederlandische Nation zusammenhielt. So schwach die Zentralregierung, die letzten Endes in den Generalstaaten verkörpert war, auch sein mochte, sie zeigte sich ihren Aufgaben gewachsen. 1 Endete doch der Kampf gegen Spanien siegreich. Im Jahre 1648 muBte der spanische König die nördlichen Niederlande als selbstandigen Staat anerkennen, ihnen Teile von Flandern, Brabant und Limburg überlassen und sich mit der kolonialen Stellung, die sie sich erworben hatten, zufrieden geben. Kann man sich wuhdern, dafi nun die Freiheit noch volkstümlicher wurde, und man den wahrend des langen Kampfes entstandenen politischen Zustand für den wünschenswertesten ansah? Aber der junge Staat trug ein Element der Zwietracht in sich, das gerade seiner politischen Freiheit entsprang. Die Stellung, die sich das Haus Oranien durch die Führung des Prinzen Willem und seiner beiden Söhne Maurits und Frederik Hendrik erworben hatte, behinderte die selbstandige Entwicklung der einzelnen Provinzen einigermaBen. Die Regenten der machtigen hollandischen Stadte besonders sahen ihre Interessen bedroht. Mehr als einmal wahrend des Krieges kam es zu inneren Konfiikten, in denen die Oranier als Statthalter verschiedener Provinzen und Kapitan- und Admiralgenerale der Union die Oberband behielten. Dabei konnte man doch, so versicherten die Regenten, nicht von „wahrer" Freiheit reden! Sie begannen die Macht der Oranier, ebenso wie früber die des spanischen Königs, als Gewaltherrëchaft zu bezeichnen. Sie zogen eben auch die letzten Folgerungen aus der politischen Entwicklung wahrend des Aufstandes und forderten die Beseitigung dieses Überlebsels der Monarchie, dieser Sklaver'ei, wie sie es nannten. Sie wurden mit einem Worte Vollblutrepublikaner. Man darf bei ihnen nicht uur Machtgelüste voraussetzen. Denn tatsachlich standen wichtige Interessen auf dem Spiel. Für die Regenten waren die Handelsinteressen ausschlaggebend, sodaB sie der internationalen politischen Lage weniger Rechnung trugen. Nicht zufalligerweise waren die eifrigsten Vorkampfer der „wahren" Freiheit in Amsterdam zu finden. Der Zwist kam zum scharfsten Ausdruck in den Jahren, die dem Frieden von Münster vorausgingen. Damals wollten die mit Frankreich verbündeten Oranier den Krieg fortsetzen, wahrend die Regenten auf der Basis der von Spanien angebotenen günstigen Bedingungen Frieden schüefien wollten. Es kam zum offenen Konflikt, als der junge Prinz Willem II., der Sohn Frederik Hendriks, nachdem die Oeneralstaaten den Frieden durchgesetzt hatten, Neigung zur Fortführung des Krieges zeigte. Modern ausgedrückt stand aggressive Politik gegenüber bewufiter Friedenspolitik, Militarismus gegenüber Pazifismus. Willem II. setzte seinen- Willen durch, da er das 10 Heer und den gröfiten Teil der Bévölkerung auf seiner Seite hatte. Nur sein früher Tod verhinderte ihn, seinen Sieg auch auszunutzen. So waren die Regenten in der Lage, ihr Ideal der wahren Freiheit zu verwirklichen. Es brach nun die Zeit Johan de Witts an Er ist der überzeugte Vertrèter der „wahren" Freiheit, der echte Republikaner, konnte jedoch die Theorie nicht konsequent in die Praxis umsetzen. Dazu waren die Bande, die die einzelnen Provinzen untereinander verknüpften, schon zu fest geworden, und waren diese schon zuviel aüfeinander angewiesen. Auch muBte er, trotzdem nur ein minderjahriger Prinz das Haus Oranien vertrat, immer wieder der Position, die sich dieses Haus innerhalb des Staates erworben hatte, Rechnung tragen: Er konnte die Monarchie nicht völlig ausschalten. Übrigens genügte unter seiner genialen Leitung 'die Staatsverfassung auch jetzt wieder den Bedürfnissen der Zeit. Es gelang Johan de Witt, den Kampf gegen England um die Seeherrschaft, dem Konkurrenz auf dem Gebiete des Handels und der Koloniën zugrunde lag, erfolgreich zu führen. Die Republik spielte im Zeitalter Johan de Witts, entsprechend ihrer wirtschaftlichen Weltstellung, die Rolle einer GroBmacht. So friedliebend die Politik der Regenten im Grande auch sein mochte, sie wurden ganz von selbst in die groBen politischen und wirtschaftlichen Fragen verwickelt, die die Zeit mit sich brachte, das eine Mal in den Kampf um die Hegemonie in der Ostsee, das andere Mal in den zwischen Frankreich und Spanien, in welchem es sich mit in erster Linie um die Position Belgiens handelte. Gerade sie galt den hollandischen Staatsmannern als einer der wichtigsten Zielpunkte ihres Interesses, da ja das Übergewicht ihres eigenen Landes zum guten Teil darauf beruhte, daB Belgien niedergehalten wurde. Eben diese Weltgeltung Hollands, die De Witt nicht suchte, sondern die spontan aus der internationalen Lage erwachsen war, hatte den Zusammenbruch des Jahres 1672 zur Folge. England und Frankreich, unterstützt durch einige kleine deutsche Nachbarstaaten, stürzten sich auf das kleine Land, das ehemals ihr Schutzbefohlener war und das ihnen jetzt diktieren zu wollen schien. De Witt wurde das Opfer der in der Republik nun entstehenden groBen Verwirrung, und sein System kam mit ihm zu Fall. Die Republik konnte sich jedoch ungeschmalert behaupten und zwar unter Leitung von Prinz Willem III., der nun zur Würde seiner Vater emporgestiegen war. In ihrer politischen Haltung hat die Republik allèrdings eine Schwenkung machen mussen. Sie hat sich von Frankreich abgewandt und ein Bündnis mit ihren früheren Feinden, den österreichischen und spanischen Habsburgern, geschlossen. *) Für ausfübxlichere Studiën ver weise ich auf meine Monographie über Johan de Witt, von der auch eine deutsche Übersetzung bei Meulenhoff, Leipzig 1917, erschienen ist. 11 Jeder kermt die groBe Rolle, die Willem III. in Europa gespielt hat. Er wurde der Vorkampfer gegen das drohende Übergewicht des Frankreichs Ludwigs XIV., ahnlich wie sein Urgrofivater es gegen das Spanien Philipps II. gewesen war. Er wurde der Verteidiger des europaischen Gleichgewichts und ging siegreich aus dem Kampfe hervor, nachdem er England völlig auf seine Seite gebracht hatte (1688). Der Kern seiner Macht lag in Holland, auch als er schon König von England geworden war. Er beherrschte die Republik, ohne etwas an dem System der Staatsleitung zu andern, einfach durch die Geltung, die er in ihr besaB. Die Hollander leisteten ihm im allgemeinen willig Folge, und der Widerstand ihrer Kaufleute-Regenten wurde, zuweilen nicht ohne Anstrengung, überwunden. Holland fühlte eben, welch groBe Interessen in diesem Kampf auf dem Spiele standen, besonders, nachdem Ludwig XIV. deutlich gezeigt hatte, daB er auch die Religionsfreiheit bedrohe. Aber nicht aus innerer Begeisterung, um Weltpolitik zu machen, tat man mit, sondern man erfüllte gelassen eine groBe Rolle, weil man begriff, daB es so sein mufite. Die Weltpolitik Willems Hl. ist der Republik teuer zu stehen gekommen, so fruchtbringend sie auch war und trotzdem sie dem Ruhmestitel der hollandischen Nation, Vorkampferin für die Freiheit zu sein, neuen Glanz verlieh. Das Unglück wollte, daB die Repubhk nach dem Tode Willems IH. keinen neuen Leiter finden konnte, der ihr den Weg zur Lösung der schwierigen Probleme gezeigt hatte, vor die'sie sich im 18. Jahrhundert gestellt sah. Sollte sie ihre Auslandspolitik auch nach 1713 im alten Stil fortsetzen, als der Friede von Utrecht, bei dem der meiste Nutzen den englischen Bundesgenossen zufiel, ihr gezeigt hatte, daB es für die Kleinen eben immer gefahrlich bleibt, mit den GroBen Kirschen zu essen ? Es wurden Stimmen laut, die diese Frage verneinten und eine Neutrahtatspohtik anrieten. War nicht auch eine AnderuDg der Staatsverfassung nötig, wo sich die groBen Nachbarreiche starke Regierungen schufen, und das Staatensystem Europas durch das Aufkommen PreuBens und Rufilands eine tiefgehende Veranderung erfuhr? Bedurfte nicht auch Holland einer starken Zentralregierung, um wenigstens seine groBen wirtschaftlichen Interessen besser verteidigen zu können, die in das Gedrange zu kommen drohten, da zuerst England, dann auch Frankreich und die anderen Lander, eine protektionistische WirtschaftspoUtik zu führen begannen? An warnenden Stimmen, die auf diese Gefahren hinwiesen, fehlte es in Holland nicht, aber sie fanden kein Gehör. Die Regierung wurde im Gegenteil schwacher denn je. Die erstè Halfte des 18. Jahrhunderts bezeichnet dén traurigsten Abschnitt der hollandischen Geschichte. Die Neigung zu ungebundener politischer Freiheit konnte sich um so ungehinderter geltend machen, als das Gegengewicht einer kraftigen Persönlichkeit fehlte. Allzu deutiich kamen 12 nun die Fehler der Regentenoligarchie zum Vorschein, die in den Zeiten der Republik mehr und mehr zu einem Staat im Staate geworden war: Der Gegensatz zwischen Regierung und Volk wurde aufierst schroff. Der österréichische Erbfolgekrieg, in den die Republik gegen ihren Willen schlieBlich hineingezogen wurde, brachte mit dem Einfall der Franzosen in Seelandisch-Flandern (1747) einen ahnlichen Wechsel wie das Jahr 1672. Von neuem bekam ein Prinz von Oranien, der Erbe Willems IH. und SproB aus dem Hause Nassau, das seit dem Beginn des Aufstandes die Statthalterschafty in den nördlichen Provinzen der Union bekleidet hatte, eine groBe Macht im Staate, gröBer selbst als irgend einer seiner Vorganger. Aber weder Willem IV noch Willem V. zeigten sich imstande, der Schwierigkeiten, vor die sie sich gestellt sahen, Herr zu werden. Sie vermochten den Zeitumstanden gegenüber keine führende Stellung einzunehmen, sondern lieBen sich von ihnen leiten oder konnten ihnen zum mindesten nicht kraftvoll begegnen. Es konstituierte sich weder eine starke Zentralregierung, die sich hatte geltend machen können, noch kam man dér Bürgerschaft der Stadte, die EinfluB auf die Regierung verlangte, einigermafien entgegen. Die Auslandpolitik wurde zum Spielball der Parteipohtik: Das Haus Oranien hielt möglichst an der Alhanz mit England fest, wahrend die an die Stelle der früheren Regenten getretene demokratische Partei, ebenso wie ihre Vorganger Annaherung an Frankreich suchte. SchheBlich wurde die Republik in den Krieg zwischen England und Frankreich hineingezogen, der sich aus dem Aufstand der amerikanischen Koloniën gegen England ergeben hatte. Dabei zeigte sie sich in ihrer ganzen Ohnmacht und geriet nach ernsten inneren Unruhen, die infolge der Verwandtschaft der Oranier mit den Hohenzollern ein Eingreifen PreuBens zur Folge hatten, in tatsachliche Abhangigkeit von PreuBen und England (1787). Es war ein tiefer Fall, den die Republik in politischer Hinsicht tat. Zum Teil wird er durch die Anderung der europaischen Verhaltnisse erklarlich, die infolge allgemeiner poUtischer und wirtschaftücher Entwicklung die volksreicheren und gröfieren Staaten in den Vordergrund schoben. Trotzdem hatte er bei weiser Staatsleitung nicht so tief zu sein brauchen. In wirtschaftlicher Hinsicht verlor die Republik den Vorsprung, den sie im 17. Jahrhundert, besonders vor England, gehabt hatte, das nun in friedlichem Wettbewerb erlangte, was es früher durch Kriege nicht hatte erreichen können. Auch das kulturelle Niveau Hollands sank betrachtlich. Den Fremden, die das Land besuchten, fielen vor allem die schonen Landgüter der Patrizier und die herrlichen Sammlungen auf den verschiedensten Gebieten auf, beides die AuBerungen einer Kultur von Rentiers, die von dem durch frühere Geschlechter erworbenen Reichtum zehrten und ihn gleichzeitig zur Gründung eines umfangreichen Geldmarktes benutzten. AuBerdem fiel ihnen die Freiheitshebe der Hollander auf, die jedoch, 18 wenigstens in politischer Hinsicht, ebenso unfruchtbar zu werden drohte, wie einstens bei den Friesen im Mittelalter. Hierin brachte die französische Revolution eine Wendung. Wohl hat die französische Zwangsherrschaft, die 1795 begann und im Jahre 1810 zur Einverleibung in das Reich Napoleons führte, Holland wirtschaftiich und finanziell schwer geschadigt, aber sie bereitete auch seine politische Wiedergeburt vor, namlich die Konstituierung des hollandischen Einheitsstaates in der Form der Monarchie, eine Emingenschaft, an der man bis heute festgehalten hat. Auf staatliche Einheit und Monarchie wies ja die ganze vorhergehende Entwicklung; trotzdem hatte vor 1795 niemand den Versuch wagen dürfen, sie Tatsache werden zu lassen, da man immer noch an den Idealen des 16. Jahrhunderts festhielt: Der politische Konservatismus der Hollander stand dem Fortschritt hindernd im "Y\(ege. Nach der Befreiung von der französischen Herrschaft (1813) war die internationale Position Hollands eine völlig andere, als zu den Zeiten der Republik. Seine GroBmachtstellung hatte es endgültig verloren, wenn es auch ein grofies Kolonialgebiet behielt, das England in der napoleonischen Zeit erobert hatte und nun bis auf die Kapkolonie, Ceylon und Guyana zurückgab. Diese neue Lage Hollands zwischen den Machten entsprach mehr seiner Bedeutung als Kleinstaat. Innen wurde die Souveraaitat des Hauses Oranien begründet, wobei jedoch in der Verfassung gewisse Freiheiten, u. a. der Religionsübung und der Presse, und ein vorlaufig allerdings sehr beschrankter Volkseinflufi auf die Regierung garantiert wurden. Holland ward also eine konstitutionelle Monarchie, und man kann diese sehr wohl als ein Produkt der historischen Entwicklung betrachten. Eine absolute Monarchie ware jedenfalls in unserem Lande ein historischer Nonsens und eine Unmöglichkeit gewesen. Vorübergehend wurde die nationale Entwicklung durch die Vereinigung Hollands mit Belgien behindert. Die Gründung des Reiches der Siebzehn Niederlande, die Wiederbelebung einer politischen Idee aus dem Zeitalter Karls V., war das Werk der GroBmachte, besonders Englands, das ein Bollwerk an Frankreichs Nordgrenze für erwünscht hielt, und wurde auf dem Wiener KongreB vollzogen. Es war eine gewagte Bildung. Belgien widersetzte sich, wahrend Holland sich fügte, da sein Regent, Willem I., ehrsüchtig genug war, um die schwierige Aufgabe der Regierung über das neue Reich auf sich zu nehmen. Dieses war deshalb ein Kunstprodukt, weil die Hollander und Belgier seit ihrer Trennung zu Ende des 16. Jahrhunderts einander völlig entfremdet waren. Die verschiedenartige Veranlagung, die schon im Mittelalter zwischen Nord und Süd sich zeigte, war durch die historische Entwicklung noch stark akzentuiert worden, so daB ein hollandischer Reisender, der in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts durch Belgien reiste, sich dort durchaus nicht wohl fühlte und erst wieder ange- 14 nehmere Eindrücke hatte, als er nach Uberschreiten der belgischen Grenze in Frankreich angelangt war. Zwischen Holland und Belgien bestanden eben in religiöser, wirtscbaftlicher und kultureller Hinsicht tiefe Gegensatze. Die Belgier waren beinahe ausschliefilich katholisch, die Hollander protestantisch; die Haupteinnahmequelle der Belgier bildete die Industrie, die der Hollander der Handel, eine Verschiedenheit, welche durch die von den Generalstaaten der alten Republik Belgien gegenüber geführte Handelspolitik noch ganz besonders gefördert worden war. MaBnahmen, wie die bis 1793 aufrecht erhaltene SchlieBung der Schelde und manches andere, wodurch man Belgien möglichst niederzuhalten versuchte, waren natürlich nicht dazu angetan, die Belgier gegen Holland freundlich zu stimmen. Dazu kam, daB schon im 17. Jahrhundert die Gaüisierung der Flamen, besonders in den höheren Standen, eingesetzt hatte und in der napoleonischen Zeit sich stark ausdehnte. Es hatte schon einer Regierung mit ganz besonderen Fahigkeiten bedurft, um zwei so verschieden gearteten Vólkern das Leben im gemeinsamen Staatsverband mundgerecht zu machen. Aber daran fehlte es der Regierung König Willems I. ganz betrachtlich. Sie war sehr tatig und hatte allerlei gute Absichten, aber sie verkannte den Geist des belgischen Volkes in vieler Hinsicht, ohne dabei Holland ganz zufrieden zu stellen. Die erste ernsthafte Erschütterung, die Westeuropa nach 1815 erlebte, warf denn auch den schwachen Bau des Reiches der Siebzehn Niederlande übér den Haufen. Die Pariser Julirevolution schlug ganz von selbst nach Brüssel über und führte zur Trennung von Nord und Süd. Die Garantiemachte des Vertrages von 1815 sahen sie ruhig mit an, England ebenso wie Frankreich beförderten sie sogar. Die Angst vor einer Wiederholung des napoleonischen Abenteuers war 1830 verflogen, so dafi England das Bollwerk gegen Frankreich missen zu können glaubte. Statt dessen garantierten die fünf GroBmachte, als die Trennung sich endgültig vollzogen hatte, die belgische Neutralitat, wodurch man verhindern zu können hoffte, dafi Belgien von neuem für einen seiner Nachbarn als Ausfallspforte dien te. Holland beteüigte sich an dieser Garantie nicht. Jedoch garantierten die fünf Machte auch Holland die Aufrechterhaltung des belgisch-hollandischen Vertrages vom 19. 4. 1839, der die Bedingungen für die Trennung beider Lander und die Neutralitatserklarung Belgiens enthalt. Die Gebietstrennung fand auf der Basis der Zustande des Jahres 1792 statt: Holland bekam seine damaligen Grenzen wieder, mit EinschluB der Provinz Limburg, wie diese 1815 aus verachiedenen zum Teil zu Holland gehörigen Gebietsteilen gebildet worden war, und zwar als Kompensation für einen Teil des GroBherzogtums Luxemburg der an Belgien gegeben J) Dieser Teü Luxemburgs war 1815 König Willem I. für seine verlorenen nassauischen Lander in Deutschland abgetreten worden. Limburg nahm bis 1866 am Deutschen Bund teil. 15 wurde. Was die Schelde anbelangt, so wurde ausdrücklich Freiheit des Handelsverkehrs festgelegt, entsprechend den Bestimmungen des Wiener Kongresses über den Verkehr auf Flüssen, die durch mehrere Lander fliefien. Nach dem Frieden von Münster ist dieser in London unterzeichnete Vertrag der wichtigste, den Holland je geschlossen hat. Er sanktionierte im wahrsten Sinne des Wortes seinen Bestand in Europa, wie er sich im Laufe der Geschichte aus dem Kern der alten Republik und den davon abhangigen, nun völlig gleichberechtigten und assimilierten Gebieten konstituiert hatte. In diesem Landerkomplex hatte sich ein Volk mit einem eigenen Charakter und bedeutsamer historischer Tradition geformt, das nun von neuem auf sich selbst gestellt war und damit Gelegenheit zu neuem Blühen bekam. Holland hat sich nach 1840 nicht 'schnell entwickelt. Es kostete ihm Mühe, sich den neuen Verhaltnissen anzupassen und sich aus der tiefen Erniedrigung der Franzosenherrschaft aufzuraffen. Die alte Weltstellung war für immer dahin, und zuerst sah man traurig nach dem groBen 17. Jahrhundert zurück, neben dem die Gegen wart völlig zu versinken drohte. Erst ganz allmahlich gewöhnte man sich an die Tatsache, dafi Holland jetzt ein Kleinstaat inmitten der Grofimachte in der Nachbarschaft und in anderen Weltgegenden war. Nur langsam wurde man sich dessen bewufit, dafi man auch so eine in mancher Hinsicht sogar bedeutende Rolle spielen könne. Hatte man denn nicht sein groBes Kolonialreich behalten, konnte man nicht Künste und Wissenschaften pflegen, und blieben die Vorzüge von Hollands hervorragend gunstiger Lage in Westeuropa nicht nach wie vor dieselben? Es kann einem aufmerksamen Betrachter nicht viel Mühe kosten, die Spuren des alten Holland im modernen wiederzufinden. Er wird in erster Linie dieselbe groBe Freiheitsliebe konstatieren, die sich auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiet gleichm&Big in einem bis an Zuchtlosigkeit grenzenden Individualismus aufs starkste offenbart. Die alte politische „Freiheit" muBte zwar teilweise den neuen Bedürfnissen der Zentralisation unter der Souveranitat des Hauses Oranien weichen, blieb jedoch, den modernen Fofderungen entsprechend, in der Teilnahme der Bürger an der Staatsleitung, welche durch die liberale Verfassungsrevision von 1848 und auch spaterhin allmahlich in demokratischem Geiste ausgebaut wurde, und in der weitgehenden Selbstandigkeit der Provinzen und Gemeinden erhalten. Neben der Freiheitsliebe herrscht in Holland eine starke Friedensliebe, die die Meinung des Abbé de St. Pierre bestatigt, der schon 1713 schrieb *): „Après tout la ville de paix peut-elle jamais être mieux placée qu'au *) Zitiert bei J. ter Me uien, Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung (Haag, Martinus Nijhoff, 1917), S. 194. 16 milieu du peuple le plus paisible de tous les peuples et le plus intéressé de tous a la conservation de la paix?" Sieht man nun die Kontinuitat von Vergangenheit und Gegen wart in Holland? Bemerkt man, wie die verschiedenen Bestrebungen der beiden Parteien der alten Republik zusammengeflossen sind? Das'hollandische Volk des 19. Jahrhunderts akzeptierte ohne Widerstreben die Monarchie und die. Zentralisation, aber nicht minder die aller aggressiven Neigungen bare Auslandpolitik, der auch die Regenten seinerzeit im Prinzip gehuldigt hatten. Erkennt man auBérdem deuthch genug, wie sehr Holland in internationaler Hinsicht westlich orientiert geblieben ist ? Gerade die Tatsache, daB der liberale Staatsgedanke nach 1840 die Oberhand bekam, beweist das, denn der Liberalismus als Produkt jahrhundertelanger Entwicklung ist eine spezifische AuBerung westeuropaischer Kultur, die ihr Zentrum in England hat. In Deutschland hat der Liberalismus nie recht gedeihen wollen. In dieser liberal gesinnten Welt nahm Holland seit 1840 eine besondere Stellung ein. Der auslandische EinfluB auf das Werden des hollandischen Liberalismus ist zweifellos groB, aber Thorbecke, der gröBte hollandische Staatsmann des 19. Jahrhunderts, vermied bewult sklavische Nachahmung des Auslandes. Er suchte seine Anknüpfungspunkte in Holland selbst und entwickelte seine staatlichen Ideen ebensogut unter dem EinfluB der deutschen Philosophie, wie unter dem der liberalen englischen Staatsmanner. Niemanden verdankt Holland soviel für seinen Wiederaufbau, wie ihm. Im Laufe der reichlich 20 Jahre, wahrend deren Thorbecke auf der politischen Bühne Hollands eine sehr groBe Rolle spielte, kamen die Verfassung von 1848 und die wichtigen mit ihr zusammenhSngenden Gesetze zustande, huldigte man der Freihandelspolitik, begann die Anwendung der liberalen Prinzipien auf die Kolonialpolitik, wurden bedeutende Verkehrsverbesserungen ausgeführt und das Schulwesen ausgebaut. Das Zeitalter Thorbeckes bereitete Holland auf seine aktive Teilnahme an der modernen Völkergemeinschaft vor und führte es darin ein. Diese neue Phase der hollandischen Geschichte tritt erst nach 1870 deutlich in die Erscheinung. Dann aber baute man fleiBig auf den vorher gelegten Grundlagen weiter, wobei unzweifelhaft das neu gegründete deutsche Reich die Entwicklung, besonders in wirtschaftlicher Hinsicht, kraftig anregte. War Holland bis 1870 auf vielen Gebieten gegenüber anderen Landern zurückgeblieben, waB u. a. die relativ spate Anlage eines entsprechenden Eisenbahnnetzes und die kngsame Entwicklung der Dampfschiffahrt beweisen, so holte es nach 1870 seinen Rückstand groBenteils ein. Es nahm 1873 unter den seefahrenden Nationen die neunte Stelle ein — 1850, als die Segelschiffahrt noch überall überwog, die viertel — war jedoch 1910 an die achte Stelle gerückt und besaB damals 686 Seeschiffe, worunter 2 Japikse, Holland 17 283 Dampfschiffe, und auch spater machte es hierin deutliche Fortschritte. Für eine kleine Nation bedeutet ein derartiges Wachstum, inmitten des gewaltigen Aufblühens von Handel und Schiffahrt zwischen 1870 und 1910 auf der ganzen Welt, eine grofie Kraftentfaltung. Natürlich ist Hollands gegenwartige wirtschaftliche Position völlig anders, ails im 17. Jahrhundert. Damals stand die allgemeine Frachtschifffahrt an erster Stelle, heute dominiert der Verkehr zwischen den hollandischen Hafen, und besonders der Kolonialwarenhandel, der in den letzten 40 Jahren stark zugenommen hat, ist prozentual viel bedeutender als im 17. Jahrhundert. Mit anderen Worten, der Handel mit spezifisch hollandischen und hollandisch-indischen Produkten übertrifft nun im Gegensatz zum 17. Jahrhundert den mit den Produkten der ganzen übrigen Welt. In diesem Letzteren hat England Hollands frühere Rolle, allerdings unter ganz anderen Umstanden, übernommen. Die wichtigste Grundlage von Hollands wirtschaftlicher Existenz ist und muB immer der Handel sein. Seine geographische Lage und die Beschaffenheit seines Bodens, der an Rohstoffen für die Industrie arm ist, erklaren das zur Genüge. Trotzdem hat auch die Industrie wahrend der letzten Jahrzehnte erfreuhche Fortschritte zu verzeichnen. Die Textilindustrie, die besonders in Twente seit Beginn des 19. Jahrhunderts aus kleinen Anfangen allmahlich emporgewachsen ist, die Metallindustrie, die noch 1860 beinahe bedeutungslos war, und der Schiffbau haben ihre Anlagen betrachtlich ausgedehnt und modernisiert. Die Produktion von Bier, Schokolade und Kakao, von Zucker und Kartoffelmehl, der Zigarren- und Tabak-, der Stein- und Tonindustrie, nicht minder der Buchdruckerei stieg in erfreulicher Weise. Die Verbesserung der Verkehrsmittel, welche die auslandische Rohstoffzufuhr erleichterte, beseitigte teilweise die Schwierigkeiten für die Entwicklung der hollandischen Industrie. Die Landwirtschaft, die sich langsam modernisierte und inzwischen zuweilen ernste Krisen durchmachen mufite, stand in der letzten Zeit im allgemeinen in Blüte, ebenso die Fischerei, die ja von jeher eine der wichtigsten Quellen für Hollands Wohlfahrt und Reichtüm gewesen ist. Es ist ein lichtvolles Bild, das Hollands Wirtschaftsleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts bietet. Das moderne Wirtschaftssystem führte auch hier zu bedeutenden Konzentrationen an bestimmten Punkten des Landes, denen dann natürlich die wirtschaftliche Führung zufiel. Vor allem fallt die verwunderliche Entwicklung Rotterdams auf, die in erster Linie dem Auf- *) Siehe darüber: Beschrijving van Handel en Nijverheid in Nederland, zamengestellt onder leiding van Mr. J. C. A. Everwijn, in zwei Teilen und als dritten Teil, Historisch-economische Atlas, 's-Gravenhage, bij de N. V. Boekhandel voorheen Gebrs. Belinfante 1912. Ferner kann man mit Nutzen zurate ziehen: Jhr. mr. H. Smissaert, Nederland in den aanfang der twintigste eeuw, Leiden, A. W. Sijthoff's Uitgevers Maatschappij 1910. 18 blühen Deutschlands zu verdanken ist. Die Einwohnerzahl der Stadt stieg von 90ÓOO im Jahre 1849 auf heute etwa 500 0001). Die Tonnage der Rotterdam anlaufenden Schiffe betrug 1909 etwa 10 Millionen, in den ersten sieben Monaten des Jahres .1914, also bis kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges, sogar beinahe 8 h Millionen, war damit groBer als die von Antwerpen und erreichte beinahe die von Hamburg. Amsterdam, das im Gegensatz zu Rotterdam mehr Veïkaufsplatz, besonders für indische Produkte ist, sah seine Einwohnerzahl seit 1830 sich verdreifachen (von 200 000 auf 600000). In einem Industriezentrum, wie Twente, zeigte die stadtische Bévölkerung, besonders in Enschede, eine bedeutende Zunahme. Sehr stark ist auch der Haag gewachsen (von 40000 im Jahre 1813 auf heute 325 000), und zwar zum Teil durch die Erweiterung der Regierungsbüros, hauptsachlich aber infolge der allgemein steigenden Wohlfahrt, die Leuten aus allen Teilen des Landes erlaubte, sich in diesem Sammelplatz von Hollands Reichtum und Wohlleben niederzulassen. Die Residenz mit den zahlreichen Landhausern in ihrer Umgebung wurde eine der reichsteri Stadte Hollands. In ihr markierte sich gleichsam das gesteigerte Wohlfahrtsniveau, und im besonderen zeigen die vielen Rückwanderer aus Indien, die sich im Haag zur Ruhe setzten, daB ein sehr betrachtlicher Teil der neuen Reichtümer aus;den indischen Unternehmungen stammt. Mit dem wirtschaftlichen Wiederaufleben ging ein solches auf geistigem i Gebiete Hand in Hand. Die Malerei erlebte, am starksten in der Haager Schule der Gebrüder Maris und Jsraels, eine neue groBe Blütezeit, die beweist, daB die stark visuelle Veranlagung, die im 17. Jahrhundert so machtvoll in die Erscheinung getreten war, noch immer im hollandischen Volke lebt. Die Literatur, in der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Potgieter und Busken Huët wieder eigene Töne anschlugen, brachte es nach 1880 in den Werken von Van Deyssel (Alberdingh Thijm), Van Eeden und Couperus zu mehreren sehr bemerkenswerten Leistungen. Auch auf wissenschaftlichem Gebiet braucht Holland vor den groBen Vólkern nicht zurückzustehen. Besonders erfolgreich wurden die Naturwissenschaften gepflegt. Manner, wie Lorentz und Van 't Hoff, Kamerlingk Onnes und Bosscha wurden weit über die Grenzen ihres Vaterlandes hinaus bekannt. Indem sie ihre Wissenschaft selbstandig vorwarts brachten, bewiesen sie, daB es Dinge gibt, in denen auch ein kleines Volk wahrhaft groB sein kann. Im allgemeinen kann man aber nicht leugnen, dafi die Leistungen des hollandischen Volkes im 19. und 20. Jahrhundert nicht dieselbe Höhe erreicht haben, wie im 17., wenigstens relativ gesprochen; denn bei der gröfieren Breite der modernen Kulturentwicklung ist es besonders für ein kleines Volk sehr viel schwieriger geworden, etwas Eigenes zu produzieren. *) Bei einer Gesamtbevölkerung Hollands ron etwa 6| Millionen. 2* 19 Aber aucb ohne diese Einschrankung hat es den Anschein, als ob Holland noch nicht ganz den Rückstand eingeholt hat, in den es infolge der Langsamkeit seiner Entwicklung geraten war. Daran ist wohl die BedachtsamkeitMind die konservative Gesinnung des hollandischen Volkes schuld, das Neues nur zögernd aufnimmt, wie sich zum Beispiel in dem geringen Interesse deutlich zeigte, das man der Entwicklung der drahtlosen Telegraphie und des Flugwesens entgegenbrachte. Ahnlich empfangt man die modernen Wirtschaftsformen von Trust und Kartell mit einem gewissen Widerstreben, so daB sie bisher beinahe keinen Eingang finden konnten. Solche Dinge weisen deutlich auf einen Entwicklungsunterschied gegenüber Landern wie England und Amerika und ebehso gegenüber dem Holland des 17. Jahrhunderts, wahrend dessen die damals neuen Wirtschaftsformen der Genossenschaft und Compagnie mit Monopolrechten gerade in Holland besonders gepflegt wurden. Auch der verhaltnismaBig geringe Umfang der sozialdemokratischen Bewegung in Holland erklart sich ahnlich. Sie begann erst nach 1870, offenbar infolge der spaten kapitalistischen Entwicklung von Handel und Industrie, deren notwendige Begleiterscheinung die Arbeiterbewegung zu sein scheint. Multatuli, dessen Werke auch in Deutschland eifrig gelesen werden, ist der geistige Vater der hollandischen Arbeiterbewegung und hat auch auf die hollandischen Intellektuellen grofien EinffuB geübt. Domela Nieuwenhuis war, wenn nicht der Schöpfer, so doch der Leiter der ersten sozialistischen Organisation in Holland, des nach deutschem Vorbild geschaffenen sozialdemokratischen Bundes von 1882. 1894 érfolgte dann, wieder nach deutschem Muster, die Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (S. D. A. P.), die sich bestimmt für parlamentarische Mitarbeit erklarte und den Bund rasch verdrangte. Ist vielleicht das Ausbleiben jeder imperialistischen Strömung in Holland eine Folge der verbaltnismaBig geringen kapitalistischen Entwicklung? Man sagt ja immer, der Imperialismus sei eine notwendige Folgeerscheinung des Kapitalismus, eine Behauptung, die zweifellos etwas Wahres enthalt. Trotzdem mochten wir die eben gestellte Frage nicht mit „ja" beantworten, da wir überzeugt sind, daB das hollandische Volk von Natur keine imperialistischen Neigungen hat. Es ist vielmehr zufrieden mit seinem Besitz und hat auch im Laufe des 19. Jahrhunderts bei mehr als einer Gelegenheit gezeigt, dafi es durchaus friedliebend ist und in den Fragen der Auslandpolitik grundsatzlich eine neutrale Haltung einnimmt, wenigstens solange man seine' einmal erworbene und durch die Geschichte sanktionierte Position unangetastet lafit. Was Holland im indischen Archipel im Laufe der letzten Jahrzehnte zur Befestigung seiner Herrschaft getan hat, ist schwerlich als Imperialismus zu bezeichnen, da es sich hierbei keineswegs um Neuerwerbungen, sondern nur um Erhaltung von Besitz, auch im Interesse der dortigen Bévölkerung selbst, handelt. 20 Und doch stieg vor den Augen des hollandischen Volkes um die Wende des 19. Jahrhunderts die Vision einer neuen Sendung auf dem Gebiet der Auslandpolitik auf. Seit Grotius hatte ja Holland auf dem Gebiete des Völkerrechts einen Namen. Auf seinem Boden fanden neuerdings die Konferenzen zur Regelung des internationalen Privatrechts unter Leitupg des berühmten Rechtslehrers Asser statt, ebenso wie die sogenannten FMedenskonferenzen von 1899 und 1907. In der hollandischen Residenzstadt wurde das Friedenspalais erbaut. Van Vollenhoven empfahl dem hollandischen Volke in seiner Broschüre: „De Eendracht van het Land" ') an der Verwirklichung seines groBen Planes der Gründung einer internationalen Polizeimacht mitzuarbeiten. Derart war Hollands Position als der Weltkrieg ausbrach und auch dieses Land auf eine schwere Probe steilte a). b) Hollands Beziehungen mit den Nachbarstaaten vor dem Weltkrieg. Die Aufrechterhaltung guter Beziehungen mit den friedliebenden Bewohnern Hollands kann dessen Nachbarn nicht schwer fallen. Was könnte in normalen Zeiten zu Streit Veranlassung geben? Man muB doch allgemein anerkennen, dafi Holland ein Land mit einem eigenen Charakter geworden ist. Die groBen Nachbarn, England und Deutschland, müssen bei einigem Nachdenken sich sagen, daB ihre eigenen Interessen es verlangen, auf das kleine Holland Rücksicht zu nehmen, dessen vermittelnde Stellung ihnen sogar nützlich sein kann. Ein bis zur Nordsee reichendes Deutschland würde notwendigerweise mit England viel mehr Reibungspunkte haben, als jetzt, wo es von ihm durch eine kleinere Macht getrennt ist. Anscheinend haben die Regierungen der genannten Lander die Lage auch immer von diesem Standpunkt aus betrachtet, und in Holland selbst weifi man zur Genüge, daB in einem solchen Interessengleichgewicht die Grundlagen für die eigene Selbstandigkeit fest verankert sind. Tatsachlich waren Hollands Beziehungen zum Ausland dauernd freundschaftlicher Natur. Aufier einem Streit mit Venezuela und Schwierigkeiten mit Belgien wegen des Baues von Forts an der Schelde — worüber bald mehr zu sagen sein wird — kam es eigentlich mit keiner Macht zu Streitfragen von Bedeutung. Die jedes Jahr in der Thronrede sich wieder- *) 's-Gravenhage, Martinus Nijhoff 1913. 2) Für weiteres Studium der hollandischen Geschichte verweise ich auf P. J._ B lo k, ,, Geschiedenis van het Nederlandsche Volk" 2, acht Teile, Leiden, A. W. SijthofFs Uitgevers Maatschappij; auch in deutscher Übersetzung, Gotha, Friedrich Andreas Perthes A.-G. Eine kürzcre Zusammenfassung gibt: J. H Gosses und N. Japikse, Handboek tot de Staatkundige Geschiedenis van Nederland, 's-Gravenhage, Martinus Nijhoff, bisher fünf Lieferungen erschienen. 21 holende Erklarung über die guten Beziehungen zu den Machten entsprach durchaus den Tatsachen. Aber deshalb waren die Sympathien Hollands nicht nach jeder Seite gleich groB. Im allgemeinen kann man sagen, daB die Hollander, getreu ihrer historischen Tradition, mehr für den Westen als für den Osten fühlten. Die Beziehungen zu der Preufiischeh Monarchie, die wahrend des 19. Jahrhunderts im Osten Hollands Nachbar geworden war, waren korrekte; besonders nach der Regelung der Rheinschiffahrtsfrage durch den Vertrag von 1831, wobei Holland endlich seinen Widerstand gegen Preufiens Forderung, die freie Fahrt bis an die Küste auszudehnen, aufgegeben hatte, bestanden eigentlich kaum mehr Reibungsflachen. Die Lösung der Luxemburgischen Frage (1867), die mehr Hollands Königshaus, als Volk anging, hatte zur Folge, daB sich Limburgs Loslösung von dem neu gegründeten Norddeutschen Bund ohne Schwierigkeiten vollziehen konnte. Jedoch war das Verhaltnis zwischen Holland Und PreuBen nie ein herzliches, lange Zeit auch nicht die Beziehungen zwischen den Hausern Oranien und Hohenzollern, trotz mehrfacher Familienbande. Überwiegend kam bei den hollandischen AuBerungen über_Preufien eine gewisse Furcht vor der mehr und mehr wachsenden Macht des östlichen Nachbarn zum Ausdruck. Die Kriege von 1866 und 1870 trugen dazu wesentlich bei. Besonders der letztere machte in dein mit starken kulturellen Banden mit Frankreich verknüpften Holland einen sehr groBen Eindruck. An Stelle des politischen Vakuums, das im Osten so lange bestanden hatte, sah man sich ein groBes Reich bilden. Mit Schrecken nahm man die gewaltige Kraft wahr, die von der neuen deutschen Heeresmacht unter Preufiens Leitung ausging. Wo sollte das hinführen? Sehr bemerkenswerte Stimmen aufierten ihre Besorgnis vor der Zukunft und ihre Abneigung gegen die in Preufien herrschende Gewalttheqrie, seine autokratisch-monarchalen Prinzipien und seinen starken Staatsbegriff, als dessen Opfer man das deutsche Volk betrachtete. Die scharfsten Töne kamen von liberaler Seite, u. a. von dem Groninger Universitatsprofessor TeJIegen, der in einer beim Rektoratswechsel im Jahre 1870 gehaltenen Rede Autoritat und freie mit Selbstregierung verbundene Forschung einander gegenüberstellte, diesen Gegensatz mit den von deutsch und hollandisch als gleichbedeutend erklarte und offen vor Deutschland warnte, „das uns, wie man sich ausdrückt, unseren ureigenen Charakter wieder aufdrangen will." Eine andere liberale Autoritat, der Amsterdamer Hochlehrer Quack, sprach, obwohl minder gegen Deutschland eingenommen, seine Furcht vor dem „Recht der Eroberung" aus, das durch die GroBmacht in Mitteleuropa wieder als „Regierungsmaxime" angenommen worden sei, und sagte: „Preufien zeigt durch seine Taten, daB es erobern und nochmals erobern will". Aber auch der Führer der anti-revolutionaren Partei, Groen van Prinsterer, der im übrigen für das starke monarchische Prinzip mehr fühlte 22 als die Liberalen, zeigte sich sehr bestürzt und verurteilte leidenschaftiich den „modernen aber brutalen Imperialismus". Die Furcht legte sich nach 1870 immerhm èinigermafien. Man lernte einsehen, dafi die Konstituierung des deutschen Einheitsstaates nur die Erfüllung eines rechtmaBigen Wunsches des deutschen Volkes gewesen sei. Man sah auch, dafi Deutschland doch nicht solché Machtgelüste besaB, wie man vermutet hatte. In der Folgezeit entwickelten sich bedeutende Handelsbeziehungen, welche die mit anderen Nachbarlandern, auch die mit Belgien, weit übertrafen 1). Die wissenschafthchen Beziehungen, die wahrend des ganzen 19. Jahrhunderts dauernd an Bedeutung zunahmen, breiteten sich sehr aus. Das Verhaltnis zwischen den Fürstenhausern wurde wahrend der Regierung Wilhelms H, der mehrmals unverhohkn seine Sympathien für das Haus Oranien und besonders für die junge Königin "Wilhelmina zum Ausdruck brachte, ein herzliches, und die Verbindung durch die Heirat der Königin mit Herzog Heinrich von Mecklenburg noch enger geknüpft. Gegen allzu nahe Beziehungen erhoben .sich jedoch immer wieder Stimmen, zu denen das Auftreten und die AuBerungen der Alldeutschen seit 1890 nur zu oft Anlafi gaben. Diesen ist es zuzuschreiben, daB man sich in Holland nicht völlig darüber klar werden konnte, wessen man sich eigentlich von Deutschland zu versehen hatte. Hochfliegende AuBerungen in den von dem „Alldeutschen Verband" herausgegebenen Schriften riefen in Holland groBe Mifistimmung hervor, und es wirkte beunruhigend, dafi führende Manner der Wissenschaft mehr oder minder deutliche Wünsche nach einer Wiedervereinigung oder einem AnschluB Hollands bei dem alten Mutterlande aussprachen. So hat Treitschke, obwobl er früher einmal offen anerkannt hatte, „diese kleine Nation besteht mit einer selbst&ndigen Sprache, mit fester Eigenart und starkem Selbstgefühl, und für die Völker ist das Dasein gemeinhin schon das Recht des Daseins", doch spater eine wirtschaftliche Annaherung für erwünscht erklart, nicht minder, daB Deutschland über die Mündungen des deutschen Rheins èinigermafien mit zu bestimmen habe. Viel deutlicher auBerte sich Lamprecht im letzten Teil seiner Deutschen Geschichte, er halte es für notwendig, daB ein kleines Land, wie Holland, sich „in dem ungeheuren Widerstreit der modernen Expansionsstaaten" bei einer GroBmacht anschlieBen müsse, auch seines Kolonialbesitzes wegen. Er sprach dabei die Hoffnung aus, diese Wahl Hollands möchte auf Deutschland fallen. Das ware eine Wahl „würdig dem Adel seiner Abstammung und der GröBe seiner Vergangenheit!" Es erschien ihm eigentlich ganz selbstverstandlich, dak die „kleinen, gleichsam halbdeutschen Trabanten", wozu er so freundhch war auch Holland zu x) lm Jahre 1910 betrug der Handelsumsatz mit Deutschland 28513416519 kg der mit Belgien 4959660454 kg und der mit England 4813049816' kg. 23 rechnen, für das Deutsche Reich Partei nahmen, das fortschreiten werde „in Wei ten, die wir ahnen!" Solche Ansichten, wie Lamprecht sie aussprach, blieben in Holland nicht ganz ohne Echo. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man, sicher unter dem Einflufi der immer bedrohhcher werdenden Weltkonstellation, einige hollandische Stimmen hören, die ein Bündnis mit Deutschland anrieten. Besonders unter Publizisten und Staatsmannern konservativer Richtung waren sie zu vernehmen, und wahrend der Ministerprasidentschaft des bekannten antirevolutionairen Staatsmanns Kuyper (1901 bis 1905) lief mehr als ein Gerucht über angeblich von seiten der Regierung wegen Anschlusses bei den Mittelmachten geführte Unterhandlungen, Gerüöhte, die nie deutlich weder bestatigt noch dementiert worden sind 1). England beurteilte man in Holland anders als Deutschland. Die Hollander erinnerten sich sehr wohl ihrer groBen Kriege mit England, sie fanden sich jedoch gröfitenteils mit dessen maritimer und kolonialer Superioritat ab, um so mehr als ihnen genügend bekannt war, dafi Holland nicht durch Waffengewalt überwunden worden ist, sondern dafi England eben infolge seiner gröfieren Machtmittel und reicheren Hilfsquellen schlieBlich in friedlichem Wetteifer den Vorrang behielt. So peinlich auch die Behandlung, die England der gröfitenteils hollandischen Burenbevölkerung in Südafrika wahrend des 19. Jahrhunderts zuteil werden liefi, in Holland berührte, so stark auch die Entrüstung aufflammte, als die Burenrepubliken 1899 angegriffen und schliefilifeh dem britischen Reich einverleibt wurden, auch solchen Ereignissen gegenüber behielt der ruhig überlegende Verstand die Oberhand. Man mufite sich eben mit dem Gedanken beruhigen, daB es für ein kleines Land allzu gefahrlich, wenn nicht unmöglich sei, bei solchen Ereignissen wirklich eine Rolle zu spielen. Gefühlsargumente fallen nun einmal bei der auswartigen Politik so gut wie gar nicht in die Wagschale. Im grofien ganzen ist nicht zu leugnen, daB das englische Weltreich den Hohandern genügend Bewegungsfreiheit lieB und ihnen, wenigstens in Friedenszeiten, keine Hindernisse in den Weg legte. Es ist dabei sicher zu bedauern, dafi die althollandische, auch von England einst angenommene Politik des freien Verkehrs zur See von diesem aufgegeben wurde. Holland ist sich in dieser Hinsicht treu geblieben und hat alle Versuche zugunsten einer freisinnigen Regelung des internationalen Seerechtes nach besten Kraften unterstützt. Man weiB jedoch, daB in England derartige *) Eine gründliche Studie über die holliindisch-deutschen Beziehungen besteht bisher nicht. Man benutze J. A. van Hamel, Nederland tusschen de mogendheden, Amsterdam, van Holkema & Mfarendorf, 1918, Seite 414—428. Ferner N. Japikse, Staatskundige Geschiedenis van Nederland van 1887 tot 1917, Leiden, A. W. Sijthoff's Uitgevers Maatschappij, 1918, besonders Seite 314ff. P. J. Blok in der Zeitschrift „Onze Eeuw", V, Teil I, Seite 418—437. H. A. Ritter, Historische Betrekkingen tusschen Nederland en Duitschland, Baarn, Hollandia Drukkerij, 1918. 24 Verauche, wie sie in der Londoner Deklaration von 1909 und in dem Vertragsentwurf der zweiten Friedenskonferenz über ein internationale» Prisengericht niedergelegt worden, auf lebhaften Widerstand stiefien. Aufiergewöhnlich herzbch kann man die englisch-hollandischen Beziehungen nicht gerade nennen. Auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet waren sie wahrend des letzten Jahrhunderts lange nicht so zahlreich, wie die mif Deutschland und Frankreich. Die Handelsbeziehungen wurdeu durch die mit Deutschland weit übertroffen. Aber dem Gesamtverhaltnis zu England liegt eine historisch gewordene Interessengemeinschaft, die sich auch auf die Koloniën erstreckt, zugrunde, wie sie Holland mit keinem anderen Land verbindet. In Holland herrscht die feste Überzeugung, England könne niemals dulden, daB Hollands Platz in Europa oder im indischen Archipel je von einer GroBmacht eingenommen wird, es werde also immer gezwungen sein, für Hollands Selbstandigkeit einzutreten. Andererseits hat der Grundsatz, daB sich in dem Tiefland an der Nordsee keine GroBmacht festsetzen dürfe, in England traditionelle Geltung, und ist die EinfluBsphare Hollands im indischen Archipel durch England seit langem (1824) ausdrücklich anerkannt. Unter solchen Verhaltnissen bestand vor dem Kriege in Holland nicht die geringste Neigung zu einem engeien AnschluB bei England und das letztere, das auf dem Festiande keinerlei imperialistische Ziele verfolgte, hat auf einen derartigen AnschluB nie, zum mindesten nicht mit Nachdruck, hingearbeitet. Aus nichts ist besser ersichtiich, daB der Wunsch nach Selbstandigkeit ein integrierender Bestandteil der hollandischen Auslandpolitik geworden ist, als aus Hollands Beziehungen zu Belgien. Auch sie waren, nachdem die MiBstimmung über den Aufstand von 1830 sich zu legen begonnen hatte, sehr korrekt. Zwischen den Flamen, die zum Teil unter den Einflufi der flamischen Bewegung kamen, und den Hollandern entwickelten sich ziemlich enge' Beziehungen. Aber im allgemeinen kann man nicht leugnen, daB die Belgier und Hollander einander fremd geblieben sind. Die Aufierung eines belgischen Finanzministers, der 1906 sagte, kaum irgendwo anders gebe es zwei so völlig voneinander getrennte Nachbarvölker, enthalt einen Kern von Wahrheit. Die historische Entwicklung, wie wir sie kennen gelernt haben, erklart sie zur Genüge. Die einmal vorhandenen Verschiedenheiten blieben eben bestehen, um so mehr, als der belgische Staat als Ganzes sich stark nach Süden orientierte. Es kam jedoch mit Belgien nie zu Streitfragen von BedeutuDg, obwohl solche in nuce sehr wohl vorhanden waren, namlich in den Wünschen einiger Belgier nach Mitbestimmungsrecht über die Scheldemündung und Annektion von 'Zeelandisch - Flandern und Limburg. Immerhin wurden solche Absichten vor dem Kriege nie offen ausgesprochen oder fanden wenigstens in Holland keine Beachtung. Auch an 25 öfteren Annaherungsversuchen in der einen oder anderen Form fehlte es von belgischer Seite nicht, besonders in Zeiten, wo der polifische "Himmel Europas durch drohende Kriegswolken verdunkelt war. Aber in Holland zeigte man nie 'Lust, auf derartige Anerbietungen einzugehen. Belgien war eben bei einer evtl. europaischen Katastrophe am starksten bedroht, und Holland, das doch auch mit seinen Kolonialinteressen zu rechnen hatte, würde durch ein Bündnis mit Belgien die Gefahr, angegriffen zu werden, nur vergröfiert haben. Man war nun einmal von Belgien getrennt und zog es ganz allgemèin vor, die Trennung aufrecht zu erhalten. Eine ebenfalls mehrmals versuchte wirtschaftliche Annaherung stiefi auf die groBe Schwierigkeit, daB Holland Fréihandelspolitik trieb, wahrend Belgien seiner Industrie willen dem Schutzzollsystem anhing. Zu ausgedehnten und vielseitigen Betrachtungen über die beiderseitigen Interessen kam es im Jahre 1905 und zwar auf Grund von Vorschlagen, die von dem Brüsseler Journalisten Eugène Baie und einer Gruppe wallonischer Journalisten und Advokaten ausgingen. Auch jetzt wieder schenkte man den Einwanden gegen solche Vorschlage in Holland besondere Beachtung, empfing und untersuchte diese jedoch sehr bereitwillig. Es kam schlieBlich zum Zusammentritt einér nichtoffiziellen belgisch-hollandischen Untersuchungskommission, deren Tatigkeit jedoch nur ein sehr beschranktes Programm zur Basis hatte und auch da noch zu keinem greifbaren Resultat führte. Das sagt genug. WahrscheirJich ist dieses negativo Ergebnis eine Folge davon, dafi die hollandischen und belgischen Mitglieder dieser Kommission von ganz verschiedenen Überzeugungen ausgingen. Es ist auch schwerlich zu bezweifeln, daB die Baiekampagne zum mindesten unter französisch-englischem EinfluB gestanden hat, wenn sie nicht von dieser Seite überhaupt inszeniert worden ist. Sie ware also als ein Glied der Ententepolitik jener Jahre anzusehen, die eine Verstarkung der Position der Entente auf dem Festlande zum Ziele hatte. Man weiB jedoch zu wenig über diese Ententepolitik, als daB man diese Frage wirklich bestimmt beantworten könnte. • Als feststehend kann man jedoch betrachten, daB die Entente ernstliche Vèrsuche zu einer engeren Verbindung mit Belgien und Holland gemacht hat. Beide sind darauf nicht eingegangen, und zwar hat Holland die dargebotene Hand entschiedener abgewiesen als Belgien. Soviel kann man nach meiner Ansicht aus den von den Deutschen wahrend des Krieges in Belgien gefundenen und publizierten Dokumenten aus dén Jahren 1906 bis 1911 schlieBen. Weitergehende Schlüsse auf die Haltung Belgiens können aus ihnen nach meinem Ermessen nicht gezogen werden. DaB schlieBlich Belgien der Entente naher stand als Holland, beweisen die Vorfalle anlaBlich des von der hollandischen Regierung eingebrachten Gesetzentwurfes zur Anlage von Befestigungen an der Schelde. Dieser Gesetzentwurf des Jahres 1910, der eine bessere Verteidigung der Scheldemündung 26 im Falie einer Gefahrdung der hollandischen Neutralitat bezweckte und nur einen Teil eines Planes zur Verbesserung der ganzen hollandischen Küstenverteidigung ausmachte, erregte auf seiten der Entente ebenso wie in Belgien einen Sturm der Entrüstung. Es hieB, der Plan sei von Deutschland eingegeben, Holland habe hier im Auftrage des deutschen Kaisers gehdndelt. Liest man die AuBerungen der Presse, besonders der französischen, übeif diese Angelegenheit heute nach, so fühlt man sich durch den Ton getroffen, mit dem wir jetzt allerdings .sehr bekannt geworden sind. Es handelt sich hier um ein Vorspiel der Pressehetze der Kriegszeit. Nur die deutschen Blatter zeigten eine ruhigere Auffassung der Sache, als sie das in spateren Jahren vielleicht getan hatten. Es bedarf hier keines Beweises, daB die hollandische Regierung in dieser Angelegenheit völlig selbstandig handelte, wie sie ja auch trotz alles Larmens ruhig ihren Weg fortsetzte. Der, wie es scheint, aus Gründen der inneren Politik beschnittene Gesetzentwurf wurde im Jahre 1913 durch die Generalstaaten angenommen und mit dem Bau des Forts von Vlissingen sofort begonnen. Niemand widersetzte sich schlieBlich. Es war ja auch unzweifelbaft Hollands Recht, so zu handeln, da es das Souveranitatsrecht über die Schelde besitzt. Die Nachwirkung dieser Geschehnisse wird uns aber bei der Besprechung von Hollands Position im Weltkrieg deutlich sichtbar werden x). c) Innerpolitische Verhaltnisse Hollands. Um Hollands Geschichte wahrend des Weltkrieges zu begreifen, muB man auch mit den Parteiverhaltnissen des Landes vertraut sein. Sie sind ziemlich kompliziert und für den Ausl&nder nicht ganz leicht verstandlich. Sie werden durch eine zwiefache Scheideünie, eine kirchlichen und eine rein politischen Charakters, bestimmt. Beide Linien kreuzen einander, und das gerade ist die Ursache, warum das Bild des hollandischen Parteilebens leicht einen wirren Anblick bietet. Zu Anfang der Entwicklung des modernen Parteilebens in Holland, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, begegnen wir einer starken liberalen Partei unter der Führung Thorbeckes 2), und ihr gegenüber einer konservativen, die sich der Verfassungsrevision von 1848 widersetzte. Beide Parteien trennte eine entgegengesetzte Überzeugung über die Notwendigkeit der GröBe des Volkseinflusses auf die Regierung und über das MaB der Beschrankung der königlichen Macht. Neben beiden stand die antirevolutionare Partei, begründef von dem hervorragenden Groen van ') Über die belgisch-hollandischen Beziehungen wahrend des 19. Jahrhunderts vergleiche man Karl Hampe, 'Belgien und Holland vor dem Weltkrieg, Gotha 1918, Friedrich Andreas Perthes A.-G-. ') Vgl. darüber oben S. 17. ' 27 Prinsterer, der die Scheidung von Kirche und Staat und das irreligiöse Prinzip der französischen Revolution verwarf. Groen betrachtete sich mehr als Theologe denn als Staatsmann und hielt das Evangelium für den einzig ' richtigen Ausgangspunkt der Politik. Seine Partei war zuerst wenig einfluBreich, ebenso wie die der Katholiken, die seit 1795 Gleichberechtigung mit den anderen Staatsbürgern genossen, sich aber als politische Partei nur langsam entwickelten. Sie fühlten sich in dem neuen Leben noch nicht zu Hause und die Protestanten standen ihnen mit einem gewissen MiBtrauen gegenüber. Die alte Wunde war eben immer noch offen. Viele Katholiken unterstützten sogar die Liberalen, besonders in der Zeit nach 1853, dem Jahr der von protestantischer Seite inaugurierten Aprilbewegung, die sich gegen die Wiederherstellung der katholischen Hiërarchie in Holland richtete. ,A\v Nach 1870 erfuhr die Parteikonstellation wichtige Veranderungen. Die Konservativen verschwanden. Thorbeckes liberale Partei verlor durch innere Zwietracht über die weitere demokratische Entwicklung und durch Ausscheiden der Katholiken an Kraft. Unter dem Einflufi des Ultramontanismus, der in Holland besonders in der Person Schaepmanns seine Verkörperung fand, begannen die Kathokken sich bewuBt zu einer selbstandigen Partei zusammenzuschlieBen, die, ihren Prinzipien entsprechend, von selbst mit den Liberalen in Streit geriet. Dagegen vollzog sich eine Annaherung zwischen Katholiken und Antirevolutionaren. An die Spitze der letzteren trat nach Groens Tode Kuyper, der die Partei hervorragend zu führen und ihre Bedeutung rasch zu vergröBern verstand. Es war vor allem der gemeinsame Kampf gegen die neutrale Staatsschule und für den besonderen, das heiBt, auf kirchlicher Grundlage aufgebauten Unterricht, der Antirevolutionaire und Katholiken vereinigte. Beide Parteien betonten nun die kirchliche Scheidungslinie sehr stark. Aber auch die demokratische Entwicklung machte ihren EinfluB geltend^ Es kam 1887 ohne groBe Aufregung und nach Überwindung vieler Schwierigkeiten zu einer neuen Verfassungsrevision mafiigen Umfangs, die einem gröBeren Teil des Volkes Mitwirkung an der Regierung ermöglichte, indem sie das Wahlrecht nicht mehr ausschliefilich vom Zensus abhangig machte. Gleichzeitig verstandigten sich die Parteien, ohne daB jedoch eine Anderung des Artikels der Verfassung über das Unterrichtswesen stattfand, über die Zulassigkeit von staatlicher Subventionierung des besonderen Unterrichts, die von den Liberalen bisher verhindert worden war. Die Wirkungen der modernen wirtschaftlichen Entwicklung sieht man dann besonders seit 1887 deutlich werden. Die Sozialisten halten in den neunziger Jahpen ihren Einzug in die Kammer, und seit 1897 wachst die ADzahl der Kammermitglieder der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (S. D. A. P.) bestandig. Der Drang nach sozialer Gesetzgebung und allgemeinem Wahlrecht wurde starker und starker. Keine der bestehenden 28 Parteien konnte sich dem entziehen, die kirchlichen ebensowenig wie die liberalen. Bei den Antirevolutionaren kam es zu einer Scheidung in eine mehr demokratische und eine mehr konservative Gruppe. Die erstere unter Führung von A. F. de Savqrnin Lohmann nannte sich zuerst Freiantirevolutionare Partei und lebt fort als christlich-historische Union. Die bis dahin in der liberalen Union zusammengehaltenen Liberalen zerspjitterten sich noch starker. Auf dem einen Fliigel trennten sich die mehr konservativen Elemente, die sich schlieBlich in dem Bund der Freiliberalen vereinigten, auf dem anderen sonderten sich die radikalen Mitgüeder ab und stifteten dann den freisinnig demokratischen Bund. Nur die Katholiken blieben eine geschlossene Partei, obwohl sich auch bei ihnen zwei Strömungen geltend machten. Mit ihnen blieben dauernd die Antirevolutionaren Kuypers und die ChrisÜich-historischen Savornin Lohmanns in der „Koalition" vereinigt. In der praktischen Politik stehen dauernd zwei Fragen zur Debatte, die demokratische Entwicklung und der Wunsch der kirchlichen Parteien nach weiteren Vorteilen des besonderen gegenüber dem öffentlichen Unterricht oder eigenthch nach Gleichstellung beider vor dem Gesetz. , In den neunziger Jahren, wahrend deren die Liberalen noch meist die Mehrheit in den Generalstaaten besaBen, konnten die Demokraten einen Teil ihrer Wünsche durchsetzen. Es wurde ein neues System der Besteuerung, das Vermogen und Einkommen zu den wichtigsten Steuerquellen machte und mit einer Anzahl von Akzisen aufraumte, eingéführt und in der Folgezeit weiter ausgebaut. Eine neue verfassungsrechtiiche Bestimmung brachte eine betrachtliche Ausbreitung des Wahlrechts. Der von fortschrittlich liberaler Seite unternommene Versuch zur Einführung eines dem allgemeinen Wahlrecht sehr nahe kommenden Wahlrechts miBglückte jedoch. Kraftig wurde die Sozialgesetzgebung, mit der man sehr im Rückstand war, in die Hand genommen. Arbeiter-Unfallversicherung, Schulpflicht bis zum dreizehnten Lebensjahr und Wohnungsaufsicht wurden eingéführt. Schon früher waren Bestimmungen über Beschrankung der Frauenund Kinderarbeit in Fabriken erlassen worden. Nach 1900 sank der EinfluB der Liberalen stark. Von 1901—1905 und 1908—1913 regierte die „Koalition". In der ersten Periode, als Kuyper selbst Ministerprasident war, wurde ein erbitterter Streit für eine teilweise Anderung des Gesetzes über den Hochschulunterricht geführt, der unter anderem die rechtliche Gleichstellung der auf reformierter~Grundlage stehenden „freien" Universitat Amsterdam mit den Reichsuniversitaten zum Ziele hatte. Die Linke, das heiBt die verschiedenen kberalen Parteien und die Sozialdemokraten, bekampften den Entwurf, der bei der Rechten, also bei der Koalitionspartei, ziemlich allgemeine Unterstützung fand. Bei diesem Streit, der mit dem Sieg der Rechten endete, kam, die kirchliche Scheidungslinie deutlich zum Vorschein. Sie wurde von Kuyper in der 29 von ihm verteidigten Antithese eines fchristlichen und nichtchristlichen Volksteils akzentuiert. Die Heftigkeit, mit der Kuyper angriff, und die Leidenschaftlichkeit, mit der er bekampft wurde, konnten den Oedanken . erwecken, man stehe am Vorabend eines religiösen Bürgerkrieges. Kuyper wurde 1905 gestürzt und verlor unter fortwahrenden Angriffen von seiten seiner Gegner dauernd an Ansehen, auch infolge der wahrend seiner Amtszeit geübten Günstlingswirtschaft, die seine Praktiken in einem weniger erfreulichen Licht erscheinen lieB. Er ist zweifellos der bedeutendste hollandische Staatsmann der neueren Zeit, der nur wegen seiner Heftigkeit als Parteimann keinen so groBen EinfluB ausübte, wie man hatte erwarten können. Selbst einige seiner eigenen Parteigenossen wünschten nicht, daB er ein zweitesmal Minister würde. Das zweite der obengenannten Koahtionsministerien, dem eine Figur wie Kuyper fehlte, hatte keinen so forschen und prononzierten Charakter wie das erste. Sein Leiter war Heemskerk. Wahrend dieser zweiten Periode der Koalitionsregierung begannen sich die Grundlinien des Staatsaufbaues, der der Koalition vor Augen stand, allmahlich deutlicher abzuzeichnen. Das Ministerium reichte wichtige Sozialgesetzentwürfe ein, unter anderen über Arbeiterversicherung gegen die Folgen von Krankheit, Invaliditat und Alter. Diese Entwürfe, die durch deutsche Vorbilder stark; beeinfluBt waren, wurden nach langem Streit gerade vor dem Rücktritt des Kabinetts Gesetz. Ein anderer Gesetzentwurf zur Revision des Einund Ausfuhrzolltarifs in schutzzöllnerischem Geiste wurde ebenfalls der Kammer vorgelegt, kam aber nicht mehr zur Behandlung. Weiterhin wurden durch das Ministerium Heemskerk staatliche Subventionierung des privaten Mittelschulunterrichts möglich gemacht und eine Verfassungsrevision, in welcher die staatsrechtliehen Grundsatze der Koalition einigermaBen zum Ausdruck kamen, vorbereitet. Von einer demokratischen Wahlreform, auf die mehr und mehr gedrungen wurde, wollte das Ministerium jedoch nichts wissen. Die Richtung, die das Ministerium nahm, und die Bestrebungen, die es zu erkennen gab, hatten zur Folge, daB für die Wahlen zur zweiten Kammer im Jahr 1913 die kberalen Parteien sich in der sogenannten Konzentration zusammenschlossen. Mit Einsatz aller Krafte — denn man begriff sehr wohl, was auf dem Spiele stand, wenn die Regierungsdauer der Koalition verlangert wurde — errang die Konzentration im Bund mit den Sozialisten den Sieg. Die neu gewahlte Kammer bestand aus 10 Liberalen, 20 Unionsliberalen, 7 Freisinnig-Demokraten, 18 Sozialdemokraten 11 Antirevolutionaren, 8 Christlich-Historischen, 25 Katholiken und 1 Unabhangigen, der zur Rechten gehorte. Die Linke zahlte also 55, die Rechte J) Die Sozialdemokraten verloren allerdings bald 3 Sitze, 2 an die Unionsliberalen and 1 an die Christlich-Historischen. 30 45 Mitglieder. Die für einen parlamentarisch regierten Staat selbstverstandliche Folge war unter diesen Verhaltnissen, daB das Ministerium Heemskerk der Königin seine Entlassung anbot.- Die Aufgabe zur Bildung einer neuen Regierung ruhte nun auf der Linken, jedoch weigerten sich die Freisinnigen dessen, als deutlich wurde, daB die Sozialdemokraten sich an der Bildung des Ministeriums nicht beteiligen wollten, trotzdem ihr Führer, Troelstra, sich dazu. sehr wohl geneigt zeigte. Mit Recht hielt sich die Konzentration, die zusammen nur über 37 Sitze in der Kammer verfügte, zur Übernahme der Regierungsverantwortlichkeit nicht für verpflichtet. Infolge dieser Sachlage kam es zur Bildung eines sogenannten auBerparlamentarischen Ministeriums durch den Staatsrat Mr. P. W. A. Cort van der Linden. Der nicht eben glücklich gewahlte Name des Ministeriums soll andeuten, daB seine Mitglieder nicht zu einer der politischen Parteien gehörten oder dazu in enger Beziehung standen. Jedoch trug das Ministerium insofern eine liberale Signatur, als es sich die Verwesentlichung dessen, was bei den Wahlen deutlich als der Wille des Volkes zum Ausdruck gekommen war, zum Ziele setzte und deshalb ein Programm wahlte, das eine teilweise Verfassungsrevision enthielt, wodurch allgemeines Wahlrecht für Manner eingeführt werden sollte, eine Forderung, für die sich die Konzentration, wie natürlich auch die Sozialdemokraten, also die Kanrmermehrheit, ausgesprochen hatte. AuBerdem sollten die noch nicht eingeführten Sozialgesetze einer Revision unterworfen werden. In der Ausfuhrung dieses Programms wurde das Ministerium durch den Ausbruch des Weltkrieges behindert, der es vor sehr viel gröfiere Aufgaben steilte. Das Kabinett Cort van der Linden zahlte beim Ausbruch des Weltkrieges auBer dem Premier, der als Minister für Innere Angelegenheiten fungierte, folgende Mitglieder: Jhr. Dr. J. Loudon, Minister für Auswartige Angelegenheiten, Mr. B. Ort, Justizminister, J. J. Rambonnet, Marineminister, A. E. J. Bertiing, Finanzminister, Dr. C. Lely, Minister für Wasserbau, Mr. M. W. F Treub, Minister für Landbau, Handel und Gewerbe, N. Bosboom, Kriegsminister, Mr. Th. B. Pleyte, Kolonialminister. Überblicken wir unsere bisherigen Ausführungen, so sehen wir, dafi der hollandische Staat im Begriff war, sich zu einem demokratisch-parlamentarischen Staatswesen mit groBem Einflufi der zweitefc Kammer der Generalstaaten und beschrankter Königsmacht zu entwickeln, bei starker Anhanglichkeit allerdings des gröBten Teiles des Volkes an das Haus Oranien und im besonderen an Königin Wilhelmina, die ihre Aufgabe strikt 31 konstitutionéll-parlamentarisch auffaBt, daB ferner das hollandische Volk auf dem besten Wege war, sich eine bedeutende Sozialgesetzgebung zu schaffen, über die der parlamentarische Streit noch fortdauerte, und daB noch eine Reihe anderer Fragen der Lösung harrten. Die Arbeit in den Parlamenten ist langwierig und umstandlich, und besonders in Holland pflegt der parlamentarische Geschaftsgang alles weniger als rasch zu verlaufen. Man muB bei naherem Studium der hollandischen Parlamentsgeschichte in den letzten Jahrzehnten konstatieren, daB das Handeln über dem Reden recht oft zu kurz kam. Die im allgemeinen etwas langsame hollandische Volksart und der haufige Kabinettswechsel erklaren das zum guten Teil. Der letztere war eine Folge da von, daB keine der Parteigruppen dauernd das Übergewicht besaB, und diese deshalb abwechselnd die Regierung bildeten. Eine Angelegenheit, die vom Streit der Parteien nicht ganz unbeeinüuBt bleiben konnte, an der jedoch die meisten Parteien positiv mitarbeiteten, war nicht lange vor dem Kriege erledigt worden, namlich die Heeresreform, die an und für sich auch einen sprechenden Beweis für das langsame Arbeiten der parlamentarischen Maschine Hollands bietet. Erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts war man sich in Holland klar bewuBt geworden, daB die zunehmenden Rüstungen und Heeresvermehrungen in den grofien europaischen Staaten auch eine Verstarkung von Hollands Wehrmacht zur Folge haben müBten. Besonders der südafrikanische Burenkrieg hatte dieses BewuBtsein verstarkt. Bisher war nur immer ein kleiner Teil von Hollands wehrbarer Jugend zum Militardienst herangezogen worden, ja es bestand noch nicht einmal die persönliche Dienstpflicht, da jeder Dienstpflichtige einen Ersatzmann stellen konnte. Auch nach 1870 war der bisher bestehende Zustand nicht geandert worden, obwohl auf die Mangelhaftigkeit des Heeres öfter aufmerksam gemacht worden war. Nur das Verteidigungssystem Hollands erfuhr durch Schiep fung einer groBen Anzahl von Festungen und die Anlage der südhóllandischen Wasserlinie und der Stellung Amsterdam, in der die Landesverteidigung? konzentriert wurde, eine gründliche Anderung. Erst die Wehrvorlage von 1901 hat die Starke des hollandischen Heeres wesentlich vergröBert und unter Aufhebung der alten Schützenmiliz eine Landwehr geschaffen. Schon einige Jahre zuvor hatte man die persönliche Dienstpflicht eingeführt und das Stellen eines Ersatzmannes verboten. Die Bildung des Landsturms im Jahre 1912, der allein im Falie eines Krieges aufgerufen werden darf und so ziemlich die ganze mannliche Bévölkerung bis zum 40. Lebensjahr umfafit, erganzte die Heeresreformen weiterhin. Zugleich wurde das Heer — Aktivbestand und Landwehr — wesentlich verstarkt. Jahrlich wurden nun 23 000 Mann ausgehoben, und die Dienstpflichl für die unberittenen Formai ionen auf fünf, für die berittenen auf acht Jahre festgesetzt. Allgemeine Dienstpflicht bestand noch nicht. 32 So bekam Holland nicht lange vor Ausbruch des Krieges eine betrachtliche Starkung seiner Heeresmacht. Mit der Flotte war es weniger gut bestellt. Eine nicht unwesentliche Vergröfierung und Modernisierung hatte die Flotte mit dem Anbau einer Anzahl Panzerschiffe und Kreuzer in den neunziger Jahren erfahren. Aber nichts veraltet bei der schnellen Entwicklung der Technik rascher als moderne Kriegsschiffe, und für einen kleinen Staat ist es aufierst schwer, seine Marine auf der Höhe zu erhalten. Schon 1907 wurde der Gefechtswert der grofien Sehiffe der hollandischen Kriegsflotte denn auch nicht hoch angeschlagen. Verbesserungsversuche scheiterten jedoch an der Schwierigkeit, den neuen hohen Anforderungen mit den zur Verfügung stehenden beschrankten Mitteln Genüge zu tan. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, ob man, wenigstens für die Verteidigung von Holland, nicht mit dem Bau kleiner Sehiffe auskommen könne. Aber für Indien erschien das in keinem Falie angangig. Zur Untersuchung von Indiens Verteidigung zur See wurde 1912 eine Kommission ernannt, die in einem bedeutsamen Gutachten den Bau einer ziemlich starken Flotte für Indien anbefahl. Von ihren Planen war jedoch bei Ausbruch des Krieges noch nichts ausgeführt. Allen Beratungen Und Betrachtungen über Heer und Flotte lag, ganz in Übereinstimmung mit Hollands Position und Auslandspohtik, immer die Voraussetzung zugrunde, dafi nur den Bedürfhissen der Verteidigung und der Aufrechterhaltung der Neutralitat genügt werden müsse, was jedoch nicht verhindern konnte, dafi die Rüstungsausgaben betrachtlich anwuchsen und als drückend empfunden wurden. Parteiinteressen und pazifistische Strömungen machten sich geltend und verstarkten den Widerstand gegen militarische Ausgaben, so dafi nur langsam die dafür nötigen Geldmittel frei kamen. Trotzdem war 1914 eine wenn auch mühsam geschaffene Landmacht zur Verteidigung Hollands vorhanden, mit der das Ausland zu rechnen hatte und die damit ein bedeutender Faktor für Hollands Lage wahrend dés \\ eltkrieges geworden ist. § 2. Der Ausbruch des Weltkrieges a) Erste Eindrücke in Holland Über die Ursache des Weltkrieges soll hier nicht gesprochen werden. Das ist ein so kompliziertes Problem, dafi man darüber in kurzen Auseinandersetzungen hoehstens Allgemeinheiten sagen kann. Für mich ist der Weltkrieg das Resultat der machtigen wirtschaftlichen, politischen und nationalen Strömungen, die dem 19. Jahrhundert ihren Stempel aufgedrUckt haben und die durch die Stiftung des Deutschen Kaiserreichs sehr stark akzentuiert worden sind. Denn dieses Reich verlangte inmitten der starken Krafteentfaltung der anderen Weltmachte auch seinen Platz, und das mufite 3 Japikse, Holland ÓÓ in vielerlei Richtungen zu Reibungen und Zusammenstöfien führen. Hier die Verantwortlichkeit eines bestimmten Volkes oder einzelner Persönlichkeiten festzustellen, ist aufierst schwierig. Bei aller Anerkennung des Rechtes auf einen bedeutenden Platz in der Welt, der dem neuen Deutschland seiner wirtschaftlichen und kulturellen Wichtigkeit nach zukam, mufi man fragen, ob seine Regierung, besonders seit 1890, sich durch jenes weise Mafihalten beherrschen und leiten liefi, das einem in besonders schwieriger Position befindlichen Neuling zustand. Sicher haben gewisse Kreise in Deutschland, in erster Linie der „Alldeutsche Verband", diese Mafiigung völlig aus dem Auge verloren, eine Erscheinung, die Deutschland selbst enormen Schaden verursachte, was man dort jetzt sehr gut einsiehtso dafi ich hier kaum mehr darüber zu sprechen brauche. Damit soll aber durchaus nicht gesagt werden, dafi die deutsche Politik oder die erwahnten deutschen Kreise in erster Linie für den Ausbruch des Krieges verantwortlich sind. Auch die anderen GroBmachte und ebenso einige der kleineren hatten ihren Imperialismus und Chauvinismus, der alteren Datums war und daher weniger auffiel, als der deutsche. Besonders der russische Imperialismus ist, nicht zuletzt aus innerpolitischen Gründen, sicher nicht weniger skrupellos als der deutsche gewesen. Aber die Schuldfrage wird nicht entschieden durch die Konstatierung solcher Tatsachen. Ihr Grundproblem wird vielmebr erst berührt durch folgende Fragen: Ware der Ausbruch des Krieges zu vermeiden gewesen, wenn eine der Grofimachte im Jahre 1914 eine andere Politik geführt hatte? Hatte sich eine andere, als die verfolgte Politik, für ehle dieser Grofimachte mit Rücksicht auf die groBen Interessen, die für jede von ibnen auf dem Spiele standen, rechtfertigen lassen? Hatte im besonderen eine der Regierungen das Bewufitsein, dafi sie wohl anders handeln könnte, tat das aber nicht in der Erwagung, dafi für sie ein Krieg im gegebenen Augenblick vorteilhaft sein könne? Eine Untersuchung zur Beantwortung dieser scharf umrissenen Fragen müfite von einer Kommission durchgeführt werden, wie sie ja von verschiedenen Seiten gewünscht worden ist. Vielleicbt würde es ihr gelingen, eine befriedigende Antwort zu finden, vielléicht auch nicht. Für den Augenbliek erscheint es unmöglich, zu einer völlig genügenden Lösung zu kommen. Wohl darf ich ohne Zurückhaltung nach den österreichischen und deutschen aktenmafiig begründeten Publikationen 2) sagen, dafi die österreichische und deutsche Regierung viel schuldiger sind, als ich wahrend des Krieges anzunehmen geneigt war. Aber in einem Buch über Hollands Stellung wahrend des Weltkrieges brauche ich mich nicht mit der Besprechung solcher Fragen aufzuhalten, wenn ich mich auch verpflichtet fühlte, sie zu stellen, um meinen deut- *) Besonders in der gegen Ende des Krieges ersehienenen Wochenschrift „Deutsche Korrespondenz ". ') lm besonderen der von Groot! und Kautsky. 34 schen Lesern meine allgemeine Auffassung dieser Dinge kenntlich zu machen. Holland selbst ist ja an der Entstehung des Krieges ebenso unschuldig wie ein neugeborenes Kind, und hatte es an Holland gelegen, so ware die Weltkatastrophe sicher vermieden worden. Wenn über eine der mit der Entstehung des Krieges zuBammenhangenden Fragen Einstimmigkeit herrscht, so ist es über diese. Holland wurde durch den Krieg völlig überrascht. Natürlich wuflte man sehr wohl, dafi seit Jahren grofie Kriegsgefahr drohte, aber gerade die Tatsache, dafi man den Brand, immer wenn er auszubrechen drohte, wieder zu verhindern wufite, hatte die beruhigende Überzeugung verstarkt, dafi doch nicht mehr soviel Aussicht auf eine Weltkatastrophe bestehe. Man hatte sich so sehr an die bestehende europaische Lage gewöhnt, dafi man glaubte, sie sei für immer festgestellt. Ja, in Südosteuropa und in Ostasien mochte es noch hin und wieder Unruhe geben, aber im übrigen — machte man einander gern weiB — würde es nicht mehr dazu kommen. Sicher trug zur Entstehung solcher Vorstellungen die Tatsache bei, dafi man in Holland infolge aügemeiner Verhaltnisse und spezieller Entwicklung die grofien internationalen Strömungen nicht so stark mitlebte, als anderswo. Man daöhte in Holland, obwohl man den Lauf der Ereignisse mit Aufmerksamkeit verfolgte, sozüsagen nicht sehr international und schatzte die Gefahr der grofien Strömungen viel zu gering ein. Ich erinnere mich aus eigener Erfahrung, wie ich wahrend eines Aufenthaltes in Brüssel im Herbst 1912 gar nicht glauben wollte, daB es auf dem Balkan zum Krieg kommen würde, bis ich die Tatsache selbst konstatieren muBte, und wie die belgische Offentlichkeit einen viel richtigeren Bliek für die Entwicklung der Dinge hatte als ich. Diese Erinnerung ist mir immer geblieben, und ich glaube, dafi ich mit meinem Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit des Friedens typisch hollandisch dachte. Im allgemeinen darf man offen anerkennen, dafi Belgien die grofien internationalen Strömungen der neuesten Zeit viel intensiver mitgelebt hat als Holland. Noch in den Tagen nach Osterreichs Ultimatum an Serbien und selbst nach der österreichisehen Kriegserklarung an Serbien herrschte unter der hollandischen Bévölkerung sehr stark der optimistische Glaube, daB der Kampf lokalisiert bleiben werde. Ich mufi bekennen, daB ich diesen Optimismus damals nicht geteilt habe, erinnere mich jedoch, in verschiedenen Gesprachen bei anderen eine sehr viel ruhigere Auffassung der Lage bemerkt zu haben. Von mehr Bedeutung ist die Mitteilung des früheren Ministers Treub in seinem bekannten Buch über Eindrücke und Erinnerungen aus der Kriegszeit, dafi einer der fahigsten hollandischen Staatsmanner, der kein übertriebener Optimist und mit der Welt gut bekannt war, ihm noch wenige Tage vor Ausbruch des Krieges mit aller Bestimmtheit versicherte, „er habe die verschiedenen Nachrichten gut verfolgt und daraus den Schlufi gezogen, daB es mit der drohenden Kriegsgefahr wohl nichts werden 3* 85 würde" *). Es war gerade, als ob man es nieht glauben wollte, und doch wird man den Hollandern im allgemeinen wohl kaum Mangel an Realitatssinn vorwerfen können. Aber daB man dazu sollte kommen können, das unermeBliche Unheil und die schrecklichen Verwiistungen an Menschenleben und Kulturwerten, die ein Weltkrieg zur Folge haben muBte, auf die Welt loszulassen, das wollte einem nicht in den Sinn. Das scharfe Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien wurde ganz allgemein verurteilt *), obwohl man zugab, daB ersteres vor einer schwierigen Frage stand. Aber gleichzeitig konnte man sich die Möglichkeit nicht vorstellen, daB die Regierungen sich nicht bewufit sein sollten, alles ins Werk setzen zu müssen, um die Weltkatastrophe zu verhindern, Erwagungen, gegen die doch keine, wenn auch noch so wichtige Frage von nationalem Prestige aufkommen konnte. Waren die Regierungen von diesem BewuBtsein durchdrungen, so mufite doch auch der Krieg zu vermeiden sein! Selbstverstandlich war nachher die Enttauschung grofi. Sie war um so heftiger, je plötzlicher sie eintrat. Die wenigen Tage zwischen der Kriegserkiarung Österreich-Ungarns an Serbien (28. 7. 14) und dem Übergreifen des Brandes auf den gröBten Teil Europas heBen keine Zeit zu ruhigem Oberdenken. Für Holland waren die aufeinander folgenden Kriegserklarungen wie ebenso viele Blitze, die aus einer schweren Gewitterwolke niederfuhren, welche man mit der stillen Hoffnung hatte aufziehen sehen, sie möchte sich von selbst wieder verteilen. Vor. den Ereignissen hatte man den Eindruck der tiefsten Erschütterung. Er mufite bei der friedliebenden und antimüitaristischen Gesinnung des hollandischen Volkes um so starker sein3). Ein Buch wie das des Amsterdamer Hochschüllehrers Steinmetz über die Philosophie des Krieges *), worin dieser als heilbringend und auffrischend verteidigt wird, ist durch und durch unhollandisch. Damit wird das Buch als solches nicht verurteilt. Man darf ruhig anerkennen, daB Steinmetz die Realitat der uns umgebenden Welt besser durchschaut als die meisten Hollander, aber niemand wird zugeben, daB die in dem Werke vertretene Theorie, die kurz vor dem Kriege durch denselben Verfasser noch einmal in einem kurzen Artikel5) auseinandergeBetzt wurde, in Holland auch nur einigen Beifall von Bedeutung gefunden hat. Die Ereignisse riefen eine ahnliche Stimmung hervor, wie in anderen neutralen Landern. Sie war natürlich ganz anders, als in den Landern, *) Mr. M. W. F. Treub, Oorlogstijd, herinneringen en indrukken. HaarlemAmsterdam 1917, S. 4. g ') Siehe u. a. C. Easton, Jaren van strijd, Amsterdam 1917, besonders S. 7ff. °) Vergleiche darfiber oben 8. 17. *) Dr. S. Kudolf Steinmetz, Die Philosophie des Krieges, Natur- und Kulturphilosophische Bibliothek, Bd. 6, Verlag von J. A. Barth, Leipzig 1907. 6) Zeitschrift fiir Sozial-Wissenschaft, Mai-Juni 1914. 36 die am Krieg beteiligt waren. In Holland war keine Spur von Begeisterung, wenn auch der geordnete Aufmarsch der deutschen Massenheere hier und da, besonders bei den Milit&rs, Bewunderung erregte. Aber gerade daë, was in einigen der kriegführenden Lander Begeisterung weckte und was in Deutschland den Aufmarsch des ganzen Volkes möglich machte, so dafi man beim unaufhörlichen Rollen der Ëisenbahnzüge, „in den TaktBchlagen dieses ehernen Mechanismus unser eigenes Herzblut pulsieren spürte" 1), fehlte in Holland gröfitenteils. Wohl trat auch hier ebenso gut, wie in den kriegfuhrènden Landern, infolge des Beherrschtseins des ganzen Denkens durch die Kriegsvorstellungen eine BewuBtseinsyerengung ein. Diese psychologische Erscheinung führte hier einerseits zu AuBerungen von Angst, andererseits zu einer Starkung des nationalen Einheitsbewufitseins. Bei den breiten Volksmassen überwog die Angst, besonders wahrend der letzten Juli- und der ersten Augusttage. Sëhr stark war die Wirkung der Massenpsychologie. „Die Angst, das Wort und die Tat des Einen, schleppt den Andern mit, so dafi schlieBlich eine Strömung entsteht, die nicht mehr aufzuhalten ist2)." Was man in den kriegfuhrènden Landern als ansteckende Angst vor Spionage erlebte, auBerte sich in Holland als Furcht für den Besitz und das tagliche Brot. Treub gibt davon folgende lebendige Schilderung 3): „Land- und Gartenbauer wufiten nicht, wie es mit dem Absatz ihrer Produkte werden solle. Das war in solchem Mafie der Fall, dafi Gemüsezüchter ihre Tomatenstöcke ausrissen und auf den Misthaufen warfen, und kleine Bauern ihre Hühner und Schweine gegen jeden Preis verkauften. Handier fürchteten, ihre Wechselverpflichtungen nicht erfüllen zu können und riefen, im Wetteifer mit einer Anzahl kleiner Gewerbetreibender, nach einem Moratorium als Rettung aus der Not Hausmütter sahen schon die Tage, bommen, wo sie für ihre Familien nicht die nötigen Efiwaren würden bekommen können, und bestürmten die Kolonialwarengeschafte. Hausvater mit einigem Vermogen hoben ihre Depositen bei den Banken ab, denen sie bisher unbegrenztes Vertrauen geschenkt hatten, und suchten ihr Heil im Zusammenraffen und Verstecken möglichst groBer Mengen klingender Münze. Kleine Sparer bestürmten die Sparbanken." Besonders auf der Börse machte eich die allgemeine Erschütterung am 27. und 28. Juli geltend. Das ganze komplizierte internationale Geld ver kehrs- und Kreditwesen drohte zusammenzustürzen. Wohin sollten bei dem allgemeinen Kurssturz die Besitzer von Wechseln kommen ? Wer würde seinen Verpflichtungen noch langer nachkommen können? Es herrschte tiberall Verzweiflung, die sich in der Unmöglichkeit Geschafte abzuwickeln, aufierte, und unter dem EinfluB davon ging die Verwaltung *j F. Meinecke, Deutsche Erhebung von 1914, Suttgart u. Berlin 1914, S. 33. ') Zitat aus einem interesanten Feuilleton über diesen Gegenstand von R. Casimir im Nieuwe Rotterdamsche Courant, 16. 8. 1914, Morgenblatt A. ») a. a. O. S. 5. 37 der Amsterdamer Effektenbörse schon am 29. Juli zur SchlieBung der Börse über, nachdem sie darüber mit führenden Autoritaten auf dem Gebiete des Geld- und Bankwesens sich beraten hatte 1). Die allgemeine Angst brachte auch allerhand Halluzinationen zum Vorschein. Hellsichtige Leute redeten von Erscheinungen, die sie in der Luft beobachtet haben wollten. Feinhörige Personen vernahmen am spaten Abend des 31. Juli in Rotterdam Kanonenschüsse. Die Unruhe nahm durch derartige Geruchte nur noch zu. In' allen GroBstadten wurden die Kaufladen bestürmt und im Augenblick ausverkauft. Hausvater und -mütter und Dienstpersonal schleppten groBe Vorrate nach Hause. Goldgeld verschwand völlig, Silbergeld zum gröBten Teil aus dem Verkehr. Die Banknoten wurden militrauisch angesehen, und schlaue Spekulanten benutzten die Gelegenheit und boten beispielsweise fiir einen Zehnguldenschein 7 bis 8 Gulden an, womit manch einer, der den Kopf verloren hatte, noch besonders zufrieden sein zu müssen glaubte! Selbstverstandlich spielte die Furcht, Holland möchte in den Krieg hineingerissen werden, bei all dem eine grofie Rolle. Sie war besonders am 2. und 3. August auBerst gröB und wurde durch den Einmarsch der deutschen Truppen in Luxemburg und dann durch die Verletzung der belgischen Neutralitat, die in Holland einen sehr starken Eindruck machte 2), verstarkt. Am Morgen des 3. August, als das deutsche Ultimatum an Belgien bekannt wurde, herrschte selbst in den Kreisen der Kammermitglieder vielfach die Übcrzeugung, daB es nur noch eine Frage der Zeit, ja nur noch von einigen Stunden sei, daB Holland in den Strudel hineingerissen werde. Dieser Morgen wird für jeden, der ihn im Haag miterlebte, eine Erinnerung voll tiefster Besorgnisse sein. Wenn sich auch die Furcht vor dem AuBersten, das man erwartete, Gott sei Dank, nicht bewahrheitete, so hielt doch die heftige Unruhe noch -lange an. Aber es offenbarte sich auch ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und eine Neigung, sich gegenseitig zu helfen. Man wurde sich lebendiger, als im alltaglichen Leben, dessen bewuBt, daB eine nationale Einheit bestehe, und daB alle Hollander groBe gemeinschaftliche Interessen besaBen. Alles Trennende trat für den Augenblick in den Hintergrund. Man fühlte, daB Parteizwistigkeiten jetzt zu schweigen hatten, und die religiösen Gegensatze wurden als minder wichtig empfunden. Das Heer, das bisher in Holland nie sehr popular gewesen war, wurde plötzlich mit anderen Augen angesehen, und die Stimmung gegenüber den Soldaten schlug offensichtlich *) Der Beschlufi wurde auf einer Versammlung im Kontor der Nederlandsehe Handei-Maatschappij gefaBt, die auf Einladung der Vereinigung fiir den EfFektenhandel zusammengekommen war. Vgl. Jahresbericht der Nederlandsehe Handel-Maatschappij von 1914. 2) Siehe hierüber Naheres in § 3. 38 um. Aufrufe um Gaben für die Mobilisierten fanden williges Gehör. Es regnete Zigarren, Zeitungen und Schokolade. Die Opferwilligkeit kam in vielerlei Hinsicht zum Ausdruck. Viele traten als Freiwillige ins Heer ein. Dem Roten Kreuz wurde das weitgehendste Interesse entgegengebracht. Das Allgemeine drangte eben das Persönliche zurück. Man wurde gewahr, daB persönliche Verluste nichts bedeuteten gegenüber den Opfern, die das allgemeine Wohl erforderte. Durch solche AuBerungen berührte sich, bei allerdings bedeutendem graduellem Unterschied, die Stimmung im neutralen Holland mit der in den kriegfuhrènden Landern. AuBerungen nationalen Einheitsbewufitseins, das durch die sehr glücklich zu Ruhe und Nachdenken mahnende Grofipresse genahrt wurde, zeigten sich auch im Zusammenwirken von Regierung und Generalstaaten, die sich beide in diesen Tagen der Spannung von ihrer besten Seite zeigten. Sie trugen reichlich dazu bei, daB die Unruhe nicht zur Panik ausartete, ja, in ihren argsten Symptomen sehr bald eine Verminderung zeigte und auf die Dauer einer ruhigeren, von groBem Vertrauen in die Regierung beherrschten Stimmung Platz machte. b) Die ersten Mafinahmen der Regierung Man muB offen anerkennen, daB die hollandische Regierung im Juli und August 1914 groBe Entschlossenheit und Weitblick für die an sie gestellten Forderungen an den Tag gelegt hat. Sie zeigte sich den auBerst schwierigen Aufgaben, vor denen sie stand, im allgemeinen gewachsen. In erster Linie hat sie sehr rechtzeitig dié nötigen militarischen Mafinahmen getroffen. Schon am 30. Juli, gleichzeitig mit ihrer ersten Neutralitatserklarung für den Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien1), rief die Regierung einen Teil der Landwehr, namlich soweit sie zum Grenzund Küstenschutz und zu den Bewachungsformationen gehorte, unter die Wafien. Auch wurde an diesem Tage Kriegsschiffen oder mit ihnen gleichstehenden Fahrzeugen fremder Machte verboten, sich, aufier in bestimmten Fallen, wie Not, Seegefahr oder Havarie, von der offenen See in die hollandische territoriale Zone oder die hinter derselben liegenden hollandischen Gewasser zu begeben, bzw. sich darin aufzuhalten. Das geschah mit Rücksicht auf die bedrohliche allgemeine Lage. Am folgenden Tag beschlofi die Regierung — wie damals gerüchtweise verlautete, auf Grund von Spionageberichten aus Deutschland — die allgemeine Mobilisation. Holland war nach dem Ausbruch des österreichisch-serbischen Krieges von allen Machten die erste, die dazu überging. Mittags um ^2 Uhr unterzeichoete Königin Wilhelmina die Mobilisationsorder: „Alle Soldaten und *) Den offiziellen Text der hollandischen Neutralitatserklarung findet man u. a. in dem Recueil de diverses Communications du Ministre des Affaires Etrangères aux Etats-Généraux (La Haye, Martinus Nijhoff, 1916), p. 1. 39 Landwehrmanner haben söfort einzurücken". Die Königin entschied auBerdem, dafi Kriegsgefahr im Sinne von Artikel 186 der Verfassung1) bestehe. Damit traten die Bestimmungen, welche für den Fall von Kriegsgefahr in den Landesgesetzen vorgesehen sind, in Wirkung, u. a. über Emquartierung, Verpflegung von Militar und Requisitionen für Heerestransporte und -lieferungen und für Instandsetzung von Verteidigungswerken. Ferner wurde am 31. Juli eine Mafiregel von weitgehender Bedeutung getroffen. Der Generalstabschef, Generalleutnant C. J. Snijders, wurde durch Königlichen Beschluii mit dem Titel eines Generals zum Oberbefehlshaber der Land- und Seemacht ernannt. Seine Instruktion, die kürzlich bekannt gegeben wurde?), verlieh ihm weitgehendste Befugnisse: Unter 1 seinem Befehl standen alle Kommandanten der Land- und Seemacht. Nur deren administratives Verhaltnis zu den Ministeriumsdepartementen, zu deren Ressort sie gehörten, blieb bestehen. General Snijders besafi unbesfchrjinkte Befehlsgewalt über alle Streitkrafte des Reiches und war befugt, die bestehende Zusammenstellung und Einteilung des Heeres und der Seestreitkrafte nach Gutdünken zu andern. Er war für seine militarische Leitung und die Art und Weise seiner Befehlsführung der Regierung und nicht dem Kriegs- oder Marineminister verantwortlich. Ihm erteilte Befehle und Auftrage, die seine militarische Leitung betrafen, bedurften Komghcher Bestatigung und muBten die von der Verfassung geforderten Unterschriften. fragen. Der Oberbefehlshaber bestimmte das strategische Ziel der Operationen des Feldheeres oder einzelner Teile von Heer und Marine. Als die Kriegserklarungen der verschiedenen Machte bekannt wurden, beeilte sich die Regierung, ihnen gegenüber ihre Neutralitat zu erklaren. Die Mobilisation verlief in jeder Hinsicht gut. Schon am Abend des ersten Tages waren mehr als 90 Prozent der Aufgerufenen anwesend. Einzelheiten über die Art der Mobilisation wurden nicht bekannt gemacht, um alle mmtanschen Bewegungen geheim zu halten. Die Presse erhielt die Weisung zu schweigen und fügte sich ihr bereitwillig. Das Publikum muBte sich mit kurzen von der Heeresleitung herausgegebenen Berichten zufrieden geben und hat das bis jetzt getan, da eine authentische Mitteilung über den Verlauf der hollandischen Mobilisation noch nicht erschienen ist. So wurde z. B am 3. August von der Heeresleitung folgendes bekannt gegeben: „Wie aus den bei der Regierung eingegangenen Nachrichten hervorgeht, verlief die Mobilisation gunstig, auch was die Ausmusterung der Pferde anbelangt, so dafi man gestern fertig zu sein hoffte. Alle Dienstpfhchtigen sind eingerückt. Mit der Formation der Truppenkörper /} ^er betreffende Passus lautet: „Ob Kriegsgefafir in dem Sinne, in dem das vno- La°desgesetzen gebraucht wird, besteht, entscheidet der König". ) bitzungsberichte der zweiten Kammer der Generalstaaten 1918/19, S. 711 40 wird fortgefahren, so daB, wenn die Notwendigkeit eintritt, das Heer strategische Bewegungen vollziehen kann. Die Flotte ist seit gestern in Eriegsbereitschaft. Die Mobiüsation vollzog sich flott. Der Geist der Flottenbemannung lafit nichts zu wünschen übrig1)." Wirklich war das ganze mobilisierte niederlandische Heer, 203 657 Mann stark, in den angewiesenen Stellungen konzentriert, weil das Feldheer seineBeobachtungssteilung eingenommen hatte. Die Aufstellung der Truppen war, wie man spateren Mitteilungen entnehmen darf2), derart, daB man mit Hilfe guter Bahnverbindungen binnen kurzem eine Heeresmacht zusammenbringen konnte, wo man sie brauchte, entweder im Osten oder Südosten oder sonstwo; die Vorposten waren aufgestellt bis zur belgischen Grenze. Das Ganze bildete mit der Festung Holland im Hintergrund die überau» starke Defensivstellung Hollands. Nach dem Falie von Liittich wurde eine Division (18 Bataillone stark) mit der Kavallerie in Brabant konzentriert; siewar am 10. und 11. August schon an Ort und Stelle. Spater ist auch eine starke Heeresmacht in Seeland, bzw. Seelaudisch-Flandern, konzentriert worden. MaBnahmen waren getroffen, um die südhollandische Wasserlinie auch durch Inundation in Verteidigungszustand zu setzen, und die Forts wurden besetzt. Die Kriegsschiffe sah man geregelt ihre eintönigen Patrouillenfahrten langs der Küste machen. Über verschiedene militarische Stellungen wurde der Eriegszustand verkündet, ebenso in einzelnen Grenzgebieten der Belagerungszustand, wobei die Macht vollstandig in die Hande der militarischen Autoritaten gelegt wird3). Trug. das Bekanntwerden der militarischen MaBnahmen anfanglich zum Wachsen der -Unruhe bei, von der oben gesprochen worden ist, so hatten sie doch bald éine entgegengesetzte Wirkung. Sie verstarkten daa Vertrauen auf die Regierung und im allgemeinen auf die Möglichkeit wirksamer Verteidigung. Man muB der hollandischen Regierung jener Tage groBen Dank wissen, daB sie so durchgreifend und kaltblütig gehandelt hat. Es war ihr selbst ver standlich sehr wohl bekannt, daB die militarische Position des Landes ihre schwachen Punkte hatte4), besonders was das Geschützmaterial 5) und die Munitionsvorrate anbelangt. Es gereicht der Regierung- *) Siehe Nieuwe Eotterdamsche Courant, 3. 8. 1914, Morgenausgabe B. s) Siebe die Ausführungen des Generals van Terwisga im Nieuwe Rotterdamsche Courant, 12. u. 13. 9. 1919, Abendausgabe, und Kapitau „Ronduit", De Manoeuvre om Limburg (Sepafatabdruck aus dem Militaire Spectator, Aug. 1919). • a) Eine Aufzahlung dieser Gemeinden findet sich in den Dokumenten für die Wirtschaftliche Krisis Hollands wahrend der Kriegsgefahr, herausgegeben durch dieKënigliche Bibliothek im Haag, erste Serie S: 3—9, einem sehr nützliehen Samnrelwerk. 4) Das wurde anerkannt durch den Minister des Innern in seiner Rede vom 26. 1. 1915 (Sitzungsberichte der zweiten Kammer der Generalstaaten 1914/15, S. 614). 6) Zu Kriegsbeginn verfügte Holland über 204 Feldgeschütze und eine Abteilung mittlere Artillerie. Zur Vergleichung sei ewahnt, daB bei Kriegsbeginn ein deutsche» Armeekorps, also 40000 Mann, 144 Feldgeschütze und 16 schwere Haubitzenbatteriea 41 jedoch um so mehr zur Ehre, daB sie sich dadurch keinen Augenblick entmutigen lieB und tat, was in ihren Kraften stand. Besondere Bedeutung hatte dieses kraftige Auftreten mit Rücksicht auf die Kriegfuhrènden. Holland kam, so wie die Konstellation sich entwickelte, von allen neutral gebliebenen Machten Europas in die meistentblöfite Situation. Es war von Anfang an auf allen Seiten von den Kriegfuhrènden umringt. Deshalb muBte es einen möglichst bestimmten Eindruck seiner Bereitwiljigkeit zur Verteidigung seiner Neutralitat hervorzurufen suchen. Deutschland muBte überzeugt werden, daB eine evtl. englische Landung mit aller Kraft abgewehrt werden würde. TJmgekehrt muBten die Ententemachte, in erster Linie England, das BewuBtsein haben, daB man einem evtl. deutschen Einfall mit aller Energie entgegentreten würde. Tastete man auch im Ausland schwerlich im Dunkeln über den geringen Gefechtswert der hollandischen Flotte, so mochte man die Aussicht, eine Heeresmacht von ungefahr 203 000 Mann *) bei Beginn des Krieges gegen sich am Streit beteiligt zu sehen, nicht zu leicht nehmen. In dieser Hinsicht muBte von Hollands Scblagfertigkeit zu Land eine günstige praventive Wirkung ausgehen, was auch von mehr als einem Sachverstandigen offen anerkannt wurde. Selbst wenn eine der Parteien die Absicht gehabt hatte, Holland in den Kampf zu verwickeln, so würde sie sich bei Beobachtung der Bereitwilligkeit, mit der man in Holland zu den Waffen eilte, wohl zweimal besonnen haben. Trotzdem .nun eine solche Absicht nicht bestand, hatten die Kriegfuhrènden doch Hollands Rüstungen nötig, um vor einem Angriff des Gegners im Rücken sicher zu sein. Die Tatsachen entsprachen wirklich dem letzteren Fall. Jedem, der sehen wollte, wurde es bald deutlich, daB weder die Zentralmachte, noch die Entente die Absicht hatten, Holland zum Mittun zu zwingen. Das deutsche Heer vermied bei seinem Aufmarsch nach Belgien angstlich jede Verletzung des hollandischen Gebietes, so schwer ihm das auch wurde. Es drangte sich dicht langs der Südgrenze von Limburg durch die schmale Offnung, die zwischen dem Schufibereich der Kanonen von Lüttich und dieser Grenze übrig blieb, hindurch. Wo der Aufmarschweg über hollandisches Gebiet hef, wurde eine neue HeërstraBe angelegt, um dieses Gebiet zu vermeiden und doch den Aufmarsch nicht zu verzögern. Es gelang dem deutschen Heere, die hollandische Neutralitat völlig zu respektieren. Selbstverstandlich hat dieses Bemühen den deutschen Aufmarsch erschwert mitfiihrte! Vgl. K. Groeninx van Zoelen, De Amsterdamsche Geest ('sGravenhage, Boekhandel van Gbrs. Belinfante, 1917), S. 85, Anm. 1. *) So hoch belief sich bei Beginn des Krieges die Kopfzahl von Heer und Landwehr zusammen. Dabei mufite man noch mit 160000 Mann waffengeübten Landsturms recbnen. Die Anzahl der aufierhalb des Heeres stehenden unausgebildeten Wehrfahigen im Alter von 20—40 Jahren betrug 290000 Mann. Vel. Colijn in „Stemmen des Tijds" IV, 1915, S. 41. 42 und verzögert. Man darf darum sagen, daB Holland durch die schnelle Konzentration seines Heeres zur Verzögerung des Einbruchs in Belgien und Frankreich mit allen Konsequenzen, d. h. zur Niederlage Deutschlands in der entscheidenden Schlacht an der Marne, beigetragen hat1). Die vielen Geruchte, die in Frankreich und Belgien über eine Verletzung der hollandischen Neutralitat in Limburg umliefen, entbehrten jeden tatsachlichen Grundes. Die auf Befehl der hollandischen Regierung an Ort und Stelle gehaltenen Nachforschungen waren völÜg genügend, und man hatte AnlaB zu Unwillen, daB trotz der Resultate dieser Untersuchung, die ausfübrlich pubhziert wurden *), die diesbezüglichen Gerüchte sich so lange gehalten haben, ja, wie behauptet wird, auch jetzt noch nicht völlig verstummt sindl Die Haltung des deutschen Heeres war ganz im Einklang mit den Erklarungen der deutschen Regierung; denn der deutsche Gesandte, v. Muller, teilte dem hollandischen Minister des Auswartigen am 3. August mit: „Wenn Holland seine Neutralitat aufrechterhalte, so werde Deutschland dieselbe voll und ganz respektieren". Diese Erklarung wurde erst 1916 durch die hollandische Regierung veröffentlicht3); man konnte sie aber schon 1914 in den Mitteilungen des englischen Premierministers Asquith an das Unterhaus vom 4. August lesen, denen zufolge der deutsche Gesandte ihm u. a. gesagt hatte, die ehrliche Absicht der deutrofcen Regierung, sich jeder Annektion belgischen Bodens zu enthalten, werde bewiesen durch die Tatsache, daB sie ihr Wort gegeben habe, die hollandische Neutralitat zu achten. Deutschland sei praktisch nicht in der Lage, belgisches Gebiet zu annektieren, wenn es nicht auf Kosten Hollands dasselbe tun wolle 4). *) Siehe die schon erwahnten militarischen Erörterungen des Kapitan „Ronduit". ') Unter anderem in dem obengenannten Recueil, S. 50 ff. — Wie leicht derartige Gerüchte entstehen können, bezeugen auch die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch (Charlottenburg 1919), III, S. 147 (Nr. 677), und IV, S. 97 (Nr. 797). s) Infolge von aufs Entsehiedenste dementierten Geruchten über einen hollandischdeutschen Geheimvertrag (Sitzungsberichte der ersten Kammer der Generalstaaten 1915/16, S. 253). Der Auftrag zu dieser Erklarung findet sich jetzt in: Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch, III, S. 144 (Nr. 674); siehe auch ebenda II, S. 154 (Nr. 420), und IV, S. 42 (Nr. 797): „Wollen wir nicht", lautet eine Randbemerkung Wilhelms II. zu einem Telegramm des Gesandten im Haag, das sagte: „Die niederlandische Regierung vertraut unbediugt darauf, daB Deutschland seinerseits in keiner Weise die niederlandische Neutralitat verlètzen werde". — Die Tirpitzschen Mitteilung (Erinnerungen, S. 224), daB Jagow den Gedanken gehegt hatte, sofort Holland zu besetzen, falls sich England gegen Deutschland erklarte — als eine Art Drohung England gegenüber —, ist von Jagow öffentlich widersprochen worden (Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 31. 10. 1919, Morgenausgabe C). Der Gedanke ist wirklich zu dumm, um glaubhaft- zu sein. *) Die Erklarung Asquiths findet sich u. a. im" Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 5. 8. 1914, Morgenausgabe. Die Erklarung des Fürsten Lichnowsky geschah im Auf trage von v. Jagow (Englisches WeiBbuch, Miscellaneous Nr. 6, 1914, S. 77). 43 Die Entente hatte Holland gegenüber keine anderen Absichten als Deutschland. Sir Grey, spater Lord Grey, der Minister des Auswartigen, erklarte am 3. August ausdrücklich im Ünterhaus, dafi sich England voll und ganz bewuBt sei, welche Verpllichtungen den Machten ihr grofies Interesse an der Wahrung der Neutralitat, nicht nur Belgiens, sondern auch der anderen kiemen Staaten, wie Holland und Danemark, auferlege. „Diese kleinen Staaten wünschen nur eines, namlich in Ruhe gelassen zu werden, und fürchten nur eines, namlich ihre Unabhangigkeit möchte nicht erhalten bleiben". Diese Auffassung hat die Haltung der Entente gegenüber Holland von Anfang an bestimmt. Richtig ist, daB bei der Bévölkerung einiger Ententelander, besonders der Belgiens, eine gewisse MiBstimmung herrschte, weil Holland sich abseits hieltDiese MiBstimmung, die sich auch in der Behandlung einiger Hollander in Brüssel und Antwerpen auBerte, erklart, warum die obengenannten Gerüchte über eine Verletzung der hollandischen Neutralitat in Limburg so hartnackig geglaubt wurden. Es hat jedoch nicht den Anschein, als ob sie auf die Politik irgendeiner Regierung den mindesten EinfluB ausgeübt hatte. Die Beziehungen zu allen Kriegfuhrènden waren anfangs ganz korrekt. Das zeigt besonders deutlich ein Vorfall, der sich zwischen Holland und Belgien bezüglich der Schelde ereignete. Am Tage, nachdem Belgien in den Krieg hineingezogen worden war, teilte die hollandische Regierung der belgischen mit2), sie werde sich durch die gegenwartigen schwierigen TJmstande evtl. gezwungen sehen, auf der Schelde die Kriegsbetonnung auszulegen, das heiBt, einen Teil der gewöhnlichen Betonnung und der Leuchtzeichen zu beseitigen oder zu andern. Die Kriegsbetonnung gab die Möglichkeit, scheldeaufwarts zu fahren, um tagsüber Antwerpen zu erreichen, jedoch nur mit Hilfe hollandischer Lotsen und der nötigen Anweisungen für die Fahrt. Der Zugang zur Schelde zur Nachtzeit wurde verboten. „ Die Regierung der Königin ist davon überzeugt, daB sie durch ihre Handlungsweise den Interessen des hollandischen Staatsgebietes, wie denen der belgischen Schiffahrt nach Antwerpen Rechnung tragt." Mit dem 5. August trat diese Ankündigung in Kraft3). Sie wurde spater, infolge des Ersuchens der belgischen Regierung um nahere Erlauterung, noch naher prazisiert durch die Bemerkung, „daB die Schiffahrt auf der Schelde von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Dunkelheit sich vollziehen könne" *). Daraufhin telegraphierte die belgische Regierung am 7. August an ihren Gesandten im Haag, Baron Fallon: „Bitte der hollandischen Regierung im Namen der belgischen aufrichtig zu danken für die ') Naheres hierüber im § 9. ! '> ') Belgisches Graubuch (hollandische übersetzung), S. 39—40. Siehe noch den Anhang am Ende dieses Buches. 8) a. a. O. S. 57. *) a. a. O. S. 64. 44 MaBregel, die sie getroffen hat > urn die Schiffahrt auf der Schelde zu sichern"1). v>o$0& Es ist wohl der Mühe wert, diese AuBerung der belgischen Regierung festzulegen; denn dadurch erklarte sich Belgien einverstanden mit Hollands Haltung, die ganz deutlich zweifach begründet war, einmal durch den Vertrag von 1839 2) and ferner durch die Pflicht zur Aufrechterhaltung der Neutralitat, wie sie in einer der Abmacbungen der zweiten Friedenskonferenz von 1907 umschrieben wurde 3). Der Lauf der Ereignisse hat der hollandischen Regierung die Vertretung ihres Standpunktes erleichtert. Für den Fall, daB England nach der Bedrohung Belgiens durch Deutschland eine Flotte nach Antwerpen hatte senden wollen, um als Garantiemacht der belgischen Neutralitat diesem zur Hilfe zu kommen, ware es höchst zweifelhaft gewesen, ob man auf Grund des Vertrages von 1839 diese Durchfahrt hatte verhindern dürfen. Dadurch, daB England sehr bald am Kriege teilnahm, wurde diese Schwierigkeit vermieden. Denn einer kriegfuhrènden Macht muBte auf Grund des erwahnten Seeneutralitatsvertrages der Zugang nach Antwerpen untersagt werden. Es hatte bei einer anderen Wendung der Geschehnisse sogar der eigenartige Fall eintreten können, daB Holland auf Grund des Vertrages von 1839 eine Flotte von einer der Garantiemachte auf der Schelde durchfahren lieB und daB, noch bevor die Flotte die Grenze bei Bath passiert hatte, die Durchfahrt verhindert werden muBte, weil inzwischen die Garantiemacht, der die Flotte gehorte, ebenfalk in die Reihe der Kriegfuhrènden eingetreten war! Glücklicherweise blieb Holland jedoch vor einer solch gefahrlichen Konstellation und ihren bedenklichen Folgen verschont. Man braucht keinen Augen bliek daran zu zweifeln — und ich glaube, jeder Hollander ist davon völlig überzeugt —, dafi die hollandische Neutralitat in erster Linie deshalb in keiner Weise verletzt wurde, weil keiner der Kriegfuhrènden ein überwiegendes Interesse daran hatte, Holland in den Krieg hineinzuziehen. Wenn man, wie ich, anzunehmen geneigt ist, daB die deutsche Regierung, wenigstens anfangs, aufrichtig davon überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, dann konnte sie keinen einzigen Grund haben, die Zahl von Deütschlands Feinden zu vermehren oder die schon an und für sich lange Linie der Westfront noch um ein Stück zu verlangern. Eine Einmischung Hollands in den Krieg, die der Verletzung der Neutralitat zweifellos gefolgt ware, hatte eben bei der Flankenstellung des hollandischen Heeres dem deutschen Aufmarsch gegenüber zu auBerst schwierigen Konsequenzen für die deutsche Heeresleitung *) a. a. O. S. 65. *) Siehe hierüber oben S. 15. 8) Siehe z. B.: Overeenkomsten en verklaringen tusschen de mogendheden betreffende Oorlog, Arbitrage en Neutraliteit ('sGravenhage, Martinus Nijhoff, 1915)^ Nr. IX. 45 fuhren können. Es mufite ihr im Gegenteil viel angenehmer sein zu wissen, daB Hollands Neutralitat Deutschlands Flanke im Nordwesten deckte. Man braucht also, um die geradezu skrupulöse Berücksichtigung der hollandischen Neutralitat durch Deutschland zu erklaren, keineswegs die von Kaïser Wilhelm II. mehr als einmal bezeugten Sympathien für Komgin Wilhelmma in Bechnung zu bringen, wenn auch vielleicht im allgemeinen die von der deutschen Regierung dem hollandischen Nachbariand gegenüber angenommene Haltung von diesen Sympathien nicht ganz unbeemfluBt gebheben sein mag. Ti 11 Eb,ermoweni& wie Deutschland hatte die Entente ein Interesse daran, Holland zum Mitgehen zu zwingen. Von keiner der westlichen Ententemachte wird man vermuten wollen, daB sie um Gebietserweiterungen willen den Krieg führte, und es muBte, besonders für England, eine groBe tferahr bedeuten, Holland gegen sich zu haben und dann die hollandische Kuste fur Deutschlands Unternehmungen zur See verfiigbar zu wissen Auch nach dieser Seite war es also wünschenswerter, daB ein neutrales HoUand Englands Aussicht, angegriffen zu werden, verkleinern, mit anderen Worten, Hollands Neutralitat auch Englands Flanke decken half Ebenso hatte Belgien mindestens das gleiche Interesse daran, daB Holland als neutrale Macht an seiner Nordgrenze safi. Ware sonst die Stellung von Antwerpen nicht viel verwundbarer geworden? Tatsachlich trugen alle diese Umstande dazu bei, der hollandischen Regierung ihre Neutralitatspolitik zu erléichtern. Nur einmal wahrend der ersten Knegsmonate scheint es eine Schwierigkeit gegeben zu haben, wobei die hollandische Neutralitat und die Interessen der Ententemachte mitemander in Streit zu geraten drohten, namlich in der Frage des Verkehrs auf der Schelde. Obwohl namlich die belgische Regierung, wie wir gesehen haben, mit den durch Holland bezüglich der Schelde getroffenen MaBnahmen sich einverstanden erklart hatte, so hatte doch diese Angelegenheit damit noch nicht alle ihre Haken verloren. Besonders England scheint in dieser Frage die Auffassung der hollandischen Regierung nicht geteilt oder wenigstens nicht ganz gutgeheiBen zu haben. Indessen sind die Mütedungen dar über bisher noch so unvollstandig, daB wir üns hochstens ein undeutliches Bild der betreffenden Vorgange machen können Bekannt wurde darüber folgendes: In den ersten Augusttagen soli eme enghsche Flotte vor der Scheldemündung gelegen haben, mit der Absicht, nach Antwerpen einzufahren. Die hollandische Regierung soll jedoch dazu keine Erlaubnis gegeben haben, und es soll sogar ein „Ultimatum" notig gewesen sein, um England seinen Plan aufgeben zu lassen Etwas mehr erfuhr man von einem Konflikt, der etwas spater eintrat. v,2 ^eSel"Ui-t"Tt"m^' wird auch mit einem engl'8chen Plan zur Blockieruna der hollandischen Kuste in Zusammenhang gebracht (Groeninx van Zoelen a.a O., S. 30). 46 Am 2. September machte der englische Gesandte, Sir Allan Johnston, dem hollandischen Minister des Auswartigen von der Absicht der enghschen Regierung Mitteilung, eine Anzahl deutscher und österreichischer Sehiffe, die in Antwerpen in die Hande der belgischen Regierung gefallen waren, mit englischer Zivilbemannung nach England fahren zu lassen. Offenbar lieB die Bedrohung Antwerpens durch die Deutschen nach deren Einmarsch in Brüssel am 20. August dies ratsam erscheinen. Die hollandische Regierung gab jedoch eine abschlagige Antwort und begründete sie mit dem Hinweis darauf, daB die erwahnten Sehiffe infolge eines kriegerischen Aktes in belgischen Besitz gekommen seien, und daB ihre strikte Neutralitatspolitik ihr nicht gestatte, hollandisches Gebiet „fiir die Fortsetzung dieser Kriegshandlung (continuation de ce fait de guerre)" benutzen zu lassen. Wenn die Sehiffe auf hollandisches Gebiet kamen, wurden sie bis zum Ende des Krieges interniert und dann den rechtm&Bigen Ansprüchen gemaB über ihre Rückgabe entschieden werden. „La-dessus les bateaux sont restés en Belgique", endet lakonisch der diesbezügliche Bericht des hollandischen Orangebuches dem unsere Mitteilungen entnommen sind. Man hat sich damals in Holland viel über drohende englische MaBnahmen zur Erzwingung der Fahrt auf der Schelde erzahlt. Praktisch hat die englische Regierung sich mit Hollands Weigerung zufrieden gegeben, ohne jedoch wahrscheinlich die hollandische Auffassung juristisch zu der ihren zu machen. Es ist ohne weiteren Kommentar deutlich, daB es sich hierbei um eine verschiedene Auslegung der Frage handelte, wie" weit sich die freie Fahrt auf der Schelde „sous le rapport du commerce" ausdehnte, und in welcher rechtlichen Position die in Betracht kommenden Sehiffe sich befanden. Getreu ihrer Auffassung in dieser Frage lieB die, hollandische Regierung nach der Besetzung Antwerpens durch die Deutschen die deutsche Regierung wissen, daB sie auch jetzt die Ausfahrt der deutschen Sehiffe auf der Schelde nicht zulassen könne, da sie ja durch eine Kriegshandlung wieder in deutsche Hande gefallen seien2). Die deutsche Regierung scheint diesem Standpunkt auch formell nicht entgegengetreten zu sein. Jedoch zeigte sich diè hollandische Regierung, als England am 1. Oktober ersuchte, einem Hospitalschiff die Einfahrt nach Antwerpen zu gestatten, um Verwundete und Kranke an Bord zu nehmen und mit ihnen ') „Recueil", S. 170 ff. — Ausfuhrlicher in Oranjeboek, Dezember 1916 bis April 1918, S. 26 ff. 2) Gegenüber vielfach verbreiteten falschen Vorstellungen sei bemerkt, daB der Fall Antwerpens in keiner Hinsicht durch die Sachlage auf der Schelde verursacht worden ist. Es war ein Hilfskorps von 9000 englischen Soldaten in Antwerpen, und es wgre natürlich leicht möglich gewesen, wenn England dazu die Macht gehabt hatte, zeitig mehr als 100000 Soldaten auf anderem Wege als auf der Schelde nach Antwerpen zu senden. 47 «ach England zurückzukehren, dazu bereit. England gab die Versicherung, das Schiff werde weder Soldaten noch Kriegsmaterial mit sich führen. Der rasche Verlauf der kriegerischen Operationen, der zum Fall von Antwerpen führte, hatte zur Folge, daB von der gegebenen Erlaubnis kein ■öebrauch gemacht werden konnte. Im übrigen wurde die hollandische Neutralitat mit allen sich aus ihr ergebenden Auffassungen voll und ganz respektiert, auBer im Seekrieg, über den jedoch spater besonders gesprochen werden wird 1). Sie war in der Hauptsache passiver Natur-2). Aus nichts ist ersichtlich, daB Holland auf irgendeine Weise EinfluB auszuüben versuchte, um durch Anerbietung " von Vermittlungsdiensten oder derartiges den Krieg oder die Teilnahme irgendeines Landes an ihm zu verhindern. Jedoch lieB sich der hollandische Minister des Auswartigen dazu bereitfinden, am 9. Augutt 1914 dem belgischen Gesandten ein ihm vom deutschen Gesandten überhandigtes Angebot zu übermitteln3), in dem die deutsche Regierung nach dem Fall von Lüttich Belgien die Einstellung der Feindseligkeiten und den AbschluB einer Übereinkunft mit Deutschland zur Erwagung gab. Es handelte sich hierbei um den bekannten zweiten Versuch Deutschlands, Belgien unter .gewissen Bedingungen vom Krieg fernzuhalten. Loudon tat diesen Schrift, nachdem der amerikanische Diplomat, der mit der Vertretung Deutschlands in Brussel beauftragt war, zu verstenen gegeben hatte, keine Order aus Washington zu einer Intervention in deutschem Interesse erhalten zu haben. Er tat es „ohne Begeisterung" und „mit Rücksicht auf die Dringlichkeit der Sache". Fallon verhehlte seine Verwunderung über „diesen Vermittlungsversuch" nicht und übernahm die Übermittlung des Vorschlages an seine Regierung, „nur um dem hollandischen Minister des Auswartigen einen Gefallen zu erweisen". Die belgische Regierung wies den deutschen Vorschlag zurück, ebenso wie sie sich geweigert hatte, das in dem Ultimatum vom 2. August formulierte Angebot anzunehmen. Ihre abschlagige Antwort wurde auf ihre Bitte durch Loudon an v. Müller weitergegeben *). Von einem Vermittlungsversuch von seiten der hollandischen Regierung kann man hier natürlich nicht reden. Sie vollzog ohne irgendwelche Verbindlichkeit einfach einen Akt internationaler Höflichkeit, wie verschiedene neutrale Regierungen das getan haben, wenn sie gegenseitige Mitteilungen der kriegfuhrènden Machte weitergaben, nachdem deren diplomatische Beziehungen plötzlich abgebrochen waren. Ahnlich hat die hollandische Regierung Ende August die belgische Kriegserklarung an Österreich-Ungarn dem Gesandten dieser Macht im Haag übergeben5). ') Siehe § 4. *) Naheres darüber in t; 3. *) Belgisches Graubuch, S. 67 f. *) a. a. O., S 78 f. ') a. a. O., S. 82. 48 Die gleiche Kraft, wie in der rechtzeitigen Anordnung der nötigen militarischen MaBnahmen, zeigte die hollandische Regierung beim Ausbruch des Krieges auch in anderer Hinsicht. Sie bewies, daB man in Zeiten der Not die gewöhnlich umstandlich arbeitende parlamentarische Maschine Hollands zu raschem Gang antreiben kann. Treub beschreibt eingehend, wie ein Gesetzentwurf, der bei den Generalstaaten eingereicht werden muBte, vorbereitet wurde, und ich erlaube mir, seine Beschreibung als Illustration beizuf ügen*): „Es war mir sofbrt deutlich, daB das bestehende Enteignungsgesetz nicht genttgte, um die drohende Gefahr zu beschwören, sondern daB das nur durch eine Erweiterung dieses Gesetzes geschehen könne. Samstags morgens überlegte ich mir auf dem Weg zum Ministerium die dazu nötigen Hauptpunkte. Sofort nach meiner Ankunft auf dem Ministerium schrieb ich diese Punkte als Schema für einen Gesetzentwurf nieder und fügte eine kurze Begründung bei. Den Chef der Handelsabteilung beauftragte ich, meinem Entwurf die nötige Form zu geben und sich zu diesem Zweck nötigenfalls mit dem Ministerium des Innern und der Justiz zu beraten. Persönlich besprach ich die Angelegenheit mit Cort van der Linden, von dem der Entwurf als eine Erweiterung des Enteignungsgesetzes formell in erster Linie ausgehen muBte. Auf Grund der Bemerkungeh des Inlandund Justizministeriums wurde das Schriftstück, das gegen Mittag in seiner ersten Form fertig geworden war, soweit nötig, abgeandert und erganzt. Obwohl ich im Laufe des Nachmittags auch eine wichtige und sehr lange Xonferenz mit Finanzleuten zu halten hatte, war der Entwurf gegen 7 Uhr abends soweit gediehen, daB ich bei der Königin um eine Audienz bitten konnte, um ihn Ihrer Majestat vorzulegen Die Königin, die in diesen Tagen mit allen möglichen eiligen Geschaft en durch ihre verfassungsmaBigen Berater überschüttet wurde, hatte den Vorsitzenden des Ministerrates wissen lassen, daB alle Mitglieder des Kabinetts so oft um Audienz bitten könnten, als sie es bei dringenden Angelegenheiten für nötig hielten. Aufierdem hatte Ihre Majestat, um die Weiterbehandlung dringender Schriftstücke möglichst zu beschleunigen, dafür gesorgt, daB jederzeit ein Beamter ihres Kabinetts im Palais anwesend war. Obgleich an dem Entwurf fortwahrend gearbeitet worden war, wurde es doch ungelabr 9 Uhr abends, bis ich ihn in der für die Vorlage bei der Königin notwendigen Form nach dem Palais mitnehmen konnte. Als ich mit einigen Worten die Bedeutung des Entwurfes auseinandersetzte, sagte die Königin, es sei ihr gerade heute der Sturm auf die Kaufladen sehr aufgefallen, und sie bemerke mit Zufriedenheit, daB sofort MaBnahmen vorbereitet würden, um die sich daraus ergebenden Gefahren zu beschwören. Ihre Majestat ermachtigte mich, den Entwurf in ihrem Namen sofort *) In dem zitierten Buch S. 76 ff. •4 Japikse,' Holland 49 zur Beurteilung an den Staatsrat zu senden, und zeichnete vorlaufig das Exemplar, das ich zurücklieB, oben am Rande ab, damit der Direktor ihres Kabinetts ihr Ein verstandnis mit dem Entwurf ersehen könne. So arbeitete in jenen denkwürdigen Tagen die Königin an der Spitze der Regierung mit, um den Geschaftsgang zu beschleunigen, und wurden Formalitaten, die aufgehalten hatten, übergangen. Inzwischen war der Ministerrat seit 8 Uhr zur Behandlung verschiedener dringender Gegenstande versammelt, und waren in einem Raum des Justizministeriums einige Beamte dieses Departements und von den Ministerien für Landbau und Innere Angelegenheiten zusammengetreten, um den Entwurf noch eingehender an Hand der vom Staatsrat gemachten Anmerkungen zu bearbeiten. Nach meiner Ankunft auf dem Justizministerium, wo sich der Ministerrat zu versammeln pflegte, ging ich zuerst zum Zimmer des Generalsekretars. Hier erzahlten mir die Herren, die zum ebengenannten Zweck hier zusammengekommen waren, daB der Staatsrat bereits auseinandergegangen sei und am anderen Morgen neuerdings Sitzung halten werde. Da der Entwurf sehr dringlicher Natur war und, wenn irgend möglich, in der Kammersitzung am 3. August behandelt werden muBte, konnte ich diese Mitteilung nicht einfach zur Kenntnis nehmen. Telephonisch veranlaBte ich den ersten Beamten, dei' noch im Gebaude des Staatsrates anwesend war, dazu, dem stellvertretenden Vize -Vorsitzenden des Staatsrates (Herr Röell war kurz zuvor gestorben und ein neuer Vorsitzender noch nicht ernannt) mitzuteilen, daB ein ganz besonders dringlicher Gesetzentwurf eingekommen sei und die Regierung sehr groBen Wert darauf legen würde, wenn sie noch diesen Abend oder wahrend der Nacht das Gutachten des Staatsrates erhalten könnte. Der stellvertretende VizeVorsitzende zeigte sich bereit, die Sache zu unterstützen. Die Mitglieder des Staatsrates wurden sofort zu einer aufierordentlichen Sitzung einberufen und nachts um */» 1 Uhr oder 1 Uhr lief das Gutachten ein. Der Minister für Innere Angelegenheiten und der für Justiz waren mit mir im Sitzungssaal des Ministerrats geblieben, um den Entwurf auf Grund des erwarteten Gutachtens von neuem zu behandeln. Die obengenannten Beamten hatten ihn inzwischen noch einmal gründlich untersucht, sodaB die endgültige Fassung sofort festgestellt werden konnte, als das Gutachten des Staatsrates eingekommen war. So wurde es möglich, den Entwurf am folgenden Morgen der Kammer vorzulegen und rechtzeitig genug an die Mitglieder beider Kammern verteilen zu lassen, daB sie noch vor der am Montag, den 3. August, stattfindenden Kammersitzung von ihm Kenntnis nehmen konnten. Nachdem der Entwurf formell in den Abteilungen geprüft worden war, wurde er noch am gleichen Tage zusammen mit einigen anderen dringenden Gesetzentwürfen durch beide Kammern der General staaten angenommen und erschien nach Bestatigung durch die Königin am gleichen Abend im Staatsblatt. Schneller hat wohl nie ein Gesetzentwurf die Meta- 50 morphose vom ersten Stadium der Überlegung seines Inhaltes bis zu seiner Verkündigung als Gesetz durchgemacht." Die Sitzung der zweiten Kammer, in der dieser dringliche Gesetzentwurf mit einigen anderen vorgelegt wurde, war auf Montag, den 3. August, 11^ Uhr anberaumt. Sie war in ihrer Art ebenso denkwürdig, wie die in jenen Tagen gehaltenen Sitzungen der Parlamente ih den kriegfuhrènden Landern. Alle Minister waren anwesend und die Tribünen überfüllt. Der Patriotismus flammte machtig auf, wenn auch, der Natur der Dinge gemafi, jede AuBerung von Begeisterung unterblieb. Es herrschte vielmehr eine ernste Stimmung und das BewuBtsein für die Bedeutung des Momentes, den man miterlebte, was in den Beden des Kammervorsitzenden und des ersten Ministers zu Beginn der Sitzung zum Ausdruck gebracht wurde. Beide Redner mahnten die Parteien dringend zur Einigkeit Der erste Minister faBte die Stimmung, die alle beseelte, glücklich in folgende Worte1): „Seiten in der Geschichte erlebte die Menschheit solche Augenblicke, wie wir eben jetzt. Die Regierung könnte ihre schwere Verantwortung beinahe nicht tragen, wenn sie nicht sicher auf die Hilfe der Volksvertretung rechnen könnte. Wir stehen bereit in der festen Absicht, mit aller Kraft unsere Neutralitat und nötigenfalls unsere Unabhangigkeit aufrecht zu erhalten. Ergeben in Gottes Willen, erwarten wir entschlossen und kaltblütig, was die Zukunft uns bringen wird. Die Regierung rechnet auf die Generalstaaten, im festen Vertrauen, daB die Volksvertretung, vom gleichen Gedanken beseelt wie sie, sich über alles, was in gewöhnlichen Zeiten die Parteien trennt, erheben und mit ihr für Erhaltung und Einheit unseres teuren Vaterlandes zusammenarbeiten wird." Die Rede wurde mit lebhaftem und allgemeinem Beifall begrüBt. Gleich darauf ging die Kammer in den einzelnen Abteilungen zur Prüfung der eingegangenen Gesetzentwürfe über. Schon um '/«1 Uhr wurde die öffentliche Sitzung fortgesetzt. Der Griffier der Kammer las das Protokoll der Abteilungsdebatten vor, in dem nur konstatiert wurde, dafi es mit Rücksicht auf die ernsten Zeitumstande für erwünscht gehalten worden sei, sich aller Debatten zu enthalten, und in dem die Annahme der Gesetzentwürfe anempfohlen wurde. Das geschah denn auch ohne weitere Beratung und ohne persönliche Abstimmung. Bevor die Kammer auseinanderging, gaben einige der Fraktionsleiter der Sti mmung Ausdruck, die sie/ beseelte. Savomin Lobman sprach im Namen der christlich-historischen Union, Troelstra im Namen der Sozialisten, B_os für die Freisinnig-Demokraten. Allé traten sie für Zusammenarbeit ein. Der nationale Gedanke, so auBerte sich Troelstra, mufi jetzt vor dem Parteigedanken gehen, und er gab zu erkennen, daB er das auch *) Sitzungsbericbte der zweiten Kammer der Generalstaaten 1913/14. 4* 51 mit Rücksicht auf seine Parteigenossen im Heere sage. Savornin Lokman wies darauf hin, es sei nun Zeit, dafi alle sich um die Königin scharten, die geschworen habe, die UnabhSngigkeit des Landes zu wahren, und gezeigt habe, daB ihr diese Worte kein eitler Klang seien. Alle müfiten auf die Tapferkeit des Heeres und die Eintracht des Volkes vertrauen. In seinem SchluBwort konnte der erste Minister konstatieren, daB die Regierung nicht vergebens die Unterstützung der Generalstaaten angerufen habe, und daB man einsgesinnt den Wahlspruch des Königshauses: „ Ich werde f esthalten wahrmachen wolle. Das könne man sich auch im Ausland gesagt sein lassen. Eine Verletzung der Neutralitat werde durch die ganze Kammer mit einem Appell an die bewaffnete Macht beantwortet werden; In allen war das NationalbewuBtsein sehr lebendig geworden. Rührend wirkte es zu hören, wie Troelstra seine Zustimmung zu den Ausführungen Lohmans auBerte, der in gewöhnlichen Zeiten sein politischer Antipode war. Am Nachmittag dieses Tages kamen die Gesetzentwürfe bei der ersten Kammer in Behandlung, die sie im Umsehen abtat, und noch am gleichen Tage erschienen sie, durch die Königin bestatigt, im Staatsblatt und wurden damit zum Gesetz erhoben. Sie betrafen militarische MaBnahmen, namlich Bestimmungen über die weitere Indiensthaltung der zum Heere Eingezogenen, die Dienstdauer der wegen Kriegsgefahr einberufenen Dienstpfhchtigen, die Einziehung der Konskribierten des Jahrganges 1914 und der für das Jahr 1915 Vorgemerkten. Ferner enthielten sie finanzielle und wirtschaftliche MaBnahmen, wie die Genehmigung eines auBerordentlichen Kredites von 50 Millionen, Anderungen des Oktrois der hollandischen Bank, ein Supplement zum Enteignungsgesetz zur Verhütung von Preistreibereien und eine Anderung des Gesetzes vom 24. 7. 1870, wodurch die Regierung die Befugnis bekam, die Ausfuhr gewisser Güter aus dem ganzen Lande oder einzelnen Teilen desselben ganz oder teilweise zu verbieten. Der Zweck dieser Gesefze ist deudich. Es lag im militarischen und allgemein staatlichen Interesse zu verhindern, daB zuviel Vorrate über die Grenze gingen. Die Versuchung für die Kaufleute, mit hohem Gewinn an die Kriegfuhrènden zu verkaufen, war natürlich groB. Die Regierung bekam nun aber ein Mittel in die Hand, derartiges zu verhindern. Schon vor dem Inkrafttreten dos neuen Gesetzes wurden zu diesem Zwecke Ausfuhrverbote für Pferde, Heu, Stroh und Koks erlassen. Rasch folgten solche für einzelne Arten von Lebensmitteln; zuerst nur, um die Versorgung von Heer und Flotte sicher zu stellen, doch bald auch im Interesse der Zivilbevölkerung. In einzelnen Fallen konnten Austuhrkonsente verliehen werden. Gleichzeitig verfügte die Regierung nun über ein Mittel, um durch Enteignung gegen Entschadigung Güter an sich zu ziehen oder durch Feststellung von Maximumpreisen die Bévölkerung gegen die ungünstigen Wirkufigen allzu starker Nachfrage zu schützen und gleichzeitig dafür zu sorgen, daB nicht zu groBe Vorrate in einer Hand vereinigt wurden. Die 52 Spekulations- und Hamsterwat einer Anzahl Handier und vieler Privatleute IieBen ein derartiges Eingreifen der Regierung als notwendig erscheinen, soweit man auch dadurch von der herkömmlichen Auffassung über Handelsrreiheit sich entfernte. Drei Tage spater wurde ebenfalls sehr rasch ein dringlicher Gesetzentwurf erledigt. Er ermachtigte die Regierung zur Ausgabe von kleinem Papiergeld, sogenannter Silber-Bons, im Werte von Gulden 1.— 2 50 u 5 — um dem drohenden Mangel an kleineren Zahlungsmitteln zu steuern' Dié „YVarenars-Gewohnheit", wie Treub die allgemein herrschende Sucht zum ZusammenrafFen von Gold- und Silbergeld mit Anspielung auf eine Figur m einer bekannten hollandischen Komödie des 17. Jahrhunderts geistreich nannte, zwang zu dieser MaBregel. Von verschiedenen Seiten wurde auch aai ein Moratorium. angedrungen. Die Regierung hatte jedoch durchaus recht, wenn sie dem keine Folge leistete. Sie beeilte sich dagegen, aleich nach SchlieBung der Amsterdamer Börse mit führenden Mannern aus der Ümanzwelt über die für den Geldhandel im weitesten Sinne des Wortes noügen MaBnahmen zu konferieren. Das Resultat davon waren einmal -die konighchen Erlasse vom 30. Juli, wodurch die Goldausfuhr verboten und die Metalldeckung der hollandischen Bank für Banknoten auf i/6 vermindert wurde, so daB eine sehr viel umfangreichere Ausgabe von Banknoten möglich wurde, und ferner die Gründung einer Hilfskasse mit einem -Kapital von zweihundert Millionen Gulden, um Geldinstituten, Handelsluid Industrieunternehmungen gegen Bürgschaft flüssige Mittel zur Verfugung zu stellen. Die Gründung dieser Unterstützungskasse vollzog sich unter krafüger Mitwirkung der Regierung, der Niederlandichen Bank, der Handel-Maatschappij und anderer groBer Finanzinstitute. In der kurzen Sitzung der zweiten Kammer vom 6. August, auf der der (iesetzentwurf über die Ausgabe von Silberbons behandelt wurde war derselbe Geist der Einigkeit and Loyalitat aller Parteien gegenüber der Regierung zu bemerken wie drei Tage zuvor. Man atmete auch schon wieder etwas auf. Die beklemmende Angst vor einer Mitbeteiligung am Kriege hatte sich etwas vermindert. Troelstra, der die Regierung zur uneingeschr&nkien Aufrechterhaltung der Neutralitat beglückwünschte, scheute sich nicht, seine Sympathie für Belgiens heldenmütige Haltung offen auszusprechen. Bos schloB sich Troelstra an. So starke Sympathien für Belgien sich aber auch auBern mochten, so galt doch die Aufrechterhaltung der Neutralitat unter allen Umstanden für die erste Pflicht. Eine bessere ünterstützung ihrer Politik durch die Kammer konnte die Regierung gar nicht verlangen. •5*? P1"15*6 die Eegiernng ihre Bemühungen weiter ausdehnen. Sie begnff frühzeitig, daB sie sich an der Arbeitslosenfürsorge mitbeteiligen müsse. Zu diesem Zweck erfolgte die Gründung des Königlich-Nationalen Unterstützungs-Komitees. Es zahlt zu den glücklichsten Folgen der ersten 53 Kriegszeit und befriedigte das Bedürfnis nach einer allgemeinen Hilfsorganisation, die neben den vielen von selbst entstehenden örtlichen UnterstützungsEomitees notwendig wurde. Die Königin nahm an seiner Entstehung lebhaften Anteil. Ich erlaube mir, noch einmal ein Zitat aus Treubs Buch, der die Entstehungsgeschichte dieses Komitees ausführlich erzahlt, anzufiihren *): „Bei einer Audienz, die mir die Königin am Abend des 7. August zur Besprechung schon erfolgter und noch in Aussicht genommener wirtschaftlicher MaBnahmen verlieh, gab Ihre Majestat mir gegenüber ihrer Befürchtung Ausdruck, das gesonderte Auftreten der in der Bildung begriffenen örtlichen Komitees zur Linderung der infolge des Krieges entstandenen Not möchte zu Krafteverzettelung und einer unerwünschten Verschiedenartigkeit in der Behandlung der Bedürftigen führen. Um mit der nötigen Eile der spontan allerorts entstehenden Unterstützungsbewegung Emheit zu verleihen, hatte Ihre Majestat den Plan gefafit, sich selbst an die Spitze einer zentralen nationalen Unterstützungsorganisation zu stellen, und sie gab mir ihren Wunsch zu erkennen, mich mit dem Entwurf einer solchen Organisation zu beschaftigen. Schon wahrend der Audienz entwickelte ich darüber vorlaufig einige Ideen, die ich spater noch weiterhin überlegte. Da die Sache sehr eilig war, muBte ich dabei, wie so oft in den ersten Kriegswochen, nach dem Prinzip verfahren ,que la nuit porte conseil'." Treub hatte den Entwurf bald ausgearbeitet, und schon am 10. August konnte die Gründungssitzung des Komitees statcfinden, zu der etwa 60 Personen, gröBtenteils Vertreter geladener Vereinigungen, erschienen waren. Treub schildert ihren Beginn wie folgt: „Es war ein feierlicher Augenblick, als die Königin, die ohne Begleitung auf der Versammlung erschien, von mir in das Sitzungszimmer geleitet wurde. Alle Anwesenden empfanden die Wichtigkeit der Tatsache, daB die Königin in dieser Weise an einer Versammlung teilnahm, die eine Starkung und Vereinheitlichung der auf die Linderung der Kriegsnöte gerichteten Bestrebungen bezweckte, und durch ihre Gegenwart und ihre Worte die groBe Bedeutung des Ereignisses und den Ernst der Lage, in der man sich befand, unterstrich. Auch der Königin selbst konnte man es ansehen, daB sie unter dem Eindruck ihres unter solchen Umstanden und zu solchem Zweck stattfindenden prunklosen Erscheinens stand, das sie mitten unter eine Anzahl von Vertretern sehr verschiedenartiger Vereinigungen führte, die jedoch alle gemein hatten, an einer groBen Aktion für die Notleidenden mitwirken zu wollen." Dieser von Treub geschilderte Moment war tatsachlich einer der rührendsten wahrend der Ereignisse des August 1914, soweit sie auf Hol- >) a. a. O. S. 115 ff. 54 land Bezug hatten. Das Komitee hat eine sehr vielseitige und höchst jiutzliche Tatigkeit entfaltet. GroBe Beitrage von Privatleuten und Geselschaften ermöghchten ihm, seine Aufgabe in groBem Stil anzufassen. Es wahlte dazu den einfachen und praktischen Weg, nicht selbst Hilfe zu verleihen, sondern das durch Vermittlung der örtlichen Komitees zu tun. Dabei betonte es von Anfang an, dafi seine Unterstüteung keine Armenversorgung im gewöhnlichen Sinne des Wortes sei. Z. B. richtete man es so ein, daB die Unterstützungsgelder gum groBen Teil durch die Gewerkschaften ausbezahlt wurden, soweit die damit Bedachten ihnen angehörten. Die Bedeutung der Gewerkschaften nahm infolgedessen stark zu, was für die noch relativ junge hollandische Arbeiterbewegung höchst wichtig geworden ist. Das Komitee beschrankte seine Tatigkeit nicht auf die Verleihung finanzieller Hilfe in der Form von Zuschüssen zu den Löhnen, sondern machte sich sehr bald auch dadurch nützlich, daB es infolge von Kohlen- oder Rohstoffmangel stillstehende oder mit Stillstand bedrohte Betnebe wieder in Gang zu bringen versuchte, ein ganz vortreffliches Mittel ïndirekter Unterstützung, das nur allzuoft angewandt werden muBte, jedoch viel Elend verhüten half. AuBerdem stand das Komitee der Regierung in allerlei mit dem Kriegszustand zusammenhangenden Angelegenheiten mit seinem Rate zur Seite, besonders auch bei der Förderung einer guten Lebensmittelverteilung und bei Prüfung der schwierigen Frage, von welchen Produkten man die Ausfuhr gestatten oder verbieten solle, wobei natürlich auch zu erwagen war, inwieweit eine Notwendigkeit für die Ausfuhr bestimmter Artikel bestand, um dafiir andere, deren Holland* bedurfte, einzuiuhren1). Gleichzeitig wurde, ebenfalls mit Hilfe der Regierung, die Arbeitslosenversicherung energisch in die Hand genommen, wobei besonders die Dienste des schon früher konstituierten Arbeitslosenrates in Anspruch genommen wurden. Diente das Unterstützungs-Komitee in erster Linie den Interessen der wirtschaftiich Schwachsten, so blieb auch dem Mittelstand die nötige Hilfe der Regierung nicht versagt, und zwar geschah sie durch den so-genannten Mittelstandskredit. Derartige Kredite wurden durch die von pnvater Seite errichtete Allgemeine Hollandische Zentrale Mittelstandskreditbank, gegründet am 19. September 1914, verliehen. Sie genoB Regierungsbeihilfe. Auch sie arbeitete groBenteils ahnlich dezentrahsierend durch VermitÜung der schon bestenenden Mittelstandskreditbanken wie das Unterstützungs-Komitee. Die Mitwirkung der Regierung bestand u. a. in Verleihung von Bürgschaften für Kredite, die die Niederlandische Bank genehmigte. Jedoch war die Zentrale für Mittelstandskredit nicht mit soviel Erfolg tatig wie das Unterstützungs-Komitee. 1915 kam denn auch eine r « P ?fir w„eitere Besonderheiten der Arbeit der Kommission siehe Documenten I. Bene, S. 49 f. 55 Neuregelung zustande, die den Mittelstandskredit unter direkte Regierungskontrolle brachte. Unsere Übersicht über die RegierungsmaBnahmen wahrend der ersten Kriegszeit bedarf noch einer Erganzung. Holland stellt gröBere Mengen Milchprodukte her, als es selbst konsumieren kann. Dagegen ist seine Getreideproduktion durchaus ungenügend. Das ist schon seit dem spateren Mittelalter der Fall. Es war daher eine der wichtigsten Aufgaben, dafür zu sorgen, daB die Kornzufuhr aus dem Ausland regelmaBig fortging. Die im August in Holland befindlichen Vorrate waren nicht sehr groB. Mangel an Mais war zwar nicht zu befürchten, weshalb denn auch in den ersten Kriegszeiten dessen Ausfuhr noch zugestanden''wurde. Aber mit den Weizen vorraten war es schlecht bestellt. Eine am 20. August durch die Regierung angestellte Untersuchung ergab, daB die vorhandenen Vorrate für zwei, höchstens drei Wochen den normalen Verbrauch deckten1). Englands MaBnahmen zur See sahen nicht danach aus2), als ob die fernere Zufuhr unbehindert stattfinden könnte, im Gegenteil, diese hörte völlig auf. Infolgedessen sah sich die Regierung gezwungen, auf Grund der ihr durch das Gesetz vom 3. August verliehenen Befugnis alle in Lagerhausern und auf Schiffen vorhandenen Weizenvorrate zu beschlagnahmen, eine MaBnahme, die gewaltiges Aufsehen erregte, und auBerdem groBe Mengen Weizen im Ausland aufzukaufen. Dadurch glaubte man sich davor zu sichern, daB die englische Regierung der Einfuhr begründete Schwierigk'eiten in den Weg legen könnte, da sie doch annehmen muBte, daB das von der Regierung importierte Getreide nicht für Wiederausfuhr nach Deutschland bestimmt war. Die Mehlfabrikanten, an welche die Regierung das von ihr angekaufte Getreide gegen bestimmte, spater mehrmals erhöhte Preise lieferte, sollten das von ihnen fabrizierte Mehl ebenfalls zu festgesetzten Preisen an den Zwischenhandel liefern. Sie arbeiteten also im Dienste der Regierung, wahrend der Mehlverkauf durch die Zwischenhandler zunachst frei blieb. Am 23. September erfolgte jedoch schon die Gründung des Reichsbüros für die Verteilung von Getreide und Mehl. Diese Regelung hat ihren Zweck erfüllt und, wenigstens für den erBten Teil des Krieges, die Versorgung Hollands mit Weizen und Weizenmehl, so gut es ging, gewahrleistet. jS*** Es ist bekannt geworden, daB das im allgemeinen sehr glückliche Auftreten der Regierung in diesen Angelegenheiten zum gröfiten Teil der Tüchtigkeit und Energie zu verdanken war, mit der Treub als Minister für Landbau, Handel und Industrie sein Amt führte. Er begegnete den vielen Problemen, die der Krieg auf seinem Arbeitsgebiet steilte, sehr kraftig und wagte es, wirksam zu handeln, auch wenn sich daraus ein *) Scbilthuis,De nederlandsehe graanhandel en de oorlog, in Vragen des Tijds, 1915, II, S. 176. a) Siehe darüber § 4. 56 Bruch mit noch so vielen wirtschaftlichen Theorien ergab, denen Treub selbst bisher angehangen hatte. Wer hatte vor dem Krieg eine derartige Ausbreitung des staatlichen Eingreifens in derartigem Tempo für möglich oder erlaubt gehalten? Treub wurde wegen seiner eriergischen Haltung sogar „Diktator" genannt1); aber was kann man in solchen Zeiten ohne Persönlichkeiten ausrichten, die es wagen, in gutem Sinne Diktator zu sein ? Unter einer Leitung, wie die Regierung sie gab, konnte das hollandische Volk den kommenden schweren Tagen mit etwas mehr Ruhe entgegensehen. Tatsachlich hat das Auftreten der Regierung sehr viel dazu beigetragen, um die zu Anfang August entstandene Unruhe etwas zu besanftigen. Die Regierung verdiente das groBe Vertrauen, das sie in jenen Tagen genoB, voll und ganz. § 3. Art der niederlandischen Neutralitat. Stimmungen und Bestrebungen im Volke Wer unsere Übersicht - über die hollandische Geschichte gelesen hat, wird sich keinen Augenblick darüber wundern, daB Holland wahrend des Weltkrieges neutral geblieben ist. Es war das nur eine Folge der Tendenzen, die Hollands auswartige Politik seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts beherrscht haben 2). Kein einziger Vertrag verpflichtete zur Teilnahme an dem groBen Interessenkampf, der ausgebrochen war, auch Belgien gegenüber nicht. Kein einziges der hollandischen Lebensinteressen schien so stark gefahrdet, daB man deshalb sich dem Elend und Kummer des Krieges aussetzen zu müssen glaubte. Gefühlsmomente mochten sich dafür geltend machen, Belgien zur Hilfe zu eilen, sie haben jedoch in der hollandischen Politik nie den Ausschlag gegeben, so wenig wie das übrigens in der Auslandspolitik irgendeines Staates der Fall gewesen ist. Die hollandische Neutralitat war eine frei gewahlte und durch keine fremde Macht auferlegt. Deshalb war sie aber doch nicht vollstandig frei, sondern wurde bestimmt einmal durch die Kriegslage und zum anderen durch die auf der zweiten Friedenskonferenz festgestellte, von Holland mitunterzeichnete Ubereinkunft übér das Neutralitfitsrecht3). Ihr zufolge hat der neutrale Staat sich der Beteiligung am Kriege, in welchër Form auch, zu enthalten und für .die Unverletzlichkeit seines Gebietes nach allen Seiten gleicbmafiig Sorge zu tragen. Holland zeigte sich durch seine mili- *) Von C. Gerretson in einer Besprechung von Treubs öfter zitierten Buch in „Stemmen des Tijds", 1917, II, S. 179. 2) Siehe hierüber oben S. 16. *) Siehe „Overeenkomsten en Verklaringen" IX und XVIII. Juristischer Betrachtungen über die Neutralitat glaube ich mich hier enthalten zu können. Der Begriff ist sehr schwankend. Siehe u. a. Mr. J. Wijnveldt, Neutraüteitsrecht te land, Den Haag 1917, S. 14—25. 57 tarischen MaBnahmen zur Erfüllung dieser Verpflichtungen vorbereitet. Nur dadurch konnte es verhüten, daB es eine Verletzung der genannten Übereinkunft ungestraft dulden muBte und so durch eigene Schuld in den Krieg hineingezogen wurde. Dabei blieb die Frage offen, inwieweit die Kriegführenden selbst sich an diese und andere Vertrage balten würden. Bei Yertragsverletzung war Holland ipso facto nicht zum Eingreifen mit den Waffen verpflichtet; denn eine internationale Strafe für derartige Verletzungen war niemals festgestellt worden. Es hing also letzten Endes von den Auffassungen der hollandischen Regierung über diese Frage selbst ab, wann sie den Augenblick für gekommen hielt, um ihre Neutralitat mit den Waffen in der Hand zu verteidigen. Von welchem Grundsatz lieB sich nun die hollandische Regierung leiten bei der Feststellung ihrer Haltung in den vielerlei Fragen, die sich von selbst aus ihrem Verhaltnis zu den Kriegfuhrènden ergaben? Es fallt , nicht schwer, darauf auf Grund ihrer eigenen AuBerungen eine Antwort I zu geben. „L'impartialité est le trait distinctif de la neutralité." Mit jt diesen Worten drückte der Minister des AuBern einmal glücklich den Grund' gedanken aus, welcher für die Haltung der Regierung maBgebend war x). . Umstandlicher umschrieb Gort van der Linden diesen Gedanken in einem Interview mit einem amerikanischen Journalisten 2): „Das hollandische Volk strebt nach absoluter Neutralitat und sucht \-den Kern des internationalen .Rechtes zu retten, indem es die Krieg/führenden, die seinen Rechten oder Interessen zu nahe treten, an die v Richtiinien erinnert, die durch die besten und verantwortlichsten Rechtskenner der Welt kodifiziert worden sind." Damit wird übrigens auf einen sehr realen und bedeutsamen Nutzen der hollandischen Neutralitat hingewiesen, über den wir spater mehr zu sagen haben werden 3). Noch ausführlicher hat Cort van der Linden den Begriff der hollandischen Neutralitat in der Sitzung der zweiten Kammer am 26. Januar 1915 anlaBlich einer Debatte über eine militarische Angelegenheit umschrieben 4): „Die Kammer steht einstimmig hinter der Regierung mit der Forderung, daB die Neutralitat unêferes Landes bis zum AuBersten gewahrt werden muB. Darüber ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Wie hat nun die Regierung diese ihre Aufgabe der Aufrechterhaltung der Neutralitat aufzufassen? Es gabe z. B. eine spekulative Neutralitat, die ausschlieBlich auf die mate- In einer Note an den britischen Gesandten vom 4. 4. 17. (Diplomatieke bescheiden betreffende de toelating van oorlogsschepen en gewapende handelsvaartuigen binnen het Nederlandsehe Rechtsgebied, S. 6.) 2) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 30. 11. 1917, Morgenblatt B. *) Siehe § 4. *) Sitzungsbericht der zweiten Kammer der Generalstaaten 1914/15, S. 614. 58 riellen Interessen unseres Volkes gerichtet ware. Eine derartige Neutralitat würde schwankend sein, da sie auf Berechnung und Machtverhalt«issen beruhen würde. Aber es existiert auch eine höhere Auffassung von Neutralitat, namlich der feste Wille, uns selbst treu zu sein, der feste Wille, die hohen Güter der Freiheit und Vertraglichkeit, die unser Volk in einer Geschichte voller Leiden und Kampte sich zu eigen gemacht~hat, gegen jedermann zu erhalten und zu beschützen. „Diese Neutralitat ist stark, denn sie ist unabhangig von jeder Wendung der kriegerischen Ereignisse oder irgendwelchen Neigungen, und die Regierung ist sich dessen bewulJt, dafi Holland weder jetzt noch in Zukunft dieses Recht gutwillig preisgeben wird. Wir leben in einer Zeit der Tat, nicht des Wortes. Nicht unser Recht auf unsere Existenz als unabhangiges Volk ist unser Schutz, sondern die Tatsache, daB wir bereit sind, dieses Recht auch mit der Tat zu verteidigen. Wenn die Kammer sich weigern würde, der Regierung ihr volles Vertrauen zu schenken, würde man da nicht befürchten müssen, daB die Welt, die in uiesen "'lagen auf uns blickt, am Ernste unseres Volkes zu zweifeln beganne? Stande nicht zu befürchten, daB die Kraft zur Verteidigung unserer nationalen Existenz vermindert würde, wenn die Positfon der Regierung durch Mangel an Vertrauen von seiten der Kammer unterhöhlt würde?" Als unparteiisch und fest entschlossen zur Wahrung von Hollands Selbstandigkeit, mit dem kodifizierten internationalen Recht als einziger Richtschnur ihres Handelns, so mufi die hollandische Regierung im Lichte ihrer Politik erscheinen. Sie ging zur Aktion über, sobald einer der Kriegführenden tatlieh die Interessen Hollands bedrohte oder verletzte. Dabei begnügte sie sich stets mit Protesten, wie wir noch bei mehr als einer Gelegenheit sehen werden, woraus zu schlieBen ist, dafi nach ihrer Meinung nie vitale Interessen auf dem Spiele standen. Es ist, solange die Geheimakten nicht bekannt sind, aus denen die Gründe ihrer Handlungsweise ersichtlich waren, unmöglich, ihre Haltung mehr im einzelnen zu beurteilen. Wir werden aber sehen, daB sie den Begriff des Nichtvitalen manchmal groBzügig aufgefaBt hat. Dabei ist sicher der Gedanke, daB ein Streit auf Leben und Tod zwischen sehr machtigen Vólkern im Gange warvon EinfluB gewesen, und zwar in dem Sinne, Holland müsse als kleine Macht so energisch und so lange als möglich danach streben, auBerhalb des Kampfes zu bleiben. Die Greuel und Schrecknisse des Krieges, die überall sichtbar wurden, mufiten diesen Wunsch nur noch verstarken. Eine derartige Neutralitat ist in der Hauptsache passiv zu nennen 2). Aktiv ware sie gewesen, wenn die Regierung versucht hatte, in irgendeiner Weise die Kriegfuhrènden in pazifistischem Sinne zu beeinflussen, *) Diese Worte gebrauchte der erste Minister selbst in seiner obengenannten Rede. ') Siehe darüber auch oben Seite 25 ff. 59 mit den anderen Neutralen zusammen für den Frieden zu interveniëren oder gemeinsam mit ihnen für Respektierung des kodifizierten internationalen Rechts einzutreten. Irgendwelche Anzeichen für eine Tatigkeit der Regierung in dièser Richtung sind aber nicht vorhanden. Es ist auch nicht Wahrscheinlich, daB die Regierung etwas derartiges gewagt hat, trotzdem sie sich am 3. August in der Kammer bereit erklart hatte, ihre Vermittlung anbieten zu wollen, sobald es dazu eine Gelegenheit geben werde, und trotzdem, besonders"ln_ den ersten Kriegszeiten, die Versuchung groB gewesen sein mag, zusammen mit dem damals noch neutralen Amerika eine gemeinsame Aktion, besonders gegen die Verletzung des Seerechtes, einzuleiten. Aber es war unleugbar für einen kleinen Staat etwas gefahrlich, auf diese Weise AnstoB zu erregen, besonders wenn er eine so angreifbare geographische Lage hatte wie Holland. Eher hatte man die Initiative zu einer derartigen Aktion, von Amerika erwarten können. Es sp.hoipt nher noch,ganz unbekannt zu sein, ob die groBe Republik jemals dazu übërgegangen isf, ebenso wie es nicht bekannt ist, in welcher Weise f Holland darauf reagiert haben würde Mit ihrer Neutralitatspolitik handelte die Regierung ganz zweifellos ( nach dem Willen der groBen Mehrheit des hollandischen Volkes. In seiner ' soeben zitierten Rede konnte Cort van der Linden mit vollem Recht sagen, die Regierung fühle sich stark, da sie wisse, daB sie auBer einer unversehrten Wehrmacht das Vertrauen der Nation hinter sich habe und „daB das Wort der Regierung auch gegenüber dem Ausland als die WillensauBerung eines eintrachtigen Volkes gelte". Im allgemeinen fehlte es, nachdem die erste Verblüffung vorbei war, nicht an AuBerungen in der Presse, die von einer sehr realen Anschauung über die Kriegsfragen zeugten. Sie stimmten, soweit sie sich mit der Frage nach der Entstehung des Krieges beschaftigten, meist darin überein, daB sie den Krieg für einen Interessenstreit der GroBmachte hielten und all die schonen Losungen vom Kampf für die Rechte der kleinen Völker und derartiges als Scheingründe oder doch höchstens als Nebens&chlichkeiten betrachteten. So schrieb z. B. der Utrechter Universitatsprofessor Kernkamp in der ersten seiner vielgelesenen Monatsübersichten, die sich mit dem Weltkrieg beschaftigten 2): „Die Losung, in deren Namen England in den Kampf gezogen ist, ist "nicht die einzige unwahre. Die meisten GroBmachte fahren unter falscher Flagge. ... Nicht für Kultur und Freiheit, ebensowenig wie für das *) lm Oktober 1915 liefen Gerüchte um, denen zufolge Holland seine Vermittlung angeboten hatte, um auf Grund der Berliner Congo-Akte von 1885 Zentral-Afrika zu neutralisieren. ,Die hollandische Regierung demenfierte diese Gerüchte jedoch. Siehe u. a. Nieuwe Courant vom 2. 10. 15. *) In der Zeitschrift „Vragen des Tijds", Jahrgang 1914/15, S. 7 ff. 60 Recht der kleinen Völker, wird dieser Krieg geführt. Er ist ein Kampf um Machtinteressen", eine Behauptung, die der Verfasser mit einer Darlegung des Verhaltnisses der Machte untereinander, wie es sich seit 1870 entwickelt hatte, begründete. Ganz ebenso urteilte der Exminister Colijn in dem ersten seiner ebenfalls vielgelesenen Aufsatze „Über den Völkerkrieg" x): „Wohin man auch schauen mag, überall erkennt man die Interessenpolitik der europaischen GroBmachte als die Hauptursache des entfesselten Krieges. Die Staaten hielten sich für berufen, im gegenseitigen Wetteifer der Völker führend und bestimmend aufzutreten und ihre Machtmittel auf einem Gebiete zu gebrauchen, auf dem Macht picht herrschen sollte." Kurz und bündig schrieb De Savornin Lohman: „Dieser Weltkrieg bat, wenn wir seinen wahren Ursachen nachgehen, nichtó mit irgendeinem groBen Ideal zu tun. ... Er ist weiter nichts als ,ein Kampf um die Hegemonie." Die Terminologie solcher Urteile mag nach dem philosophischen und religiösen Standpunkt der Verfasser etwas verschieden sein, im Grunde kamen sie alle auf dasselbe hinaus. Auch Troelstra gab - in einer sehr lesenswerten, in der ersten Kriegszeit geschriebenen Broschüre 2) derselben Ansicht Ausdruck, wenn er auf Grund seines bewufiten Klassenstandpunktes den GroBkapitalismus als die Hauptursache der internationalen Gegensatze 'bezeichnete: „Es ist ein Krieg, dessen Ausbruch die Sozialdemokratie befürchtet hat als naturnotwendige Folge der zunehmenden Rüstungen der Völker, die infolge der Gewinnsucht ihrer herrschenden kapitalistischen Gruppen sich in wachsender Spannung gegenüberstanden, ein Krieg, der, wie wir sicher annahmen, infolge der Wirkungen des Imperialismus auf die Dauer unausbleiblich war, ein Krieg trotzdem, an dessen Möglichkeit niemand von uns geglaubt hat. „Warum nicht? Weil man sich sagte, daB es doch immer Menschen sein würden, die die letzte entscheidende Tat verrichten, das letzte entscheidende Aktenstück oder Telegramm unterzeichnen, das letzte entscheidende Wort sprechen müfiten, wodurch plötzlich die Türe geöffnet würde, hinter der schon lange der blutdürstige Damon auf den Moment lauerte, der ihm gestatten würde, seine Gier an der Menschheit zu stillen, weil keiner von uns es für möglich gehalten hatte, daB je ein Mensch zu dieser gottvergessenen Tat, zur Unterzeichnüng dieses Todesurteils unserer Kultur, zu diesem schrecklichen Fluchwort den Mut haben würde. „Trotz all unserer Kenntnis der wirtschaftlichen und politischen Krafte, die zur Katastrophe tühren muBten, und obwohl wir wuBten, daB auch der *) In der Zeitscnrift „Stemmen des Tijds", Jahrgang 1914/15, S. 39. ') De Wereldoorlog en de Socialdemocratie. Amsterdam 1915. 61 Wille der Machtigste* der Erde von ihrem Wirken fortgetrieben wurde lebte doch dieses menschliche Vertrauen so stark in uns, daB wir noch dVei Tase vor Ausbruch des Krieges in Brussel einen der ersten Manneg unïerer Bewegung sagen hören konnten: ,Ich glaube nicht an Wunder unrweiB TaBgallfs auf einen Krieg zutreibt, aber ich würde eher glauben, daB ein Wunder den Krieg verhindern, als daB er ausbrechen wird DaTWunder geschal nicht, wohl aber brach die Katastrophe los. Wir haben es hier mit einem Weltkrieg zu tun, zu dem der osterreichischserbische Konflikt nur der AnlaB war, dessen wesenthche Ursache jedoch in dem Streben der groBen europaischen Nationen begrundet liegt in allen TeUeT der Welt Lander mit Ackerbau treibender Bévölkerung und groBen Schatzen an Bohstoffen sich dienstbar zu machen um sie fur ihre lndustrien als Absatzmarkte und Rohstofflieferanten für ihren Handels- und Verkehrskapitalismus als Geschaftsobjekte zu gebrauchen, und um ihren Bankmagnaten Gelegenheit zur Ausfuhr ihres Kapitals und zu seiner gewinnbringenden Anlage zu verschaffen." «^„„„v, Es ware eigentiich zu erwarten, daB man bei einer solchen Betrach•tungsweise nicht geneigt gewesen ware, die ganze Schuld einer Partei aufzuladen. Colijn sagt selbst ausdrückhch : „Deshalb bedeutet es so wenig, wer an diesem Krieg schuld ist Der Krieg muBte kommen und jene, die einen etwas weiteren Bhck hatten, wunderten sich nicht darüber, daB er kam, sondern hatten vie leher Grund sich darüber zu wundern, daB er so lange ausbheb Es zengt dabei jon Kurzsichtigkeit, dem Staate die Schuld aufzubürden, der den Kxieg erklarte^ Dieser Faktor bedeutet im allgemeinen sehr wenig für die Beurteilung der Frage nach der Schuld an einem Krieg, aber m dem heute wutenden Krieg ist er absolut unwichtig. Die Zeit ist noch nicht gekommen, um ein gründliches Drteil über die Verantwortlichkeit emes jeden der bei den Ereignissen des Juli 1914 beteiligten Manner auszusprechen Ich messe dieser Frage iedoch nur sekundare Wichtigkeit bei, wo doch feststeht, daB die Auslandspolitik der GroBmachte sich in den letzten Jahren in einer RTchtung bewegt hat, die zum Krieg führen muBte Dabei ist niemand ganz ohne Schuld gewesen, aber wenn man einen grofieren Zeityaum uberfieht als die paar Wochen zwischen dem 28. Juni dem Tag des Mordes vonSerajewo, und dem 1. August d. J dann erlaubt uns das vorhegende Tatsachenmaterial doch immerhin zu bestimmen, auf welcher Seite die schwerste Verantwortlichkeit für die gespannte Lage gesucht _werden muB. Die weiteren Ausführungen Colijns machen es dann deutiich, daB nach seinem Urteil letzten Ëndes die starken deutschen Rüstungen nach 1870 der primare Faktor der seit 1870 bestehenden Spannung gewesen sind. Nach unseren früheren Ausführungen *) wird man sich nicht wundern a. a. O. s) Siehe oben S. 22 ff. 62 durfen, dafi man hier in Holland durchweg Deutschland für am meisten verantworthch hielt. Eine Erkenntnis, wie man sie im „Nieuwe Rotterdamsche Courant" am 2. August 1914 (Morgenblatt B.) lesen konnte: -„Deutschland wollte den Krieg-nicht. Es besteht kein Zweifel, dafi der Kaïser bis zum AuBersten für ErhaJtung des Friedens tatig war, selbst noch nach Ausgabe des Mobilisationsbefehls in RuBland", blieb eine Ausnahme. Wohl herrschte aUgemein die auch in dem eben zitierten Artikel vertretene Uberzeugung, dafi Frankreich und England den Krieg nicht gewollt hatten. Deutschland gegenüber war, trotzdem man den Krieg als Interessenstreit ansah, was die Schuldlosigkeit angeht, eine starke Dosis S bkepsis vorhanden, gewöhnlich sogar die Uberzeugung, daB es die gröBte fechuld trage. 00/ ö Sehr deutlich gab auch u. a. Dr. Colenbrander in seinen in Holland sehr bekannten Monatsübersichten seiner Meinung Ausdruck, daB IJeutschland durchaus nicht unschuldig sei. Er gründete sein UrteÜ auf eine Untersuchung der englischen und deutschen offiziellen Publikationen aus der ersten Kriegszeit Sie zeigten ihm „mit Sicherheit", daB der Inhalt der österreichischenNote an Serbien Deutschland vorher bekannt war und er schreibt dann: „Ein Stück wie das österreichische Ultimatum schreibt man nicht wenn man auf eine nachgiebige Antwort Wert legt. Man legte es darauf an, einen abschlagigen Bescheid zu forcieren, und wenn Deutschland einen Jderarhg rücksichtslosen diplomatischen Schritt so rücksichtslos unterstutzte, so wollte es damit der Entente zu verstehen geben: .Komrnt nur her wenn ihr den Mut dazu habt! Ihr habt mehr als einmal mit dem Gedanken eines Krieges gegen Deutschland gespielt; gut, wir bieten euch diesen Krieg nun an.' Das ist die Haltung, die Deutschland vor der Geschichte zu rechtfertigen haben wird. Ob ihm das gelingen wird, können erst unsere Nachkommen wissen. Aber das ist sicher, daB Deutschland nut seiner Haltung vor dem Richterstuhl der Geschichte ernst und würdig dastehen wird. Eine Verurteilung kann dann immer noch ehrenvoll sein, — den lartüffe zu spielen, niemalsv" Hier wird also der durch das Ultimatum geweckte ungünstige Eindruck 2) ganz auf Kosten Deutschlands in Rechnung gestellt. Etwas spater triöt man dann yiel krassere AuBerungen über Deutschlands Schuld an, • von Dr- Byvanck, der in einem seiner wöchentlichen Feuilletons 3) bekannte: „Meine Uberzeugung ist, daB die deutsche Regierung die Schuld am Ausbruch dieses unmenschlichen Weltkrieges tragt, und ich füge dem ■^'^^m^^ wied^edrockt * »Ti<* Wereldgeschie- *) Siehe hierüber oben S. 36. T. 8) Im^?.i5uw? gourant TOm 31. 12. 15., wieder abgedruckt in W. G. C. Biivanck „Bewogen Tijden", Zutphen 1916, S. 2—3. «yvum,* 63 nn. hier licht anrfdhrlicher mit ihnen »«>™^°Vffmffioi.e Md,™. Die AuBerongen der Tagespresse. apiegelten die oflentucne »™"™p in deïïhtn W«4 «u- in viS .'charferer Form V^'tS^LX "» Sghchan Lehan dnrch ™^S^»Cp^In^hïenj.ïei SallSXwarttnre^^X W-W- «- auch zwischen Leuten, die einander nahestanden, wenn " « « „ . M P c Valt er ,Biidrage tot de Wereldgeschiedenis van den grootet» «b«2d^a5riSf. £l»Fchta'^^ We. ™ Col—, -id^ legen will. €4 Bri ÏL ! S'8* oderateu™« Umohold DentBktand. pladiST «nds d.u«er d. k da» AjffdMSSjft&f da6 fl?« V^ denVordergrund. Daran. ergab sich dann von seDsf ohne We\I^ Man tlï.ïï^SStSi- reicheD und «**■%- Nachbarland. „Man könnte das ganze Deutsche Reich mit einem Dorf vaivWr.» das nach einer u, itgemSfi , Petroleum io™ g° schlug, um unmittelbar zur InstaUation der modernsten EJekSch UrZ Dazu muJJ man dann noch den Schlufi des Artikels zitieren- *) lm „Gids" 1915, n, S. 274ff. Auch als Sonderdruck erschieuen. O Japikse, Holland 65 Man lese weiter noch folgende Stelle, worin die Verfasserin einen wunden Fleck an dem Deutschland vor 1914 sehr treffend aufdeckt: „In den Publikationen der Durch-dick-und-dünn-Deutschen kommen die alldeutschen Verfasser zuweilen zu den erstaunlichsten Schhififolgerungen, erstaunlich wenigstens für die gegenwartigen Besitzer der von ihnen begehrten Reichtümer. Die galizischen Bergwerke bleiben dabei so wenig wie der Hafen Rotterdam von eingehendem Interesse verschont Derartige Erwagungen sind voll von Widersprüchen. Fragt man ihre Verfasser auf den Kopf, ob sie wirklich Galizien oder Holland besitzen mochten, so hört man nach einem zögernden ,Nein' immer den Einwurf, es sei aber doch unnatürlich, daB Bergwerke, die sie für ihre Industrie nötig hatten und die so zum Greifen nahe lagen, nicht unter ihrer Verwaltung standen, oder daB der Unterlauf des Rheines, das heiBt der Handel, 4er auf ihm getrieben wird, nicht ihnen gehore. In zahlreichen Erorterungen dieser Art auBerte sich eine naive Habsucht, so etwa: ,Warum soll das alles nicht uns geboren?' Und gleichzeitig ein ebenfalls naiver, allerdings durch die Tatsachen unterstützter Glaube, daB die Deutschen wahre Meister im Finanzieren von Unternehmungen seien, und daB unter ihrer Leitung eine Verzehnfachung des Umsatzes und Verdienstes zu er, warten sei. DaB es sich dabei aber nicht um gemeinsame Finanzierung mit andern, sondern "um eine Verdrangung des fremden Kapitals handeln würde, ist ihnen völlig deutlich und durchaus nicht im Widerspruch mit ihrem Rechtsgefühl." . Solche Betrachtungen schlugen viel mehr ein als andere, die den deutschen Staatsgedanken oder mehr allgemein das Deutschtum in seiner Vielseitigkeit verstandlich und sympathisch zu machen versuchten einfach deshalb, weil sie mit der herrschenden Stimmung, die höchstens örtlich etwas verschieden war, übereinstimmten. Das Sentiment spielte dabei, wie schon angedeutet, eine groBe Rolle. Bemerkenswerterweise waren die Antideutschen in ihrem Urteil gewöhnlich viel scharfer als jene, die nicht direkt gegen Deutschland Partei ergriffen — was genügte nicht alles, um prodeutsch gescholten zu werden! Bei den letzteren hatten Verstand und Überlegung gröBeren EinfluB. Ich erinnere mich sehr lebhaft eines Gespraches mit einem meiner Bekannten, der für gemafiigt antideutsch gelten konnte und der unsere Debatte über die Schuldfrage mit den Worten abbrach: „Ja, es ist schlieBlich das Sentiment, das die Art der Beantwortung der Schuldfrage stark beeinfluBt" Es war vor allem ein Ereignis, das die antideutsche Stimmung wesentlich verstarkte: Ich meine natürlich die Verletzung der belgischen Neutra- Z B • J H Valkenier Kips, Der deutsche Staatsgedanke. S. Hirzel, Leipzig 1916.' — Eine Broschüre des Hollanders Hans Clockener (H. C. C. Clockener Brousson), Warum und Wie muB Deutschland annektieren (Verlag Carl Curtius, Berlm 1917), kann man nur als ein Kuriosum betrachten. 66 g^rtrr -spitss ü»-iri„!! Bundesgenossen ja I^tn^f 4^*^ "unTwa"^ Heute kommt emem diese AuBerung noch recht ruhiJ'vnr vZ t *J a. a. 0. S. 14. *) ^temmen des Tijds, 19J5, I S 49 5* 67 eben die infolge des Feuera enM.ta.de J&plo»on auch jene. Hana ver- BÜ\7verbiBderte Colijn aber nicht, auch seinerseits die Ereignissein Belgien ■2.TÏÏ ^laïïV^S» Deiun.el.en doch gewiB «ich. ent- %£5E*^JZË%*i rta fiTielwBieTdhS nuf L echo, -g. « ^^^^8."^ und anderwarts- su sehen war, erweckten uberall die grofite Erbitterung. *) a. a. 0., I, S, 390. *) Siehe hierüber oben S. 26. 68 ÏÏÜS"!^ f 3°*^»^, ei4erichgtet. £ï3iCs2£ anerkannt worden, daB das ganze hollandische Volk sich in ienen Tazen von euier seiner besten Seiten gezeigt hat. J g m„nAm T HoUand Wnüber Deutschland herrschende Stim- ^T11 d6D Faktor der Verletzung von BelgTens maten Z ttwl W°Uen- Im Laufe der Zeit man einiger- maBen zur Uberzeugung gekommen, dafi man ein Recht zum Einfall in amtelfaÏf^hi:bl,Und ^ H°Uande'> dia dST^ÏLS iÏÏfrSftï denken ^ T2?^6011611 War ihn zu stahlen gegen auslandische Beeinflussung und gegen mögbche Einmischungsabsichten fremder Machte, ebenso gegen leichtferbge Autwallungen und unvaterlandische Einsichten, verkehrte Belehrung oder schadkche Privatinteressen innerbalb des eigenen Volkes, das Verstandnis für die politische Situation Hollands und für die gegebenen groBen Linien seiner Auslandpoütik zu starken und das BewuBtsein zu fdrdern, daö sie Dinge sind, welche die ganze Nation angehen und worüber sich ein mundiges Volk selbstandig Rechenschaft zu geben haf." Zum SchluB konstatiert der Klub: „Die politischen Interessen Hollands stehen an und für sich zwischen denen der Wiegenden Machte. Holland darf sich durch keine> von innen ins Schlepptau nehmen lassen. Es will heute und in aller Zukunft seine Freiheit behalten und darf sich daher auch wirtschaftiich an keinen machtigen Nachbarn binden. , Fest entschlossen, weitblickend und ohne Schüchternheit muB daher die Nation ihre eigene Politik begreifen und zu verfolgen wissen, ganz allgemeüi gesprochen, mit dem Willen, kommenden Gescklechtern ein starke* und selbstandiges Holland zu vererben." Dieser Erklarung haftet dieselbe Vagheit an wie mancher Darlegung über die hollandische Neutralitat. Es ware auch nicht schwieng, einige sehr allgemeine und selbstvérstanclliche Stellen in ihr lacherlich zu machen. Das bemerkenswerteste an der Erklarung ist jedock etwas, was in ihr nicht steht, ihr aber zugrunde Kegt, namhch die. Besorgtheit, die es lur nötig hielt, diese gröBtenteils bekannten Wahrheiten zu einem Programm zusammenzusteUen und dasselbe der Gründung eines Klubs, dessen Namen stark nach 18tem Jahrhundert schmeckte, zugrunde zu legen. Die Erklarung erweckte jedoch einiges Mifitrauen, weil sie von verschiedenen Leuten mitunterzeichnet war, die aus ihrer stark antideutschen Gesmnung me ein Hehl gemacht hatten. Das scheint auch einer der Grande zu sein, warum der Klub nicht die Zustimmung fand, die man hatte erwarten konnen. Es geht jedoch nicht'an, den Klub ohne weiteres antideutsch zu nennen, da er doch schlieBlich bewuBt an der Neutrahtat festhielt Anders steht es mit einer noch etwas spater (im Juli 1916) gegründeten Abteilung des „Bundes für neutrale Lander", der deutlich zugunsten der Entente Partei ergriff. Dieser Bund, dessen Name irreführend ist, verkündete otfenkundig als sein Ziel die Bekampfung des seiner Ansicht nach auf Vorherrschaft zielenden Strebens Deutschlands und die den Auffassungen des stimmung, ganz im mMan*^/ - **^*^^ fand wenig ZuEndes JS^LgU^S^S^^T" rï ¥"l Parteinahm« letzten Volkes. Ihre bei v^Tiedene7 aÏÏ? deS hoJl»ndiscben wurden gtaUAgBl&l^ïïi?^^ publ zierten Kundgebungen handet^MetaL?"ein^nfie^Be^TlfTfr "? ï ^ Veranderung erfuhr DasTsï Si -ft df f-'686 keine wesentliche führenden Atóeïï^Hgltóe^^ ^ ft V0D beiden krieg" von Broschüren und fndereLelZ? ga°da £eschehen- Welche Massen ins Haus gesandt! Im9^^^^^ rem und von den besten AhaJr-hw k u u- f Fartei dann als engeldie Gegenpartei. Wer allfin verant T lhlD 8Ch°b a,le Schuld luf Krieges\nd für .H Sé^^ïT^1 ™ f»r das Ansbrechen des kraft hier .««^«deS»^^^ T ^ ^ ^rzeugungsDie Kriegfuhrènden be|riffen nichdafi 6 e\DUr zu ^hnbenl ganz anders war als die Ee" die i K ■ Mentahtat der Neutralen so ist wohl die Hauptursache dfmr dafiJ^W^1108?, b^°gen war. Das Neutralen bedacht wurden « ^ ^adungen Papier, mit denen die denke nur einmal ZdtÉinflufLZl — f erzielten- Ma* . Sammelwerks „ Deutschland unddtWéto^J^ vo^efflichen deutscher Seite heranai».™.^., r> vveil*neg , einer der besten von Buches gew'esen'ist Doch so Jut al^Tf*^^ ^Amerika besdmmten nichts davon zu verspürï, ist %&n ^1 uT^T 80 B**» da« Propaganda der NoiïïÏÏ pt ««f? ? "uCht £en Einwurf> da* die deufschem Sinne f^J^^^^^* antiselbst, da die Stimmung H;« , versteht «oh namlich von - von ihr nur LÏeTgefchickt kZ^6*/"^' ^ be8tand ™d bekehren, wie die deutsche ProDaJS T^ u Sl6 brauchte nicht ™ daB die für die EnZ2 slnS^ ' ""ï™ hatte Dur dafdr zu ^gen, ihr nicht sehr fiJE^te^, ^en.b?8b. "nd das konnté daB die Presse in i r7'j JSatu.rllch 811 damit nicht geleugnet werden des ^^^""sLir^r" enohT Eiufl,ufi auf daS Denk- ihren EinfluB auf das Fntlh 7 • . SIch hier nicht> ebensowenig um pathien JdemKrLeth\t TVTÏ" S^Patbien ™d EinfluB der Produkte des , deUthch machen> daK ™* den anschlagen darf «ogenannten papiernen Krieges nicht sehr hoch P^ltl^^^^^^1^^ selbst an dieser fe:!re^ V 81 sich wahrend des Krieges ^'^ÜS^^ K^egXeX Rede davon sein daB sie «h m de"^JJ1*JStS Erei|nisse mitgestellt haben. Sie vonTefden Seiten" zugesandt geteilt, und was ihnen durch die Vr0Wn"a . , d Vorwur£ anti- oder wurde bekannt gegeben oder anderen Tage Er- prodeutsch zu sein zu, je nacnaem 81° * anma„men Man kann von den örterungen von der einen oder gut hollandisch meisten Blattern jedoch ^^J^^^S^I^ Erörtezu sein. Sie haben das eSn Unpartemchkeit gestrebt "^,B«w^»je^ SSTvS mehr als einer Zeitung darf sr^r^^^^p^ «dichtesten bei dem Vaterlandischen Klub stand. Inwieweit dabei wen.gerfa.re Molm ™ ^^KeL gofShrt worden Klarheit gebracht wurde. § 4. Die Handhabung der Neutralitat bis Anfang 1917 r»ie Erwahnung der zahlreichen Bemühungen der hollandischen Re- m„r „n. i» der H»p^he m., ™er WWjg»p bli. ■J^T^l^^Md--. ™' ^"«rdige. MaW. dem Fall von Antwerpen auJ ^^"^S bten^ ebenso kleine flüchteten, wurden sofort und ohne Sch™gkeitón mm , auf hollandisches Gebiet venrrta deutsche Abtedung^ ™ö sp flieger, sowie Schift brüchige,/erwundete und K^^J^ Kiisfe die auf einem hollandischen Knegsschiff oder ar M r^S^0^!!^*^-^?!^ der Kon- 82 jention über die Anwendung der Prinzipien des Genfer Vertrages J) auf den Seekrieg die Erlaubnis, nach ihrem Vaterland zurückzukehren. Die bezüglich des Kriegsmaterials getroffenen MaBnahmen gaben kaum zu Schwierigkeiten AnlaB. Die hollandische Regierung hatte zu Kriegsbeginn die Ausfuhr von Waffen und Munition verboten, was ihr begreiflicherweise mancherlei VerdrieBlichkeiten erspart hat. Sie fuhrte die Konsequenz dieses Verbotes sehr weit durch. So untersagte sie sogar einem hollandischen Unternehmen den Transport von Material, das zur Hebung eines m der Schelde bei Antwerpen gesunkenen Schiffes dienen sollte. In gleicher Weise verbot sie die Durchfuhr von Petroleum nach BaerléHertog, der belgischen Enklave in Nordbrabant, und verhinderte damit die Ernchtung oder wenigstens den Gebrauch einer drahtlosen Station daselbst, und sie bestand darauf trotz einer ernstlichen Beschwerde des belgischen Gesandten. Deutschland wurde die Durchfuhr mihtarischer Vorrate, von Kriegsbeute und requirierten Gütern durch hollandisch Limburg verboten. 6 Was die drahtlose Telegraphie in Holland selbst angeht, so hatte der Knegsmmister am Anfang des Krieges verordnet (19. August), daB im Interesse der Landesverteidigung der Gebrauch von Einrichtungen für drahtlose Telegraphie zu Land und auf Schiffen in Privatbesitz innerhalb des Reichsgebietes und der Territorialgewasser verboten sein sollte. Der Minister ging damit noch etwas weiter, als er durch das kodifizierte Kriegsrecht verpflichtet war, zeigte damit aber um so deutlicher das Bestreben nach strikter Neutralitat. Dasselbe war der Fall mit der durch die Regierung gegebenen Vorschrift, daB Berichte über etwaige bezüglich Kriegsschiffe, Luftverkehrs oder anderer Streitkrafte der Kriegfuhrènden von hollandischem Gebiet aus gemachte Wahrnehmungen nur mit sechsstündiger Verspatung an die Nachrichtenbüros gegeben werden dürften. Die Regierung begründete diese Verordnung mit den Bestimmungen der internationalen Telegraphenunion zu Petersburg von 1875 2). Auch die Beschlagnahme des von den verschiedenen Arten von Liternierten mitgebrachten Kriegsmaterials vollzog sich gewöhnhch ohne Schwierigkeiten. Bisweilen entstanden Mejnungsverschiedenheiten wegen der Nichtifreilassung eines Unterseebootes. Auf einen derartigen Fall werdea^^ sofort zurückkommen. ^^stéÊÈm Viele Schwierigkeiten ergab der Verkehr von Flugzeugen ■ schiffen über hollandischem Gebiet. Ziemlich allgemein nimmtlr^^ daB ein derartiger Verkehr eine Verletzung der Neutralitat bedeutetTuH die hollandische Regierung hat denn auch jedesmal, wenn sich etwas der^ artiges ereignete, bei der in Frage kommenden Regierung protestiert. Es *) „Overeenkomsten" usw. XV. 2) Siehe darüber Wijnveldt a. a. O. S. 116ff. 6* 83 fokte darauf dann eine Entschuldigung, jedoch wiederholten sich derartige Vorfalle regelmaBig, sowohl von der einen wie von Jer anderen Seite. Man darf lohl annehmen, daB diese Verletzungen der ho^*^N«Jtralitat eine Folge unbeabsichtigter wenn auch mcht «^J^^. £ tümer der Luftfahrer gewesen sind. Nichts ist mehr dem Zutall unter worfen als die Bewegungen des jüngsten Verkehrsmittels und w* leicht kann béim Bestimmen eines Platzes, über dem man sich hoch m der Luft befindet, ein Irrtum vorkommen, zumal wenn es sich um ein Gebiet handelt, das so von allen Seiten von den Kriegführenden umgeben war. (Es kam aop-ar einiee Male vor, u. a. zu Maastricht und m verschiedenen Platzen g^X^ ^L-ftfchr-^ abgeworfene P^t^erBjJjjto Schaden angerichtet wurde. Gelang es in solchen Fallen d e schuldige ParteTLtzustellen, so bot sie auBer der üblichen Entschuldigung regelmiiRia' Schadenersatz an. • •' 1 Man kann jedoch von diesen Zwischenfallen i), so unangenehm sie auch zuweilen in ihren Folgen waren, nicht béhaupten daB bic, vitale Interessen berührten. Sie verursachten einige Mühe und lieferten den Bewel daL, daB die Ausübung der Neutralitat ihre Sorgen mits.ch brachte Tnd von seiten der Neutralen dauernde Aufmerk.amke.t und Geistesgegenwart verlangte. Für ihre Haltung fand die Regierung m den meisten dieser Falie an dem kodifizierten Kriegsrecht die notige btutze fc»e erwies der Welt einen Dienst, indem sie wiederholt, die Aufmerksamkeit auf dasselbe lenkte und die Erinnerung an das tiecht lebendig erhielt. Alle Sgführenden haben, bis auf verschwindenie AusnahmefaJlo, anerkannt, daB die Regierung damit im Rechte war, und haben so indirekt die Aufrechterhaltung von Hollands Stellungnahme gefordert. Das kann man jedoch nicht von einem der wichtigs en Tede^ des internationalen Rechtes sagen, das zudem für Holland von allergrofiter Bedeutung war und das sich gerade als besonders unw.rksam erwiesen hat. Ich meL natürlich das Seerecht, das für Holland wegen seines umtangreichen Überseehandels die gröBte Bedeutung hat und von Anfang an zu den gröfiten Schwierigkeiten AnlaB gab. Man kann eigentlich all die groBen Streitfragen, die sich zwischen Holland und den kriegfuhrènden % ergaben, darauf zurückführen odet wemgstens darum - grappieren. iÉÉi|ËÉ^:ir ein gutes Verstandnis dieser Frage vorteilhaft sein, daran zu ■ ,6 auf den Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 gerade iPP t auf das Seerecht wichtige Abmach.mgen zustande gekommen ■ren, eine Erscheinung, die einfach damit zu erklaren ist daB fur keinen fr A des internationalen Rechtes im Laufe der Jahrhunderte mehr Vor' bereitungsarbeit getan war, so daB die Kodifizierung hier ziemlich leicht i) In dem öfter zitierten „Recueil" ist über alle diese Angelegenheiten vielerlei Tatsachenmaterial zusammengestellt. 84 fallen mufite. Es ist allgemein anerkannt, daB der Vertrag über die Konstituierung eines internationalen Prisengerichtes *) als das wichtigste Ergebnis der Konferenz von 1907 anzusehen ist; wurde doch dadurch für Prisengerichtsentscbeidungen, die in erster Instanz durch die Prisengerichte der betreffenden kriegfuhrènden Machte getroffen werden sollten, eine Prüfung in höberer Instanz möglich, wenigstens in einer Anzahl naher umBchriebener Falie. Aufierdem wurden die durch die Genfer Konvention zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken bei den Feldheeren festgelegten Grundsatze auch auf den Seekrieg ausgedehnt. Verschiedene Einschrankungen des Beuterechtes, u. a. bezüglich der Briefpost und die rechtliche Position der Bemannungen erbeuteter 'Handelsschiffe, wurden eingefdhrt. Die Rechte und Pflichten der neutralen Machte für den Fall eines Seekrieges wurden festgesetzt, u. a. auch die rechtliche Stellung von Kriegsschiffen der Kriegfuhrènden, die etwa einen neutralen Haten anliefen. In gewissen Fallen durften sie mit einer bestimmten Menge Lebensmittel und Heizmaterial versehen werden. Zwei Jahre spater *wurde auf einer von der englischen Regierung einberufenen Konferenz in London, auf der die wichtigsten handeltreibenden Lander vertreten waren, eine Erklarung mit ausführlichen Vorschriften über Blockade, Kriegskonterbande, bei welch letzterer bedingte und absolute unterschieden wurde, die Vernichtung neutraler Sehiffe und noch mehr derartige im Seerecht zur Genüge bekannte Fragen aufgestellt. Diese sogenannte Londoner Deklaration 2), welche auf liberalen Prinzipien für das internationale Seerecht basierte, gab eine Zusammenfassung dessen, was ganz allgemein als Völkerrecht galt: Das Prisengericht sollte darin Richtlinien für seine Rechtsprechung linden, und die Praxis der Prisengerichte sollte wiederum Gelegenheit zur Weiterentwicklung des Rechtes geben. Aber es war ein böses Zeichen, dafi das englische Oberhaus der Konvention über das internationale Prisengericht seine Zustimmung versagte. Infolgedessen unterblieb die Ratifikation derselben und auch die der Deklaration selbst, so dafi mit den vorbereitenden MaBnahmen für die Konstituierung des Prisengerichtes nicht begonnen wurde. Die Deklaration «von London schwebte so zwischen Himmel und Erde, denn auch andere Lander zögerten nua natürlich mit der Ratifikation 3). MuBte das schon Besorgnisse und Befürchtungen für die Zukunft wachrufen, so wurden diese durch die Ereignisse wahrend des Krieges noch weit übertroffen. Man kann sagen, daB von all den schonen Abmaohungen, die wir zitiert haben, keine einzige unverletzt geblieben ist. Es zeigte 1) Siehe „ Overeenkomsten" usw., wo auch viele der obengenannten Vertrage über das Seerecht zu finden sind. *) Vom 26. 2. 1909, vgl. „Overeenkomsten" Nr. XX. 8) Siehe hierüber Naheres bei J. H. W. Verzijl, Het Prijsreeht tegenover neutralen in den Wereldoorlog van 1914 en volgende jaren. 'sGravenhage 1917. Kap. I. 85 sich, daB dieses ganze System internationaler Vereinbarungen die schwere Probe, der es durch den Weltkrieg ausgesetzt wurde,. nicht bestehen konnte. Es wurde von zwei Seiten eingestoBen: Durch die Ubermacht der Entente, besser gesagt Englands, zur See und durch den Gebrauch des Unterseebootes als Waffe im Handelskrieg. Gerade die Furcht, die englische Suprematie zur See möchte durch die liberalen Prinzipien, die bei der Gründung des Prisengerichtes und der Feststellung der Londoner Deklaration maBgebend gewesen waren, bedroht werden, erklart. den Widerstand gegen beide, der im englischen Oberhaus seine starkste AuBerung gefunden hatte. Nun brauchte man keine internationalen Rechte über den nationalen bei Prisenangelegenheiten in acht zu nehmen, und mit der Londoner Deklaration konnte man nach Gutdünken verfahren und hat das auch grundhch getan! Das Unterseeboot, das schon früher als Waffe im knegerischen Kampf selbst angewendet worden war, wurde nun zum erstenmal gegen Handelsschiffe in Anwendung gebracht1). An und für sich war dagegen nichts einzuwenden, aber das Unterseeboot brachte eine völhge Anderung der Methode des Kampfes gegen Handelsschiffe, und es fiel schwer, diese den Regeln des Völkerrechts anzupassen. Inwieweit Deutschland das zu tun versuchte und inwiefern auf der anderen Seite die Entente ihr Auttreten zu rechtfertigen trachtete, wird sofort besprochen werden. Hier sei jedoch schon festgestellt, daB zwischem dem einen und dem anderen ein ursachlicher Zusammenhang besteht, was bei der Beurteilung der Handlungsweise beider Parteien nicht vergessen werden darf. Die Opfer dieses Kampfes um die englische Suprematie zur See bzw. gegen ihren drohenden Untergang waren die Neutrakm und in erster Linie Holland! Gleich von Anfang an verursachten zwei Dinge groBe Schwierigkeiten. Einmal begannen die Kriegführenden sofort mit dem Ajislegen von Minen. Die ziemlich vage Verklausulierung der Vorschrift über den Gebrauch von verankerten automatisch funktionierenden Kontaktminen, der zufolge alle VorsichtsmaBregeln für die Sicherheit der friedlichen Schiffahrt genommen werden muBten, mit der Einschrankung allerdings „soweit das mogkch ware", machte die Verpflichtungen, welche die Kontrahenten der betreöendeo. Ubereinkunft auf der zweiten Friedenskonferenz auf sich genommen hatten, in der Praxis wertlos. Die Taten der Kriegführenden waren gleich 1914 in schreiendem Gegensatz zu der auf jener Konferenz ausgesprochenen Erwartung, jeder müsse durchdrungen sein von dem BewuBtsein, „daB die Menschheit ein unbestreitbares Recht auf die Freiheit der See habe, und daB daraus sich Verpflichtungen ergaben für jene, die von diesem für alle Völker offenen Verkehrsweg Gebrauch machten". Die deutsche Regierung teilte den Neutralen mit, es werde wahrscheinlich nötig sein, vor die ') Naheres darüber bei J. P. H. Francois, Duikboot en Volkenrecht, Leidener Dissertation, Kap. I u. II. 86 Operationsbasen der feindlichen Flotten und vor die feindlichen Hafen, in denen Truppèn ein- und ausgeschifft wurden, Minen zu legen. Eine derartig vage Mitteilung war natürlich nutzlos, und es dauerte auch nicht lange, bis unter neutraler Flagge fahrende Dampfschiffe und Fischerfahrzeuge Minenexplosionen auf hoher See zum Opfer fielen. Dabei handelte es sich auch um englische Minen, und wer in einzelnen Fallen die Schuld trug, Minen der Zentralen oder solche der Entente, war natürlich meistens nicht festzustellen. Wohl machte die englische Regierung — in dieser Hinsicht korrekter als die deutsche — im Oktober Angaben darüber, welche Gebiete durch ihre Minen unsicher gemacht wurden. Aber einen besonderen Vorteil hatte man davon auch nicht, da die Minen oft von ihrer Verankerung losgerissen wurden — sind doch Tausende wahrend des Krieges an die hollandische Küste angespült worden, bei deren Abmontierung sich denn meist ergab, daB sie eüglischen Ursprungs waren —, so daB eigentüch das ganze Seegebiet vor den hollandischen Hafen höchst unsicher wurde und schon deshalb die Freiheit der See ein leerer Schall geworden war. Die zweite, für die Schiffahrt zwar weniger gefahrlicbe, aber für den Handelsverkehr ebenfalls höchst unangenehme Belastigung war das Aufbringen von Schiffen nach einem feindlichen Hafen, um dort die Ladung zu untersuchen, eine Handlungsweise, die England direkt anwendete und worin ihm Frankreich bald folgte. Sie wich von der bisher üblichen Methode der Untersuchung auf hoher See ab. Dabei machte sich die gewaltige Übermacht der Entente zur See geltend und auBerdem die sehr günstige geographische Lage Englands. Beide Umstünde ermöglichten es, alle nach Holland fahrenden Sehiffe zu zwingen, Kurs nach einem englischen oder französischen Hafen zu nehmen. Es war bei Kriegsausbruch gerade eine Anzahl von Getreideschiffen nach Holland unterwegs. Sie wurden alle nicht nur aufgebracht, sondern auch die Ladungen gelöscht und verkauft. Der hollandische Ejgentümer konnte froh sein, wenn er den Verkauf selbst in die Wege leiten und über den Erlös frei verfügen durfte. Dadurch erklart sich, warum die hollandische Regierung sich sehr bald genötigt sah, den Getreideimport selbst in die Hand zu nehmen1). Nur so erlaubte die Entente nach einigen Unterhandlungen die Einfuhr des für Hollands eigene Bedürfnisse nötigen Getreides. Nimmt man die Londoner Deklaration als Norm für das feststehende Völkerrecht an, so kann über die Unrechtmaföigkeit des Auftretens EBglands und seiner Bundesgenossen kein Zweifel bestehen. Auch wenn samtliche Ladungen der aufgebrachten Getreideschiffe für Deutschland bestimmt gewesen waren, was mit einem Teil von ihnen zweifellos der Fall war, selbst dann konnte man Englands Auftreten verurteilen. Denn Getreide *) Siehe hierüber oben S. 56. 87 gekorte zur bedingten Konterbande, durfte also nach Deutschland eingeführt werden, auBer wenn bewiesen wurde, daB es fiir militarische Zwecke bestimmt war. England gab jedoch durch seine Handlungsweise sofort zu verstehen, dafi es sich dieser Auffassung nicht fügen wolle, und wer konnte es zwingen, das zu tun? Die Vereinigten Staaten schlugen allerdings bald nach Kriegsausbruch vor, man solle sich wahrend des Krieges, an die Londoner Deklaration halten1). Die Zeutralmachte erklarten sich in ihrer Antwort im Prinzip damit ein verstanden, aber die Gegenpartei weigerte sich dessen. Die Unsicherheit, welche die englische Handlungsweise wahrend der ersten Wochen des Krieges zur Folge hatte, wurde durch die am 20. August 1914 erschienene „Order in Council" beseitigt. Durch sie bekam man wenigstens eine deutiiche Anweisung, wie sich die Neutralen zu verhalten hatten2). Im Prinzip erklarte sfich die englische Regierung dazu bereit, an der Londoner Deklaration festzuhalten, jedoch mit gewissen „additions and modifications", die aber gerade sehr wichtige Anderungen bedeuteten. Konnte man auch keine schwerwiegenden Einwande dagegen erheben, daB die Listen der absoluten und bedingten Konterbande abgeandert und ausgedehnt wurden3), so waren die Bestimmungen bezüglich der bedingten Konterbande doch bedenklicher. Diese sollte namlich der Beschlagnahme verfallen, gleichgültig nach welchem Hafen sie bestimmt war, wenn angenommen werden konnte, daB sie an oder fiir einen Agenten eines feindlichen Staates oder an oder für einen Kaufmann oder eine andere unter der Kontrolle der Autoritaten des feindlichen Staates stehende Person konsigniert war. Hier wurde also der Theorie der „fortgesetzten Reise", einem vielumstrittenen seerechtlichen Begriff, gehuldigt, der in der Londoner Deklaration völlig ausgeschaltet worden war. Für Holland war das wegen seiner geographischen Lage besonders folgenschwer, um so mehr als die englische Regierung ihre Haltung motivierte mit „the peculiar conditions in the present war, due to the fact that neutral ports such as Rotterdam are the chief means of access to a large part of Germany and that exceptional measures have been taken in the enemy country for control by the government of the entire supply of foodstuffs4)". Die Konsequenz dieser Auffassung war, daB alle nach Holland mit bedingter Konterbande fahrendeh Sehiffe nicht nur nach einem englischen Hafen dirigiert, sondern dort auch festgehalten wurden, bis bewiesen war, daB die Ladung nicht für ein feindliches Land bestimmt sei. Die Beweis- *) Verzijl a. a. O. S. 39. 2) Diese „Order" findet sich u. a. in dem öfter erwahnten „Recueil" S. 23ff. *) Das war bereits durch eine Bekanntmachung vom 4. 8. geschehen und wurde nun bestatigt. Die Liste der Konterbande-Güter findet man u. a. in „Documenten", I. Serie S. 16. 4) Verzijl a. a. O. S. 40. 88 führung fiel praktisch völlig dem Adressaten der Güter zur Last. Das verursachte grofie Schwierigkeiten, da weitaus die meisten Ladungen nach Handelsgebrauch „an Order" konsigniert waren. Infolge' der Proteste der neutralen Machte, besonders der Vereinigten Staaten l), hat England, nachdem es für kurze Zeit eine Mifderung in der Anwendung der Theorie der fortgesetzten Reise hatte eintreten lassen, insofern der Transport von Lebensmitteln, wenn sie an bestimmte Personen in Holland adressiert waren, zu••gelassen wurde 2), unter Einziehung der ersten Order am 29. Oktober 1914 3) Seine Haltung neuerdings.festgelegt. Im Kern der Sache brachte die neue Order keine Besserung. Ausdrücklich wurde nun sogar die in der Praxis schon befolgte Auffassung bezüglich der Adressierung „an Order" bestatigt. Die Bestimmung über die Konsignation wurde beschrankt auf Sendungen an oder für einen Agenten eines feindlichen Landes. Ebenso wie die amerikanische brachte auch die hollandische Regierung ihre Beschwerden gegen diese Regelung vor. Sie protestierte auBerdem einzeln gegen jede Beschlagnahme von hollandischen Schiffen, wenn dazu Grund vorhanden war. Sie war der Meinung — und hat das auch spater ausdrücklich geauBert —, daB, trotzdem man an der Londoner Deklaration nicht festgehalten hatte, die Regierungen doch verpflichtet seien, die allgemein anerkannten völkerrechtlichen Prinzipien zu befolgen. Diesen widersprachen aber ihrer Auffassung nach die englischen „Orders of Council", ebenso wie die im AnschluB an sie von den meisten Ententeregierungen erlassenen Bestimmungen*). Die englische Regierung zeigte ihrerseits einiges Entgegenkommen durch das Anerbieten, daB absolute und bedingte Konterbande durchgelassen werden solle, wenn die hollandische Regierung versichere, daB sie nach der Einfuhr in Holland nicht nach feindlichen Landern ausgeführt werde. Das war ein verlockendes Angebot I Aber die hollandische Regierung begriff die damit verbundenen Getahren und erklarte sich gegen die Annahme, da sie mit strikter Neutralitat im Widerspruch sei. Sie war in dieser Hinsicht zudem, auBer durch internationale rechtliche Verpfhchtungen, durch die Rheinschiffahrtsakte gebunden, welche ihr gebot, den Transitverkehr auf dem Rhein nach Deutschland nicht zu unterbrechen. Zu Kriegsausbruch hatte sie sich dazu auch ausdrücklich bereit erklart, auBer für den Fall, wenn sie im Interesse des Landes ein Ausfuhrverbot für bestimmte Güter für nötig halte5). Ware die Auffassung der hollandischen Regierung, die zweifellos mit dem Völkerrecht völlig jm Einklang war, allgemein geteilt worden, so hatte ein ununterbrochener Schiffsverkehr in allerhand Gütern, auch in bedingter Konterbande, rheinauf- *) A. W., S. 49. 2) Kecueil S. 25. s) Ebenda S. 25. *) Siebe darüber Verzijl a. a. 0. S. 60ff. s) Erklarung vom 21. 8. 1914 („Documenten", I. Serie S. 18). 89 und abwarts stattgefunden, insofem diese Güter namlich für die Zivdhevölkerung bestimmt gewesen waren. Aber es kam ganz anders, denn die MaBnahmen der Entente, die ganz deutlich die Absicht premeten, durch , Behinderung der Lebensmitteleinfuhr direkten Druck auf die bürgerhche Bévölkerung auszuüben, hatten zur Folge, dafi der Schiffsverkehr in vielerlei Gütern sehr bald ernstlich behindert wurde, ja ganz aufhörte. Auch Holland selbst wurde mit dem Ausbleiben genügender Einfuhr von Übersee bedroht, und dem stolzen, aber etwas leichtfertigen Wort Treubs in seiner bei der Gründung des ünterstützungs-Komitees gehaltenen Rede daB in Holland niemand Hunger zu leiden brauche, muBte man einige Skepsis entgegenbringen. Man suchte einen Ausweg durch die Gründung der Nederlandsehe - Overzee - Trust - Maatschappij (HoliandischeÜbersee-Trust-Gesellschaft), die ganz allgemein unter dem Namen N.O.T. bekannt geworden ist. Sie wurde gestiftet am 24. November 1914 2) im Haag mit der Bestimmung, im weitesten Sinne des Wortes im Interesse hollandischer Kaufleute oder hollandischer Handelsgesellschaften sich um die ungestörte Zufuhr von Überseeartikeln zu bemühen, welche durch die kriegführenden Machte als absolute oder bedingte Konterbande erklart worden waren oder noch erklart würden. Jeder AbschluB von Geschaften für eigene Rechnung wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Ein eventueller Gewinnsaldo sollte dem Königlichen Nationalen Unterstützungs-Komitee überwiesen werden. Als Gründer der N.O.T. traten die Nederlandsehe Handel-Maatschappij, die Nederlandsch-Indische Handelsbank, die Twentsche Bank, die Rotterdamsche Bankvereeniging und verschiedene groBe Schiffahrtsgesellschaften auf. An; der Spitze stand ein Verwaltungsrat, der eine ausführende Kommission von 15 Mitgliedern ernannte. Als Vorsitzender beider Kollegien fungierte O. J. K. van Aalst; er war die Seele der N.O.T. Die Neugründung nahm sofort ihre Tatigkeit auf, die sich in kurzer Zeit sehr weit ausdehnte. Begann sie doch mit einem Sekretar, einigen Angestellten und ein paar Kóntorraumen, wahrend Ende 1915 ihre Kontore schon 16 Haüser füllten, in denen 900 Personen tatig waren. Dieses Wachstum hing auch mit der andauernden Verscbarfung des Handelskrieges zusammen. Die Grundlage ihrer Existenz fand . die N.O.T. darin, daB sie die Einfuhr einer Anzahl von Artikeln ermöglichte, indem sie der Entente die Sicherheit für ihre Nichtwiederausfuhr nach den zentralen Landern verschafte, mit anderen Worten: Sie erfüllte eine BedingUng, der sich die Regierung nicht hatte unterwerfen können, und ihre Befugtheit dazu wurde von der Entente anerkannt. Von den Empfangern der von ihr vermittelteh Einfuhr verlangte sie eine Bankkaution, die verfiel, wenn diese den gestellten Bedingungen nicht nachkamen. Die VermitÜung der N.O.T. war *) Siehe darüber oben S. 53 fF. ») Siehe das Komunique in der Presse vom 25. 11. 1914. 90 «erforderlich bei der Einfuhr aller Artikel, die für bedingte oder absolute Konterbande erklart waren — und deren Liste wurde wiederholt erganzt — auBer für die verschiedenen Getreidearten, welche die hollandische Regierung von Anfang an selbst einführen lieB. Die N.O.T. wurde mit Recht eine „Macht im Staate"1) und ihr President der ungekrönte König Hollands genannt Ihre Schattenseiten wurden nicht übersehen. Man muB sie eigentlich als ein notwendiges Übel bezeichnen. Notwendig war sie, da nur sie die Einfuhr unentbebrlicher Güter möglich machte und die hollandische Schiffahrt im Gange hielt, was dieser wegen des gleich in den ersten Kriegsmonaten sich vollziehenden starken Steigens der Frachtenpreise groBe Vorteile brachte, eine Tatsache, welche die tatkraftige Teilnahme der groBen Dampfschiffahrtsgesellschaften an der Gründung der N.O.T. sehr begreiflich erscheinen lafit. Ein Übel war die N.O.T., weil sie einen groBen Teil des hollandischen Handels auslandischer Kontrolle unterwarf, ihn also unter Vormundschaft steilte. Der Vormund bemühte sich dazu immer starker um seinen Schützling! Kein Wunder, daB man in Handelskreisen, besonders in Rotterdam, diese Einmischung sich nur ungern gefallen lieB, und es nicht an Leuten fehlte, die die Gründung der N.O.T. bedauerten. Sie m ein ten, die Alliierten hatten bei einer pertinenten Abweisung der gestellten Forderungen von hollandischer Seite nie so weit zu gehen gewagt, den Schiffsverkehr nach Holland völlig stillzulegen und damit ein neutrales Land der Hungersnot auszusetzen. Es ist schwer zu entscheiden, welche Meinung die richtigere war, wenn man auch für die stolzere Gesinnung, welche der letzteren zugrunde liegt, an und für sich mehr fühlen mag, ohne dabei verkennen zu wollen, daB ihre Befolgung sehr unsichere Aussichten eröffhet und nicht geringe Gefahren heraufbeschworen hatte. Neben dieser groBen Frage des hollandischen Handelsverkehrs gaben noch weniger wichtige Schiffahrtsfragen zu Schwierigkeiten AnlaB, zum Beispiel, daB von den hollandischen Schiffen, die gezwungen wurden, englische Hafen anzulaufen, deutsche oder österreichisch - ungarische Staatsburger, meist Dienstpflichtige, die sich im Vertrauen auf den Schutz der Neutralitat auf einem neutralen Schiff zur Heimreise eingeschifft batten, hëruntergeholt wurden. Die hollandische Regierung protestierte bei jedem derartigen Fall kraftig und erlebte die Genugtuung, diesmal ihre Protest» wenigstens teil weise respektiert zu sehen. Nachdem die englische Regierung im Januar 1915 offiziell mitgeteilt hatte, daB feindhche Untertanen, die sich an Bord eines neutralen Sehiffes befanden, in einer Anzahl englischer Hafen Gefahr liefen, gefangen genommen zu werden, anderte die hollandische Regierung ihre Haltung. Sie glaubte die Berechtigung jedèr Regierung *) Kotterdamscb Jaarboekje voor 1916, S. XXXIX. — Siehe auch die Ausführungen in der Broschüre: Hollands Not. Die Niederlandische Übersee - Trust (aus dem Hollandischen übersetzt). Ferd. WiB Verlag, Bern 1916. 91 zum Ergreifen solcher MaBnahmen innerhalb ihres Gebietes anerkennen zu mussen, besonders wenn sie eine diesbezügliche Warnung vorausschickte x). Eine andere wichtige Streitfrage entspann sich über die Freiheit des Fischfanges auf der Nordsee, der auBer durch die Minengefahr im Oktober 1914 durch eine Bekanntmachung der englischen Regierung bedroht wurde der zufolge alle nach dem 1. Oktober innerhalb eines naher umschriebenen Gebietes an der englischen Kilste angetroffenen Fischerfahrzeuge als der Minenlegung verdachtig angesehen und mit Vernichtung bedroht wurden. Die Angelegenheit gab zu einem Meinungsaustausch zwischen der hollandischen und englischen Regierung AnlaB. Da aber die erstere nur für die Sehiffe eintrat, die sich schon am 1. Oktober in den nachher verbotenen Gewassern befunden 'hatten und gröBtenteils aufgebracht worden waren, fand man hier ohne viel Mühe einen modus vivendi2). Ebensowenig verursachten gleichartige von der deutschen Regierung bezüglich der Fischerei in der Nahe der deutschen Nordseeküste getroffene MaBnahmen groBe Schwierigkeiten 3). Im allgemeinen erfuhr Holland am Anfang des Krieges von deutscher Seite sehr viel weniger Belastigung als von englischer. Deutschland erkannte die Grundsatze der Londoner Seerechtsdeklaration an, ebenso wie die Konterbandelisten, die zu ihr gehörten. Bald jedoch auch seinerseits nahm es an 1 den letzteren Anderungen vor. So setzte sie schwedisches Holz im November 1914 auf die Liste der bedingten Konterbande. Aus den dadurch entstandenen Schwierigkeiten wurde jedoch nach einigem Hin und Her ein Ausweg gefunden, welcher die zuerst von Deutschland geatellte und hollandischerseits zurückgewiesene Forderung, die hollandische Regierung solle eine Erklarung darüber ablegen, daB das aus Schweden eingeführte Holz im Lande bleibe, überflüssig machte 4). Bald kam es in den Beziehungen zu Deutschland zu einer prinzipiellen Streitfrage von gröBerer Bedeutung und zwar, als der hollandische Dampfer „Maria" auf dem Weg nach Irland durch den deutschen Kreuzer „Karlsruhe" am 21. September 1914 im Atlantischen Ozean in den Grund gebohrt wurde, nachdem die Bemannung in Sicherheit gebracht war. Die Frage, ob und unter welchen Umstanden die Vernichtung einer Prise als erlaubt zu betrachten sei, ist völkerrechtlich nicht völlig deutlich beantwortet, wie so manche andere auf diesem schwierigen Gebiet5). Wahrend bezüglich feindlicher Prisen diese Frage, wenigsteus in bestimmten Fallen, *) Recueil S. 133, 134. 2) Ebenda S. 128. 3) Ebenda S. 126. 4) Ebenda S. 54/55. *) Siehe darüber Ver zijl a. a. O. S. 320 ff. und Francois a. a. O. S 23 u. 114. Die SchluBfolgerungen, zu denen diese beiden neuesten Autoren über diesen Gegenstand kommen, sind nicht völlig die gleichen. Das beweist am besten die Unsicherheit der bestehenden Auffassungen. 92 «fter in bejahendem Sinne beantwortet wurde, ist das hinsichtlich neutraler Prisen kaum geschehen. Die Londoner Deklaration hatte die Vernichtung neutraler Prisen für ausgeschlossen erklart, aufier wenn die Aufbringung die Sicherheit des Kriegsschiffes oder den Erfolg der kriegerischen Operationen, in die dasselbe „actuellement" verwickelt war, bedrohte. Die hollandische Regierung steilte sich ohne weiteres auf den Standpunkt, dafi Vernichtung neutraler Prisen nicht gestattet sei. Sie bekam bald AnlaB, ihre Meinung naher auseinanderzusetzen, als durch den Gebrauch des Unterseebotes im Handelskrieg die Anzahl der Falie, in denen es zur Vernichtung von Prisen kam, von selbst zunahm. Sie tat das, als der Dampfer „Medea" auf der Fahrt von Valencia nach London mit einer Ladung Apfelsinen durch ein deutsohes Unterseeboot am 25. Marz 1915 versenkt wurde, nachdem die Bemannung Gelegenheit gehabt hatte, in die Boote zu gehen. In einem austührlichen Notenwechsel über diesen Vorfall *) legte die hollandische Regierung auch ihre schon oben angedeutete Auffassung hinsichtlich der nach Nichtanwendung der Londoner Deklaration bestehenden international seerechtlichen Situation dar. Sie betonte, daB die Bestimmungen dieser Deklaration „ ne font partie du Droit de Guerre établi que dans la mesure oü elles ne s'en écartent pas". Die in der Deklaration enthaltenen Grundsatze „ ont été adoptées de part et d'autre dans un large esprit de conciliation ". Die Deklaration bilde „ dans son ensemble indivisible une oeuvre de transaction de concessions mutuelles". Die Regierung war deshalb der Ansicht, die Nichtanwendung der Deklaration habe zur Folge, daB man sich bei den internationalen Beziehungen in Fragen des Seeverkehrs nach dem Vólkerrecht, soweit sie es als feststehend ansah, zu richten habe, auch wo dasselbe von der Deklaration abweiche. Nicht ohne Grund ist bezweifelt worden, ob diese Stellungnahme der hollandischen Regierung die empfehlenswerteste war2). Denn die Handhabe, welche die Deklaration bot, wurde aufgegeben für etwas, was noch weniger Halt bot! Von ihrem Standpunkt betrachtete die Regierung es nun als feststehendes Prinzip, keihe Vernichtung neutraler Prisen als rechtmaBig anzuerkennen. Sie bestritt auBerdem, daB die naheren Umstande, unter denen die „Medea" aufgebracht worden war, eine Versenkung erlaubten. Wir können auf die Einzelheiten dieser Verhandlungen nicht eingehen. Die deutsche Regierung teilte den Grundsatz der hollandischen nicht, und das deutsche Prisengericht bestatigte ihre Haltung als richtig, indem es sowohl die „Maria" wie die „Medea", die letztere allerdings erst in höherer Instanz, als zu Recht versenkt erklarte. Es fallt schwer, zu entscheiden, wer eigentlich im Rechte war, da die Autoritaten auf dem Gebiete des Völkerrechts kein einstimmiges Urteil aussprachen. Der einheitlich ausgesprochenen Forderung, daB bei Versenkung eines Schiffes für die 1) Recueil S. 107 ff. V 2) Francois a. a. O. S. 115, Anm. 3. 93 Sicherheit der Bemannung gesorgt werden müsse, war in beiden Fallen entsprochen worden, wenngleicb bei der „Medea" nicht vollstandig. Man darf schliefilich bei der Formulierung eines Urteils nie aus dem Auge verlieren, daB, so sehr man das auch bedauern moge, die strategische Situation den Lauf der Dinge immer stark beeinfluBte. Die groBe Übermacht der Entente zur See machte es den deutschen Seéstreitkraften beinahe völlig unmöglich, die Prisen nach einem deutschen Hafen aufzubringen, und der Gebrauch des Unterseebootes erschwerte an und für sich die Aufbringung. Die strategische Lage zwang Deutschland zur Vernichtung der Prisen, wobei es wenigstens in der ersten Phase des Krieges am Kriegsrecht eine Stütze fand. Aber leider war der Anfang nur Kinderspiel im Vergleich zu den spateren Ereignissen. Der Seekrieg begann bald scharfere Formen anzunehmen, und die Neutralen bekamen die Folgen zu spüren. AuBer unter den Regelungen bezüglich der Konterbande, hatten sie darunter zu leiden, daB bestimmte Gebiete als militarische Zonen abgegrenzt wurden. Damit begann England, indem es am 3. Novèmber 1914 die ganze Nordsee als. für die neutrale Schiffahrt gefahrlich erklarte, nicht allein wegen der dort gelegten Minen, sondern auch wegen der Anwesenheit englischer Kriegsschiffe, die mit der Kontrolle des neutralen Schiffsverkehrs beauftragt waren *). AuBerdem wurde die Route von den Hebriden nach Island den Faroerinseln entlang als gefahrlich bezeichnet. Die Schiffahrt bekam den Rat, sich von England angewiesener Linien zu bedienen und sich an die Vorschriften der englischen Admiralitat zu halten. Es war deutlich, daB die neutralen Sehiffe dadurch gezwungen werden sollten, durch den Kan al und die Strafie von Dover bin und zurückzufahren. Dann konnte die Kontrolle senr leicht ausgeübt werden. Gegen diese MaBnahme lieB die hollandische Regierung einen scharfen Protest hören. „En qualifiant de zone militaire toute cette région une grave atteinte est portée au principe fundamental de la libertë des Mers, principe reconnu par toutes les nations du globe." Die Einwande gründeten sich auf den Minentraktat der zweiten Friedenskonferenz. Auch auf die aus einer Einhaltung der vorgeschriebenen Route sich für die hollandische Schiffahrt ergebenden Schwierigkeiten wurde hingewiesen. Der Protest wurde englischerseits aufmerksam angehört, aber er blieb ohne praktischen Erfolg. „The large number of drifting german mines", womit die Mafiregel bei ihrer Bekanntmachung begründet wurde, diente auch bei der Beantwortung des Protestes zu ihrer naheren Motivierung. Mit Rücksicht auf jene Minen sei es „impossible to indicate any safe route" auBer der angegebenen. Von der Freiheit der See war keine Rede! Das war eine bittere Pille für eine Nation, die einmal imstande gewesen, diese Freiheit mit groBem Erfolg zu verteidigen. *) Kecueil S. 85. 94 Noch bitterer war, was von deutscher Seite folgte. Am 4. Februar 1915 teilte die deutsche Regierung mit1), daB sie die Gewasser um GroBbritannien und Irland, einschliefilich des. Kanals, zum Kriegsgebiet erklart habe. Vom 18. dieses Monats an wurde jedes hier angetroffene feindliche Handelsschiff mit Vernichtung bedroht, „ohne daB es immer möglich sein wird, die dabei der Besatzung und den Passagieren drohenden Gefahren abzuwenden". Auch neutrale Handelsschiffe wurden dort Gefahr laufen, da es infolge des Mifibrauchs neutraler Flaggen durch England — übrigens eine Angelegenheit, welche die hollandische Regierung bei der englischen mit dem Erfolg zur Sprache brachte, dafi die letztere eine befriedigende Antwort gab — nicht immer zu vermeiden sein werde, dafi „dieauf feindliche Sehiffe berechneten Angriffe auch neutrale Sehiffe treffen". Die Schiffahrt nördlich der Shetlandsinseln und innerhalb eines 30 Kilometer breiten Streifens an der hollandischen Kliste wurde für ungefahrlich erklart* Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, wie Deutschland diese MaBregel mit einem Hinweis auf die engksche Seekriegsführung begründete, besonders da diese nicht nur die deutsche Kriegführung, sondern auch „die Volkswirtschaft Deutschlands" zu treffen „und letzten En des. auf dem Wege der Aushungerung das ganze deutsche Volk der Vernicktung preiszugeben" beabsichtigte. So ging es weiterhin immerzu: Eine MaBnahme verursachte die andere, die dann mit der ersten motiviert wurde. Nun richtete Holland seinen Protest bezüglich der Verletzung des Prinzips der freien See an Deutschland. Die Regierung erinnerte 'an ihren Protest gegen die englische Proklamation vom November und betonte, siefühle sich genötigt, nun auch der deutschen Handlungsweise entgegenzutreten: „II revendique une fois encore son droit a la libre navigation dana la mer libre"2). Dabei berief sie sich auf ihre genaue Befolgung der Neutralitatspflicnten, die sie zu der Erwartung berechtige, daB die Kriegführenden ebenfalls ihre Rechte respektierten. Auch Deutschland ging in seiner Antwort nicht auf den Vorwurf der Verletzung der Freiheit der See ein und wiederholte, daB „die neue deutsche Seekriegsführung erzwungen" sei und sich rechtfertige „durch die mörderische Art der englischen Seekriegsführung, die das deutsche Volk durek die Vernichtung des. legitimen Handels mit dem neutralen Auslande dem. Hungertode preiszugeben versuchte". Deutschland gab am SchluB zu erkennen, so lange an der angekündigten Art der Kriegführung festhalten zu wollen, bis England dazu übergehe, die allgemeinen Regeln des Kriegsrechtes zur See zu befolgen, „oder bis es von den neutralen Machten dazu gezwungen wird". Man befand sich bereits in einem Stadium des Krieges, wo auf dieProteste der Neutralen wenig oder gar nicht geachtet wurde. Und weiter *) A. W. S. 89. 2) Kecueil S. 95. 95 als zu Protesten kam vorlaufig keiner von ihnen. Gen au der gleiche Lauf der Dinge wiederholte sich, als England am 11. Marz 1915 sein Blockadedekret über Deutschland ausfertigte *), in dem öffentlich ausgesprochen wurde, daB es sich hier um die Anwendung von „an unquestionable right of retaliation" handle. Deshalb, so hieB es, habe man sich zu weiteren MaBnahmen entschlossen, um zu verhindern, daB „commodities of any kind" Deutschland erreichten oder verlieBen. Kein Handelsschiff, das nach dem 1. Marz 1915 einen Hafen verlassen habe, dürfe nach irgendeinem deutschen Hafen fahren. Es könne höchstens die Erlaubnis zur Weiterfahrt nach einem neutralen Hafen bekommen, wohl zu verstenen, nach Löschung seiner Ladung in einem britischen Hafen. In dem Protest der hollandischen Regierung gegen diese MaBregel sind die folgenden au Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Worte zu lesen: „Le Gouvernement de la Reine ne porte point de jugement sur la question de savoir si les mesures de guerre prises par les belligérants pour se nuire de part et d'autre sont justifiées ou non. Toutefois il incombe aux Pays-Bas en qualité de puissance neutre dans le conflict actuel de s'élever contre ces mesures en tant ce qu'elles dérogent aux principes ) Recueil S. 163. *) Die folgenden Ausführungen basieren auf: „Diplomatieke Bescheiden betreffende de toelating van oorlogsschepen en gewapende handelsvaartuigen binnen het Nederlandsehe Rechtsgebied, 's Gravenhage 1917. 117 auch freigelassen werden sollte. England war der Meinung, daB die „Princess Melita" auch mit ihrer Bewaffnung hatte zugelassen werden müssen, und verlangte, Holland solle wegen der völlig veranderten Art der Seekriegsführung sich zu einer Preisgabe seiner bisherigen Auffassung verstenen. Beide Lander erlitten eine Abfuhr. Die hollandische Regierung antwortete der deutschen, sie müsse an ihrer anfanglichen Meinung festhalten, daB die Einfahrt des fraglichen Unterseebootes nicht als notwendig anzusehen und deshalb seine Internierung berechtigt gewesen sei. Die „Princess Melita" sei aber nur eingefahren, weil das Untersuchungsfahrzeug sie nicht aufierhalb des Hafens angetroffen habe, und sei sofort wieder ausgefahren, nachdem sie dazu Befehl empfangen habe. Die englische Regierung bekam zur Antwort, die hollandische Regierung gebe zwar zu, daB die Methoden des Seekrieges sich geandert hatten, das könne für sie aber kein Grund sein, eine einmal festgesellte Regel einzuziehen. Der Minister des Auswatigen argumentierte namlich in einer für die Art der hollandischen Neutralitat charakteristischen Stelle, auf die wir deshalb schon einmal hingewiesen haben, folgendermaBen: „Rien ne serait plus contraire au principe même de la neutralité que de révoquer au cours d'une guerre et k la demande de 1'un des belkgérants, une règle de neutralité qui par suite des évènements quelsqu'ils soient, se trouve être désavantageuse k ce seul belligérant. Cette révocation prendrait incontestablement le caractère d'une faveur et serait par conséquent incompatible avec 1'impartialité qui est le trait distinctif de la neutralité." Daran hielt Holland fest und es sah seinen Rechtsstandpunkt, wenn nicht als richtig anerkannt, so doch respektiert. Das war eine" kleine Genugtuung für die Regierung, die sich in diesem Falie nicht zwingen zu lassen brauchte, möchte man auch gewünscht haben, daB sie ihren Erfolg lieber in einer Angelegenheit erzielte, bei der sie völkerrechtlich starker stand, denn es kann nicht geleugnet werden, daB ihrem Standpunkt eine' gewisse Zweideutigkeit anhaftete. Auf die Phase, in welche wir den Seekrieg Anfang 1916 kommen sahen, folgte Anfang 1917 noch eine schlimmere. Der Höhepunkt von damals wurde übertroffen. Kündigte doch am 1. Februar die deutsche Regierung den verscharften Unterseebootkrieg an. Das bedeutete eigentlich, daB sie die Einschrankungen, die sie bis dahin mit Rücksicht auf die amerikanische Regierung hatte gelten lassen, aufhob. Mit anderen Worten, künftig sollten Handelsschiffe, die sich im Kriegsgebiet befanden, ohne vorherige Warnung und ohne daB den Passagieren und der Bemannung Gelegenheit gegeben werden sollte, das Schiff zu verlassen, in den Grund gebohrt werden. Die deutsche Regierung motivierte ihre Handlungsweise mit dem Hinweis auf ihr auch im Namen ihrer Bundesgenossen 118 auf der Grundlage der Existenznotwendigkeiten, der Ehre und der freien Entwicklung ihrer Völker im Dezember 1916 gemachtes Friedensangebot, das die Alliierten mit einer Bekanntmachung sehr sehwerer Bedingungen beantworteten, die eine Erniedrigung der Zentralmachte zum Ziele gehabt hatten. Deshalb sehe sich Deutschland einer neuen Situation gegenüber, die es ihm zur Pflicht mache, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu gebrauchen, sowohl um die Aushungerungspolitik Englands zu erwidern, wie um den Krieg selbst so rasch als mögkch zu Ende zu bringen. Ihren Höhepunkt erreichte die an die hollandische Regierung gerichtete Note x), in der die neue Mafiregel angekündigt wurde, in folgenden Worten: „ Le Gouvernement Impérial ne saurait assumer la responsabilité devant sa propre conscience, devant le peuple allemand et devant 1'histoire, de ne pas utiliser tous les moyens pour hater la fin de la guerre. II avait le désir et 1'espoir d'y parvenir par la voie de négociations. Les adversaires ayant répondu k la téntative d'entrer dans cette voie par 1'annonce d'unredoublement de la lutte, le Gouvernement Impérial, pour servir dans le sens élevé 1'humanité et pour ne pas se charger d'une lourde faute aux yeux de son propre peuple, doit mettre en jeu toutes les armes, afin de continuer la lutte a laquelle ü a été contraint pour défendre son existence. II se' voit donc forcé de supprimer les restrictions apportées jusqu'k présent dans femploi de ses moyens de combat sur mer." Die deutsche Regierung hoffte, dafi die Neutralen ihr recht geben mochten! „Dans la ferme cónfiance que le peuple et le Gouvernement Néerlandais se rendront aux motifs de cette décision et de la nécessité qui la dicte le Gouvernement Impérial espère que le Gouvernement Néerlandais apprëciera le nouvel état de choses de toute la hauteur de son impartialité et qu'il contribuera aussi pour sa part k empêcher une plus grande misère et des sacrifices évitables de vies humaines." Die in Aussicht gestekte Mafiregel selbst wurde in einer der Note beigefügten Erklarung folgendermafien umschrieben: „Vom 1. Februar 1917 ab wird in den nachstehend bezeichneten Sperrgebieten um Grofibritannien, Frankreich und Italiën herum und im ösdichen Mittelmeer jedem Seeverkehr ohne wëiteres mit aken Waffen^ entgegengetreten werden." Darauf folgte eine Abgrenzung dieser Gebiete. Um den Interessen der hollandischen Schiffahrt entgegenzukommen, erklarte sich Deutschland bereit, einen schmalen naher bezeichneten Streken frei zu lassen, durch den die hollandischen Sehiffe den Adantischen Ozean sollten erreichen können. Diesem Entgegenkommen verdankte die sogenannte „freie Fahrrinne" ihre Entstehung. *) Diplomatieke Bescheiden betreffende den verscherpten Duikbootoorlog. s'Gravenhage 1917. 119 Natürlich folgte dieser forschen Mafiregel auch ein Gegenschlag von seiten Englands, das nun die am 10. Januar 1917 noch verscharfte Order im Council vom Marz 1915 durch eine Verordnung vom 16. Februar 1917 *) in einer Weise anderte, die für die hollandische Schiffahrt nicht minder bedenklich war als die deutsche Verordnung. Es hieB darin: „Whereas the orders embodied in the said memorandum (namlich dem deutschen) are in flagrant contradiction with the rules of international law,1 the dictates of humanity, and the treaty obgligations of the enemy", sehe' auch England sich gezwungen, zu anderen Mafiregeln überzugehen, um die Zufuhr nach Deutschland um so strenger zu verhindern. Deshalb werde festgesetzt: „A vessel which is encountered at sea on her way to* or from a port in any neutral country affording means of acces to the enemy territory without calling at a port in British or Allied territory shall, until the contrary is established, be deemed to be carrying goods with an enemy destination, or of enemy origin, and shall be brought in for examination, and, if necessary, fór adjudication before the Prize Court. . »Any vessel carrying goods with an enemy destination, or of enemy origin, shall be liable tb capture and condemnation in respect of the carriage of such goods; provided that, in the case of any vessel which calls at an appointed British or Allied port for the examination of her carge, no sentence of condemnation shall be pronounced in respect only of the carriage of goods of enemy origin or destination, and in such presumption as is laid down in Article I shall arise." Die Lage war demnach so: Wahrend die eine Partei den hollandischen Schiffen unter Androhung der Vernichtung verbot, nach England und mehreren anderen Landern zu fahren, zwang die andere sie gerade, ebenfalls unter Androhung der Vernichtung oder der Konfiskation, zur Einfahrt in das Sperrgebiet. Es war nichts weniger als eine angenehme oder bequeme Situation für die hollandischen Seeleute, die nun so recht gewahr wurden, dafi sie in einem _ Lande zu Hause waren, das zwischen zwei Feuern lag. Anlafi zur Anderung ihrer bisher beobachteten Haltung fand die hokandische Regierung in diesen Ereignissen nicht. Doch beurteilte sie sie sehr ernst und auBerte das auch in einer besonderen Regierungserklarung m der zweiten Kammer der Generalstaaten 2). Natürlich protestierte sie auch bei beiden Parteien. Aber sie wird schwerlich erwartet haben, mit ihren Protesten irgendwelche Wirkung zu erzielen. Es ist v wohl nach unseren früheren diesbezüglichen Bemerkungen überflüssig, naher auf die durch diese MaBnahmen beim hollandischen Volke verursachte Stimmung einzugehen. Man hatte sich schon an soviel ge- *) Hollandisches Orangebuch, Dezember 1916 bis April 1918, S. 5. ) Sitzungsberichte der zweiten Kammer 1916/17, S. 1467. 120 wonnen müssen! So -nahm man - auch das noch gelassen auf sich. Man kann sogar nichf einmal sagen, daB sich die Stimmung noch viel veranderte. Aber doch blieb die MiBstimmung über das' Auftreten der Tauchboote — tolle Seehunde nanntè sie ein hoüandischer Journalist — am gröfiten, besonders da sie immer von neuem erregt wurde. Kurz nach Anfang des verscharften U-Bootkrieges wurden sechs durch die engksche Regierung geraume Zeit in Falmouth zurückgehaltene Getreideschiffe versenkt, als sie mit einem deutschen Freigeleite versehen nach Holland fuhren. Dieser höchst bedauerliche Irrtum erregte natürlich ungeheures Aufsehen. Die deutsche Regierung erkannte ihre Schuld an und erklarte sich bereit, an Holland Schadenersatz zu leisten. Zu diesem Zweck sollte aus den wahrend des Krieges in Hafen von HoMndisch - Ostindien geflüchteten deutschen Schiffen eine entsprechende Anzahl ausgewahlt werden Bald erfolgten wieder neue Versenkungen von Fischerfahrzeugen und anderen Schiffen, gerade als ob die Erbitterung dauernd genahrt werden sollte. -t'O^ Jedoch ertönten auch jetzt in Holland keine Kriegsfanfaren. Will man die damals herrschende Stimmung noch einmal gekennzeichnet sehen, so lese man folgende Gedanken Verweys 2): „Es werden gegenwartig von Franzosen und Englandern Versuche gemacht, um uns zu veranlassen, unsere Gesinnung mit der ihrigen vökig zu identifizieren. Dafi die aggressive Kraft, welche die ganze deutsche Entwicklung beherrschte, uns Hollander zum Widerstand reizte, ist noch kein Grund, uns mit irgendeinem der deutschfeindkchen Völker sökdarisck zu erklaren. „Ich weifi wohl, daB wir, die wir nichts anderes als Hollander sein wollen, von beiden Seiten ins Gedrange kommen. Aber das ist gerade die eigenartige und unabwendbare Folge unSerer geographischen Lage, unserer Art und unserer Geschichte. Als eine derartig von aken Seiten der Pression ausgesetzte Nation müssen wir leben oder untergehen. „Es besteht unleugbar die Mögkchkeit, daB wir im Augenblick des Friedensschlusses auf niemand rechnen können, vielmehr die Feindschaft aller unserer Nachbarn, sowohl Deutschlands wie Englands, Frankreichs und Belgiens zu tragen kaben. Trotzdem ware es töricht, ja mehr als töricht, es ware unverantwortlich, uns aus Furcht davor der einen oder anderen Partei anzuschkefien. „Wir sind nach Interessen und Volksart eine kleine und unabhangige, aber nach allen Seiten gravitierende Macht. Wir wünschen keine Gebietserweiterung, wohl den freien Verkehr mit allen umliegenden Landern. Wir sind der Meinung, dafi wn* im Wirken der materïellen und geistigen Krafte Europas und der Welt soviel bedeuten, dafi man uns die Verwaltung J) Das ist tatsachlich geschehen, aber die Entente hat sich bisher geweigert, die Ubertragung dieser Sehiffe an Holland als zu Recht bestehend anzuerkennen. s) A. W. S. 38/39. 121 unseres Besitzes und das Recht, wir selbst zu sein, wohl zugestehen kann, wohlverstanden unter der Bedingung, daB auch wir anderen das Ihre gönnen, uns nicht in ihren Kampf um Vorrang und Suprematie mischen und uns nicht in ihre Interessengruppierungen einbeziehen lassen. Als Bundesgenossen würden wir zu den Geringsten zahlen; als unabh^hgige Vertreter des Rechtes der kleinen Völker gehören wir zu den Ansehnlichsten. „Wir sind gleichzeitig desinteressiert gegenüber den anderen und unantastbar m unserem Rechte. Eine bessere Position könnten wir gar nicht einnebmen." Aber mochte auch Holland um des rücksichtslosen U-Bootkrieges willen seine Haltung nicht andern, Amerika tat es. Damit begann eine neue Phase des Krieges, die auch für Holland sehr wichtige Veranderuneen zur Folge hatte. ö § 5. Die Handhabung der Neutralitat seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg Die Ausdehnung, die der Krieg wahrend der ersten beiden Jahre nach seinem Ausbruch erfuhr, anderte Hollands Position nicht. Weder die Teilnahme Italiens, noch die Rumaniens oder Portugals hatte auf dieselbe ïrgendwelchen Einflufi. Man betrachtete das Eingreifen dieser Staaten mit wenig Sympathie. In einigen Zeitungen wurden die egoistischen Absichten der ïtakemschen und rumanischen Politik unumwunden verurteilt, und daB Italien gegen seine alten Bundesgenossen Front machte, konnte natürlich den bestenenden Eindruck nicht verbessern. Aber die Stimmun ff blieb in der Hauptsache auch hierbei doch durch Antipathie gegen Deutschland beherrscht, und man sah es im allgemeinen sicher viel keber, dafi die Zabl der Feinde der Zentralen wuchs, als dafi der mitteleuropaische Block, der schon durch Bulgarien und die Türkei verstarkt war, noch mehr an Kraft gewonnen hatte. Für die Ausdehnung des Krieges sprach, so sagte man sich, eineErwagung. Dann würde er wenigstens um so schneller zu Ende sein, und das wüöschte man in HoUand in erster Linie. Die meisten blieben im Innersten stets überzeugt, daB Deutschland schkeBkch doch unterliegen müsse. Auch die Mehrzahl unserer Miktarkritiker, von denen einige den Lauf der Dinge vom miktarischen Standpunkt unvoreingenommen beobachteten, beurteilte die Aussichten Deutschlands auf Erfolg immer pessimistisch, trotz der glanzenden deutschen Erfolge Man hielt eben den um Deutschland geschmiedeten Ring für bedenklich. Es glückte diesem auch nie, den Rmg zu sprengen, obwohl die Bewegungsfreiheit nach dem Zutritt *) Vgl. z. B. den Verfasser der Müitarischen Betrachtungen im Nieuwe Courant. 122 Bulgariens und der Türkei etwas gröfier wurde. Und dann Englands bekannte Hartnackigkeit bei allem, was es einmal angefangen hatte, und die soviel gröBeren Hilfsquellen, über welche die Entente dank England verfügte, ihre Seeherrschaft auBerdem! Dagegen konnte Deutschland nicht siegreich bleiben, meinten die Hollander sehr oft unterelnander, das war doch ein einfaches Rechenexempel. Mochtè auch die glanzende deutsche Führung in méhreren - Feldzügen diese Uberzeugung vorübergehend zum Wanken bringen, bald machte jedoch die Logik wiéder ihr Recht geltend. Es gab sogar viele, deren Uberzeugung nie wankte: Mochte die Ëntenté immerhin zu Lande unterkegen, dann würde es England zur See noch lange nicht aufgeben. Auch an den definitiven Erfolg des Unterseebootkrieges kat man in Holland eigentlick nie geglaub't. Man fühlte instinktiv, dafi die Kraft dieser neuen Waffe, so schwer die Verluste' sein. mochten, welche der Entente allmahlick durch sie beigebracht wurden, doch nicht groB genug sei, um den Schiffsraum so zu vermindern, daB England dadurch in Hungersnot geriet, besonders, da die Abwehrmittel durch die Bewaffnung der Handelsschiffe und die wachsende "Ausdehnung des Konvoisystems offensichtkcb zunahmen. Wurden auch dunkle Prophezeiungen über die Verluste der Welttonnage gemacht, die an und für sich durchaus nicht unberechtigt waren, die SchluBfolgerung, daB damit die Endentscheidung zugunsten Deutschlands bestimmt werden würde, machte man nicht, und dieses nistinktive Gefühl hat sich als richtiger erwiesen als die Berechnungen des deutschen Marinestabes, der mit oder ohne Absicht dem deutschen Vèlke falsche Hoffnungen vorgespiegelt hatL). Es kann heute schwerlich mehr bezweifelt werden, daB jene, die den verscharften Unterseebootkrieg durchsetzten, die Sache Deutschlands unendlich geschadigt haben. Man hat allen Grund zur Annahme, daB es sich dabei um einen Sieg der Ideen des GroBadmirals von Tirpitz, der damals bereits vom Amt des Staatssekretars der Marine zurückgetreten war, über die seiner Gegner, unter denen von Kühlmann einer der Vornehmsten war, gehandelt hat, und es ist sehr bemerkenswert, dafi von Kühlmann, der von Anfang 1915 bis Ende 1916 deutscher Gesandter im Haag gewesen ist, von wo er dann nach Konstantinopel versetzt wurde, die Verscharfung des Unterseebootkrieges so lange bekSmpft hat. Das geschah ganz sicher unter dem Einflufi der hollandischen Atmosphare, in der Kühlmann lebte, und infolge des weitsichtigen Standpunktes, den er auf seinem Haager Beobachtungsposten hatte gewinnen können 2). *) Ich möchte jedoch nicht unterlassen in diesem Zusammenhang hinzuweisen anf einen Artikel des amerikanischen Admirals Sims, der beweist, daB die Not Englauds im Anfang 1917 sehr groB geworden war (siehe ein Referat im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 24. 10. 19, Abendblatt B). 2) Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914—1918, S. 190, hat enthüllt, 123 Ich weiB wohl, dafi der Gegensatz, der sich mir am scharfsten in dem tregenuber von Tirpitz und Kühlmann verkörpert, viel tiefer liegt. Kühlmann war schon wahrend seines Aufenthaltes in London vor dem Kriege als Gegner einer gewaltsamen Expansionspoktik aufgetreten. Er wollte gern Deutschland ein Weltreich werden sehen, hielt aber einen Krieg dazu für völlig überflüssig, ja sogar schadlich. Er war ein überzeugter Arihanger des Anschlusses bei England, und in einer unter seinen Auspizien erschienenen Broschüre ist diese seine Auffassung damals deutlich ausemandergesetzt worden. Dieser Staatsmann war eigentlich davon überzeugt, daB Deutschland, so wie es war 7 einen bedeutenden Platz in der Welt einnehmen könne und es zu diesem Zwecke keiner Vergröfierung bedürfé, ja dafi das Streben nach einer solchen Bismarcks nationale Schöpfung gefahrden würde. Eine solche Auffassung schlofi Eroberungspolitik in Belgien und anderswo von selbst aus. Hier lag der Gegensatz zu Tirpitz, der glaubte, Deutschland auch zur See ohne Rücksicht auf England zu einer, Weltmacht gestalten zu können. Der Gegensatz bestand mehr oder weniger latent m Deutschland schon vor 1914, aber wahrend des Krieges ist er akut geworden und hat sich schliefilich am" scharfsten in der Frage zugespitzt, was mit Belgien geschehen solle. Für das Ziel, das Tirpitz vor Augen stand, war der Besitz der belgischen Küste, oder wenigstens eines ledes davon, erwünscht, wenn nicht notwendig. Kühlmanns GedarLengang erschien eine Festhaltung Belgiens nicht erforderlich. Es ist für Deutschland das allergröBte Unglück gewesen, daB die von Tirpitz vertretene Poktik in den leitenden Kreisen über die Kühlmanns tnumphiert hat, wenn sie auch nicht in allen ihren Konsequenzen akzeptiert wurde. Das ist wahrend des Krieges geschehen. Betrachtet man Bethmann-Hollwegs Reichstagserklarung vom 4. August 1914 über das Belgien zugefügte Unrecht als ehrlich — und ich bin sehr geneigt das zu tun —, so mufi man daraus den Schlufi ziehen, daB Deutschland damals nicht an eine Annektion Belgiens dachte. Aber wahrend des Krieges dachte man sehr wohl daran und zwar in mancherlei Form Das beweist, daB die Politik des Deutschen Reiches im Laufe des Krieges natürlich unter dem EinfluB der augenblicklichen Erfolge, eine wesentliche Anderung erfahren hat. Oder vielleicht ist es besser zu sagen, es beweist daB man nicht konsequen*' am Ausgangspupkt festgehalten hat. Eine starke Persönlichkeit, um das zu verhindern, hat gefehlt. Die starken dafi Anfang 1916 die uneingeschrankte Führung des TJ-Bootkrieges nicbt durchgesetzt wurde, u a. weil er nach dem Urteil des Reicbskanzlers den Krieg mit Holland und Danemark moghcherweise zur Folge gehabt hatte, und zum Schutz gegen diese beiden Staaten n.cht ein Mann zur Verfugung war. Am Ende des Jahrts lagen - nach 86 uber Buma"'.en - diese Verhaltnisse anders; auch war damals die Reichs- I regierung von Aren fruheren Bedenken über die Haltung Hollands und Danemarks ZïïnSuïT0^ lteDd,a' S- 2*7}l Es i8t b^erkenswertfdaB Kühlmann inzwisch" aus Holland zuruckberufen worden war. 124 Persönlichkeiten, Tirpitz und in der letzten Phase des Krieges Ludendorff, standen auf der anderen Seite. Aber trotzdem haben auch diese nie ganz die "Führung bekommen und ihren Willen nicht überall durchsetzen können, Sonst ware Kühlmann nicht im Sommer 1917 Minister des Auswartigen geworden. Die deutsche Politik fuhr wahrend des Krieges einen Zickzackkurs, genau wie das seit 1890 so oft der Fall gewesen war. Ich setze meine Auffassung über diese Fragen hier auseinander, weil ich so oft überrascht war, zu sehen, daB der Kühlmannsche Standpunkt, eigentlich von allen Deutschen, denen ich hier zu Lande wahrend des Krieges begegnet bin, höchstens mit geringen Modifizierungen, voll und ganz geteilt wurde. Man mag dabei den hollandischen Einflufi sicher mit in Rechnung setzen und es bedauern, dafi/dieser EinfluB nicht starker auf dis endgültige Feststellung der deutschen Politik eingewirkt hat. Es ware wahrhaftig in Deutschlands Interesse gewesen. Ich glaube, die Entscheidung der Hollander zugunsten Kühlmanns war die Folge der Tat3ache, daB man die Tirpitzsche Auifassung scharf verurteilte. Eine Annektion Belgiens, in welcher Form auch, hatte für Holland eine sehr gefahrliche Bedrohung bedeutet, und ich muB offen gestehen, der Meinung zu sein, daB, wenn diese Absicht in der deutschen Politik endgültig.maBgebend geworden und das ganz deutlich nach auBen erkennbar geworden ware, die hollandische Regierung sehr ernst die Frage batte prüfen müssen, ob für sie nicht der Moment gekommen sei, in den Kampf einzugreifen. I Die ganzen Tirpitzschen Voi/stellungen sind übrigens sehr vage. Was der GroBadmiral nach seinem Rücktritt als Minister als Leiter der von ihm gegründeten deutschen Vaterlandspartei zur Vertëidigung der Haltung dieser Partei geschrieben 'hat, laBt eigentliche Klarheit vermissen, selbst bezüglich der Frage, was mit Belgien geschehen solle. Holland, so schreibt der Admiral, hat auf jeden Fall nichts zu befürchten. Aber die Hollander wuBten das besser, und Professor Hans Delbrück hat sehr mit Recht darauf hingewiesen, daB eines der Motive, die gegen die Politik von Tirpitz sprachen, die 'Tatsache sei, daB Deutschland sich dürch eine Annektion Belgiens die Feindschaft Hollands auf den Hals laden würde l). Es ist bemerkenswert, dafi man diesen Mangel an Klarheit und deutlicher Formulierung auch in den Auffassungen Ludendorffs wiederfindet, dessen EinfluB sich seit 1916 und besonders 1918 stark geltend machte2). Ich brauche auf dieses Problem, das letzten Endes psychologischer Natur zu sein scheint, nicht einzugehen, und konstatiere nur meinen persönlichen Eindruck von Ludendorffs .Auftreten, soweit ich dasselbe kenne. Ein bezeichnendes Beispiel der Unberechenbarkeit in den Taten dieses Feldherrn, auch der ungenügenden Berechnung der Folgen dieser Taten, hat bei mir einen starken Ein- 1) In seiner Broschüre „Wider den Rleinglauben". Jena 1917. Verlag Eugen Diedericbs. 2) Siehe hierüber noch § 11 dieses Buches. 125 druck Linterlassen. Es kommt im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausführlich zur Sprache. Aber ist eigentlich nicht auch die Ankündigung des verscharften Unterseebootkrieges ein starker Beweis für die Unbedachtsamkeit der deutschen Politik? Sollte der Maririestab wirklich absolut überzeugt gewesen sein, mit diesem Mittel Deutschland den Sieg zu gewinnen? Man\ mufi es doch wohl annehmeo, wenn man ihn nicht als völlig unbefugt' erklaren will. Aber soviel ist sicher, daB die leitenden Manner Deutschlands einen kolossalen Fehler begangen haben, indem sie die politischen Folgen ihrer Handlungsweise völlig verkannten. Man mufite sich nach den Ereignissen in einem früheren Stadium des Krieges doch sagen, daB man dabei Gefahr laufe, es nun auch mit Amerika zu tun zu bekommen. Zweifellos hat man das auch getan, aber sich dann schlieBlich in der Kroft Amerikas völlig verrechnet, und das hatte bei einer so folgenschweren Entscheidung-nicht geschehen dürfen. Ich brauche hier nicht über die Beweggründe zu sprechen, die Amerika letzten Endes zur Teilnahme am Kriege veranlassten. Wie man darüber auch denken mag, Deutschland hatte alles vermeiden müssen, womit es Amerika reizen konnte. Es tat aber das Gegenteil gerade in einem Augenblick, in dem eine ziendich groBe Aussicht auf einen Schritt des Presidenten Wilson für den Frieden bestand. Auf mich hat die deutsche Politik in jenen Tagen bereits den Eindruck eines va banque-Spiels gemacht, wie das auch Scheidemann spater Ludendorff vorgeworfen hat. . Die Wirkung, die Amerikas Parteinahme für die Entente in Holland hervorbrachte, war sehr viel starker als die, welche das Eingreifen Italiens oder Rumaniens hervorgerufen hatte. Schon sofort Anfang Februar 1917, als Wilson die diplomatischen Beziehungen abbrach, fuhlte man in Holland, daB etwas sehr Ernstes vor sich gehe. Mit Recht prophezeite man, daB dië Kriegserklarung nun nicht mehr lange auf sich werde warten lassen. Aber die ganze Bedeutung, die Amerikas Teilnahme am.Kriege auf die Dauer haben sollte, hat man auch hier in Holland nicht geahnt und konnte man auch schwerlich ahnen. / Auch abgesehen von seiner allgemeinen Bedeutung, mufite Amerikas Schritt ein lebendiges Interesse wachrufen. Erklarte doch der President in seiner Botschaft an den Kongrefi vom 3. Februar, er erwarte, dafi die anderen Neutralen Amerikas Vorbild folgen würden, ja, er nahm das sogar als sicher an. Sie sollteh also nicht nur ebenfalls die diplomatischen Beziehungen abbrechen, sondern wenn Deutschland seine Erklarung über den verscharften Unterseebootkrieg in die Praxis umsetzte, zum „Gebrauch der Mittel, welche notwendig sind für die Beschirmung unserer Seeleute und unserer Landesgenossen bei der Ausübung ihrer friedlichen und rechtmaUigen Überseereisen", übergehen, womit der President seinerseits gedroht hatte. 126 Es ist das eine der liebenswürdigen Naivitaten, denen man in den Gedankengangen des amerikanischen Prasidenten wohl auch sonst begegnet. Mit welchem Rechte konnte Wilson von einer Richtschnur für Holland und die anderen Neutralen sprechen, wo doch wahrend des Krieges keine einzige gemeinsame Aktion der Neutralen unter Leitung Amerikas stattgefunden hatte? Man dachte in Holland keinen Augenblick daran, Amerika j zu folgen! Durch ein einfluBreiches Blatt, wie den „Nieuwe Rotterdamsche Courant", wurde sofort darauf bingewiesen, Wilson hatte seine „sichere Erwartung" auf das Mitgehen der Neutralen höchstens als Vermutung auBern dürfen 1). Das Blatt wies ferner auf einige sehr wesentliche Verschiedenheiten in der Position Hollands und Amerikas hin: „Amerika ist ein Land, das noch reichlich mit Eisen und Stahl, Kohlen, Getreide, Fetten und allen anderen Lebensmitteln versehenHst Amerika hat keine gemeinsamen Grenzen mit kriegführenden Landern, ist vielmehr durch einen breiten Ozean von ihnen geschieden • und für die Zentralmachte beinahe unerreichbar. In den amerikanischen Hafen kegen zahllose deutsche Sehiffe, darunter die gröBten und schönsten der deutschen Flotte. Sie alle würden im Falie eines Krieges von Amerika beschlagnahmt werden können. „Man vergleiche damit unser Land. Trotz der verhaltnismaBigen Wohlfahrt, die bis heute ungeachtet des Krieges fortgedauert hat, ist unser Land augenblicklich so gut wie von Vonaten entblöBt. Alles, worüber Amerika aus eigenen Quellen verfügen kann, müssen wir von Übersee oder aus Deutschland beziehen. Aber unsere Übersee-Anfuhr ist infolge der f Politik der Entente auf ein Minimum beschrankt worden, und Deutschland liefert wenig oder nichts. Man hat uns verhindert, irgendwelche Vorrate für schwierige Zeiten aufzustapeln. Es herrscht bei uns Kohlennot und Mangel an Getreide so gut wie an den meisten anderen Nahrungsmitteln inkl. Fett. Eisen und Stahl haben wir so gut wie nicht. Wir sind dem Deutschen Reiche benachbart, gegen das Prasident Wilson uns das Kriegsspiel mitspielen lassen möchte, etwas, was Amerika allerdings ohne groBes Risiko tun kann, wahrend unsere Ostgrenze so gut wie offen liegt." Das Blatt bezeichnete es infolgedessen als sehr wahrscherohch, daB die Entscheidung der hollandischen Regierung anders ausfallen könnte, als Wilson glaubte. Es irrte sich nicht. Der amerikanische Geschaftstrager im Haag wandte sich im Auftrag seiner Regierung an den hokandischen Minister des AuBern und gab, nachdem er den wichtigsten Teil von Wilsons KongreBbotschaft mitgeteilt hatte, zu verstehen, „Wilson sei der Meinung, es werde dem Weltfrieden zugute kommen, wenn die andern neutralen Machte es für möglich erachteten, in ahnlicher Weise zu handeln". Diese Mitteilung ist, wie man *) 5. 2. 17, Abendausgabe C. 127 bemerken wird, ganz anders formuliert als eine sichere Erwartung. Die Antwort des hollandischen AulSenministers lautete1): „Minister Loudon hat anlaBlich der Mitteilung des Geschaftstrëgers diesem* gegenüber die Bemerkung gemacht, Holland habe keinen AnlaB, in dieser Angelegenheit dieselbe Haltung einzunehmen wie die Vereinigten Staaten, da deren Auftreten im Gegensatz zu dem Hollands sich aus den bekannten früheren Unterhandlungen zwischen Washington und Berlin ergebe. „Ein anderer Schritt ist durch die Vereinigten Staaten oder in ihrem Auftrage bei der hollandischen Regierung nicht unternommen worden." Diese Erklarung wurde bald durch eine solche des Ministerpresidenten in der zweiten Kammer naher prazisiert. Nachdem er den Protest gegen den, verscharften U-Bootkrieg, auf den wir bereits hingewiesen haben2), erwahnt hatte, fuhr er fort: „Ebensowenig wie bei anderen Ereignissen, durch die das internationale Recht verletzt wurde, hat die Regierung jetzt AnlaB gefunden, ihre internationale Politik zu andern. i» Sie halt mit Bestimmtheit an der durch die Generalstaaten stets gutgeheifienen Politik strikter Neutralitat gegen alle Parteien fest. „Sie lafit aber nicht ab von dem Vorsatz, jeder Verletzung unseres Grundgebietes oder unserer Sóuveranitat, von welcher Seite sie auch kommen sollte, mit Waffengewalt entgegenzutreten. „ Die aus der veranderten internationalen Lage sich ergebenden Schwierigkeiten hofft die Regierung mit Entschlossenheit und Klugheit zu überwinden." Die Mitteilung des Ministerprasidenten wurde mit lauten Beifallsrufen begrüBt. Die Kammer gab dadurch zu verstehen, daB sie diese Politik der Regierung gutheifie, die tatsachlich nur eine Fortsetzung der bisher verfolgten bedeutete. Es hatte noch keine Verletzung der sogenannteh vitalen Interessen stattgefunden. Inwieweit Überlegungen über den Unterschied in der Position Amerikas und Hollands bei dieser Entscheidung von Einflufi gewesen sind, laBt sich nicht sagen. Loudon berief sich in seiner Antwort an den amerikanischen Geschaftstrager allein auf die Verschiedenheit der Verhaltnisse, in dem sich beide Lander infolge der früheren Geschehnisse Deutschland gegenüber befanden. Aber damit war nicht alles gesagt, denn man korinte sich fragen, ob diese Verschiedenheit nicht gerade schon durch den Unterschied der beiderseitigen Position entstanden sei, die von Anfang an die Politik der beiden Lander beeinflufit haben mufi. Nicht mehr Erfolg als in Holland hatte die amerikanische Einladung in den anderen nock neutral gebkebenen Landern Europas, obgleich deren 1) Siehe z. B. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 8. 2. 17, Morgenblatt B. 2) Siehe darüber oben S. 120. 128 Position, ausgenommen die der Schweiz, es ihnen zum mindesten etwas leichter gemacht hatte, auf sie einzugehen. Ihnen allen fehlte eben der ldealismus' und die Humanitat, die Wilson laut seiner Botschaft an den Kongrefi anspornten, nötigenfalls zu den Waffen zu greifen, oder besser gesagt, es feblte ihnen durchaus nicht daran, aber sie wagten nicht, die schwere1 Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, die eine Entscheidung für die Wilsonsche Forderung ihnen auferlegt hatte. Die hollandische öffentliche Meinung hat die Haltung der Regierung auch bei dieser wichtigen Frage gutgeheiBen. Es ware nicht schwer, das mit Zitaten zu beweisen. Besonders bemerkenswert war, daB die wenigen Blatter, die sich gewöhnlich stark antideutsch ausliefien, die Sache nun nicht auf die Spitze treiben wollten; es scheint ihnen letzten Endes der Mut, um-fur ihre Uberzeugung einzutreten, doch gefehlt zu haben. Es blieb Amerika nichts anderes tibrig als sich mit der durch die | andern Neutralen angenommenen Haltung zufrieden zu geben. Trotzdem war es für die letzteren eine ernste Sache, jetzt auch mit Amerika als kriegführender Macht rechnen zu müssen. Nicht allein fehlte ihnen nun das bisher von dem machtigsten Neutralen geltend gemachte moralische Schwergewicht, das zuweilen nicht ohne Einflufi auf die Kriegführenden geblieben war, sondern sie mufiten es auch erleben, dafi Amerika i gegen sie die gleichen Mafiregeln traf wie die anderen Kriegführenden. I Zwar hat Amerika sich eine einigermafien selbstandige Position gewahrt I— es war mit den Alliierten nur assoziiert — und auch nie die englische Auffassung des Seereehtes, wie sie sich allmahlich entwickelt hatte, zu der seinen gemacht, aber es hatte doch als kriegführende Macht andere Interessen wie als neutrale, und brachte nun selbst einige Regeln in Anwendung, die es wahrend seiner Neutralitat verurteilt hatte. Ganz besonders hatte Holland als Seemacht darunter zu leiden. Die Lebensmittelanfuhr kónnte beinahe nicht starker erschwert werden als das schon der Fall war. Jedoch wurde der Ankauf von Lebensmitteln in Amerika, das in erster Linie die Bedürfnisse seiner Mitkampfer befriedigen wollte, schwieriger. Auch die Belieferung der hollandischen Sehiffe mit Bunkerkohlen machte in Amerika Schwierigkeiten, und Amerika, das nun auch für den Übersee - Transport seiner Truppen sehr viel Schiffsraum nötig hatte, begann bald, ebenso wie England, nach den hollandischen Handëlsschiffen begehrliche Blicke zu werfen. Seinen Höhepunkt erreichte das alles aber erst nach einiger Zeit, als die Rationierung in ihrer strengsten Form auf Holland ausgedehnt wurde, und die Entente auf einen groBen Teil des hollandischen Schiffsraums Beschlag legte. Bevor wir dazu übergehen, müssen wir uns noch über einige Angelegenheiten aufiern, bei denen Amerika nicht direkt beteiligt war, sondern die unser Verhaltnis zu den europaischen Machten betrafen. Die im Laufe des Jahres 1917 noch hinzukommenden Verkehrs- 9 Japikse, Holland 129 beschrankungen können wir kurz behandeln. Die eiigkschen Sckikanen boUandischen Schiften gegenüber vermehrten sich im Frühjahr in starkem MaBe. So wurde z. B. verlangt, dafi England die Produkte der Landwirtschaft, welche ihm infolge des früher genannten Agreements gekefert wurden, auf niederlandischen Schiften übermittelt werden sokten. Die englische Verordnung von Ende Juli 1917, durch welche die gefahrliche Zone auf die deutsche Bucht und ihre Umgebung ausgedehnt wurde anderte schliefikch, da^England sich auch zu einigen Erleichterungen geneigt zeigte, an der tatsachlichen Lage nicht mehr als der Umstand, daS die deutsche Regierung ihre Prisenordnung im gleichen Monat in einer für die Neutralen noch ungünstigeren Weise erganzte. Beide MaBnahmen veranlafiten hohandische Proteste *), die jedoch das schon mehrfach angedeutete Resultat hatten. Viel ernster war der Zwischenfall, der sich am 16. Juk 1917 an der boUandischen Küste bei Egmond aan Zee abspielte. Am frühen Morgen dieses Tages beobachtete die militarische Küstenwache sieben deutsche Frachtschiffe, die ohne Flagge fuhren. Sie kamen von Rotterdam, waren gröfitenteils mit Kohlen beladen und wollten nach einem deutschen Hafen fahren. Durch die hollandischen Territorialgewasser hofften sie Deutschland zu erreichen, wie das schon einigen Schiffen vorher geglückt war. Es war das der einzige Weg für Deutschland, um Zufuhren über See aus dem Westen zu bekommen. Zwischen Petten und Kamperduin wurden die deutschen Sehiffe jedoch von englischen Kriegsschiffen angegriffen, die dabei in die hollandischen Territorialgewasser eindrangen. Vier der deutschen Sehiffe wurden durch die Englander erbeutet, zwei andere kefen an der Küste auf Grund, das siebente ging am Eingang des Schulpengat bei dem dort stationierten hollandischen Kontrollfahrzeug vor Anker, das es in seinen Schutz nahm. Als ein in aller Eile aus Den Helder entsandtes hollandisches Geschwader an Ort und SteUe kam, hatten die englischen Sehiffe — es waren Torpedoboote — die Territorialgewasser bereits wieder verlassen. Mehrere Granaten waren auf hollandisches Gebiet gefajlen ' glücklicherweise ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Natürlich verursachte dieses Ereignis grofie Entrüstung, besser gesagt Bestürzung. Auf diese Weise trat also die Beschirmerin der kleinen Nationen in Aktion! Man hegte nicht den geringsten Zweifel daran und sagte das auch öffentlich, daB England völlige Genugtuung geben werdez. B. schrieb der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" (23. 7. 1917): „Man darf wohl erwarten, dafi die englische Regierung keine ernsthchen Schwierigkeiten machen und für den Angriff selbst und die Folgen, die er für unser Land hatte, eine entsprechende Genugtuung leisten wird. *) Hollandisches Orangebuch Dezember 1916 bis April 1918, S. 5ff Die Ausdehnung der englischen Zone wird hier nicht behandelt. Man sehe dafur u. a den .Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 30. 6. 1917, Abendausgabe C. 130 »Jedt* bnüsche, jeder amenkanische, jeder portugiesische Soldat weiB, daS er bate an Sate nut seinen Kameraden für das Völkerrecht und dié Gerechtigkat der Welt ficht", versicherte Lloyd George bei der Feier 'des belgischen Unabhangigkatstages in London. SoUte nun etwa Endand die von ihm_begangene Neutraktatsverletzung nicht anerkennen und Llovd Georges Worte Lügen strafen wollen? Man kann es nicht glauben" Die hollandische Regierung lieB einen krüftigen Protest gegen diese „unmistakable violation of Netherland sovereignty and neutrality" in London horen i) Aber die engksche Regierung hatte es mit der Antwort nicht rT' iK^M Zwei,W(!chei1 hatte der toMndische Gesandte nur eine mündhche Mitteilung des britischen Aufienministers empfangen, des Inhalts, die englische Regierung habe die Absicht, die Angelegenheit der vier erbeuteten Sehiffe vor das Prisengericht zu bringen. Wenn die vorlaufig bestehende Meinung, dafi die bntische Marine hinsichtkek der beiden gestrandeten Sehiffe unrechtmafiig aufgetreten sei, befestigt werde, dann werde die entsprechende Genugtuung nicht ausbleiben. Damit begnügte sich Holland aber nicht. Sein Gesandter in London erhielt den Auftrag mitzuteilen, daB seine Regierung die in Aussicht gestekte Behandlung der vier Sehiffe für völlig unannehmbar und es mit dim Völkerrecht fur unverembar halte, sich zwingen zu lassen, vor dem Prisengericht zu erschanen, wenn sie nicht ihre SouverSnitatsrechte negiert sehen wollte. Gleichzeitig verlangte sie eine Behandlung der Angelegenheit auf diplomatischem Wege. Am Schlufi des Memorandums, in welchem der Gesandte diese Auffassung zur Kenntnis der englischen Regierung brachte, wurde mit Nachdruck auf eine rasche Antwort gedrungen.7 „En portant ces ^observations, d'ordre de mon Gouvernement k la connaissance de Votre Excellence, je suis chargé d'y ajouter que le Ministre des Affaires Etrangères sera forcé de publier la réponse que le Gouvernement Britannique donnera k sa demande, vu que le pubfic 1'attend depuis plus de qumze jours avec une impatience justifiée. Le Ministre a ie sincère désir déviter tont ce qui pourrait exciter 1'opinion publique aux fays-Bas dune manière qui pourrait porter ombrage aux sentiments amicaux des deux pays qui nous sont tant k coeur; il espère pour cette raison que le Gouvernement du Roi animé de eet esprit de loyauté qui le distingue, Néerkndais « 8 **** ^ ^ ^ * ^ demande ^Gouvernement Zwei Tage spater, am 4. August, kef die engksche Antwort ein, in der Balfours mundkche Mitteilung bestatigt wurde. Es wurde nun deutlich, dafi England nicht zugeben wollte, dafi eine Verletzung der hollandischen lerntonalgrenzen in dem von der hokandischen Regierung an- «mber^ïVK^^ "* hoü&M<* Orangebuch De- 9* 131 gegebenen Sinne stattgefunden habe. Von englischer Seite, so wurde dann in den weiterhin in dieser Sache ausgetauschten Noten dargelegt, bestehe man darauf, dafi sich die deutschen Sehiffe zu Beginn des Angriffes nicht innerhalb der hollandischen Hoheitsgewasser befunden und die Auf bringung der vier Sehiffe nicht innerhalb derselben stattgefunden habe. Wenn die hollandische Regierung anderer Meinung sei und bleibe, so müsse sie ihre Forderung auf Rückgabe der Sehiffe beim englischen Prisengericht einreichen. Das sei, so behauptete die englische Regierung mit Berufung auf einzelne Antezeden tien, in solchen Fallen üblich. Hinsichtlich der beiden gestrandeten Sehiffe wurde als Resultat der angestellten Untersuchung mitgeteilt, dafi sie auf der Flucht tatsachlich in die hollandischen Territorialgewasser gelangt und hier durch ein englisches Kriegsschiff beschossen worden seien. Dafür bot die englische Regierung ihre Entschuldigung an und gab die Neutralitatsverletzung zu. Die hollandische Regierung erklarte, durch die englische Beweisführung nicht überzeugt zu sein, nahm aber dankbar zur Kenntnis, dafi die englische Regierung | sich zur Rückgabe der Sehiffe für verpflichtet halte, wenn bewiesen werde, dafi die Aufbringung derselben innerhalb der Territorialgewasser stattgefunden habe, und liefi ihren Einwand gegen die Form des Verfahrens fallen: „Toutefois, en égard au refus du Gouvernement Britannique de traiter le différend en question par la voie diplomatique, le Gouvernement de la Reine ne voulant rien omettre pour obtenir réparation de ses droits souverains violés, s'est décidé k introduire sa réclamation devant le Cour des Prises Britannique. II le fait toutefois sous protestation et en se réservant tous ses droits pour le cas oh la decision de la Cour des Prises Britannique ne lui paraitrait pas juste." Gleichzeitig verlangte die hollandische Regierung für die beiden gestrandeten Sehiffe Schadensersatz in bar, erlebte dabei jedoch eine neue Enttauschung. Die englische Regierung erklarte sich dazu erst nach naherer Untersuchung der Angelegenheit bereit. Es handele sich hier, so wurde argumentiert, um eine Forderung zugunsten von Privatleuten, nicht zugunsten des Staates selbst, wie in der Frage der erbeuteten Sehiffe — eine etwas sophistische Unterscheidung, wie es scheint. England entschuldigte sich jedoch •— zuerst war das vergessen worden! — dafür, dafi Granaten auf hollandisches Gebiet gefallen waren, und wollte den dadurch eventuell angerichteten Schaden vergüten. Man kann diesen Ablauf der Angelegenheit schwerkch für befriedigend halten. Das Krankendste daran war die Nonchalance, womit England sie behandelte. Die Mifistimmung darüber kam noch starker, als in der Haltung der Regierung, in der Presse zum Ausdruck, in der ein bekannter hollandischer Rechtsgelehrter schrieb : *) Staatsrat Struycken in „Van onzen Tijd" vom 28. 7. 17. 132 „Beinahe noch unangenehmer als das Ereignis selbst, das eine Folge allzugrofien Diensteifers dieses oder jenes Marinekommandanten sein kann ist die von einem Teil der englischen Presse ihm gegenüber eingenommené üaltung. Mit der tiefsten Mifiachtung spricht man über unsere Rechte, insoweit sie der Verwirklichung der Kriegsziele der Alliierten, namlich der volhgen Isoherung Deutschlands, im Wege stehen, ja man scheut sich sogar mcht einmal, die Rolle umzukehren und, wo man unsere Rechte mit Füfien tatt, gleichzeitig den Beleidigten zu spielen, als ob wir es warenrdie dadurch, dafi wir zulassen, was wir rechtens zulassen müssen, den Rechten der ^Alliierten zu nahe traten. Man darf wohl erwarten, dafi die englische Regierung eine nchtigere Einsicht besitzt." Indessen hatte England sein Ziel erreicht. Die deutsche Küstenscniffahrt nahm ein Ende, denn kein deutsches Handelsschiff wagte sich mehr an die hollandische Küste. Es dauerte lange, bis die besprochene Angelegenheit beim englischen Prisengericht zur Behandlung kam i), und dann standen sich die beiden Auöassungen von neuem gegenüber. Von engkscher Seite wurde nun doch zugegeben dafi die Sehiffe, als die Englander sie in Besitz nahmen, sich innerhalb der hollandischen Territorialgewasser befanden. Sie sokten dahin aber durch Strömung, Flut und Wind abgetrieben worden sein, nachdem sie zum Halten gezwungen worden waren. Die Inbesitznahme mit andern Worten, das Anbordgehen einer englischen Prisenbemannung sei aber nicht als unrechtmafiige Mafinahme zu betrachten, da sie bereits getroffen worden sei, bevor die Sehiffe in die Territorialgewasser geTarnen waren, so dafi also die Aufbringung nicht dort stattgefunden habe. ■Jeshalb konne vom englischen Standpunkt aus nicht zugegeben werden dafi eine Verletzung der hollandischen Neutralitat stattgefunden habe! ttoüandischerseits wurde diese Auffassung von neuem bestritten, u. a mit dem Argument, bei der damals herrschenden Strömung, Flut und Windstörke J Mtten die deutschen Sehiffe unmöglich in der Richtung der hollandischen Kuste eine solche Strecke, wie die engkschen Offiziere angegeben hatten, | namlich 1| Meden, abgetrieben werden können2). Das Urteil des englischen Richters bat schlieBlich — und das ist ein löbliches Zeugnis seiner? Unpartemchkeit — der hollandischen Regierung recht gegeben und auf! Rückgabe der Sehiffe erkannt. Der Richter ging von der Erwügung aus, dafi das Anbordkommen der Prisenbesatzung der entscheidende Schritt für ' die Inbesitznahme gewesen sei, und sie hatte auf jeden FaU innerhalb der lemtonalgrenzen stattgefunden s). lfchpAïtm^80^ Wtr,?"neJ.Fuge l0D Hollands Weigerung, die Sache mit schrift, i^i^^^J^l^1 ZeDgen' deren tWahrt nach England ^ |) Siehe den Bericht im „Algemeene Handelsblad" vom 10. 5. 19 j Das Urteil wurde am 30. 7. 19 gefallt (Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 133 Kurz nachdem diese Schiffsangelegenheit passiert war, geriet eineandere Frage, die schon lange latent war, in ein akutes Stadium, namlich die der Durchfuhr von Belgien nach Deutschland und umgekekrt über hollandisches Gebiet. Ihre scharfste Form nahm sie im Zusammenhang mit den bezüglich der Durchfuhr von Sand und Kies nach Belgien aufgetretenen Schwierigkeiten an 1). Für die Bestimmung der Haltung der hollandischen Regierung „kam ganz allgemein die auf der zweiten Friedenskonferenz geschlossene Ubereinkunft über das Neutralitatsrecht und die Rheinschiffahrtsakte von 1868 in Betracht. Auf Grund dieser beiden Vertrage hielt die hollandische Regierung sich für verpfkchtet, die freie Durchfuhr aller Güter zuzulassen, mit Ausnahme jener, die ihrer Art nach direkt als Kriegsvorrate erkennbar, waren und fiir kriegerische Zwecke gebraucht werden konnten. Beiden Vertragen lag die liberale Auffassung der Verkehrspolitik zugrunde, an der die hollandische Regierung auch zur See hatte festhalten woken, an deren Durchführung sie jedoch verhindert worden war. Zu Lande war sie jedoch ihr eigener Herr und dazu besser imstande. Nur die Beantwortung der Frage, inwiefern bestimmte Artikel zu kriegerischen Zwecken dienten, konnte ihr Schwierigkeiten verursachen. Hier muBte der tatsachkche Gebrauch, der von den Gütern gemacht wurde, entscheiden. Bei dem von Deutschland nach Belgien durchgeführten Sand und Kies galt es zu bestimmen, inwiefern sie nur für zivile Zwecke und inwieweit auck für militarische verwendet wurden. Wurden sie nur zur UnterhaUnng schon bestehender St^aBeh benutzt, für welche die deutsche Verwalumg^ Belgiens zu sorgen hatte, dann mufiten sie durchgelassen werden. Wurden sie für die Anlage von Befestigungen, z. B. von Betonunterstanden, gebraucht, so mufite man ihre Durchfuhr verhindern. Schon 1916 begann die Entente, besonders die englische Regierung, sich mit dieser Durchfuhr zu beschaftigen. Die hokandische Regierung fühlte sich dadurch veranlafit, durch zwei hollandische Genieoffiziere an Ort und Stelle eine Untersuchung ansteUen zu lassen, um sich darüber zu unterrichten, welcher Gebrauch in Belgien von dem über hollandisches Gebiet verfrachtetën Sand und Kies gemacht wurde. Es zeigte sich damals, daB das durchgeführte Material jedenfalls zum gröBten Teil für nichtmilitariscbe Arbeiten verwendet wurde. Anfanglich war es auch für militarische Zwecke benutzt worden, jedoch nicht mehr, seit die hollandische Regierung für jede durch ihr Gebiet geführte Ladung eine Erklarung forderte, dafi sie nur für zivile Verwendung bestimmt war. Zu Anfang 31. 7., Morgenblatt B). Die Freigabe der Sehiffe wurde aber auf Ersuchen des Advokaten der Krone aufgeschoben. 1) Die folgenden Ausführungen nach der offiziellen Publikation „Doorvoer door Nederland uit Duitschland naar België en in omgekeerde richting" (Briefwechsel mit der deutschen und englischen Regierung, Haag, Algemeene Landsdrukkerij 1917). 134 1917 ging sie noch etwas weiter und erklarte, dafi künftig nur noch eine auf hochstens 1 650 000 tons festgesetzte Quantitat durchgelassen werden j'w TD fÜr die normale Unterhaltung von Wegen und Eisenbahn. und Wasserbauten für nötig hielt. Für auBergewöhnhche, natürhch ebenialls nichtmihtarische' Bedürfhisse sollte, wenn nötig, eine besondere Regelung getroffen werden können. AuBerdem verlangte die hollandische Regierung eme nahere Kontrolle über den Gebrauch der durchgefuhrten ^uantitaten. Die deutsche Regierung ging, wenn auch nicht ohne Widerspruch, auf diese Vorschlage Hollands ein. Inzwischen hatte die Entente allmahlich eme drangendere Haltung angenommen. Die Auffassung der englischen Regierung wurde ausführlich in einem Schreiben des englischen Gesandten im Haag vom 7. Marz 1917 auseinandergesetzt Es zeigte sich, daB sie anderer Meinung war als die hollandische Regierung, besonders was die Auslegung des Neutralitatsvertrages zu Land von 1907 anbelangte. Da die StraBen in Belgien, so tolgerte sie, vornehmlich durch den starken auf ihnen stattfindenden Verkehr mit Truppen und Kriegsmaterial abgenutzt wurden, so diente auch die Ausbesserung dieser StraBen militarischen Zwecken und kam also der deutschen Kriegführung zugute. Ausführkch beantwortete die hollandische Regierung nach neuerlichen Untersuchungen dieses Schreiben mit der Note vom 14. September 1917 2). Sie setzte darin detailhert ihre KontroumaBnahmen bei der Durchfuhr des Materials und bei seiner Benutzung ausemander. Sie hielt ferner daran fest, daB „1'amékoration et la tran£ formaüon des routes dans les régions situés en dehors de la zóne des armées ont conservé le caractère qu'il leur attribuait 1'année précédente a savoir celui d'puvrages extraordinaires non militaires". Es war ein schwieriger Fall, denn zweifellos enthielt das englische Argument, daB Deutschland durch die Durchfuhr über hollandisches Gebiet begünstigt werde, einen Kern Wahrheit. Die Durchfuhr entkstete den Iransport auf den direkt von Deutschland nach Belgien führenden Verkehrswegen, der natürlich vor allem militarischer Art war. Über HoUand verfrachtete Materialien für zivile Zwecke, wie Sand und Kies und derartiges, machten auBerdem ahnkche belgische Materialien für rein militariscke Zwecke frei. Man kann sich vorsteken, daB das der Entente unangenekm war. Aber sie batte bedenken müssen, wie sehr sie selbst von amerikanischen Lieferungen sogar für rein militariscke Zwecke profitiert hatte, solange Amerika noch nicht am Kriege teilnahm, etwas', was Deutschland hochst unangenehm war, ohne daB es dagegen aber etwas tun konnte. Was den Rechtsstandpunkt angeht, so scheint die hollandische Regierung auch in diesem Fake eine starke Position eingenommeh zu haben. Die Frage, ob Deutschland bei der Angelegenheit profitierte, ging sie nichts J) A. W., S. 26. *) Ebenda, S. 80. 135 an, ebensowenig die, ob sie die deutsche Kriegführung indirekt begünstigte. k Liefere mir den Beweis, sagte sie mehr als einmal zu England, dafi das durchgefuhrte Material für rein militarische Zwecke benutzt wird — England glaubte darauf bestehen zu müssen, dafi das wirkbch der Fall war —, und ich werde Deutschland sofort zur Verantwortung rufen und die nötigen MaBnahmen treffen, um deinen dann rechtmafiigeh Klagen entgegenzukommen! England gab sich damit nicht zufrieden und beschwerte sich auBerdem über die Durchfuhr von Materialien aus Belgien nach Deutschland über hollandisches Gebiet die nach denselben Regeln, wie der Transport von Sand und Kies, stattfand. In beiden Fallen hielt die hollandische Regierung aber an der Ablehnung der englischen Forderung auf Stilllegung der Durchfuhr fest. Da begann England zu drohen und am 20. September teilte der engksche Gesandte folgendes mit: „In these circumstances and in view moreover of the large quantity of sand and gravel etc. which have passed through the Netherlands to j Belgium since August 15th last, I have been instructed by my government to inform Your Excellency that," unless the Netherland Government will give without delay a definite assurance that this traffic as weil as the transit of metais shaU cease completely and at once, they intend to discontinue any facilities for the transmission of Dutch cable messages. „In view of the great urgency attached to these question by my Government, I venture to express the hope that the reply of the Netherland Government may be communicated to me with as kttle delay as possible. f. Schon zwei Tage darauf drangte England von neuem, die verlangte Mafinahme müsse „without any further delay" getroffen werden. Das war „une communication quelque peu surprenante", wie der hollandische Minister des AuBern in seiner Antwort an den englischen Gesandten bemerkte, um so mehr als gerade am 15. August die Durchfuhr von Sand und Kies stillgelegt worden war, nachdem die für das Jahr 1917 zugelassene Quantitat durcbgeführt war, und die Bebauptung hinsichtlich der grofien Mengen, die von Deutschland nach Belgien gegangen sein^ sollten, und vondenen die letzte Depesche des englischen Gesandten, Sir Walther Townley, sprach,. sich nur auf einen früheren Zeitabschnitt beziehen konnte. Ihrer einmal angenommenen Haltung getreu', hatte die hollandische Regierung nur ihre Zustimmung dazu zu geben, daB 1917 noch ein kleiner Teil des Jahresquantums von 1918 durchgelassen werde, namkch soviel als nötig war, um für die schlechte Jahreszeit, wahrend welcher der Transport, der zu Schiff stattfand, sich nicht oder nur in geringem Mafie ermöglicken *) A. W., S. 44. 136 liefi, einen dem Verbrauch wahrend dieser Zeit entsprechenden Wintervorrat anzulegen. Die Angelegenheit war also in diesem Augenbliek nicht3 weniger als urgent, und man fragt sich vergebens, warum England nun gerade so vorging. Nocli überraschender als die Mitteilung selbst, war die Art und Weise, in der die angedrohte Mafiregel durchgeführt wurde. Als der hollandische Gesandte in London im Auftrage des Aufienministers den englischen Minister des Auswartigen um eine Konferenz über die Angelegenheit bat, und diese am 5. Oktober Btattfand, zeigte es sich, dafi die Versendung von Kabeltelegrammen bereits seit drei Tagen aufgehört hatte. Das war ohne jede nahere Mittedung geschehen, und obwohl sich zeigte, dafi es sich dabei nur um Handelstelegramme handelte, so war die Sache doch nicht weniger ernst. Das Ausbleiben dieser Telegramme aus den Landern der Alliierten —7 n«r vereinzelt schlüpfte zuweilen eines durch — war natürlich nachteilig; in höchstem Grade hinderlich war es jedoch, dafi jede telegraphiscbe Handelskommunikation mit Indien unterbrochen wurde. Man konnte in Holland nun durch bittere Erfahrung lerhen, welche unglücklichen Folgen das Fehlen einer eigenen telegraphischen Verbindung mit Indien hatte. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, dafi die hollandische Regierung ihre Haltung nun nicht anderte. Die englische Repressalienmafinahme -*- anders kann man es kaum nennen — schüchterte sie nicht ein. Sie hielt jetzt nur um so strenger an ihrem Rechtsstandpunkt fest, auf den sie. sich auch in diesem Falie gestellt hatte, und verweigerte sogar, solange der durch die britische Handlungsweise geschaffene Zustand dauerte, jede Mitwirkung, um den Konflikt, soweit er sich aus einer verschiedenen Auffassung von Vertragen ergab, auf die sich beide Parteien beriefen, einem Schiedsgericht vorzulegen, obgleich sie dazu im Prinzip sehr wohl bereit war. Zuerst mufite man aufhören zu drohen! Das tat übrigens nicht viel zur Sache, denn England zeigte sich nicht zu Arbitrage bereit. Die englische Handlungsweise an sich erscheint als sehr undurchdacht. „ A war of r'eprisals once begun there is no setting a bourne to their extent", lautet ein weiser Ausspruck eines enghschen Prisenrichtersden man in diesem Falie nicht genügend im Auge behielt. Über die Rechtmafiigkeit der englischen Mafinahme können wir uns kurz fassen. Vom hollandischen Standpunkt aus war sie absolut nicht zu verteidigen, da Holland sich nicht im geringsten bewufit war, irgendwelche Rechtsverletzung begangen zu haben. Das ist aber gerade der Charakter der Repressalie, dafi sie eine Strafe für Rechtsverletzung darstellt. England dachte darüber jedoch anders und kann sich deshalb zu einer Repressalienmafinahme für berechtigt gehalten haben, vorausgesetzt, dafi seine Verfügung als Repressalie gemeint war, was nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, da die Order ») Zitat bei Ver zijl, S. 137. 137 über die Sperrung des Handelstelegrammverkehrs nicht veröffentKcht und daher nicht genau bekannt ist, von welchem Standpunkt aus England die MaBnahme betrachtete r). Sicher war jedoch, dafi die englische Regierung durchaus nicht die Absicht hatte, die freundschaf'tlichen Beziehungen zu Holland abzubrechen. Das wurde auch in einer ihrer Noten ausdrücklich festgelegt2), und ein Mitglied des englischen Kriegskabinetts versicherte noch gerade in den Tagen, als die besprochene englische Verordnung bereits erlassen, aber noch nicht bekannt war, dafi Holland seine mit der Wahrung der Neutralitat zusammenhangenden Pflichten in bewunderungswürdiger Weise erfülle3). Diese Erklarung war ganz im Sinne ahnlicher durch andere englische Minister getaner AuBerungen. Aber gerade dieser Umstand drangt einem um so mehr die Frage auf, warum man sich dann von englischer Seite zu einem solch forschen Eingreifen entschloB, besonders da man in England sehr wohl begriff, welche Folgen es haben konnte. Schrieb nicht die „Daily News", dafi die Sperrung der Handelstelegramme zusammen mit der Weigerung von Bunkerkohlen für hollandische Sehiffe, zu der auch Amerika in jenen Tagen überging, v einer kommerziellen und wirtschaftlichen Vernichtung" gleichkomme? Letzten Endes scheint Englands Auftreten in dieser Sache ein Einschüchterungsversuch gewesen zu sein und damit ein Glied in einem System von MaBnahmen, durch das man Deutschland auch vom Verkehr mit den Neutralen so viel als irgend möglich abschneiden zu können glaubte, und das nun mehr und mehr ausgebaut wurde. In eben den Tagen, in denen diese Dinge vorfielen, wufite ein Amsterdamer Korrespondent der „ Times" bereits seinem Blatte mitzuteilen, es würden neue Repressalien folgen, wenn Holland sich der ganz offen ausgesprochenen Drohung wirtschaftlicher Aushungerung nicht beugen wolle. Aber wie gesagt, die hollandische Regierung blieb stark. Sie mufite die Behandlung durch England auch in diesem Falie dulden, lieB sich jedoch nicht dazu verleiten, ihren Standpunkt aufzugeben und, da die englische Regierung auch nicht die Absicht hatte, sie noch weiter zu zwingen, brachte die Mafiregel keine weiteren unglücklichen Folgen mit sich als diejenigen, die sich aus ihrer Anwendung an und für sich ergaben. Es folgte noch ein langer Notenwechsel, bei dem man aber eigentlich nicht weiter kam. Die RepressalienmaBnahme selbst wurde,dabei wenig besprochen, um so ausführlicher jedoch die Auslegung der mit ihr zu- 1) In der Korrespondenz über die Angelegenheit ist immer von einer Entziehung bisher verliehener „faciüties" die Rede. Die Befugtheit dazu kann formell rechtlicht nicht bezweifelt werden. < 2) S. 52: „ His Majesty's Government has no wish to embitter the controversy ... On the contrary, they are exceedingly anxious, as they always have been, to live on the most friendly terms with their Dutch neighbours and to return as soon as possible to normal relations with them in all respects." 3) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 13. 10., Morgenblatt B. 138 sammenhangenden Vertragsbestimmungen und die Frage, wieviel Material Sn Belgien notwendig sei, und wieviel dorthin bereits transportiert war. Die diesbezüglichen Angaben steilten sich als recht verschieden heraus. Holland hielt an der Richtigkeit der seinigen fest und lieB sich auch nicht jdurch die Vorlage von Beweisen durch England irre machen, nach denen /das über hollandisches Gebiet geleitete Material für kriegerische Zwecke j verwandt worden sein sollte. Sie legte diese Beweise vielmehr als nicht überzeugend zur Seite. Mit diesem Notenwechsel parallel kef eine Publikation offizieller Communiqués durch die hollandische Regierung und den «ngkschen Gesandten im Haag *), in denen natürkch dieselben Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck kamen. Der schrifÜicheMeinungsaustausch ging bis insFrühjahr 1918 weiter2), ohne daB ein definitiver Ausgleich zustande kam. Die Sache wurde auf die Dauer weniger akut, da Holland am 15. November 1917 die Transporte nach Durchfuhr des Wintervorrates bis zum nacbsten Jahr stülgelegt hatte. Zu Anfang 1918 erklarte die deutsche Regierung ihrerseits, vorlaufig von weiteren Durchfubren abzusehen und zwar, weil sie die von Holland nun gestekte Forderung, zur besseren Kontrolle eine permanente Kommission von hokandischen Sachverstandigen in Belgien zuzulassen, nicht erfüllen wollte. Inzwischen zog die englische Regierung ihre Verordnung über den Handelstelegrammverkehr ebenso überraschend, d. h. ohne vorherige Ankündigung, wie sie sie früher in Anwendung gebracht hatte, wieder ein. War sie froh, eine Gelegenheit zu haben, um auf anstandige Weise von der Anwendung einer leichtsinnig und vielleicht auch auf Grund von nicht ganz richtigen Informationen genommenen MaBnahme loszukommen? Für einige Wochen bkeb die Sand- und Kiesfrage dann latent, um sich jedoch bald indrohender Form noch einmal zu erheben. Dieses Mal spielte Deutschland die aktive Rolle; um das zu verstehen, müssen wir aber erst eine Reihe anderer Ereignisse anführen. Wir müssen hier auf den Einflufl von Amerikas Teilnahme am Krieg aurückkommen. Dabei war das Wichtigste für Holland, dafi Amerika als kriegführende Macht die Blockade der Entente als rechtmafiig betrachtete und mit aller Kraft unterstützte. Deshalb hatte nun auch Amerika ein Interesse daran, daB aus den neutralen Landern möglichst wenig nach Deutschland ausgeführt wurde. Nun waren schon lange durch die engksche Jingopresse, auch durch ein einzelnes hollandisches Blatt, eifrig Gerüchte kolportiert worden, dafi Deutschland von Holland aus ernahrt werde, ja, dafi es *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 13. und 25. Oktober 1917. ') Nach dem obengenannten sind über diese Angelegenheit noch zwei kleinere Orangebücher erschienen, und zwar im Februar und April 1918. Es gibt auch ein englisches, im Januar 1918 publiziertes Weifibuch darüber, das in der Hauptsache dieselben Dokumente verofitentlicht wie die hollandischen Orangebücher. 139 nur deshalb noch hnstande sei, den'Kampf fortzusetzen! Es waren ungeheuerlich übertriebene Gerüchte! Hollands wirtschaftliche Lage war infolge der Sperrmafinahmen der Entente zur See wabrhaftig nicht im Entferntesten danach, daB es noch Vorrate von einiger Bedeutung hatte ausfuhren können, auch nicht von seinen eigenen Bodenprodukten, wenn auch noch immer ein kleiner Teil derselben gegen deutsche Produkte, vor allem Kohle, die Holland absolut nicht entbehren konnte, ausgetauscbt wurde 1). Diese Gerüchte, die von offizieller hollandischer Seite nicht genügend widerlegt wurden, haben auf die in den Ententelandern und in Amerika gegenüber Holland herrschende Stimmung einen ungünstigen EinfluB gehabt und wahrscheinlich auch das Ihre zu der wenig freundlichen Haltung beigetragen, welche die amerikanische Regierung Holland gegenüber annahm. Es wurde sehr bald deutlich, daB Amerika die Absicht hatte, zu einer allgemeinen Rationierung überzugehen. Am 24. Juli 1917 empfingen die Vertreter der skandinavischen Lander und Hollands in Washington eine Note, in welcher die Politik auseinandergesetzt Wurde, zu der sich die amerikanische Regierung hinsichtlich der Hilfe entschlossen hatte, welche sie den genannten Staaten durch Lieferung der für ihr nationales Leben und ihre normale Industrie nötigen Waren angedeihen lassen wokte^ Die Staaten wurden aufgefordert, über ihren Verbrauch, ihre Produktion und alles, dessen sie zu ihrer Ernahrung bedurften, ïnformationen zu geben und zwar „detailliert nach Fetten, Kohlenbydraten und EiweiBstoffen". AuBerdem wurden sie darauf aufmerksam gemacht, daB alle wahrend der nun beginnenden Verhandlungen nach den zentralen Landern ausgefübrten Warenmengen von dem Vorrat an Lebensmitteln und anderen durch Amerika an eines der genannten neutralen Lander für seine Industrie zu kefernden Artikel abgezogen werden sollten. Man könne doek von den Vereinigten Staaten sckwerlich erwarten, daB sie Landern Vorrate verschaffen sollten, die fortführen, die Zentralen zu unterstützen! Selbstverstandlich war die Erfukung eines solchen Ansuchens um ïnformationen nicht ganz leicht, abgesehen noch von der Frage, inwieweh die Neutralen Amerikas sehr deutlich ausgedrücktem Wunsch, alle Einfuhr nach Deutschland aufzugeben, nachkommen wollten. Man kann den amerikanischen Geist,' der sich damals manifestierte, aus dem durch die amerikanische Gesandtscbaft im Haag im Oktober publizierten Memorandum gut kennen lernen, durch das die, wie es hieB, verkehrten Vorstellungen, die in den neutralen Landern herrschten, korrigiert werden soUten. Nach Mitteilung des Inhaltes der Note vom 24. Juk heiBt es in dem Memorandum weiter2): 1) Naheres darüber im folgenden Kapitel über die wirtschaftliche Lage Hollands. 8) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 20. Oktober 1917, Abendblatt C. Dieser Quelle ist auch der Inhalt der Note vom 24. Juli entnommen. Eine offizielle PubbV 140 „Einige dieser Neutralen führen trotz der ob'en erwShnten Warnung fort, groBe Mengen notwendiger Lebensbedürfnisse nach Deutschland und den ihm verbündeten Landern zu senden. Das wiederholt ausgesprochene Ersuchen um ïnformationen darüber, was diese Lander fdr den Unterhalt ihrer eigenen Völker nötig haben, blieb beinahe unbeantwortet. „Das Kriegshandelsbureau, das kiirzlich durch Regierungsentscheidung emgenchtet wurde, schlagt nun vor, keine Ausfuhrerlaubnisse nach diesen Landern zu erteilen, solange die geforderten ïnformationen nicht gegeben sind, und die begonnene Embargopolitik fortzusetzen, solange sie den Zenfaalmachten direkte oder indirekte Unterstützung angedeihen lassen, z. B. durch Lieferung von Petroleum zum Betrieb von Fischerfahrzeugen, oder von hchmieröl an Fabriken, die für deutsche Interessen arbeiten, oder mit der Verarbeitung von Milchprodukten beschaftigt sind. „Diese indirekten Methoden sind sogar noch nachteiliger für die Alhierten als die direkte Ausfuhr von Produkten nach Deutschland, da auf diese Weise die Deutschen Fertigfabrikate an Stelle der Rohstoffe erhalten. „Wir können nicht erwarten, dafi unsere Bauern Nahrungsmittel produzieren oder dafi unser Volk sich Dinge, die es gern selbst verbrauchen wurde, versagt, damit der Überschufi an die Neutralen Nordeuropas geBchickt werden kann, selbst auf die Gefahr hin, dafi wir dadurch auf Dinge verzichten müssen, die wir schwerlich missen können. Es ist keineswegs unser Wunsch, in das normale Leben der Neutralen einzugreifen, aber als Gegenleistung dafür müssen wir eine gewisse Garantie verlangen, daB von uns zur Verfdgung gestellte Vorrate, die dazu dienen können, Menschenieben zu vernichten, nicht gegen uns angewendet werden, um den Krieg zu verlangern und unsere Söhne in Gefahr zu bringen. „Die Wohlfahrt der Neutralen Nordeuropas liegt also in ihren eigenen Handen." . Es war, als wenn die amerikanische Gesandtschaft einer Schar Schul. kmder eine Strafpredigt hielt, die böser Handlungen verdachtig waren. Aber die Kinder waren an, den ihnen zur Last gelegten Vergehen unschuldig oder hatten auf jeden Fall höchstens unwissend Böses getan! ^Z1oSClien war jedocD> wie man in dem Memorandum schon gelesen hat, die Strafe bereits erfolgt. Die amerikanische Regierung weigerte sich entschieden an die in amerikanischen Hafen kegenden hollandischen Sehiffe Bunkerkohlen zu liefern, und legte damit indirekt ein Embargo auf diese bchiffe. Jede Ausfuhr wurde monatelang unterbunden. Es \vurde völlig von amerikaniscker Willkür abhangig, ob die Sehiffe noch ausfahren kation der zwischen der amerikanischen und hollandischen Regierung in dieser Fraire gewechselten Noten existiert nicht. 141 konnten oder nicht1). Zuweilen bekam ein Sckiff die Erlaubnis, mit Passagieren nach Holland zu fakren, jedock nur unter der Bedingung, dafjes wieder nach Amerika zurückkehrte. Hollandischerseits waren dann zuerst wieder Unterhandlungen mit Deutschland nötig, um die Sicherheit zu bekommen, daB die deutsche Marine das Schiff durchlassen würde! Die „Nieuwe Amsterdam" machte auf diese Weise einige Reisen, aber im übrigen lag seit Inkrafttreten der amerikanischen MaBnahmen im Oktober 1917 die hollandische Handelsflotte, von der sich in nordamerikanischen Hafen 70 Sehiffe von 400 000 tons befanden, so gut wie ganz stik. Der Verkehr zwischen Holland und seinen Koloniën war völkg unterbrochen. „Zweifellos beginnt das Verhaltnis zwischen den Vereinigten Staaten und Holland einigermafien weniger angenehm zu werden", schrieb der Prasident der Nederlandsehe Handels-Maatschappij, Van Aalst, in jenen Tagen in einem offenen Brief an Prasident Wilson 2) und keB auf diesen etwas naiv klingenden Anfang dann die Worte folgen: „Von unserem Standpunkt aus ist das ein sehr milder Ausdruck für die bestehenden Verhaltnisse". Energischer heiBt es dann: „Ich bitte um Entschuldigung, aber ich muB sagen, daB wir hier das Gefühl haben, als ob Ihre Regierung uns ganz schonungslos den Fufi auf den Nacken setzt, und zwar einen FuB, der in einem Stiefel steekt, welcher ebenso schwer und ebenso schmerzheh zu treten weiB, wie jener andere Reitstiefel, der in Ihrem Lande erst vor kurzem so scharf kritisiert wurde. „Ick würde es nicht wagen, so frei heraus zu reden, wenn ich nicht stete ein Freund Ihres Volkes und Ikrer Rasse gewesen ware, was ick übrigens noch bin. Deshalb halte ich mich für berechtigt, Ihnen unumwunden meine Meinung zu sagen, und ich kann nicht glauben, daB das Ohr eines Amerikaners für meine Bemérkungen taub bleiben sokte. „Amerika versucht uns nicht durch Argumente oder freundliches Drangen, sondern durch Abschneiden unserer Zufuhren zum Verstand zu bringen." Van Aalst unterwarf weiterhin die amerikanischen Ansichten über die hollandische Ausfuhr nach Deutschland 'einer durchaus berechtigten Kritik, wies auf die Tatigkeit der N.O.T. hin, auf die AuBerachtlassung abgeschlossener Lieferungskontrakte, die scheinbar als „Fetzen Papier" behandelt würden, und erinnerte dann noch an die historischen Bande, die Holland und die Vereinigten Staaten verknüpften, an die Freundschaft, die den Amerikanern schon wahrend ihres Freiheitskampfes von Holland entgegengebracht worden sei, und stekte dann in Voraussicht, daB Holland *) Die scharfen Bestimmungen, denen jede Ausfahrt aus einem amerikanischen Hafen unterworfen war, sind zusammengestellt im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 22. Januar 1918, Morgenblatt B. 2) „Amsterdammer (Groene) Weekblad voor Nederland" vom 20. Oktober 1917. 142 vor „einem grausamen Aushungerungssystem und Elend" nicht zu Kreuze kriechen werde. „Für uns würde es sich nur um einen vorbeigehenden Schicksalsschlag handeln, Euch aber würde ewig der Vorwurf der Ungerechtigkeit beffen. Aber immer noch bin ich der Meinung, daB man nicht zum AuBersten gehen darf. Was wir beanspruchen, ist eine Politik der Bdligkeit." Ich weiB nicht, ob Prasident Wüson, der beilaufig gesagt, die hol>, landische Geschichte schlecht zu kennen scheint1), diesen beredten, vielleicht etwas zu pathetischen Brief gelesen hat, aber sicher weifi ich' daB er nichts nützte, denn es kam rasch von Bösem zu Schlimmerem. „Es hat den Anschein, als ob die Vereinigten Staaten die Hand auf die neutrale Tonnage legen wollten, entweder durch eine Übereinkunft oder durch Eequisition, um sie für die Bedürfhisse der Akuerten zu gebrauchen", telegraphierte ein Korrespondent des „Daily Telegraph" schon in eben jenen Tagen, namkck im Oktober 1917, aus New-York 2). Hiermit kommt eine andere Seite der Angelegenheit, und zwar ihre ernsteste zum Vorschein. Das Bedürfnis nach Schiffsraum wurde seit der Teilnahme Amerikas am Kriege taglich gröfier. Gar viele Sehiffe waren ^ötlg mr den Transport der amerikanischen Truppen mit ak ihrem Zubehör nach dem europaischen Festland und für die geregelte Zufuhr ihrer Bedürfhisse. Dabei wurden soviel Sehiffe durch die U-Boote ver-, nichtet, dafó der Bau neuer Sehiffe, trotzdem er wesentkch gefördert wurde, damit nicht gleichen Schritt halten konnte. Ebenso wie England schon früher hollandische Sehiffe für seine Zwecke auszunutzen versucht hatte s), so nun auch Amerika, nur in sehr viel starkerem MaBe. Amerikas Wunsch, über hobandischen Schiffsraum verfügen zu können, beherrschte auch die Unterhandlungen, die Holland auf Grund der obengenannten Note mit Amerika führte, und erschwerte sie betrachdich. Holland konnte nicht erwarten, daB Deutschland mit der Überlassung eines Teils der hollandischen Tonnage an die Entente oder Amerika einverstanden sein würde. Das war aber nötig, denn Deutschland vermochte durch SchlieBung der sogenannten freien Fahrrinne die Zufuhr nach Hokand zü verhindern oder jedenfalls aufs starkste zu erschweren. Nun safi das kleine Holland'erst so recht zwischen zwei Feuern! Noch nie hatte man das so deutlich zu spüren bekommen. Die Verhandlungen mit den alkierten und assozüerten Machten über eine wirtschaftliche Übereinkunft dauerten lange 4). Einer Sachverstandigen- /) Ich glaube, das aus der vollstandigen Obergehung der hollandischen Geschichte in semem bekannten Werke „The State, elements of historical and practical politics" schheBen zu durfen. r r *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 10. Oktober 1917, Abendblatt C. *) Siehe hierüber oben S. 115. • j *\^u.ch über sie hesteht keine offizieüe Publikation, nur einige Noten und Briefe tind pubhziert worden. 143 kommission die unter Leitung von Joos van Vollenhoven nach Amenka gesTd wurde um womöglich die Sehiffe in die Fahrt zu bnngen war ErfX beschieden. Mehr war das der Fall bei den Ende 19'7 in Londor wo sich damals auch einige amerikanische Autoritaten auf wirt Bchaftïchem Gebiet aufhielten, getührten Unterhandlungen. Manbezweckte mit hne7in e* Linie, den Standpunkt der assoziierten Regierungen £sSdï Versorgung Hollands kennen zu lernen und ihnen die UmÏJd-i2. HollLl gegenüber sah, in hollandischer Beleuchtung tor Aueen zu führen. Das Resultat dieser Besprechungen war daB die ^^l u^tlBa in die Lage versetzt wurden ihrer Regierung éSfiSStZ*^ auf der die Assoziierten zu einer Ubereinkuntt bereit waren Auf Grund dieser Basis sollten Vorschlage ausgearbeitet und den Wierten vorgelegt werden. Dabei kamen folgende drei Punkte in BeSïïrDtoS^ nach Holland, die Ausfuhr aus Holland und der h^mM^^ P^tes sollten Holland die nötigen Erleichterungen fïr dt zufuhr einer Anzahl detailliert fW^f^^Jg werden1), natürlich unter der Bedingung, daB sie nur in Holland verbraucht werden sollten Die Lieferung von Viehfutter und Kunstdunger, von der EAUïï^ment gar nicht! wissen wollten, sollte auBerdem nur stattfinden wenn die Ausfuhr der Produkte, denen sie zugute karn, also hauptSShTr Milchprodukte, entweder eingeschrankt^odei? AUe Rationen wurden knapp und unter dem normalen V«b^h ^T88^; Man hielt sie aber für genügend, um die notwendigsten Bedurinisse zu w£Ddie Ausfuhr anging, so wollten sich die Alliierten ™it dem Fortgang der bisherigen Regelungen begnügen, abgesehen von den bei der Einfuhr gestellten Bedingungen. n.ii.-j solle ffe- Bezüelich der Schiffsraumfrage wurde festgesetzt, Holland sole ge nügend Tonnage bereit halten, um die Zufuhr der zedierten Artikel zu ermSLen Die dafür nötigen Bunkerkohlen sollten zur Verfugung geSt werden Für die Transporte aus Hollandisch-Indien hatten die holtodlS^4 dan Weg «» das Kap der GuteiJ ^nn-g = Jjhnjjn _ die Route durch den Suezkanal war langst geschlossen — und konnten in .rtUtftori^ Hafen bunkern. Auch für die Ausfuhr ausHollandischIndien nach nichthollandischen Haten blieb Schiffsraum -rfugbar Die übrige Tonnage soll den Assoziierten für den Gebrauch aufierha b der uunge xv b Verfüeunff gestekt werden. Die Be- sogenannten gefahrücnen ZiOne zur veiiuguug g . Holland rechnungen auf Grund der oben mitgeteilten Tatsachen zeigen, daB Holland ^mTuste derselben findet sicb in der N«te welche der Minister des AuBern im Marz 1918 den Generalstaaten verlegt.A^^^^^^lSZstuk 2, No. 15). Ihr sind auch die obigen Angaben entnommen. vgl. meu damsche Courant vom 13. Marz 1918. 144 für «eine Zufuhr, einschlieBlich der aus Indien, etwa 450 000 Tonnen nötig haben wird, dazu noch etwa 100 000 Tonnen für die Fahrt nach europaischen Hafen (England, Frankreich, Skandinavien, Spanien und Portugal). Für die Ausfuhr aus Indien nach anderen Landern als Holland waren nach Meinung der assozüerten Regierungen 350 000 Tonnen genügend. Nach Abzug dieser Tonnage von dem gesamten hollandischen Besitz an Hochseeschiffen würden ungefahr eine halbe Milkon Tonnen für die Aknèrten übrig bleiben." Das war der wichtigste TeU der Basis. AuBerdem sollten noch Regelingen getroffen werden bezügkck der Fischerei, hinsichtkch deren England verlangte, dafi nicht mehr als 5000 Tonnen ihres Ergebnisses per Quartal ausgeführt würden, davon 3000 zugunsten der Zentralmachte, ferner über hollandische Kredite für die Alkierten und über die Ausfuhr von Produkten aus den hollandischen Koloniën. Die hokandiscke Regierung glaubte, sich unter dem Druck der Verhaltnisse einer Ubereinkunft,auf dieser Basis fdgen zu müssen, vor akem mit Rücksicht auf die kerrschende Lebensmittel- und Rohstoffknappheit. Sie beauftragte deshalb eine Kommission mit der Ausarbeitung detaikierter Vorschlage. Inzwischen ging die Regierung jedoch, wie die Note darlegt, schom einen Schritt weiter: „In Erwartung des Zustandekommens einer Abmachung auf genannter Grundlage erklart sick die Regierung bereit, den Eigentümern der in Amerika kegenden Sckiffe Erlaubnis zur Vercharterung ihrer Sehiffe für eine Reise aufierhalb der sogenannten gefahrlichen Zone zu geben. Für Holland können diese Sehiffe doch nicht benutzt werden, da die assoziierten Regierungen mit Hinblick auf den zu erwartenden AbschluB einer definitiven Übereinkunft sich pertinent weigern, an der Versorgung Hollands durch Überlassung von Gütern oder Bunkerkohlen mitzuwirken. Auch befürchtete man Schwierigkeiten mit den Bemannungen und hielt man es schlieBlich für geraten zu verhindern, daB ein Vorwand gefunden werden könnte, um diese Sehiffe ohne Mitwirkung ihrer Eigentümer in Fahrt zu setzen. „Die Maximumdauer einer Reise soll 90 Tage betragen, wahrend für eine Anzahl der Sehiffe die Reisedauer so beschrankt worden ist, daB für Holland beim AbschluB der endgültigen Regelung genügend Schiffsraum verfügbar sein wird. Sechs geladen in amerikanischen Hafen kegende Sehiffe fallen nicht unter diese Abmachung Zwei von ihnen, die ,Samarinda' mit einer Ladung Reis und die ,Zeelandia' mit gemischter Ladung, dürfen ihre Reise fortsetzen, wenn als Ersatz dafür zwei Sehiffe von hier nach Amerika ausfahren". Über diese vorlaufige Abmachung kam man im Januar zur Übereinstimmung. Aber inzwischen begann die hollandische Regierung auch Unterhandlungen mit Deutschland, da ohne dessen Mitwirkung eine de- 10 Jifiks», Holland 145 finitive Regelung auf Grund der Basis nicht ausführbar gewesen sein würde. Die deutsche Regierung teilte mit, wie sie das schon in einer offiziellen Note in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" getan hatte, sie könne nicht dazu beitragen, die Tonnage in überseeischen Landern zu vergröfiern, da sie dadurch ihren Feinden in die Hande arbeiten würde. Sie müsse deshalb Einspruch dagegen erheben, dafi die noch in Holland vorhandene Tonnage die hollandischen Hafen verlasse. Dieser Standpunkt machte es der hollandischen Regierung unmöghch, den assoziierten Regierungen Vorschlage zu unterbreiten, denn bei der Verteilung der Tonnage war damit gerechnet worden, dafi die ganze Flotte in Fahrt gesetzt würde. Aufierdem war es undenkbar, dafi die assoziierten Regierungen, selbst wenn von deutscher Seite die unbehinderte Rückkehr zugestanden wurde, ein Schiff nach Holland abfahren lassen würden, falls der in den Heimathafen liegende Teil der hollandischen Handelsflotte dort bleiben mufite und auch bei Verleihung einer Garantie für unbehinderte Rückfahrt nicht auslaufen durfte. Mit der deutschen Regierung geführte Unterhandlungen hefien aber als wabrscheinlich erwarten, dafi sie sich bereit finden lassen würde, ihren Standpunkt insoïern zu andern, als sie sich der Ausfahrt eines in Holland liegenden Schiffes nicht widersetzen woUte, wenn ein Schiff von übersee an seine Stelle tratL). Da in hollandischen Hafen nicht mehr als etwa 298 476 Tonnen fur die Überseefahrt in Betracht kommender Schiffsraum lag, der bei einer Verteilung des Laderaums entsprechend der Basis zweifellos für die Zufuhr nach Holland benutzt werden mufitë, war deutkch, dafi, selbst wenn Deutschland Holland hierin entgegenkam, eine derartige Regelung kemeswegs befriedigend ausfallen konnte. "■ • n Gegen eine Beschrankung der Einfuhr erklarte Deutschland pnnzipieU Einspruch erheben zu müssen, weshalb es keine neuen wirtschaftlichen Abmachungen auf Grund einer derartigen Einschrankung treffen könne. Die hollandische Regierung gab deshalb zu verstehen, sie werde keine Vorschlage machen, die eine erzwungene Beschrankung der Ausfuhr enthielten. , Der Aufschub des Abschlusses einer Regelung veranlafite die hollandiscne Regierung zu dem Versuch, die Assoziierten zur sofortigen Lieferung von 100 000 Tonnen Weizen zu bewegen. Amerika war bereit darauf einzugehen, wenn Holland ebenfalls so handelte, als ob die definitive Ubereinkunft schon bestande, und dementsprechend die für die Assoznerten m Frage kommende Tonnage direkt zur Verfügung steilte. Diese Unterhandlungen liefien die wirtschaftliche Abhangigkeit, in welche Hohand allmahlick geraten war, in besonders hekem Lickt ersckeinen. l) Einige Mitteilungen hierüber im Orange-Buch Juni 1919 bis April 1920, S. 88 ff. 146 Das Bild seiner Lage war wirklich dunkel! Übersieht man die Unterhandlungen, so wird jedoch von neuem deutlich, wie peinlich die hollandische Regierung mit der Fortsetzung ihrer Neutralitatsp^litik z W ribTÏÏT und wie sie dabei allen Umstanden Rechnung zu tragen trachtete So hoch sich die Schwierigkeiten auch auftürmtenf sie gabdle M^ricl* auf zu einem Akkord zu kommen. • """"«"g ment 1Q1RAber,Ja JerlTl FlÖtZoCh die AUiierte° die Geduld! Am 14. Marz 1918 sande die drahtlose Station von Nauen - es ist bemerkenswert wie oft wahrend des Krieges Nachrichten, die für die einP^iSZS waren, durch die andere zuerst bekannt gegeben wurden - eni t£ %Z1 * *l ^Clt i , dem?ufolge seinen ganzen Schiffsraum der und ^ Ruen 1DDerhalb deS SP^rgebietes, ausliefern mufitï und zwar gegen Bezahlung genügender Frachtpreise und Vergütung für eventuell torpedierte Sehiffe nach dem Kriege/Wolle HolkuJ Z? diese Bedingungen nicht emgehen, dann sei beabsichtigt, die in den Hafen der Vereinigten Staaten liegenden hollandischen Sehiffe'zu requirieren und ede sTlLk^ In diesel letztLn Fat sollte kein Getreide an Holland gekefert werden. Es zeigte sich bald dafi der Bericht in der Hauptsache richtig war. Am 15. Wwarén cue Geruchte schon deutlicher, Sie kamen nun auch aus England und wurden m einer Mittedung des Ministeriums des Auswartigeng nicht^ völlTg ab geleugnet Die Sache kam darauf hinaus, dafi die assoziierten ReSngen verlangt hatten2), bezüghch der auf Grund des Ersuchens de/holS sehen Regierung um Lieferung von 100 000 Tonnen Weizen gestellten Bedingungen bis 18. Marz Antwort zu erhalten. An diesem Tagge fand namkch eine Konferenz in London statt und die Regierung war ent Ö d, ^ myd!r °beD Ziderten N°te poenen Standpunkt im Begnff, dazu ihre Zustimmung zu geben, als im letzten Augenbkck von den Assoznerten die Forderung gestellt wurde, die zur Verfügung gestelTte Tonnage auch in der sogenannten gefahrkchen Zone benutzel zu dSen J6 °rm die8« Ford<»™g getellt wurde, oder wie sie genau Ïervof êasTuVf h a^de\bisi!er ^röffentkchten AktenstückenU ^wM^S^viel zur ^denn die bald fol^d- D,e Erregung in Holland am 15. Marz und den darauf folgenden Tagen als man die drohende Gefahr erkannte, ohne noch ihre Gröfie ganz dJ, teVtu™Ti W«.8fehreftig^ BeunruWgend Wang die Nachricht, dafi die in hollandischen Hafen liegenden englischen Sehiffe Befehl erhalten hatten, unter Dampf zu liegen, um beim ersten Signal sofort ausfahren zu konnen. Die Pressestimmen von . Übersee gaben ebenfaUs zu Befürch- 2 £!fhe nie.uwS R°tterdamsche Courant vom 15. Marz, Morgenblatt B klama2on!der ^ D»3 »* WÜSOn in ^' -TeÏÏLenden Pro- 10* 147 • ffi!Ê AnlaR Die amerikaniscken Autoritaten, so wurde aus " 1>BmS^£!k ter'rorisiert werde. Nur die deutschen Drohungen kelten HÓnand davona! freiwillig eine Übereinkunft zu schheBen ergo - so k^,£^ig^- muBte Holland ein biBchen geholfen werden! Die Alliierten haben dringend Schiffsraum nötig schneb der , Daily Teleiranh" und die Hollander, die von den Deutschen sehr schlecht beSui bLhenGeieide. Eine beide ^^f* übereinkrnft kann also getroffen werden, besonders, da die Holbodor SücS^cSrweise gute Geschaftsleute sind. Die Deutschen wenden ^herf^ükT^ BMb müssen alle koUandiscken Sclnffe den Alhierten dSS. Presse, die fortwahrend von ^ü^sp^ riet natürkck zum Widerstand gegen „di^e unerlorte^^g*^ W wstieffen sein wenn sie zu solchen Taten übergmgen ^ZJZtZ diese Bemerkung richtig oder nut anderenforten welches waren die entsckeidenden ^O^^'^^L^^ gerade in diesem Augenbkck gegenüber Holland derartg^ wird wohl noch lange dauern, bis man auf diese Frage eine beledigende InTwort wird geben können. Bis jetzt erhalt man stande im allgemeinen einen Fingerzeig. Es war *« *g£ e Mtarhch bekannt, daB nun, nackdem die Ereignisse in RuBh^d ^ses als ^ieg^ führendé Mackt ausgesckaltet hatten, eme groBe deutsche Offens£e ^ Westen drohte. Bestand doch formell sogar Friede ™ J^J^. muBte der Entente alles daran gelegen sein die Uberfahr' d« "J™^ •chen Truppen, von denen erst ein ganz kleiner Tml auf franzosichem Roden stand möelichst zu beschleunigen. Man wird sich noch des Notfchrerr/nern Lloyd George LstieB, als ag^BeUjj der deutschen Offensive sehr energisch niedersausten. AuBerdem nahm aer demÏÏX Aufrreten gegen Holland von England ansgegangen^sei und Imerika nur widerwilhg seine Zustimmuog.gegeben J^j^J^. , SUgrnamkk dek Raub der hollandischen Sehiffe, auf sich^ zu . nehmem» Die hollandische öffentliche Meinung war, soweit sie sich m 148 der Presse auBerte über die drohenden MaBnahmen der Assoziierten aufs hochste erregt und gab ziemlich einstimmig zu erkennen, daB die Nachgiebigkeit der Regierung ihre Grenzen haben müsse. „Gutwilhg und aus eigener Initiative", schrieb der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" „dtirfen wir weder an einer Regelung mitwirken, durch die unsere nationale Ehre verletzt, noch an einer, welche die wichtigsten Interessen unseres Landes aufs Spiel setzen würde". Mit dem letzteren war speziell gemeint, die Regierung dürfe nicht zugeben, dafö die Sehiffe m der gefahrhehen Zone benutzt würden. Dieser Gedanke war folgendermaBen naher prazisiert: 6 „Wenn wir in dem Augenblick, wo der Friede geschlossen wird und in der ganzen Welt der wirtechaftliche Kampf beginnt, der für das Schicksal der Völker noch entscheid en der sein wird als der Krieg selbst, wenn wir m diesem (Moment nicht über genügenden Schiffsraum verfugen, geht Holland zugrunde. Gegenwartig befinden wir uns in sehr groBer Not,'die vermuthch noch stark zunehmen wird, jedoch schlieBlich nur vorübergehend w- Fi Each dem Krie* über gentigenden Schiffsraum i • £Sfu'uei1 8cheidft Über UD8ere Exi«tenz bis in ferne Zukunft. Vielkicht fehlt es uns dann an Schiffsraum, so daB uns die Wiederaufnahme des wirtschaftlichen Wettbewerbs unmöglich wird. Dann werden unsere Interessen dauernd ernstlich geschadigt werden, und unser Land wird auf lange tnnaus in das gröBte Elend geraten." Derartige Uberlegungen fanden natürlich auch in Reederkreisen starke Beachtuiig. Auf jeden FaU steht fest, daB auch in diesen Kreisen, deren unmittelbaren Interessen durch Annahme des Angebotes der Entente offenbar sehr wohl gedient wurde — standen doch hohe Schiffsfrachten in Aussicht —, der Forderung der Entente Widerstand geboten wurde. Bei den zwischen der Reedervereinigung und der Regierung in jenen Tagen ge- | haltenen Besprechungen war man sich sogar darüber einig, daB man nicht nachgeben konne. Das wurde auch als der Standpunkt der Regierunam 15. Marz kategonsch der Vereinigung mitgeteilt i). Sowohl in Amsterdam wie in Rotterdam herrschte die Uberzeugung, daB die Ansicht der Regierung die nchtige sei2). Man dürfe nicht darauf spekulieren, dat Deutschland vielleicht „aus Mitleid mit unserer so groBen Schwaéhheit und Machtlosigkeit" die wirtschaftlichen Beziehungen nicht vollstandig abbrechen werde tür den Fall, daB Holland zugebe, so lautete eine Stimme aus denselben Kreisen. „Die Zukunft fordert höhere Garantien für unsere politische UnabMngigkeit." Das ganze Volk müsse nun hinter der Rederung stehen und „ein jeder bereit sein, die Opfer zu bringen, durch welche Morgenb?attrBben ^ Nijgh im NieUW6 Rotterdam8^e Courant vom 19. 3., p Siehe den Bericht aus Amsterdam in derselben Zeitung vom 19.3., AbendblattC. 149 jetzt das Gedachtnis der Helden unserer Geschichte besser als mit Worten oder Denkmalern geehrt werden kann« *). Und trotz allem gab die Regierung am Ende doch nach, wenigstens unter gewissen Bedingungen! In seiner Erklarung in der zweiten Kammer am 18 Marz*) sagte Minister Loudon, nachdem er ein Resumé uber die mit den Assoziierten geführten Unterhandlungen gegeben hatte die Regierung habe sich auf Grund der von den AUiierten kürzkck géstenten Forderungen an die deutsche Regierung gewandt mit der Frage, ob sie für die Lieferung von 100000 Tonnen Brotgetreide aus dem durch die Zentralen im Osten besetzten Gebiet einstehen könne und wolle^ Die Antwort lautete, daB die deutsche Regierung zwar gern bereit ware, Holland zu heken, aber mit Rücksioht auf die Bedürfhisse einzelner ihrer Bundesgenossen nicht in der Lage sei, HoUands Wunsch zu erfühen und auch bezügkch eventueller spaterer Lieferung kleinerer Mengen nichts Sicheres versprechen könne. Unter diesen Umstanden sehe sich die hollandische Reeierung gezwungen, sich der Forderung der Alliierten, trotz aller ernsten Einwande dagegen, zu fügen. Nur dadurch könne sie die Lieferung von 100 000 Tonnen Weizen bis 15. April erreichen. Sie steke jedoch lolgende 6 m iTfrster Linie muB feststehen, dafi HoUand auf die Verteilung seines Schiffsraumes und seine Versorgung nach dem in der Londoner Basis angeKebenen MaBstabe rechnen kann, bezüglich welcher die Regierung jetzt auch definitive Vorschlage in grofien Linien an die Assoznerten mitgeteüt hat Auch versteht sich, dafi die Bunkerkohlen, welche für den Transport der für HoUand nach dem eben genannten Versorgungs- bzw. Rationierungsplan bestimmten Güter nötig sind, an die dafür von Holland angegebenen Sehiffe geliefert werden. AuBerdem muB hinsichtkch der für die *anrt in der geflhrlichen Zone bestimmten hollandischen Sehiffe garantiert werden: 1 daB die Sehiffe keine Truppen oder Kriegsmaterial ttanspofctteren, 2. dafi sie nicht bewaffnet werden, 3. dafi es der Bemannung völlig ^esteUt bleibt an der Fahrt teilzunehmen oder nicht, und endheh 4. dafi eventueil vernichtete Sehiffe sofort nach Kriegsende durch andere ersetzt werden. Die Erklarung endete folgendermafien: „Soweit meint die Regierung geken zu müssen. Sie glaubt dazu gezwungen zu sein durch die Not, nicht nur hierzulande, sondern auch ui den Koloniën. AuBerdem hat sie sich dadurch wenigstens einen betrachtkeken Teil unserer Flotte sichergestellt, und das ist für Gegenwart und Zukunft unseres Volkes vön ausschlaggebender Bedeutung. Weiter kann und darf die Regierung nicht gehen." Schreiben von Paul Nijgh im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 17. 3., Morgenblatt C. . _ ») Sie ist zu finden in den Tageszeitungen dieses Datums. 150 Ich glaube nicht, daB irgendeine Handlung der Regierung wahrend des Krieges s0, stark enttauscht hat wie diese Entscheidung. Persönkch habe ich ihre Schmach sehr tief gefühlt. Die Erinnerung an den Montag des 18. Marz bleibt für mich eine der bittersten des ganzen Krieges! wenigstens hinsichtlich Hollands, und so wie ich fühlte man allgemein Das kam bei den Kammerdebatten über Loudons Erklarung am 19 Marz sehr stark zum Ausdruck und 'nicht minder in der Presse. In der Kammer i) fielen sehr starke Ausdrücke, sowohl um die „Chan.d.erJ.As1L80zTten ZU brandmarken, als auck um die Entscheidung der hollandischen Regierung zu tadeln. Die letztere fand von keiner Seite Unterstutzung, wenn auch einige Abgeordnete betonten, mit einiger Zurückhaltung urteilen zu müssen, da sie nicht ake Umstande beurteilen könnten Der m der Versammlung herrschende Ton war für die Assoznerten unangenehmer als man aus den Aufzeichnungen der Sitzungsberichte entnehmen kann. Mit höhnischen Worten gedachte man jener, welche die Ausdrücke Gerechtigkeit und Humanitat so ausgiebig gebrauchten und deren laten so ganz anders waren. Es wurde gejohlt, wenn einer der Abgeordneten einige dieser Phrasen vorlas, und man hörte sie mit der bittersten Ironie an. Begreifen die Assoznerten denn nicht, daB sie uns auf diese Weise den Zentralen in die Arme treiben, fragte einer der Abgeordneten, der damit sehr deutlich die allgemeine politische Bedeutung des Ereignisses andeutete. Ein anderer - es war Troelstra, der Führer der sozialdemokratischen Partei - fragte, ob die Regierung die Absicht habe, Holland zum AnschluB an die Entente zu bringen, und auBerte damit ein MiBtrauen, das die Politik der Regierung auch aus anderen Gründen in der letzten Zeit wachgerufen hatte«), und das durch die allzu groBe Schweigsamkeit der Regierung über die Auslandspolitik genahrt wurde. Eine durch Loudon zu Beginn der Debatten abgegebene ausführhchere Erklarung batte nicht mehr betriedigt als seine erste am 18. Marz Man kann sich der SchluBfolgerung nicht entziehen, daB die Regierung in dieser Angelegenheit tatsachlich die Fühlung mit dem nationalen Geist Presse. E,n ruhiges Blatt wie der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" (Morgenausgabe vom 19 Marz) brachte einen sehr scharfen Artikel unter 7i£, ï l,"-Dr KaP1Jtuletlon" Wir ^ü«^n uns hier auf ein einziges andereneRtrtt G- >,U- ^T* versichern, daB die meisten anderen Blatter sich in mcht weniger scharfem Ton aussprachen und !7f&A- r i:lötzlicb die Nachricht, dafi die Regierung umgefallen und auf die engksch amerikanischen Forderungen, die allgemein als unan- ') Sitzungsberichte der zweiten Kammer 1917/18. S 2042 ft 2) Siehe darüber § 10. ' 151 nebmbar galton, eingegangen ist. Sie hatte es offenbar mit Hollands Ehre fflr vereinbar gehalten, der brntalen Macht zu weichen und das Odium dieser bedenkïichen ïransaktion teilweiseunserem Lande •f^f^ Damit hat sie zweifellos das Vaterlandsgefükl eines groBen Teds der Nation verletzt" ünd dann keifit es weiter an die Adresse der Assoznerten: Wir bieten den Assoziierten einen Kontrakt an, der ihnen mehr ribt als was sie selbst zu hoffen gewagt hatten Das ist nicht zuviel geLt. Die englischen Sehiffe lagen unter Dampf, um auf das erste Signa abfahren zu können, offenbar in der Erwartung, daB die Übereinkunft schlankweg abgelehnt werden würde, und daB wenn die Assoznerten die hollandischen Sehiffe raubten, die ihnen nun freiwdhg angeboten werden gegen die engkschen Sehiffe in, unseren Hafen mit Repressahenmafinahmen vorgegangen würde! Die Helden! Sie scheinen geglaubt zu haben daB das Völklrleben überaU im Zeichen der Diebeskünste steht Wir haben eine schone Gelegenheit vorbeigehen lassen, um zu zeigen, daB wir, auch wenn wir Unrecht dulden müssen, doch noch Ehrgefuhl genug besitzen, selbst kein Unrecht zu tun. Kurz und gut, der gestrige Tag wird zu den schwarzen Tagen unserer Geschichte zahlen. Es hatte anders sein können. Das Brot, das wir essen werden, wird einen bitteren Beigeschmack haben." Aber am scharfsten auBerte sich ein mir unbekannter Einsender m derselben Zeitung (Abendausgabe 19. Marz). Er zitierte emen Brief von De Ruyter, der tinen Auftrag der Generalstaaten im Jahre 1656 welcher ein groBes Entgegenkommen gegenüber dem damakgen England enthielt, mit der Bemerkung beantwortete, die Order verdiösseihn sehr, und sagte die Englander würden „uns noch als Tröpfe (hok. , Jangats') verlachen'. Darauf fuhr der Einsender fort: Diesen Brief, der zur Folge hatte, daB man die Order wieder ein.og, haben wir noch einmal nachgeschlagen, als wir von der schmahhehen Kapitulation unserer Regierung vernahmen. Der uns angetane Affront ist unendlich viel erniedrigender als der Auftrag, gegen den De Ruyter sich widersetzte. Er vermag guten Patrioten die Schamröte ins Gesicht zu treiben und lafit sie fragen ob Hollander nach dem Krieg auBerhalb ihrer Landesgrenzen noch erhobenen Hauptes werden einhergehen können, oder ob sie von den Untertanen der beiden jetzt kriegfükrenden Landergruppen als Tröpfe angesehen werden sollen. Was hat die Regierung bewogen, schlieBlich nachzugeben? Offenbar in erster Linie die Nahrungsmittelnot. Der Umstand dafi der damahge Landwirtschaftsminister Posthuma die im Lande vorhandenen Vorrate zuerst als zu groB angegeben haben soll1), kann dann erklSren, warum êiz ») Das wird in dem eben genannten Schreiben aus Amsterdam behauptet. 152 Regierung zuerst die Absicht hatte, eine ablehnende Haltung anzunehmen, dann aber doch nachgab. Man batte — glücklicherweise vielleicbt — nicht lange Zeit, sich über - die Entscheidung der Regierung aufzuregen, denn bald kam es zu ernsteren Ereignissen. Schon wahrend der Debatten über die Erklarung des Aufienministers in der zweiten Kammer liefen Gerüchte, daB die Assoziierten die gesteuten Bedingungen nicht anzunehmen wünschten und also, wie das in der auslandischen Presse schon mehrmals in Voraussicht gestellt worden war, zur Requisition übergehen würden. Der Minister selbst hatte in seiner Erklarung diese Eventualitat nur eben angedeutet, war aber in seinen AuBerungen am SchluB der Debatte deutlicher geworden Er sprach damals namlich von Berichten der diplomatischen Vertreter HoUands, wonach eine Milkon Tonnen weggenommen werden sokte, und fügte ausdrücklich hinzu, er vermeide das Wort Requisition, da es der angedrohten Mafinahme noch einen Schein von Recht verleihen könnte. Es ist sehr wohl möglich, daB die gröBere Warme, mit der der Minister das zweite mal sprach und wobei er u. a. mit Zustimmung die Zornesausbrüche in der Kammer erwahnte, durch die ihm inzwischen gewordene GewiBheit veranlaBt war, dafi die drohende Gefahr nun doch Wirkkchkeit werden sokte. Tatsachlich wurde am 20. Marz der BeschluB zur Requisition in Amerika bekannt gemacht. Tags darauf geschah dasselbe in England. Die von der hoMndischen Regierung gestellten Bedingungen hatte man also für unannehmbar erklart. Die Proklamation, in der Prasident Wilson diese Tat zu beschönigen suchte, ist ein langes Stück 2). Die Quintessenz davon war: Holland ist nicht frei in seinen Handlungen, es wird durch Deutschland terrorisiert, sonst ware die vorlaufige Übereinkunft vom Januar schon lange in Wirkung getreten. Damit können sich die Alliierten nicht langer zufrieden geben und deswegen ! Horen wir es mit den eigenen Worten des Prasi- denten: „Aber seitdem tatsachlich Zwang ausgeübt wird, haben wir keine andere Wahl, als mit Hilfe unserer unzweifelhaften Rechte als souveraner Staat dasjenige auszuführen, was so bilhg ist, dafi wir unter anderen Urnstanden es darauf ankommen lassen könnten, es durch Verhandlungen durchzuführen." Der Prasident erklarte, die Sckwierigkeiten der Lage, in welcher sich die hokandiscke Regierung befinde, „innig" mitzuempfinden, werde sie doch von einer Miktarmacht bedroht, die auf jede Weise ihre MiBachtung der internationalen Rechte an den Tag gelegt habe. Aber Holland könne zufrieden sein, es könne direkt Brotgetreide holen lassen, und die dazu *) Am 20. Mïrz; vgl. Sitzungsberichte der zweiten Kammer 1917/18, S. 2080. ") Vgl. die hollandische Presse vom 22. Marz. 153 nötigen Sehiffe könnten sofort bunkern. Die Reeder würden reichhch entschadiet, und es soUten die nötigen MaBregeln getroffen werden, umVaut die Möglichkeit des Verlustes von Schiffen durch feindliche Einwirkung vorbereitet zu sein. Damit wurde für verlorene Sehiffe Ersatz zugesagt. Eine gleichartige Erklarung gab Lord Robert Cecil am 21. Marz im engkschen Unterhaus ab tt Ebenso wie Wilson in seiner Ankündigung der Beschlagnahme 2), die wohl zu unterscheiden ist von der eben genannten Proklamation, kuchte er für die Requisition eine rechtliche Grundlage namhaft zu machen: Bei der einmal entstandenen Lage bleibe den Allnerteh nach ihrer Ansicht nichts anderes mehr übrig als der Gebrauch eines Rechtes das sie ihrer Meinung nach unzweifelhaft besaBen, und das ihnen gestattete, alle neutralen Sehiffe in ihren Hafen zu beschlagnahmen und zwar „auf Grund eines Rechtes, das. soviel ich weiB, Anganenrecht ge- nannt wird". , , . . ., Das ist gerade das AUerargerlichste, daB die Alkierten sich bei ihrem Auftreten noch das Mantelchen der Gerechtigkeit umzuhangen suchten. Es hat tatsachlich ein Kriegsmittel gegeben, das jus angariae hieB, und worunter man die erzwungene Ingebrauchnahme gegen Schadenersatz verstand, die man sehr unterscheiden muB von der Requisition zum Zwecke zwangsweisen Besitzwechsels, obglekh beide Handlungen oft miteinander verwechselt worden sind" 3). . Die Ingebrauchnahme wurde in sehr unschuldiger Form aut Kriegsgerat angewandt, das sich zu Anfang eines Krieges in den Fabriken eines an dem beginnenden Krieg beteiligten. Landes befand und für neutrale Besteller bestimmt war, auBerdem auf Seeschiffe, die unter gleichen ümstanden auf einer Werft im Anbau begriffen waren. Das galt allgemein als erlaubte MaBnahme. Aber es ging viel weiter, die Ingebrauchnahme auf neutrale Handelsschiffe anzuwenden, welche bereits Fahrten machten, etwas, was Napoleon bei seiner Expedition nach Agypten getan hat und was man in England damals und spater .scharf verurteilte. Im 19. Jahrhundert bestand in verschiedenen Landern die Neigung, ein derartiges Recht nicht anzuerkennen, wie z. B. russische und amerikanische Vertrage beweisen können. Aber andere Lander, wie Deutschland, hielten daran *) Siehe a. a. O. 2) Sie ist u. a. zu finden bei dem unten zitierten Artikel von Van Vollenhoven, S. 514. s) C vanVollenhoven: Naasting, opvordering en ingebruikneming van Koopvaardijschepen in den Zeeoorlog (.Verslagen en;Mededeelingen van de Koninklijke Academie van Wetenschappen, Afdeeling Letterkunde, Reeks 5, Deel III, S. 471ff.). Der Name ist abgeleitet von dem griechischen anggaros und anggareia, die wieder von einem persischen Wort zu stammen scheinen, das Eilbote oder berittener Kuner bedeuten soll. Eine spatere Bedeutung des Wortes soll die von „ zwangsweisem Postdienst oder allgemein „zwangsweisem Dienst" sein. 154 fest. In der Praxis wurde es ganz ungebrauchlich *), so daB es in der Londoner Seerechtsdeklaration sogar nicht einmal genannt ist. Wahrend des Weltkrieges wurde es vor 1918 kaum angewandt Allerdings hatte die englische Regierung schon 1916 und 1917 einige unter hollandischer Flagge fahrende Sehiffe requiriert, aber in dem einen Fall aus der Erwagung heraus, dafi das Schiff (die „Hamborn") in Wirklichkeit ein deutsches Schiff war, im anderen Falie, weil die Sehiffe ganz oder gröfitenteils britischen Eigentümern gehörten. Die hollandische Regierung hatte, allerdings wie gewöhnlich ohne Erfolg, gegen dieses Auftreten protestiert, aber weder von der einen, noch von der anderen Seite hat.man damals von Angarienrecht gesprochen. Es ging dabei nur allgemein um die Frage, ob Requisition erlaubt gewesen sei, und darüber liefen die Auffassungen natürlich auseinandef. Hollandischerseits wurde u. a. darauf hingewiesen, dafi Requisition eines neutralen Schiffes auf hoher See sicher nicht zulas8ig sei, auch nicht, wenn, wie in dem vorliegenden Falie, nur die Absicht bestand, die Tonnage eines anderen Landes zu vergröfiern 2). Anscheinend wurde eine derartige Handlungsweise auch keineswegs durch eine Anwendung des Angarienrechtes in der Vergangenheit gedeckt. 1918 hielten England und Amerika es für nötig, sich gerade auf dieses Angarienrecht zu berufen, um ihr Auftreten zu verteidigen. Sie lieferten damit von neuem den Beweis dafür, dafi jedes kriegführende Land die an und für sich begreifliche Neigung hat, unter sich widersprechenden Ansichten, wie sie bezüglich des Angarienrechtes tatsachlich bestanden, diejenige zu wahlen, welche ihm wahrend des Krieges den gröfiten Nutzen bringt, auch wenn sie seinen eigenen Traditionen, der eigenen bisher verkündeten Rechtsauffassung und den Forderungen des Anstandes und der Redlichkeit zuwiderlauft. Ausgehend von einem sehr vagen Recht der Ingebrauchnahme neutralen Besitzes unter besonderen Umstanden, dehnte sie dasselbe nun auf eine ganze Flotte von Schiffen aus, die im guten Vertrauen nach ihren Hafen gekommen und hier festgehalten worden waren. Das übrigens sehr bestrittene sogenannte Angarienrecht gestand einem Kriegführenden die Befugnis zur Inbeschlagnahme von in seinen Hafen liegenden neutralen Schiffen zu, wenn eine militarische Operation deren sofortigen Gebrauch notwendig machte, so führte eine Note des hollandischen Gesandten an die amerikanische Regierung aus, und in einem Brief an den englischen Gesandten im Haag sprach der hollandische Minister des Aufieren von dem Angarienrecht als „ une ancienne règle déterrée pour 1'occasion et adaptée k des conditions entièrement nouvelles pour excuser *) Die Beschlagnahme englischer Kohlenschiffe auf der Seine im Jahre 1870 war keine eigentliehe Anwendung des Angarienrechtes, obwohl sie infolge der schon damals hen-schenden Begriffsverwirrung dem Bequisitionsrecht neues Leben gab. *) Siehe darüber die diesbezüglichen Briefe in dem Orangebuch vom Oktober 1915 bis Juli 1916, S. 4 ff., und in dem vom Dezember 1916 bis April 1918, S. 60ff. 155 la mainmise en masse par une partie belligérante sur la flotte marchande d'un pays neutre"1). Eine derartige Anwendung und Ausdehnung des Angarienrechtes war allein durch Gewalt möglich, und kann nicht anders denn als Gewalttat bezeichnet werden. Die beim Bekanntwerden der Forderung der Alliierten schon sehr starke nationale MiBstimmung stieg zur Siedehitze der Entrüstung, als die Beschlagnahme vollzogen wurde. In der ersten und zweiten Kammer, die beide damals1 gerade beisammen waren, auBerte sie sich, ebenso wie in der Presse, sehr deutlich. Wir müssen uns mit einigen besonders sprechenden Zitaten begnügen. In der zweiten Kammer ergriff der Ministerprasident selbst das VVort mé Er erinnerte daran, daB die Regierung, welche nicht unter deutscher Presswn gestanden habe, bei ihrer Fügsamkeit gegenüber der Entente „unter dem Drucke der Not" gehandelt habe, und fuhr dann fort: „Aber das ist nun alles vorbei. Und nun Herr Kammerprasident, lassen Sie mich folgendes sagen: Es gibt auch im Leben eines Staatsmanne» Augenblicke, in denen er aufiern muB, was sein Herz erfüllt. Regierung, Volksvertretung und Volk sind heute eines Sinnes. Noch nie wahrend des ganzen Krieges sind wir so einig gewesen, ohne Unterschied der Partei und der Weltanschauung. || , „Ich hoffe, daB meine Worte weit über die Grenzen HoUands hinaus schallen werden, wenn ich auch an dieser Stelle einen flammenden Protest hören lassë gegen das Unrecht, die Gewalt und die Schmach, die uns angetan werden. Mehr als unsere Flotte und mehr als unser tagUches Bret keben wir unsere Selbstandigkeit und unser Recht, und ihnen werden wir treu sein, treu bis zum Bettelstabe." Diese Worte fanden lebhafte Zustimmung, ebenso wie die kurze Rede, in welcher der Kammerprasident dem Ministerprasidenten zustimmte. Weiter sprach niemand mehr: Die Haltung der Kammer bewies aufs deutlichste, daB sie und die Regierung sich in diesem Augenblicke wieder ganz gefunden hatten. Es war eine sehr würdige Art, so Hollands ersten Staatsmann allein seinen Protest hören zu lassen. In der ersten Kammer sagte der Minister des AuBern3) u. a. folgendes: „Der deutliche Protest der Regierung wird sicher bei beiden Zweigen der Volksvertretung und in allen Schichten der Bévölkerung Widerklang finden. HoUand hat sich im Laufe der Zeiten so sehr mit der Losung ,Recht vor Macht' identifiziert, daB der Volksgeist sich dem Prinzip von ,Macht vor Recht', dessen Opfer wir nun geworden sind, widersetzt." ') Beide Aktenstücke sind mitgeteilt im Staatsbudget für 1918, Kapitel 3, Nr. 17. 2) Der Wortlaut der Bede findet sich im Nieuwe Rotterdamsche Courant vei» 24. Marz, Morgenblatt D. ') a. a. O. 156 Der Minister auBerte weiterhin seine Freude über die grofle Einigkeit, die auch auBerhalb der Volksvertretung an den Tag trat, und sprach die Hoffnung aus, sie möge in den Zeiten der Prüfung, welche nun vielleicht tot der Tlire standen, bewahrt bleiben. Hieraüf folgte dann eine Debatte x), und mehr als ein Senator sprach Worte, welche bewiesen, wie stark der nationale Stolz gekrankt worden war. Es mag erinnert werden an die AuBerungen des Ex-Ministers und früheren Prasidenten der Handel-Maatschappij, J. T. Cremer, eines Mannes, der ausgedehnte freundschaftkche Beziehungen in der englisch spreehenden Welt besaB. Er sprach „von unseren früheren Freunden", und durch seine ganze Rede ging ein Gefühl tiefer Enttauschung über das, was diese uns angetan hatten. Möchte aber die Regierung ihrem Beispiel nicht folgen, rief er aus. Ein hollandischer Generalkonsul in Singapore, so erinnerte er, sei einst „the first gentleman of Europe" genannt worden. Wir sollten dafür sorgen, daB uns viélleicht einmal der Ehrentitel von „the last gentlemen of Europe" zufalle. Heifiblütiger war ein etwas jüngerer Senator, Colijn, der die Regierung vor die Frage steilte, wie sie „auf den gröbsten Eingriff in Hollands Recht wahrend des Krieges" zu antworten gedenke, etwa mit einem direkten offiziellen und öffenthchen Protest gegen die Assoznerten? Aber soweit wollte Loudon nicht gehen. Gleichzeitig bemühte sich das Ministerium des AuBern, einige unrichtige, bei den Akiierten herrschende Vorstellungen zu korrigieren. Es war direkt nötig, der Meinung entgegenzutreten, als sei Holland der sogenannten Übereinkunft vom Jauuar nicht nachgekommen. Das wurde .namlich so wohl in der englischen wie in der amerikanischen Regierungserklarung .und in offiziellen Mitteilungen des amerikanischen und engkschen Gesandten im Haag, selbstverstandlich auch in der Presse, öffentlich behauptet. Es sah so aus, als wollte man Holland des Kontraktbruches unter deutschem EinfluB beschuldigen! In Wirklichkeit lag der Fak ganz anders. Eine Übereinkunft war nicht geschlossen worden. Holland hatte sich nur bereit erklart, den hollandischen Schiffen in amerikanischen Hafen zu erlauben, eine Reise von der Höchstdauer von 90 Tagen auBerhalb des gefahrhchen Gebietes zu machen. AuBerdem waren Sehiffe zu Fahrten für die belgische Reliëf kommission und für die Schweiz angewiesen worden. Da* Holland nicht weiter gegangen war, war auf Grund folgender Überlegung geschehen 2): „Als man hierzulande vernahm, daB von deutscher Seite gegen den Tausch von Schiffen, besonderB für den belgischen Reliefdienst, Einwünde gemacht würden, wurde das sofort dem Gesandten Ihrer Majestat ih Washington mitgeteilt, um die dortigen Autoritaten davon zu unterrichten; *) Sitzungsberichte der ersten Kammer 1917/18, S. 190 ff. *) Siehe das offizielle Communiqué vom 24. 3. 18, Morgenblatt D. 157 denn es bestand die Möglichkeit, daB im Augenbkck, wo der Austauscb der Sehiffe stattfinden sollte, namlich bei ihrer Ausfahrt aus den letzten amejpkanischen Hafen, von hier keine Austauschschiffe abfahren konnten. „Diese Benachrichtigung geschah aus Gründen der Ehrlichkeit sofort, damit die amerikanischen Autoritaten noch Gelegenheit haben sollten, den Schiffen nach ihrer Ankunft in den südamerikanischen Einladehafen eine andere Bestimmung zu geben. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, man werde sofort Nachricht geben, wenn die Schwierigkeiten mit Deutschland beseitigt seien, damit dann die Sehiffe noch ihrer ursprünglichen Bestimmung für die Reliefkommission dienen könnten. Bei der langen Dauer der Reise von Nord- nach Südamerika war für derartige Mitteilungen Zeit genug vorhanden." Es war auf seiten Hollands eher ein Zuviel an Ehrlichkeit als eine Spur von Unehrlichkeit! Die Reihe der offiziellen Mitteilungen wurde geschlossen durch eine würdige und gut gefafite Erklarung der hollandischen Regierung, in der die Proklamation Wilsons absichtlich noch einmal ausführlich behandelt wurde x). Man kann sich denken, in welchem Ton die Presse den Fall besprach. Wahrend' des ganzen Krieges wurden in der vornehmen Presse nie derartig scharfe AuBerungen gebraucht wie anlaBhch der Schiffsbeschlagnahme. Zitate könnte man massenweise anführen, wir müssen uns aber auf ein einziges beschranken: „Organisierte Gerechtigkeit" nahm der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" als Motto für seine Betrachtungen (21. 3. 18. Abendblatt G), ein Ausdruck, der einer offiziellen, gerade durch die Alliiertenkonferenz zu London an die Presse gegebenen Erklarung entstammte, in der gesagt wurde, daB die Entente für dieses Ideal fechte: „Das ist ein schönes Wort, mit dem man kampft, eine schone Illusion, unter der man streitet. Die erste Tat, welche auf seine Verkündigung folgte, war ein Raub. Die hollandischen Sehiffe, die, verleitet durch den Glauben an die Ehrlichkeit und. den Gerechtigkeitssinn der assoziierten Regierungen, nach amerkanischen Hafen ausgefahren waren und dort 'monatelang gegen jedes Recht und alle Bilkgkeit festgehalten wurden, werden skrupellos in Besitz und den rechtma\Bigen Eigentümern weggenommen. ,Organisierte Gerechtigkeit'!... „Gegen ,organisierte Gerechtigkeit' — auf gut holktndisch gesagt, ,auf Macht beruhende Ungerechtigkeit' — kann ein kleines Land wie das unsere, wenn es sich so etwa der halben Welt'gegenüber sieht, nicht streken. Die Sehiffe, die für die dringend nötige Erganzung der Lebensbedürfhisse und Vorrate ausgesandt waren, waren uns verloren; es kam nur nock darauf an, unter welcher Form sie uns genommen werden soUten, ob unter einer, die für uns noch einigermaBen annehmbar war, wie bei der Londoner *) Siehe u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 30. 3. 18, Abendausgabe C. 158 , Basis' ia Aussicht gestellt wurde, oder unter einer, bei der wir jederlei Mitwirkung verweigern mufiten." Am folgenden Tage schrieb dasselbe Blatt an Englands Adresse: „Nach dem Vorbild des Washingtoner Direktors hat nun auch der Londoner Associé den fatalen Schritt getan, und sind nun auch die hollandischen Sehiffe in engbschen Hafen in Beschlag genommen worden. Es war nicht anders zu erwarten. Es handelte sich hier um einen gemeinsam, von den Alliierten aufgestellten Plan, und es waren Anzeichen dafür vorhanden, dafi — man erinnere sich nur daran, wie gerade in den letzten Wochen in Singapore und anderen Hafen noch eine ganze Anzahl unserer Sehiffe festgehalten wurde — dafi die noble ,Organisation der Gerechtigkeit' auf den Pfaden der Gerechtigkeit in der gleichen Richtung weiter wandeln werde. DaB England, welches sich an den Rechten oder Interessen kleiner Lander nock nie viel gelegen sein liefi, weniger weit gehen oder wohlwollender sein würde als die Republik des Prasidenten Wilson, wird wokl niemand erwartet haben." Das '„Algemeen Handelsblad", ein bekanntes Amsterdamer Organ, sprach von einer „nichtkreditwürdigen Assoziation, in deren Untersehrift wir kein genügendes Vertrauen setzen". Die Zeitung gebrauchte den Ausdruck „Schiffsrauber" und stimmte damit dem Scheveninger Buben bei, der die Englander mit dem Schimpfnamen „Kahndiebe" belegte. Die einzige gute Seite der Angelegenheit war, wie man meinte, dafi man jetzt wenigstens die Folgen des beschamenden Entgegenkommens, das die Regierung in der ersten Phase der Unterhandlungen an den Tag gelegt hatte, nicht zu tragen brauchte. Für das stark verletzte Nationalgefühl war es ein Trost, dafi die Offiziere und Bemannungen der in Gebrauch genommenen Sehiffe sich beinahe einstimmig weigerten, auf denselben zu bleiben, nachdem die hollandische Flagge niedergeholt und die Sehiffe unter Protest übergeben worden waren. Die hohen Lohnangebote haben sie nicht zum Bleiben verleitet. Sie kehrten vielmehr nach ihrem Vaterlande zurück und haben wohl mit einigem Bedauern konstatiert, dafi ihre amerikanischen Stellvertreter keine grofie Übung in der Behandlung der Sehiffe zeigten. Die Gewalttat vom 21. Marz hat der Entente grofien Nutzen gebracht. Die Zahl der in europaischen und nichteuropaischen, also auch englischindischen Hafen beschlagnahmten, Sehiffe betrug, einschliefilich der wenigen schon vor | dem 21. Marz beschlagnahmten 156, darunter 145 Fracht- und 11 Passagierschiffe mit einer Gesamttonnage von 696 468 Tonnen1). Holland behielt 1 114 087 Tonnen, wovon die gröfiere Halfte in hollandischen Hafen lag. Um mit statistischer Genauigkeit zu sagen, welchen Nutzen der Entente dieser Schiffsraum brachte, müfite man wissen, über wieviel, ') Die Tonnen sind englische Gewichtstonnen ven 1016 Kilo. Die Ziffern sind der Wochenzeitechrift Economisch-Statistische Berichten" vom 24. 4. und 1. 5. 1918 entnommen. 159 oder besser gesagt, über wie wenig Laderaum sie selbst verfügte, und welche Dienste die hollandischen Sehiffe ihr bewiesen haben Die Beschlagnahme der hollandischen Sehiffe fand gerade im kritischen Moment der letzten fPhase des Kampfes an der Westfront statt. Der deutsche Heeresbericht vom 24. Marz hatte den Fall von Péronne und Ham und die Gefangennahme von 30 0(>0 Englandern mitteilen können. Die Alliierten hatten Hilfe aus Amerika dringend nötig. Hat nun der hollandische Schiffsraum diese Hilfeleistung erleichtert? Das muB man zweifekos annehmen. Hat er damit aber auch die Entscheidung zuungunsten Deutschlands gebracht, wie man vielfach behauptet hat? Das darf man füglich bezweifeln, denn der Siegeslauf Deutschlands kam eigentlich schon im Marz an den toten Punkt. Die spateren Versuche Ludendorffs, um den Sieg doch noch zu erzwingen, waren, wie man jetzt wohl annehmen dart, eher Verzweiflungstaten oder taktische Manöver denn gute strategische Handlungen. Schon vor der Ankunft von amerikanischen Truppenkörpern von einiger Bedeutung hatte Foch tatsachlich das Spiel gewonnen. Die deutsche Niederlage wurde durch diese Truppen beschleunigt, und man kann sagen, dafi der hollandische Schiffsraum dazu beigetragen hat. Aber in der allgemeinen Perspektive, in der wir die nut dem Krieg zusammenhangenden Fragen heute sehen, kann man das eher als einen Vorteil denn als einen Nachteil für die ganzé Welt betrachten. Das ist wahrkch kein Paradoxon. Es ist jedoch immerhin sehr verstandlich, dafi man sich in Deutschland nicht nur über die Assoziierten, sondern auch, wenn schon etwas zurückhaltender, über Holland entrüstete. Man hatte jedoch keine Ursache, sich allzu laut zu beklagen, wie man das tatsachlich tat, denn gerade die Deutschen hatten vor dem Kriege am eifrigsten für das jus angariae pladiert! Besonders beim Bekanntwerden der entgegenkommenden Haltung der hokandischen Regierung gegenüber den Alkierten am 20. Marz schlugen einzelne deutsche Blatter sehr scharfe Töne an. Die „Kölniscke Volkszeitung" 2) zum Beispiel sprach von „einem ernsten Bruch der Neutralitat zu unserem Nachteil", von „einer auBergewöhnlich starken Begünshgung der feindlichen Kriegführung, einem schweren Schlag für unsere Kriegführung" und „einer ernsten Schadigung, die wir Holland zu verdanken haben". Die deutsche Regierung nahm die Sache etwas ruhiger auf. Man begriff eben, daB Hokand machtlos war, man wollte Hollands Notlage " l\ lm Februar 1918 kündigte der amerikanische Kriegsminister Baker an, daS Amerika Mitte 1918 eine halbe Million und Ende 1918 eine Million Soldaten in Frankreich haben werde. Dazu war nach genaueren Berechnungen eine Transportüotte von 4 Millionen Tonnen nötig, wahrend Amerika mit seinen Neubauten anscheinend aui nicht mehr als drei Millionon rechnen konnte. ') Zitiert im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 20. Marz, Morgenblatt B. 160 Rechnung^ tragen und muBte auf jeden Fall dafür sorgen, daB die Entente nicht noch mehr hollandische Sehiffe zu fassen bekam HV Nach der Bescblagnahme der Sehiffe hörte man dieselben Töne. In einer durch Wolff aus Berhn telegraphierten offiziellen Erklarung2) wurde über die Haltung liollands selbst wemg gesagt, um so mehr über Wilson." Es machte sich nun aber die merkwürdige Erscheinung geltend, daB die Haltung der deutschen Blatter gegenüber Holland im April immer unfreundheher wurde, obgleich von seiten der Entente keine neuen In^d6f te1.!.0irfielen" Es zeigte sich eine erhöhte Besorgnis über die hollandische Neutralitat, und die Ursache dafür konnte schwerlich in einem Notenwechsel zwischen Holland und Amerika über die Ausführung des amerikanischen Angebotes auf Lieferung der von HoUand erbetenen 100 000 Tonnen tfetreide liegen. Der von Amerika mit sauersüBer Miene gemachte Vorschlag durch drei auBerhalb amerikanischer Reichweite, aber doch in seiner Nahe liegende hollandische Sehiffe dieses Getreide abholen und nach Holland bringen zu lassen, war eigentlich nicht mehr als ein geringes Entgegenkommen Amerikas, das hoUandischerseits, wenn auch vielfach nur mit grofiem Widerstreben 3), als Abschlagszahlung auf die groBe Schuld angenommen wurde, die Amerika gegen Holland auf sich geladen hatte. Von einer Annaherung HoUands an die Assoziierten war dabei keine Rede wenn sich augh einzelne Stimmen von seiten direkter Ententefreunde erheben hatten die verlangten, daS man Wüsons Zusage nun nicht mehr miBtraUen solle Die hollandische Regierung ging sogar so weit, eine scnriltliche Bestatigung von Englands und Amerikas Versprechen zu fordern demzufolge die Sehiffe, die noch aus hollandischen Hafen ausfahren wurden, nicht mehr in Beschlag genommen werden sollten, und diese verlangte bicherstellung wurde auch gegeben, trotzdem die Forderung nach ihr em.starkes Mifitrauen verriet. Deutschland hatte also auch nicht den geringsten Grund, sich besonders aufzuregen. Und doch geschah das. Die „Kölnische Vólkszeitung" schrieb z B in einem Brief aus Berlin 4): „HoUand muB, wenn es sich dem WiUen Englands und Amerikas iugt, seinen ganzen,Schiffsraum der Entente zur Verfügung stellen, wobei diese auBerdem über die Hafen der hoUandischen Koloniën, in denen noch einzelne deutsche Sehiffe liegen, eine KontroUe ausüben wird. Die ^ntente hat sicher auch die Absicht, die militarische Lage Deutschlands blatt D.Siehe eine ErklSrunS a«s Berlin in derselben Zeitung vom 20. Marz, Abend- *) Gleiche Zeitung vom 26. Marz, Abendblatt C. nahme'aber NieUW6 Kotterdamsche Courant Abendblatt C.) riet von der An- blatt C Übernommen im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 19. April 1918, Abend- 11 Japikse, HoUand 161 zu verschlimmern, wenn sie sich in Holland ein neues Operationsgebiet gegen Deutschland verschafft hat. SJ ,Wenn Holland sich dagegen bei den Zentralmachten anschheBen würde, batte es ebenfcalls Beschlagnahme seiner ganzen Flotte zu erwarten. Holland würde dann aufierdem von seinen Koloniën abgeschnitten und auf diese Weise in das Versorgungsgebiet der Zentralmachte mit einbezogen Dieser nicht sehr klare Brief enthielt eine Warnung an Holland, doch keinesfaks dem verlockenden Angebot zur Aufgabe seiner Neutraktat nachzugeben. Dafür bestand aber nicht die geringste Gefahr, ja, selbst die Verlockung bestand nicht einmal! Tatsachlich lag die Gefahr m diesem Augenbkck in Deutschland selbst: Die Gewalttat der Assozüerten vom Marz hat Deutschland im April dazu gebracht, hun auch seinerseits gegen Holland scharf aufzutreten, denn es ist beinahe nicht anzunehmen, daB die ■ Geschehnisse im April, welche . die deutsch-hollandischen Beziehungen sehr stark gefahrdeten, mit den Ereignissen vor Beschlagnahme der hollandischen Sehiffe nicht in Zusammenhang gestanden haben sollten. Die Angelegenheit ist noch lange nicht vökig aufgehellt1). boviel weiB man jedoch, daB durch die deutsche Regierung einige Forderungen gestellt wurden, welche die Durchfuhr durch Holland und auch durch Hollandisch- Limburg nach Belgien betrafen. Wie diese in ihrer ursprünglichen Form genau aussahen, ist mir nicht bekannt. Ich glaube aber aus verschiedenen mir zugekommenen Mitteilungen doch als sicher ableiten zu können, dafi Deutschland, als Holland sich nicht sofort zur Annahme der Forderungen bereit erklarte, mit einem Ultimatum gedroht hat2). Die Forderungen mufiten bis zu einem bestimmten Termin (29. April?) beantwortet sein, sonst würde ein Ultimatum übèrreicht werden. Es ist auch absolut sicher, dafi es Deutschland völlig ernst war, denn es fanden Truppenkonzentrationen an der Grenze statt. Es ist dabei nicht zu vergessen, daB in jenen Tagen in Deutschland so etwa eine Militardiktatur bestand. Man stand ganz unter dem Eindruck der augenscheinlich so groBen Erfolge an der Westfront. Ludendorff, oder wenigstens die Richtung, die in ihm, kulminierte, gab den Ton an lm Inland herrschte ein sehr starker militarischer Druck, und nack auBen hatte man die Absicht, möglichst viel Land in Besitz zu nehmen, um beim Frieden eine mögkchst starke Position zu haben. Es bestanden offenbar Auch über sie gibt es keine offizielle Publikation. 2) In einer unten (.siehe S. 168) zitierten Antwort Loudons spricht dieser von „einem nach gründlicher Überlegung festgestellten Romplex von Forderungen, der en bloc als Minimum angenommen werden mufite, und von dem nicht viel abgehandelt werden konnte". Die ernsten Folgen, die eine NichteinwilliguDg haben würde, „wurden dem hollandischen Gesandten in Berlin unumwunden zu verstenen gegeben , heiBt es weiter. 162 auch starke annektionistische Neigungen, besonders hinsichtlich Belgiens, die in weiten Kreisen Deutschlands Unterstützung tanden. Selbstverstandlich brachte das alles ohne weiteres groBe Gefahren für Holland mit sich. Die Miktarpartei schreckte unter dem Eindruck der Gewalttat der Alliierten nicht davor zurück, auch ihrerseits dem englisch - amerikanischen Beispiel zu folgen. Kühlmann. die starkste Person in der Regierung nach Ludenvdorff^der sich jedoch in Brest-Litowsk durcT^iê Militars aüi' die'Seke hatte drangen lassen und seitdem an EinfluB verlor, befand sich im April zu Bukarest bei den Friedensverhandlungen mit Rumanien. Sein Einflufi konnte sich daher nicht direkt zugunsten Hollands gekend machen. Sicher hat seine Abwesenheit die Gefahr für Holland vergröfiert. Die hollandische Regierung, oder wenigstens Minister Loudon, scheint anfanglich den ganzen Ernst der deutschen Drohung nicht gefühlt zu haben. Da wurde die Lage plötzlich vorübergehend sehr kritisch. Besonders war der 2b. April ein Tag gröBter Spannung. Am 26. April gab der Minister des AuBern in der zweiten Kammer folgende Erklarung ah1): „Es ist der Kammer bekannt, dafi sich Schwierigkeiten mit Deutschland ergelfen haben, in erster Linie über die Sand- und Kiesfrage. Die Besprechungen haben keinen direkt ungünstigen Verlauf, aber die Regierung tauscht sich nicht über den Ernst der Lage." Die Folge dieser Erklarung war, dafi die Kammer auf Antrag von zehn Mitgkedern eine Geheimsitzung abhielt. Mit grofier Bestimmtheit verlautete nachher, dafi in ihr sich kraftige Stimmen, u. a. von seiten De Savornin Lohmans und Troelstras, hören kefien, die auf Annahme der déutsehen Forderungen, soweit das möglich war, drMngten, und dafi von anderer Seite, namlich von dem Amsterdamer Professor Van Hamel, eine abweisende Antwort vorgeschlagen wurde. Mehr ist über die Sitzung nicht bekannt geworden. Zweifellos machten sich auch aufierhalb der Kammér sfarke Einflüsse geltend, um die Gefahr zu beschwören. Mehrmals ist mir von gut unterrichteter Seite erzahlt worden, dafi der deutsche Gesandte, Dr. Rosen, der Nachfolger Kühlmanns, und der Legationsrat von Maltzan sich persönlich die gröfite Mühe gegeben haben, um einen Vergleich herbeizuführen. Der erstere soll sich zu diesem Zwecke besonders an Cort van der Linden gewandt haben, der dann auch, im Gegensatz zu der von Loudon anfanglich eingenommenen Haltung, zum Entgegenkommen riet2). Durch diese Einflüsse wurde die Gefahr schliefikch beschwören. Die Spannung hatte sich derartig verscharft, dafi die regelmafiigen Militar- ') Zu finden in der Presse dieses Tages. *l Diese Auffassung der Sache wird bestatigt durch die Wahlrede von Nierstrafi einem Liberalen, der auf seiten van Hamels stand, und von Troelstra. Beide Reden im Auszug im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. Mai, Morgenblatt B, und 22 Mai Abendblatt C. ' 2* lflf$ 163 urlaube und die Urlaube für besondere Zwecke eingezogen wurden (am ■26. April). Man konnte es jedoch als ein hoffnungsvolles Zeichen ansehen, wie eine offizaelle Mitteilung gleichzeitig sagte, dafi keine weitergehenden MaBnahmen, d. h. keine neue Einberufung aller Wehrpflichtigen, für nötig erachtet wurden. Der hollandische Gesandte in Berlin, Baron Gevers, kam nach Holland herüber, offenbar um die Sache mündlich naher darzulegen. Es heten allerlei sehr alarmierende Gerüchte um. Aber die Unterhandlungen kamen dann in Zug, und es wurde ein Vergleich geschlossen. Man hat mir erzahlt, dafi auch Kühlmann, der sich in diesen kritischen Tagen gerade auf der Reise von Bukarest nach Berlin befand und unterwegs von der drohenden Gefahr unterrichtét wurde, noch rechtzeitig in Berlin zur Mafiigung,raten konnte, besonders von Wien aus, wo er sich ein paar Tage aufhielt. Am 24. Mai sandte Loudon an die zweite Kammer eine neue schriftliche Erklarung, zum Beweis, dafi die Gefahr als gewichen betrachtet werden könne Er gab gleichzeitig eine Auseinandersetzung über die entstandenen Schwierigkeiten, die ich hier in der, Hauptsache folgen lasse, da sie die einzige Handhabe zur Untersuchung der Fragen bietet, um die es sich handelt. „ Die Spannung, welche zwischen Holland und Deutschland eine Zeitiang bestanden hat, ist gewichen. Die deutsche Regierung verlangte MaBnahmen, die nur teil weise annehmbar waren. Diese MaBnahmen waren die fplgenden: „1. Die Wiederaufnahme der seit 15. November 1917 stillgelegten Durchfuhr von Sand, Kies und Steinschlag aus Deutschland nach Belgien auf den hollandischen Wasserw-gen, ohne Aufrechterhaltung der durch die hollandische Regierung daran geknüpften Bedingung, dafi vorher durch eine Sachverstandigenkommission eine Untersuchung nach dem Gebrauch des früher durchgeführten Materials in Belgien angestellt werde. „ Gegen eine derartige Durchfuhr in unbeschrankten Mengen und ohne Kontrolle widersetzte sich die hollandische Regierung sofort, da sie im Streit mit ihrer wohlbekannten Auffassung der Neutraktatspflichten gewesen ware. Die deutsche Regierung gab darauf selbst eine Maximumziffer für die zu cedierende Quantitat an, namlich 1 600 000 Tonnen per Jahr. Damit fiel der prinzipielle von der hollandischen Regierung gemachte Einwand; denn die genannte Zahl blieb unterhalb des Maximums, das sie in ihrem den Generalstaaten bekannten Briefwechsel mit den beiden betroffenen Regierungen als nach ihrer Meinung für die regelmafiige Unterhaltung der belgischen StraBen nötig bezeichnet hatte. Sie konnte deshalb auch ohne zu grofie Bedenken die von ihr in letzter Instanz gestellte Bedingung 'verfaken lassen, *) Siehe u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 5. Mai, Morgeublatt C. 164 dafi vor Wiedereröffnung des Durchfuhrverkehrs eine Kontrollkommission nach Belgien zugelassen werden müsse, eine Bedingung, welche die deutsche Regierung jetzt für unannebmbar erklart hat. „Die hollandische Regierung konnte diesem Abkommen um so eher zustimmen, als die deutsche Regierung auf ihr Ersuchen hin sich bereit erklarte, den Nichtgebrauch des durchzuführenden Materials für militarische Zwecke durch einen besonderen Notenaustausch festzulegen. „2. Unbehinderte Ausfuhr aus Holland nach Belgien bis zu einem Maximumquantum von 250 000 Tonnen monatlich. Infolge des seit kurzer Zeit hierzulande bestehenden Transportverbotes, war namlich die im übrigen freie Ausfuhr von Sand und Kies sehr erschwert. „Sich diesem Verlangen bezüglich eines Produktes des hollandischen Bodens, für das kein Ausfuhrverbot besteht, zu widersetzen, hatte die hollandische Regierung ebenfaks prinzipiell keine Ursache. „3. Wiederherstellung des zu Kriegsbeginn durch die deutsche Regierung selbst stillgelegten Güterverkehrs per Eisenbahn zwischen Belgien und Deutschland über Roermond. „Dagegen konnten von hollandischer Seite keinerlei Schwierigkeiten gemacht werden, da Holland durch den hokandisch-deutschen Vertrag vom 13. November 1874 („Staatsblad" Nr. 18 von 1875) verpfkchtet ist, den erwahnten Eisenbahnverkekr zu ermöglichen. Die deutsche Regierung verlangte freie Durchfuhr auch über diesen Schienepweg von aken Gütern, ausgenommen Flugzeuge, Waffen und Munition. Von Truppentransport war keine Rede. „ Die hollandische Regierung durfte aber auf Grund des ausdrücklich in Artikel 2 ihrer Neutralitatsproklamation niedergelegten völkerrechtlichen Prinzips keine Durchfuhr von Heeresproviant zulassen. Sie gab deshalb der deutschen Regierung zu verstehen, dafi die Ausschliefiung desselben eine conditio sine qua non fiir die Zulassigkeit der Durchfuhr sei. „ Die deutsche Regierung hat jetzt ihr Ein verstandnis mit dieser Festsetzung der Durchfuhrbeschrankungen erklart. Auch hat sie zu verstehen gegeben, dafi sie der von Holland gewünschten Umschreibung des Begriffs ,Waffen' zustimmt, wonach darunter alle Bewaffnungs- und Ausrüstungsgegenstande faken. „4. Vereinfachung und Beschleunigung der durck die hollandische Regierung getroffenen MaBnahmen zur Verhinderung der fraudulösen Ausfuhr an Bord der durch- und ausfahrenden Rheinschiffe *), welche nach *) Darüber wurde damals sehr viel gesprochen. Siehe u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 24 April, Abendblatt C. Und weiter wurde deutscherseits geklagt über die nicht atfsreichenden Lieförungen Hollands (Mitteilungen hierüber finden sich im neulings veröffentlichten Orange-Buch Juni 1919 bis April 1920, S. 73 ff.). 165 Meinung der deutschen Regierung die durch die Rheinschiffahrtsakte garantierte freie Fahrt wesentlich behinderten. Die hollandische Regierung, welche diesen Wunsch der deutschen Regierung teilt, hat sich verpflichtet, ihr AuBerstes zu tun, um die getadelten Schwierigkeiten aus deiri Weg zu raumen, u. a. durch Versiegelung der Güter unter Aufsicht eines hollandischen Beamten in Deutschland beim Einladen, durch Bewachung an Bord und durch schnelle Ausklarierung, alles das, ohne im geringsten von ihrem kontraktlich festgelegten Kontrollrecht abzusehen. Sie steht über diese Fragen noch in naherem Meinungsaustausch mit der Regierung in Berlin. „SchlieBlich hat die deutsche Regierung auf Veranlassung Hollands ihre anfanglichen Einwande' gegen die durch die hollandische Regierung an ihre Konsulatsbeamten in Belgien gernachten Vorschriften fallen gelasseh, nach welchen für Güter, die aus diesem Lande in Holland eingeführt oder durch hollandisches Gebiet durchgeführt werden sollen, die Erklarung, daB sie keine militarischen Vorrate, Kriegsbeute oder Requisitionsgüter sind, nicht abgegeben werden darf, wenn die Güter einem der Requisition gleichstehenden Verfahren unterworfen sind. „ Die deutsche Regierung erkannte namlich an, aaB diese Vorschriften zu keinerlei Klagen AnlaB gegeben haben. „Die Militarurlaube werden zu Anfang diesier Woche wieder gegeben, auch wird den Truppen die übliche Bewegungsfreiheit wieder gestattet werden." Liest man diese Erklarung aufmerksam durch, so stellt man von selbst die Frage: Wie war es möglich, daB es wegen dieser Dinge beinahe zu einem kriegerischen Konflikt gekommen ist? Von deutscher Seite ist behauptet worden, dafi Loudon anfafrglich eine rekalzitrante Haltung, besonders in der Frage des Eisenbahnverkehrs, angenommen habe, und zwar deswegen, weil er in den deutschen Forderungen „a gaim of bluff" gesehen habe, mit anderen Worten, sich des Erbstes der Lage nicht bewufit gewesen sei. Aber zugegeben, dafi Loudon dieses Mal anfanglich zu zurückhaltend gewesen ist — die oben erwahnte Tatsache, dafi man nicht allé diesbezügüehen Akfenstücke in ihrer ursprünglichen Form kennt, macht es schwierig, zu sagen, ob das tatsachlich so war —, trotzdem bleibt die Haltung Deutschlands viel unerquicklicher. Handelte es sich denn hier um eine Angelegenheit, um sofort mit dem Sabel zu rasseln und das Kriegsunheil noch weiter auszudehnen? Es ist leicht verstandlich, dafi Deutschland in den Tagen der Frühjahrsoffensive von 1918 das gröBte Interesse daran hatte, über möglichst viele Zufuhrwege zu verfügen. Aber hatte man denn Grund, daran zu zweifeln, dafi Holland einen gut motivierten und auf den Vertragen basierenden Vorschlag in dieser Richtung auch ohne Sabelgerassel annehmen werde? Die wahrend des Krieges gernachten Erfahrungen hatten das doch anders lehren müssen, und deshalb hatte man die Angelegenheit besser auf eine andere Manier behandelt. Man wird es 166 Minister Loudon als Entschuldigung anrechnen müssen — immer vorausgesetzt, dafi er tatsachlich einen Fehler begangen hat —, dafi gerade das Sabelgerassel ihn aus dem Konzept gebracht hat. Möglicherweise hat die deutsche Heeresleitung, deren Hand schwer auf dieser Angelegenheit lag, ein reelleres Ziel vor Augen gehabt, als aus dem bisher Gesagten hervorgeht. Ich meine, dafi sie vielleicht absichtlich einen Krieg provozieren wollte und zwar mit dem strategischen Ziel, den Einsatz der englischen Reserven auf der französischen Westfront zu verhindern und sie nach Holland abzulenken Aber warum griff inan dann nicht durch, nachdem man einmal angefangen hatte? . Etwa, weil die Heeresleitung, sich schliefilich davon .überzeugen liefi, dafi in diesem Falie durch Holland Widerstand bis zum Aufiersten geboten würde? Das hatte man aber doch von Anfang an erwarten können. Oder machten sich in Deutschland machtige Einflüsse gegen die Absichten der Obersten Heeresleitung geltend? Ludendorff hatte sich aber, wenn er einmal' angefangen gehabt hatte, doch nicht aufhalten lassen, darf man vermuten. Wie Bich das nun auch verhalten mag, die Beurteilung der Haltung Deutschlands mufi in jedem Fall ungünstig lauten. Die Nutzanwendung aus dem Fall fafite der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" (6. Mai, Abendblatt C) folgendermafien zusammen: „ So gibt die nun eingetretene Entspannung Anlafi zur Genugtuung, wenn auch das Geschehene eine bittere Erfahrung bleibt. Die Tatsache, dafi das Deutsche Reich auch nun noch nach den entsetzlichen Sclrrecknissen der letzten Jahre ohne weiteres bereit ist, Unterhandlungen, denen es Wert beimifit, oder die ihm aus dem einen oder anderen Grunde nicht rasch 'genug vonstatten gehen, was auch der Fall gewesen sein kann, Unterhandlungen über Angelegenheiten, die doch schliefilich im Vergleich mit den entsetzlichen Zeitereignissen nichtige Kleinigkeiten sind, mit Einschüchterung und mihtarischen Drohungen zu beschleunigen, oder durch Waffengewalt zu beendigen, diese Tatsache mufi einen höchst peinlichen Eindruck machen. Hier in Holland wird man sicher nicht versaumen, seine Folgerungen daraus zu ziehen." Man vergleiche diese deutsche Drohung2) einmal mit der englischamerikanischen Gewalttat. Dann wird man erst recht verstehen lerneh, warum hierzulande überwiegend das Gefühl herrschte, dafi letzten Endes *) Dafi das in hollandischen Eegierungskreisen damals für möglich gehalten sein mufi, beweist ein Eingesandt des früheren Marineministers Rambonnet im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 18. Februar 1919, Morgenblatt B. *) Eine Mitteilung über eine weitere Drohung im April 1918, wenn die Heeresleituna- den Entschlufi gefafit hatte, „ohne weiteres in den nachsten Stunden" in Seelandisch-Flandern einzurücken, findet sich im Buche Karl von Hertlings, „Ein Jahr in der Reichskanzlei". Ich- kann die Wahrheit dieser Mitteilung nicht kontrollieren. 167 von Deutschland die gröfite Gefahr drohte. Mit Marinismus und Militarismus hat Holland wahrend des Krieges die bittersten Erfahrungen gemacht. Aber nur der letztere hat' es so dicht an den Abgrund gedrangt, daB der Absturz einen Augenblick beinahe unabwendbar erschien. Die Assoziierten haben bei der Behandlung dieser deutschen Drohung, die ihnen sehr zustatten kam, um die Volksstimmung von der Schiffsfrage abzulenken, groBe Klugheit an- den Tag gelegt. Die Ententepresse blies die Sache natürlich auf und benutzte sie, um alle Bosheit Deutschlands zum so und sovielten Male an den Pranger zu stellen. Aber die Regierungen zeigten sich bereit, Holland so entgegenkommend als möglich zu behandeln. Die Art und Weise, wie Holland die deutschen Forderungen erwiderte, war für sie selbstverstandlich aufierst wichtig. Sie haben sich verstandigerweise mit der zwischen Deutschland und HoUand geschlossenen Ubereinkunft zufrieden gegeben. Man erzahlte damals hierzulande, daB der frühere Minister Colijn, der gerade damals in Handelsangelegenheiten nach London ging, dort auch die deutsch - hollandische Konfkktsfrage behandelt habe. England, Frankreich, Italien und Amerika liefien durch ihre Gesandten im Haag dem Minister des Auswartigen gemeinsam mitteilen, daB sie den Ernst der Lage, in der Holland sich befinde, voll und ganz begriffen. Sie erklarten deshalb, ohne von ihrem prinzipiellen Standpunkt abgeben zu wollen — das bezog sich besonders auf die Sand- und Kiesfrage — der hollandischen Regierung hinsichtkck der getroffenen Regelung keine Hindernisse in den Weg legen zu wollen 1). Nach diesen Schwierigkeiten mit Deutschland sah sich Holland wahrend des Kriegés vor keine anderen von groBer Bedeutung mehr gestellt Es war auch gut so, denn die Gefahr, in den Kampf hineingezogen zu werden, schien sich mit der Zeit nicht zu verringern. Allein die Beschlagnahme unserer Sehiffe hatte ein einigermaBen komisches Nachspiel, das wir noch eben erwahnen müssen. Es handelt sich um die berühmte Angelegenheit des Convoois nach Ostindien. Der Plan dazu wurde zuerst anlafilich der Behandlung seines Budgets in der ersten Kammer durch den Marineminister bekannt gemachts), der damals zu verstehen gab, daB man die Entsendung eines Convoois ausschheBlich zur Ablösung von Regierungspersonal und zur Versendung von Regierungsgütern im Auge habe. Es sollte ein Kohlendampfer mitgehen, damit die Sehiffe keine fremden Hafen anlaufen mufiten. Es war eigentlich ganz selbstverstandlich, dafi dieser Plan nun aut- x) Das geht aus der Antwort Loudons auf die Frage des Mitglieds der zweiten Kammer Dresselhuys hervor (Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. 5. 18, Morgen* blatt B). *) Bezüglich der wirtschaftlichen Übereinkünfte, die schlieBlich zustande kamen, vergleiche man das folgende Kapitel. A/ •. 8) Sitzungsberichte der ersten Kammer 1917/18, unterm 16. 4 18 168 tauchte; war doch jede Verbindung zwischen Mutterland und Koloniën unterbrochen. Der Minister konstatierte denn auch gleichzeitig, die augenblickliche Lage sei sehr wohl dan ach, um Convoois in grofiem Mafistab zu bilden, aber dazu sei man nicht imstande, eine Überlegung, der es wohl auch zuzuschreiben ist, daB in Holland vor Eintritt der Notlage, in die man nun geraten war, von einem Convooi nicht die Rede gewesen ist. Allerdings muB man sich darüber wunderU, daB die Frage der Convooierurig nirgends wahrend des Krieges ernstlich erörtert worden ist, auch nicht durch eine machtigere Seemacht als Holland. Durch das. internationale Recht war die Frage, ob die Kriegführenden in Convoois fahrende neutrale Handelsschiffe untersuchen durften, nicht mit aller Sicherheit entscbieden und zwar nur deswegen, weil die Londoner Seerechtsdeklaration nicht ratifiziert worden ist In ihr wurde namlich in Artikel 61 und 62 sehr wohl anerkannt, daB derartige Sehiffe von Untersuchung frei gestellt seien. Nötigenfalls mufite der Convooikommandant bei Anhaltung durch ein Kriegsschiff den Beweis liefern, dafi auf den Convooischiffen keine Konterbandegüter vorhanden waren. Da die Ratifizierung der Londoner Deklaration jedoch unterblieben war, hing die Sache mehr oder weniger in der Luft, wie so viele derartige Fragen. Dieser Umstand mag auch dazu beigetragen haben,' dafi keine Macht grofie Lust hatte, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Verzijl konnte sogar in seinem öfter zitierten, 1917 erschienenen Buch schreiben (S. 316): „Es scheint gerade, als ob der Convooi endgültig ungebraucblich geworden sei. Bei der Unsicherheit über den Umfang des Konterbandenbegriffs, welche infolge der Klauseln über feindliche Bestimmungen von Gütern und der Kompliziertheit des modernen Handelsverkehrs besteht, würde das Mittel des Convoois denn auch öfter arger sein als das Ubel, gegen das es angewandt wird. Der neutrale Staat kann die Verantwortlichkeit für den unschuldigen Charakter der Ladung nicht auf sich nehmen, und zwischen dem Convooikommandanten und dem Kommandanten des aufbringenden Kriegsschiffes wird es öfter zu Meinungsverschiedenheiten kommen, die zu gefahrlichen Konflikten führen können." Nur die skandinavischen Reiche haben sich für die Möglichkeit der Convooierung schon 1915 ausgesprochen, aber ihr EntschluB hat keine praktischen Resultate geliefert. Und nun kam im April 1918 Holland mit der Ankündigung eines Convoois, wenn auch sehr beschrankten Charakters'1). Den dafür in Betracht kommenden kriegführenden und neutralen Machten machte die hollandische Regierung in der zweiten Halfte April Mitteilungen über die Zusammenstellung des Convoois und über die im *) Das Folgende nach „Diplomatieke Bescheiden betreffende de Uitzending van een convooi naar Nederlandsch-Indie" (Hollandisches WeiCbueh 1918). 169 Zusammenhang mit ihm getroffenen MaBnahmen, woraus ersichtlich war, daB sie aus eigener Initiative die Garantien dafür gab, daB der Transport ohne jeden Zusammenhang mit den militarischen Interessen der Kriegführenden stattfand. Es wurden sogar die Schiffspapiere vorher zur Einsicht gegeben, damit sich jedermann überzeugen könne, daB die Flagge eine Ladung von nicht durch die Kriegführenden verbotènen Gütern deckte. Gleichzeitig damit wurde deutlich gemacht, daB es sich hier um einen ganz auBerordentlichen Convooi handelte, der dem Transport von Regierungspassagieren und Gütern, also der staatlichen Kommunikation zwischen Mutterland und Koloniën, diente. Aber die Hauptabsicht blieb doch, mit Hilfe des Convoois bei der herrschenden Unsicherheit auf See die ungehinderte Tjberfahrt zu sichern und besonders zu verhindern, daB eine Aufbringung nach einem Hafen einer kriegführenden Macht stattfinde, und um ganz allgemein die Sicherheit der Sehiffe zu garantieren. Die Haltung der neutralen Machte war begreifbeherweise wohlwollend. Sie gaben dem Ersuchen, dem Convooi Zugang zu ihren Territorialgewassern zu gestatten, gern ihre Zustimmung. Von den Kriegführenden antwortete Japan, daB seine in Frage kommenden Marineautoritaten von der bevorstehenden Reise des Convoois in Kenntnis gesetzt seien. Deutschland machte auch keine Einwande und bemerkte nur, der Convooi möchte auBerhalb des Sperrgebietes bleiben, da man sonst für seine Sicherheit nicht einstehen könne. Das beabsichtigte die hollandische Regierung auch, wie spater der deutschen ausführlicher mitgeteilt wurde. Die übrigen Kriegführenden antworteten nicht, mit Ausnahme Englands. Dieses machte ernste Schwierigkeiten. Es hatte schon gleich nach der Mitteilung des Marineministers in der ersten Kammer wissen lassen, daB es von seinem Standpunkt aus das Recht der Neutralen zur Entsendung von Convoois nicht anerkenne. Die britische Regierung „will exercise the belligerants right of visit and search of merchant vessels, should the Netberland Government carry out their proposal"1). Es wurde Juni, bis die Sehiffe, aus denen der Convooi bestehen sollte, bereit waren. Unter Geleite des Panzerschiffes „Hertog Hendrik"2) und des in ein Kriegsschiff umgewandelten Passagierschiffes „Tabanan", das auBerdem zum Transport von Soldaten und von für die indische Regierung bestimmten militarischen Vorraten diente, sollte die „Noordam" eine Anzahl hollandisch-indischer Regierungsbeamter mit ihren Familien und eine Ladung ebenfalls für die indische Regierung bestimmter Waren verschiffen. Die „Bengkalis" ging als Kohlenschiff mit. Führer des Convoois war der Kommandant des „Hertog Hendrik", Kapitan zur See A. C. de Joncheere. ») A. W., S. 3. 2) Dieses Schiff war schon im Februar nach Indien unterwegs gewesen, hatte aber damals Havarie erlitten und war deshalb wieder zurückgekehrt. 170 Mit der Herstellung der auf den Schiffen nötigen Veranderungen und besonders mit der Kontrolle der Ladelisten verstrichen einige Wochen Am 30. Mai machte eine offizielle Mitteilung des Marineministeriums bekanntJ), daB die Sehiffe ungef'ahr Mitte Juni von der Reede von Tessel abfahren, die Reise um das Kap der Guten Hoffhung machen sollten, und daB die Dauer der Reise auf ungefahr dreiundeinhalb Monate berechnet sei. Es braucht nicht besonders versichert zu werden, stand etwas herausfordernd in diesem Communiqué, „daB der Convooikommandant keine Untersuchung der Convooischiffe dulden wird". Aber gleichzeitig wurde von neuem versichert, es bestehe nicht die Absicht, einen Handelsverkehr zu eröffnen, der Convooi habe und behalte auf jeden Fall einen Ausnahmecharakter. Der zitierte Satz erregte in England AnstoB. Der englische Staatssekretar des AuBern, Balfour, gab das in einem Schreiben an den hollandischen Gesandten zu London ausdrücklich zu erkennen: Er habe die Nachricht „with considerable surprise" vernommen. Dann hieB es drohend weiter 8): „In face of this announcement, so made, His Majesty's Government feel compelled to reiterate in the most formal manner that the right of visit and search which Great Britain, whether she was a neutral or a belligerent, has, in eonformity with the rules of international law, coiisistently upheld for centuries, is not one which she can abandon." Mit diesem Brief wurde die Korrespondenz zwischen der hollandischen und englischen Regierung über diese Angelegenheit wieder eröffnet, welche nach den gegenseitigen Mitteilungen im April nicht fortgesetzt worden war. Gleichzeitig mit dem drohenden Schreiben ergab sich aus einem vertraulichen Memorandum3) der engkschen Regierung an den hollandischen Gesandten, daB sie doch entgegenkommen wollte. Sie gab zu, dafi es sich hier tatsachlich um einen besonderen Fall handle. Etwas ironisch fragte sie, warum eigentlich in dieseni Falie ein Convooi nötig sei. Wenn die Kriegführenden völlig von der Unschuldigkeit der Sehiffe, Pessónen und Ladungen überzeugt waren, „ there can be no need for giving vessels thus admitted to be innocent the special protection of convoy". Habe die hollandische Regierung ihrerseits eigentkch die logischen Folgen ihres Planes gut berechnet? Darauf folgte die Pointe: „ His Majesty's Government, whilst sincerely règretting that the Netherland authorities should have adopted a course which appears to them to have been lacking both in courtesy and in prudence, are anxioüs nevertheless to take into account the de facto situatibn in which the Netherland Government have now placed themselves by their own public an- *) Siehe u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant, Morgenhlatt B. l) A. W., S. 4 ') a. a. O. 171 nouncement. His Majesty's Government cannot consent to anyx abatement of the right which tbey claim to search vessels under neutral convoy. The repression of contraband and the enforcement of blockade lie by international law with the belligerent alone and 'not with the neutral, and this fundament al principle Great Britain is quite determined to uphold with all the force at her command. It is important that the Netherland Government should be under no misapprehension on this point." Auf Grund der Mitteilungen der hollandischen Regierung über den Charakter des Convoois erklarte sich die englische Regierung zu einem „friendly arrangement" bereit, vorausgesetzt, dafi Holland es so gemeint hatte. ' Darauf fahrt das Memorandum fort: „They desire by adopting this conciliary attitude to give further practical evidence of their constant anxiety to maintain their relations with the Netherland Government on the most amicable footing, and to show how far they are in fact willing to go out of their way in order to save the susceptibilities which the Dutch official announcement was calculated to arouse, and so to prevent the action of the Netherland Government from definitely creating a situation gravely imperilling the friendly relations between the two countries. „But if for these motives and in these circumstances His Majesty's Government are to waive their right of search in this particular case, as an act of courtesy, they must lay stress on the altogether exceptional nature of such a concession, which must not be treated as a precedent for similar concessions in future, nor held to commit His Majesty's Government in any way to the abandonment of their just claims on other occasions." \ Die schliefilich gestellten Bedingungen waren in der Hauptsache die folgenden: Eine detaillierte Liste aller Passagiere, wobei als solche nur Regierungsbeamte mit ihren Familien zugelassen werden durften, „full particulars" der Ladung, eine formelle Garantie Hollands, dafi die verschifften Warefi weder ganz noch teilweise feindlichen Ursprungs waren, Verbot der Mitnahme von Post, Korrespondenz, Drucksachen und Postpaketen. Man kann nicht leugnen, dafi die englische Regierung die Klippe, vor die sie durch die hollandischen Convooiplane geraten war, geschickt umsegelte. Sie hielt an ihrer prinzipiellen Auffassung fest, gab den hollandischen Autoritateu einige harte Worte zu horen und liêfi weiter den Convooi unter gewissen Bedingungen seines Weges fahren. Die hollandische Regierung wahlte ihre Stellungnahme gegenüber dem englischen Memorandum mit gleichem Geschick. Sie lieB die prinzipielle Frage ruhen und erklarte, mit Freude gesehen zu haben, dafi beide Regierungen über die Art und Weise der Ausführung des Convooiplanes einer Meinung seien. Die gestellten Bedingungen kamen ja auch beinahe völlig überein mit den von der hollandischen Regierung in ihrer Note kundgegebenen Absichten. Den 172 Convooiplan selbst verteidigte sie allein mit den Worten: „the protection of the men of war has the advantage of excluding all unnecessary delay." Das klang tatsachlich betrachtlich sachter als die Worte des MarineCommuniqués, das einfach unerwahnt gelassen wurde. So konnte man sich denn an die Ausfubrung des „friendly arrangement " machen. • Aber die Sache hatte noch einen Haken, der erst beseitigt werden mufite. Auf der vorgelegten Ladeliste kamen auch deutsche Farbstoffe vor, und die englische Regierung machte gegen deren Verschiflung sofort Einwande. Umsonst bemerkte die hollandische Regierung, dafi im Jahre 1916 eine besondere Ubereinkunft geschlossen worden sei, welche die unbehinderte Verschiffung deutscher Farbstoffe zugestand, wenn sie an die hollandisch - indische Regierung adressiert und durch dieselbe distribuiert wurden. Die englische Regierung bestand jedoch auf ihrer Forderung, die Farbstoffe aus den Schiffen zu entfernen. „Es war deutlich", sagt das hollandische Weifibuch,' dem ich das Material für meine Auseinandersetzung dieser Angelegenheit entlehne 1), „und auch durch bestimmte Anzeichen bestatigt2), dafi, wenn die fraglichen Farbstoffe an Bord geblieben waren, der Convooi durch die britischen Streitkrafte angehalten worden ware, mit der unvermeidlichen Folge, dafi der Convooikommandant den Befehl zu bewaffnetem Widerstand hatte geben müssen. Die Verantwortlichkeit für einen derartigen Konflikt und die daraus sich ergebenden Folgen wollte und konnte die Regierung gegenüber dem Lande nicht auf sich nehmen. Sie beschlofi daher, erst nach Löschung der Farbstoffe den Convooi abfahren zu lassen." Eine Tat verstandiger Besonnenheit wird man das heute zurückblickend nennen, aber damals dachten viele anders darüber, und zu ihnen gehorte der Marineminister. Er konnte sich mit dieser Konzession nicht i einverstanden erklaren und bat am 20. Juni sogar um seinen Abschied, der ihm von der Königin am 27. Juni bewilligt wurde, wahrend der Kriegsminister mit der Vertretung betraut wurde. Tatsachlich hatte Marineminister Rambonnet die Konzession an England nicht machen und den Convooi trotz der entstandenen Schwierigkeiten ausfahren lassen wollen. Als der Ministerrat anders beschlofi, glaubte er das nicht mitverantworten zu können. Sein Entschlufi zum Rücktritt war unerschütterlich 3). Es erregte grofie Aufmerksamkeit, dafi die Königin Rambonnet zwei Tage nach seinem Rücktritt zu ihrem aufierordentlichen Adjutanten ernannte. Man ersiebt l) Seite 2. *) Nach einer Wolff-Meldung befanden sich Dienstag, den 18. Juni, acht englische Kreuzer auf der Höhe von Katwijk (Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 25. Juni, Morgenblatt B) ") Siehe die diesbezüglichen Mitteilungen des Premierministers in Antwort auf eine Anfrage aus der zweiten Kammer (Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 2. Juli, Morgenblatt B). 173 aus der ganzen Haltung des zurückgetretenen Ministers in dieser Angelegenheit einen starken Gegensatz zu den Absichten seiner Amtsgenossen und erhalt auföerdem den Eindruck, dafi die letzteren den selbstbewufiten und konsequenten Marinemann anfanglich nicht genügend gezügelt, oder ihm wenigstens ihre gemafiigten Begriffe nicht ausreichend kenntlich gemacht haben. Oder war es tatsachlich so, wie die englische Regierung glaubte sagen zu müssen, daB der Convooiplan in einem unvorsichtlgen Augenblick gefafit worden war, und dafi man schliefilich nur dadurch etwas von seiner Ausfuhrung retten konnte, dafi man der Fahrt den Convooicbarakter nahm? Nachdem die Regierung Englands Forderung erfüllt hatte und die Farbstoffe ausgeladen waren, sollte der Convooi seine Reise beginnen. Da gab es neue Hindernisse. England hatte auch gegen einen für die Fahrt bestimmten Beamten Beschwerden, fnnter dem sie einen deutsohen Propagandisten vermutete, und im letzten Augenblick kam der englische Gesandte noch mit Beschwerden über die Apparate für drahtlose Telegraphie, die teilweise deutschen Ursprungs sein sollten. Die englische Besorgtheit wegen des inkriminierten Beamten, für welchen die hollandisch-indische Regierung jedoch völlig einstehen zu können erklarte, zeigt sich sehr deutlich in einem Memorandum der englischen Gesandtschaft vom 28. Juni1), das ich als diplomatisches Kriegskuriosum hier in der Hauptsache folgen lasse. Es riecht nach Spionagedienst: „According to information from Rotterdam in the possession of His Majesty's Government Mr , the Vice-President of the indish party in Java, is even more dangerous than , the President, and he is taking with him two trunks of Germany pamphlets as weil as fifty letters concealed on his person and on his family. Further that varioüs packages of German propaganda were put on board the auxiliary cruiser Tabanan on Juni 17, the one of which is in the cabin of and that there are cinema films of a propagandist nature in the trunks of one of two naval keutenants. There ist also a quantity of German propagandist matter in a big case of toys and games sent by Madame to her husband in Amboyna for the troops in the Indies. The fact that attempts have been made to send suspect literature by this convooi is indicated by advertisement in the press asking for the name of persons wilkng to take schoolbooks which could not be sent by America." Hinsichtkch dieses Passagiers und der beanstandeten Apparate wufite die hollandische Regierung die engksche zur Einziehung ihrer Beschwerden zu bewegen. Der Convooi, der schon in See gestochen war und auf Er-' ledigung dieser Angelegenheit gewartet hatte, konnte nun endlich wegfahren (5. Juli). Die Reise kef ohne Unglücksfalle ab; ihre Kosten betrugen die x) A. W., S. 10. 174 stattliche Summe von reichlich drei Millionen Gulden. Aber man darf nicht vergessen, dafi es nun doch geglückt war, Verbindung mit Indien zu bekommen, und das war immerhin etwas wert. Holland hatte England, wie immer auch, dazu bewogen, die Seesperre eben einmal aufzumachen. Die Tür fiel aber direkt wieder ins Schlofi, und zwar mit der unzweideutigen Warnung, dafi sie nun nicht nocb einmal aufgemacht werden würde 1). Ein starkerer Beweis für die grenzenlose Seetyrannei, die England ausübte, ist schwerbch denkbar. Jegliche hollandische Schiffahrt, selbst die von Regierungs wegen, war ganzlich von englischem Willen abh&ngig. Die Convooigeschichte war wie die Probe auf das Ergebnis der Entwicklung, welche die Verhaltnisse zur See wahrend des Weltkrieges genommen hatten. Englands geringe Nachgiebigkeit in diesem einen Fall ging zudem den Jingos, die ein grofies Geschrei darüber machten, noch stark gegen den Strichl Gerade als der Convooi ausfuhr, begann Deutschlands Stern schneU, zu erbleichen. Mitte Juli erfolgte Ludendorffs letzter Verzweiflungsstofi, der durch einen Gegenstofi Fochs pariert und beantwortet wurde. Hier braucht nur erwahnt zu werden, dafi es dann im November zum Waffenstillstand und in Deutschland zur groBen Revolution kam. Auf den Eindruck und die Folgen dieser Ereignisse für Holland kommen wir in einem spateren Kapitel zurück. Es war der hollandischen Regierung geglückt, das Land aufierhalb des Krieges zu halten. Übersieht man ihre vierjahrige Neutralitatspolitik, so kann man ihr grofie Anerkennung für die Art und Weise nicht versagen, in der sie nach beiden Seiten ihre Rechte und Pflichten als neutrale Macht, wie sie diese aus dem internationalen Recht ableitete, auszuüben und ihnen nachzukommen trachtete. Sie tat das in so starkem Mafie, dafi man von der „Hypertrophie ihrer völkerrechtlichen Knöchels" hat sprechen können. Es ist nicht ihre Schuld, dafi ihre Rechte oft mifiachtet wurden. Es ist jedoch ihr grofies Verdienst, dafi sie ihren Pflichten nachzukommen und alle Kriegführenden auch davon zu überzeugen wufite. Ich, glaube nicht, dafi irgendeine andere Regierung, welche ihre Aufgabe ebenso aufgefafit hatte, wie das Ministerium Cort van der Linden, bessere Resultate erzielt hatte. Jedoch kann nicht geleugnet werden, dafi sie nach dem ersten Kriegsjahr stark an Popularitat einbüfite. Das hing akerdings mehr mit anderen Umstünden, auf die wir noch zürückkommen werden, als mit ihrer Auslandpolitik zusammen, obwohl diese daran auch teil weise schuld war, ein- l) Diesbezüglicbe Mitteilungen machte Lord Robert Cecil im Unterhaus (Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 10. 7. 18, Morgenblatt B). Der Minister spielte dabei gleichzeitig auf die „ auBerordentlichen Umstünde" an, welche mit den „ganz speziellen internationalen Beziehungen zwischen unserem Lande und 'Holland" zusammenhingen und die die englische Regierung zur Nachgiebigkeit bewogen hatten. 175 mal, weil manche Kreise lieber eine mehr aktive Neutralitat gesehen hatten, vor allem aber, weil nach Meinung vieler ihre Auslandpohtik nicht aui- j richtig und offen genug! gegenüber den eigenen Landsleuten war. Resonders bei ihrem Auftreten wahrend der Ereignisse des Fruhjahrs 1918 H zeigte es sich, daB sie den Kontakt mit der öffentlichen Meinung verloren « hatte Diese begann mehr und mehr Zeichen von Nervositat zu auBern, J| was bei besserer Information durch die Regierung wahrschemhch hatte M vermieden werden können. li; Ein bekannter Publizist *) charakterisierte die herrschende Stimmung verdienstkch folgendermaBen: Kraftiger könnte man auftreten, inniger zusammenwirken, um alles zu bekampfen, was die sittliche Widerstandsfahigkeit und Spannkraft unseres Volkes zu schwachen vermag. Die Regierung kann das Volk mehr ins Vertrauen ziehen, die Bévölkerung mehr Interesse zeigen für das, was die Regierung tut oder laBt. Ernster kann das BewuBtsem werden, daB wir bis zum Ende des Krieges immer in schwierigen Zeiten leben eerden in denen geistiges Gleichgewicht, bei dem man die Gefahr keinen Augenblick aus dem Auge verliert, sich aber auch durch Intimidierung keinen Augenblick zur Überschatzung derselben verleken laBt, eine notwendige Voraussetzung ist. Zur Verstarkwng des Selbstvertrauens der Nation kann ieder beitragen, indem er unsere Krafte nicht unter- und unsere militarische Lage richtig einscbatzt. Besonders müssen jene das tun, die nun schon iahrelang die Leitung unserer Wehrmacht in Handen haben und imstande sind, der Bévölkerung AufschluB über deren Wert zu geben. Den rlochverrat iener, die unsere nationalen Interessen ihren Sympathien oder ihrer Furcht vor einer der kriegführenden Parteien aufopfern, kann man an den Pranger steken, und zwar durch den festen EntschluB, wo immer poktisch führende Persönlichkeiten sick solcher Vergehungen schuldig machen, sie als ehrlose Schelme zur Raumung ihrer Position zu zwingen. Jeden lag können wir von neuem vor die Entscheidung gestellt werden fortwahrende Wachsamkeit nach beiden Seiten ist geboten,x aber vor allem ist notig, daB man nichts versaumt, um die sittlichen Krafte des Volkes zu starken, damit es stets den Weg zu finden weiB, dessen Betreten seine Ehre und seine Zukunft fordern." § 6. Die wirtschaftliche Lage Holland hat die Jahre dér Prüfung zwar nicht ohne Verluste überstanden, blieb aber vor lebensgefahrkchen EinbuBen verschont. Das verdankt es zum guten Teil seinen gesunden wirtschaftlicheri Verhaltnissen, die es befahigten, auch starken Erscbütterungen zu widerstehen. Wahrend l) Staatsrat Struycken in „Van Onzen Tijd", 1918, S. 378. 176 der letzten Dezennien vor dem Weltkrieg hatte sich Holland, wie wir in der Einleitung schon andeuteten, dermafien entwickelt, dafi es den Rückstand, in dem es sick wahrend eines grofien Teiles des 19. Jahrhunderts «gegenüber den wichtigsten Machten Europas befunden hatte, einzuholen rvermochte. Es war auf dem besten Wege, sich der modernen Weltwirt> schaft einzugliedem. Der gesunde Kern des hollandischen Wirtschafdebens, übrigens nur eine Parakelerscheinung zu den gesunden politischen Verhaltnissen des Landes, zeigte sich gleich zu Anfang des Krieges. Die Regierung nahm ohne Zögern die notwendigen starken Eingriffe in das Wirtschaftsleben vor, die vor dem Kriege niemand für mögkch gehalten batte. Die grofien Finanzinstitute waren bereit und imstande, die nötigen Kredite zu geben, was in hohem Mafie dazu beitrug, die Schwierigkeiten der ersten Tage zu über winden. Weitere Bevölkerungskreise folgten mit einigem Widerstreben und viel Gemurr den gegebenen Richtknien. Die Hauptsache bei Kriegsbeginn war, dafi das Leben seinen geordneten Gang weiterging, und dafi man das Vertrauen haben durfte, es werde bei Einsatz aller Krafte so bleiben. Auf die Dauer war das aber nicht der Fall. Daran trug jedoch nicht Holland selbst oder die Mangelhaftigkeit seiner wirtsckaftkcken Krafte die Schuld, sondern seine Lage zwischen den Machten und seine Kleinheit. Es war eben den Wirkungen des Wirtschaftskampfes der Kriegführenden ausgesetzt und zu klein, um sich dagegen zu wehren und ihnen so zu entgehen. Aufierdem bekam Holland natürlich den Rückschlag der allgemeinen Wandlung in der wirtschaftlichen Situation zu fühlen, vor allem die Folgen der beinahe 'ganzlichen Unterbrechung des Handelsverkehrs und des Sinkens der Weltproduktion, die sick hauptsachlich in einer Tendenz zur Preiserhöhung aller Lebensbedürfnisse und Waren manifestierten. Durch diese stets wechselnden und unberechenbaren Umstande sahen sich die Staatsmanner und leitendeti Persönlichkeiten in Handel und Industrie vor immer neue und unerwartete Probleme gestekt. Ihre Lösung kostete viel Kopfzerbrechën und vollzog sich natürlich nicht ohne Fehlgriffe, deren Folge dann wieder vielfache Unzufriedenheit war. Nichts hat die Popularitat des Ministeriums Cort van der Linden mehr beeintrachtigt als seine Behandlung der wirtschaftlichen Angelegenheiten in den beiden letzten Jahren seiner Amtsführung, wahrend deren die Schwierigkeiten sich höher und höher auftürmten. Die Kritik hatte damals leichtes Spiel und war zum Teil sicher auch nicht unberechtigt. Für jemand, der in diesen Fragen damals nicht selbst eine Rolle gespielt hat, ist es aufierst schwer, hier ein bilhges Urteil zu faken. Der Verfasser ist sich wohl bewufit, dafi er sich mit den folgenden Erörterungen auf ein schwieriges und gefahrliches Terrain begibt, und halt es fürs beste, sich kritischer Bemerkungen mögkckst zu enthalten. 12 Japik se, Holland 177 Die in der ersten Zeit der Krisis von der Regierung getroffenen wirtschaftlichen Mafinahmen wurden bereits erwahnt Ihre Anwendung stiefi auf keine allzu groBen Schwierigkeiten. Natürlich ging es ohne Streit zwischen den Absichten der Regierung auf Unterstützung der Konsumenten durch Preisregulierung und ahnliches und dem Bestreben der Produzenten nach höherem Gewinn als die Regierung ihn zulassen wollte, nicht ab. Wo ist das nicht der Fall gewesen, und wie sollte man auch in unserer menschlichen Gesellschaft etwas anderes erwarten? Aber zu bedeutenden Konflikten kam es nicht, und man darf über den AuBerungen des Widerstandsgeistes, die sich bald hier bald dort hören UeBen, nicht übersehen, daB es auch an Bereitwilbgkeit, sich der Einmischung der Regierung zu fügen und sie zu unterstützen, nicht fehlte. Zu Groningen ereignete sich in den ersten Kriegsmonaten ein aufsehenerregender Zwischenfall. Groningen ist von allen hollandischen Provinzen diejenige, welche am meisten Korn, Roggen und Weizen produziert. Durchschnittiich werden 57 000 Laste auf 30 Hektar geerntet. 1914 betrug die Anfuhr am Markt reichlich 68 000 Laste. Die Bauern brachten namlich alles Entbehrliche an den Markt, da sie sich groBen Gewinn versprachen. Der Höchstpreis für Inlandgetreide wurde am 5. September auf 10 Gulden für 100 Kilogramm festgesetzt, wahrend der Preis im freien Handel am 1. September sich bereits auf 11,50 Gulden und für Auslandsgetreide auf 14,50 Gulden belief. Die Wertung des Auslandgetreides zeigte starke Steigungstendenz, auch ohne daB die Bauern ihre Vorrüte festgehalten hatten. Am 2. Oktober erhöhte die Regierung dann den Höchstpreis für Roggen auf 11 Gulden und für Weizen auf 12,50 Gulden. Aber ein paar Tage spater stiegen die Preise in Rotterdam schon auf 13,25 bis 13,75 Gulden. Daraufhin verordnete Landwirtschaftsminister Treub am 6. Oktober, die ganzen Getreidevorrate in Groningen zum festgesetzten Maximalpreis zu beschlagnahmen und zu enteignen, was widerstandslos geschah. Natürlich erregte eine derartige Handlungsweise in einem freiheitlichen Lande wie Holland sehr groBes Aufsehen. Der Fall erhielt noch ein besonderes Cachet durch die Tatsache, daB sich Treub in einer für die Bauern sehr unangenehmen, übrigens sehr unbilligen Weise über deren Haltung ausliefi 2). Die Sache batte die eine gute Folge, daB die Einmischung der Regierung in den Getreidehaiïdel organisatorisch besser ausgebaut wurde. Schon im September war ein Reichsbureau für Mehl- und Getreideverteilung gegründet worden, dem auch die Verteilung des Viehfutters oblag. Man nannte es treffend „ Zentralorgan zur Versorgung' von Mensch und Vieh". Nun kamen auf Initiative des Bürgermeisters von Veendam zuerst in *) Siehe oben S. 49 ff. ') Siehe darüber Schilthuis, a. a. O. S. 176ff., und Treub, a. a. O. S. lOOff. 178 Groningen, dann auch anderswo provinziale Kommissionen für Versendung und Verteilung des Getreides zustande, welc he die Arbeit des Reichsbureaus sehr erleiehtert haben Es gelang so tatsachlich, der gewaltigen Schwierigkeiten, die sich auftürmten, Herr zu werden. Dazu trug wesentlich der Umstand bei, dafi die Einfuhr aus dem Auslande geregelter weitsrging als man zu hoffen gewagt hatte. Im freien Handel gelang es den Kaufleuten, selbstverstandlich unter Einhaltung der N.O.T.-Bedingungen, betrachtliche Mengen Mais einzuführen. Infolgedessen wurde der verfügbare Maisvorrat Anfang 1915 so groB, dafi die Ausfuhr von Hülsenfrüchten nach Deutschland freigegeben werden konnte. Das wurde natürlich eine sehr vorteilhafte Transaktion. Stieg doch der Preis für grüne Erbsen binnen drei Wochen von 15,50 Gulden auf 27 Gulden per Hektoliterl Die Berichte über die wirtschaftliche Lage Hollands, welche das Ministerium für Landwirtschaft, Handel und Industrie seit Ende 1914 regelmafiig den Generalstaaten vorlegte 2), schlugen 1915 einen verhaltnismafiig ermutigenden Ton an, mehr jedenfalls als man hatte erwarten können. Schon im Jahuar 1915 konnte man lesen: „In der Landwirtschaft ist der Geschaftsgang wieder ganz normal geworden. Die wichtigsten Schwierigkeiten, unter welchen dieselbe zu leiden hatte, sind einmal der Mangel an Viehfutter, der eine Folge der ausschkefilichen Verwendung des Roggens für die menschliche Ernahrung ist, zum andern die Unmöglichkeit genügender Beschaffung von Kunstdünger. Mit infolge des Viehfuttermangels ging der Bestand an Schweinen wesentlich zurück, wahrend auch die Geflügelzucht stark behindert wurde, worunter besonders die Kleinbauern in den Roggengegenden zu leiden hatten. Übrigens stiegen die meisten landwirtschaftlichen Erzeugnisse im Preise, z. B. auch Kartoffeln, die in gewissem Grade unter ein Ausfuhrverbot fallen. Auch der Preis des Strohs, der im letzten Wirtschaftsbericht als niedrig bezeichnet werden konnte, hat stark angezogen. Die Rübenernte ist ganz nach Wunsch ausgefaUen. Die Preise der Milchprodukte sind hoch. Alles in allem können sich die Landwirte über das Jahr 1914 keineswegs beklagen. Dasselbe gilt auch für die Gemüsezüchter, obwohl die Einnahmen des Monats August aufierordentlich gering gewesen sind. Die Ausnahmen von der Regel sind indessen beim Gartenbau zahl- *) Viel Tatsachenmaterial darüber findet sich in dem obengenannten Sammelwerk „Documenten", zweite Serie, Abt. 7 u. 8. a) Sie finden sich in den Sitzungsberichten der Generalstaaten von 1914/15 Nr. 202, 1915/16 Nr 127. Eine kurze Zusammenfassung der ersten sechs Berichte in „Documenten", dritte Serie, Lief. 2, S. 49 f. 12* 179 reicher als beim Landbau, da es viele kleine Betriebe gibt, die durch die ungünstige Wirkung des Monats August stark in Mitleidenschaft gezogen •worden sind. Auch der Mangel an Schweinefutter ist für viele Gartner nachteikg, da diese die Schweinezucht der Mistproduktion wegen ausüben müssen." In dem Bericht vom April 1915 wurde unter anderem konstatiert, die /Landwirtschaft habe in vieler Hinsicht Grund zur Zufriedenheit und die Bauern hatten sicher im allgemeinen keineswegs Ursache zu Klagen. Man gestatte mir noch die Wiedergabe eines Passus: „Viele Produkte sind seit dem vorigen Quartal noch teurer geworden. Das gilt in' erster Linie für Schwejnefleisch, dessen Preis eine aufierordentlicke Höhe erreicht hat. Soweit man sehen kann, hat die Schweinezucht, die letzten Herbst beinahe ganz aufgegeben war, wieder zugenommen. „Mastvieh steht ebenfalls hoch im Preis, wahrend die Bewertung von Zucht- und Milcbkühen etwas gesunken ist. „ Der Butterpreis, der Anfang Marz sebr gesunken war, zog spaterhin starker an als in anderen Jahren um dieselbe Zeit. Auch der Preis für Kase bleibt hoch. Unter diesen Umstanden ist es leicht erkl&rlich, daB die Bodenpreise trotz des hohen ZinsfuBes eher eine Neigung zum Steigen als zum Fallen zeigen. Besonders vor einem Jahr verpachtetes Wiesengelande wurde teuer verkauft. Es ist jedoch zu bemerken, daB nur sehr wenige Verkaufe get&tigt werden." Nicht überall ist die Lage gleich günstig,-heiBt es weiter. Die Kleinbauern, die ihre Produkte so schnek wie mögüch verauBern müssen und die günstige Konjunktur nicht abwarten können, profitieren wesentlich weniger als die gröBeren kapitalkraftigeren Betriebe. In dem Bericht vom Juli 1915 liest man folgenden sekr vielsagenden Satz: „Das abgelaufene Quartal ist für die Landwirtschaft sicher hervorragend günstig gewesen. Die hohen Preise, die für so ziemlich alle Produkte bezahlt wurden, haben den Bauern viel Vorteil gebracht." Auch die Gemüsezüchter hatten gute Einnahmen, ebenso Viehzüchter und Fischer. Überall trat nach kurzem Stillstand ein lebhafter Geschaftsgang ein. Für das Fischereigewerbe kann man das Jahr 1915 sogar als eine goldene Zeit bezeichnen. Es gab zwar in diesen Zweigen der Volkswirtschaft einige Gruppen, z. B. in der Fischerei die Austernhandler und in der Landwirtschaft die Blumenzüchterei, die eine lange Periode des Stillstands und Rückgangs durchmachen muBten; das war aber, im Gesamtzusammenhang der wirtschaftlichen Lage gesehen, nur von nebensachlicher Bedeutung. GröBere und folgenschwerere Nachteile brachte der starke Rückgang des Transitverkehrs eines internationalen Hafens wie Rotterdam J) mit sich, gegen den es nun aber kein Heilmittel gab. J) In den Jahren 1912 und 1913 betrug die Anzahl der Rotterdam anlaufenden 180 Mit aufierordentlich hohem Gewinn arbeiteten die grofien Scbiffahrtsgesellschaften. In dem Bericht über die Wirtschaftslage vom Januar 1916 sind folgende deutlichen Worte zu lesen: „Die Schiffsfrachten stiegen im letzten Halbjahr 1915 wieder bedeutend Und erreichten eine auch in diesen abnormen Zeiten unerhörte Höhè. Es besteht noch nicht der geringste Grund zu der*Erwartung, dafi eine Verringerung der Frachtsatze stattfinden wird. Man darf eben nicht vergessen, dafi von der durch Sachverstandige auf 45 Millionen geschatzten Welttonnage gegenwartig etwa 10 Millionen dem Weltmarkt entzogen sind, worunter die aufgelegten 5 4 Millionen deutschen Schiffsraums. Das Tonnagebedürfnis der kriegführenden Machte für die mUitarischen Transporte steigt fortwahrend, was einen starken EinfluB auf den Frachtenmarkt ausübt, der natürlich auch von der Erhöhung der Kohlenpreise nicht unberührt bleiben kann." Die Transitfrachten stiegen um 300 bis 400 Prozent mit der Folge, dafi die Sehiffe betrachtlich teurer wurden. Verschiedene Reedereien verkauften ihre alten Sehiffe zu Preisen ins Ausland, die weit höher waren als die ursprünglichen Baukosten, und gaben selbst neue Sehiffe in Auftrjag. Man lese darüber noch eine Stelle aus der eben zitierten Note: „Der Krieg hat für die hollandische Handelsflotte eine merkwürdige Verjüngungskur zur Folge. „Sehiffe, die vor 15 Jahren gebaut worden und also bereits so gut wie abgeschrieben waren, wurden zu einem Vielfachen ihre3 Baupreises verkauft. Die hollandischen Werften haben nicht Platz genug, um alle erhalteneu Bestellungen auszuführen. Lauft ein Schiff vom Stapel, oder ist ein Bauauftrag definitiv vergeben, so kann der Reeder öfter das Schiff zum Dreifachen seines Wertes auf Grund des Baukontraktes verkaufen. Es ist ein erfreulicher Beweis ebenso für das Vertrauen unserer hollandischen Reedereien auf die Zukunft wie für die Energie unserer führenden Manner auf Schiffahrtsgebiet, daB bisher nur wenige der Versuchung, durch Verkauf neuer Sehiffe glanzende Gewinne zu erzielen, erlegen sind. Der Verkauf von bereits gebrauchten Schiffen hat jedoch zugehommen." Die hokandische Handelsflotte vermehrte sich im Laufe des Jahres 1915 um 33 Hauptschiffe und 7 Motorboote mit einem Inhalt von 121113 Bruttotons und verringerte sich durch Verkaufe und Verluste um 50 Hauptschiffe, 1 Motorboot und 1 Dampfleichter, von zusammen 118 990 Tons. Dafi aber in den letzten Zeitèn des Jahres 1915 und den ersten von 1916 durch Verkauf und Verlust von Schiffen ein Rückgang der Flotte eintrat, erheUt aus der Tatsache, dafi von Ende 1915 bis Anfang Februar 1916 Sehiffe 8645 hzw. 8693 mit 10821700 bzw. 11526600 Netto-Kegistertonnen Inhalt. Für die Jahre 1914, 1915 und 1916 waren die entsprechenden Zahlen 6104, 3218, 3102 mit 7997100 , 3910800 und 3237566 Tons. Diese Zahlen sind dem unten aitierten Bericht über die wirtschaftliche Lage zu Anfang 1917 entnommen. 181 22 Sehiffe über 400 Tons verkauft wurden und 9 verloren gingen, insgesamt von 104000 Tons, wahrend nur 12 Sehiffe von zusammen 38 000 Tons der Flotte zugefügt wurden, so daB sich ein Verlustsaldo von 66 000 Tons ergibt." Die Folge war eine starke Zunahme der hollandischen Seeschiffswerften, besonders in der Gegend von Rotterdam. 1 Bei der Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens bemerkte man auf verschiedenen Gebieten den EinfluB der kraftvollen Hilfe der Regierung. Wir hahen über die glückliche Initiative von Minister Treub bereits gesprochen. Treub wurde allerdings im Oktober Finanzminister 1), und für ihn trat F. E. Posthuma an die Spitze des Ministeriums für Landwirtschaft, Handel und Industrie. Dieser konnte jedoch vollstandig in den FuBspuren seines Vorgangers weiterwandeln und brauchte nur zu ernten, .was diesèr gesat hatte. Die Regierung griff in immer starkerem MaBe in das Wirtschaftsleben ein. AuBer ihren Bemühungen für die Versorgung des Landes mit Getreide und Kunstdünger — an der letzteren beteiligte sich 1915 auch die deutsche Regierung durch Anfuhr von KaU und Kabsalzen — muBte sie sich bald auch mit der Kohlen belieferung beschaftigeh. Holland war hierin vor dem Krieg zu beinahe zwei Dritteln auf Deutschland und Belgien angewiesen, wahrend England ungefahr ein Zehntel des Bedarfs. lieferte. Die Eigenproduktion Hollands in den Limburger Bergwerken war demnach ziemlich gering. Hier drohte wirkbeh eine groBe Gefahr. Was sollte aus Hollands Industrie und Fischerei werden, wenn es nicht gelang, dauernd eine betrachtliche Anfuhr in Gang zu halten? Man konnte die Produktion in Limburg etwas erhöhen — das gelang auch spater tatsachlich, so daB' von dort ungefahr ein Drittel des Bedarfs gedeckt wurde —, aber die" Hauptsache muBte eingeführt werden. Sowohl das Ministerium für Landwirtschaft, Handel und Industrie, wie eine Subkommission des KöniglichNationalen Unterstützungskomitees 2), die beauftragt war, sich besonders mit den wirtschaftlichen Interessen zu beschaftigen, haben sich der Kohlenfrage von Anfang an sehr warm angenommen. Treub erzahlt in seinem bekannten Buches), diese Angelegenheit habe ihm derartige Sorgen gemacht, daB er sich in der ersten Zeit regelmaBig jeden Tag über die Kohlenzufuhr aus dem Auslande auf dem Laufenden erhalten und wiederholt im Ministerrat über die angelieferte Menge Auslandkohlen Mitteilung gemacht habe. Im Januar 1915 führte die Wichtigkeit der Kohlenfrage zu einer Gliederung der erwahnten Kommission in zwei Abteilungen, deren eine unter dem Namen Industriekommission in erster Linie jene zur Behandlung überwiesen bekam. Bald darauf wurde aus ihr wieder eine *) Siehe den folgenden Paragraphen. 2) Siehe hierüber oben S. bin. 3) S. 271. 182 besondere Kohlenkommission gebildet, die ganz speziell mit der Regelung der Kohlenverteilung beauftragt wurde, da es natürlich höchst wichtig war, daB für eine gleichmaBige Verteilung über das ganze Land gesorgt wurde. . Anfang 1916 wurde dann aus ihr ein Kohlenbureau konstituiert. 1915 konnte man die Kohlenversorgung noch als genügend bezeichnen. Besonders Deutschland lieferte damals sehr regelmafiig; wahrend England Seine Lieferungen direkt stark einschrankte. Deutschland handelte dabei in seinem eigenen Interesse. Da es in Holland sehr viel kaufte, ware es durch die Stülegung seiner Kohlenzufuhr gezwungen worden, in noch weiterem Umfang mit Gold zu bezahlen als es das so schon tun mufite. Des- . halb war die hollandische Regierung damals noch in der Lage, die deutschen Vorschlage zum AbschluB einer Austauschregelung auf fester Basis aozuweisen. Sie hielt eine solche für zu gefahrlich und fürchtete die Schwierigkeiten, welche sich aus ihr ergeben mufiten. Getreide- und Kohlenfrage kamen im Grunde auf dasselbe hinaus. Bei der ersteren war die Versorgung, bei der zweiten die Verteilung das wichtigste. Einen einigermafien anderen Charakter trug die Mitwirkung der Regierung bei der Schiffahrt. Aus leicht begreiflichen Gründen war die Neigung zu Seefahrten infolge der grofien damit verbundenen Gefahren -nicht sehr stark. Auch waren die Versicherungspramien wesentlich erhöbt worden. Nach anfanglichem Widerstreben ging die Regierung, welche die Notwendigkeit eines solchen Auftretens nicht sofort eingesehen hatte, dazu über, sich um mögkchste Behebung beider Schwierigkeiten zu bemühen. Im Mai 1915 kam das Seeunfallgesetz über staatkche Versicherung von Schiffsbemannungen, auch von Fischern, gegen Seeunfalle zustande. Dadurch sollten die Angehörigen des Schiffahrtsgewerbes zur Fortsetzung ihres gefahrkchen Berufes ermuntert werden. Im Juni 1916 wurde ferner ein Gesetz ausgearbeitet, das den Minister für Landwirtschaft, Handel und Industrie ermachtigte, einen Teil des Molestrisikos fiir hollandische Sehiffe oder Hollandern gehorige Ladungen nötigenfalls noch einmal zu' versichern und für" den Fall der Unmöglichkeit von Molestversicherung bei Privatversicherungsinstituten die Versicherung durch den Staat übernehmen zu lassen. Damit wollte man die Reeder unterstützen. Begreifkcherweise i lieB man das Gesetz erst in Wirkung treten, als die Gefahren auf See gröfier wurden. Es hat nach Inkrafttreten dieses Gesetzes (7. Juni 1916) noch sehr lange gedauert, bis von den dem Minister darin verkehenen Befugnissen Gebrauch gemacht werden mufite. Man war jedoch rechtzeitig auf alle Eventualitaten vorbereitet. Von groBer Wichtigkeit war auch die Einmischung der' Regierung in die Angelegenneiten des Geldhandels, besonders der Fondsbörse *). Schon im September 1914 hatten die Generalstaaten das Börsengesetz genehmigt, *) Siehe darüber die ausführlichen Auseinandersetztmgen bei Treub, a. a. O. S. 189. 183 so dafi es am 4. des Monats im Staatsanzeiger erscheinen konnte. Die Regierung erhielt dadurch weitgehende Befugnisse gegenüber dem Geldhandel. Die Börsen kamen unter die Aufsicht des Ministeriums für Landwirtschaft, Handel und Gewerbfi und spjiter, nach Treubs Übertritt ins Finanzministerium, unter die dieses Ressorts. Der Minister sollte wahrend der Kriegszeit über Offhung und Schliefiung der Börsen zu entscheiden haben. Die Notierungen und die Art und Weise der Geschaftsabwicklung sollten seiner Aufsicht unterstehen. Das Recht, verpfandete und nun start im Wert gesunkene Effekten zu verkaufen, wenn der Schuldner seinen Verpflichtungen nicht nachkam, wurde beschrankt. Unter, anderm mufite der Verk&ufer einen durch den Minister festgesetzten Minimumbetrag bieten. Dadurch wurde den Geldnehmern unter die Arme gegriffen. Dén Geldgebern wurde geholfen, indem die Wiederbeleihung von für langfristige Kredite verpfandeten Werten gesetzlich sanktionierf wurde. Die Ausführung des Börsengesetzes ward unter Oberaufsieht einer vielköpfigen Sachverstandigenkommission einer Dreierkommissibn anvertraut, die eine Anzahl Börsenvorschriften entwarf. Erst als diese endgültig festgestellt waren, fand die Wiedereröffnung der Fondsbörse statt (9. Februar 1915). Anfanglioh durfte nur eine beschrankte Anzahl von Werten gehandelt werden. Diese wurde jedoch bald erhöht. Durch ein derartig vorsichtiges Verfahren konnte sich die Wiederaufnahme des Geldhandels ohne Erschütterungen vollziehen. Es. ist in Holland wahrend der ersten Zeit des Krieges viel Geld verdient worden, natürlich in erster Linie durch Leute, die kapitalkraftig genug waren, um die Situation auszunutzen. Man darf nicht vergessen, dafi sie auch das gröfite Risiko auf sich nahmen. Sie waren die Trager des Unternehmungsgeistes. Daneben gab es solche, die ohne Kapital zu besitzen, nur die Gelegenheit ausnutzten und dabei Erfolg hatten. Es sind die hollandischen Kriegsgewinnler, O. Wer genannt1), die wir hier erwahnen, und von denen nicht wenige dieselben augenfalligen Charakterschwachen an den Tag legten wie ihre Genossen in anderen Landern. Sie mufiten sehr viel Spott über sich ergehen lassen. Wir wollen hier lieber auf die nützlicke Seite ihres Daseins hinweisen, die darin besteht, dafi sie dem Staat durch die Kriegsgewinnsteuer 2) ein gut Teil ihres Profits haben abgeben müssen. Dadurch haben sie den Nachteil einigermafien wieder > gutgemacht, den mehrere von ihnen zweifellos ihren Mitbürgern verursachten, indem sie in einer Art und Weise handelten, über die man lieber keine Nachforschungen anstellt, vorausgesetzt, dafi dazu jemand imstande ist, der nicht zum Kreis der „nouveaux riches" gehort. Hollands Reichtum an Edelmetaken nahm durch soviel gewinnbringende *) Von Oorlogs-Winst (Kriegsgewinn). *) Siehe darüber den folgenden Paragraphen. 184 private Unteraehmungen stark zu. Der Goldvorrat der hellandischen Bank stiég von 151 490 000 Gulden im Dezember 1913 auf 709 317 000 Gulden im August 1918, also um 368,2 Prozent und betiug am 5. April 1919 760000000 Gulden. Es wurde die Ansicbt gekend gemacht, dieser Zuwachs könne Hollands Wohlfahrt schadigen, da das Gold dadurch der Depreziation verfallen werde. Aber diese Meinung, die wahrend des Krieges durch den Utrechter Professor Verrijn Stuart verteidigt und durch den Prasidenten der hollandischen Bank, Mr. G. Vissering, bekampft wurde x), hat sich als unrichtig erwiesen. Im Gegenteil, der grofie Edelmetallvorrat ist in mehr als- einer Hinsicht höchst nützlich z. B. für die Ausgabe gröBerer Banknotenbetrage, und es hat sich gezeigt, daB er am Ende des Krieges für die ganze Wirtschaftslage Hollands eine wesentliche Stütze darstellte. Das Bild, das wir von Holland entworfen haben, droht beinahe zu gunstig auszusehen. Aber es zèigt ausschlieBlich die rein materielle Seite. Bei -scharferem Hinsehen treten genug Züge hervor, die einen weniger glanzenden Eindruck machen. Das gilt in erster Linie von der Kontrolle, die der hollandische Handel sich wohl oder übel gefallen lassen muBte. Sie begann schon in der ersten Kriegszeit mit der Gründung der N. O. T.2), und nahm dann immerfort zu. Die Tragweite der auslandischen Kontrolle, speziell der engkschen, ist schwer abzuschfitzen. Man kann es doch kaum als Vorteil betracbten, daB Kaufleute und Fabrikanten englischen Agenten Einblick in ihre Geschafte gestatten muBtèh, damit diese sich über den Verbleib der eingeführten Waren oder der daraus verfertigten Fabrikate unterrichten konnten. Deutschland verlangte spater für die aus seinem Gebiet eingeführten Artikel dieselbe Kontrolle. Kèin Kaufmann legt gerne seine Geschaftsbeziehungen bloB, und der hollandischen Geschaftswelt muB es viel Überwindung gekostet haben, diesen auslandischen Überwachungsforderungen nachzukommen. Und dann die Kontrolle der N. O. T. selbst! Ein französischer Journalist, der unter Führung des Vorsitzenden der N. O. T. sich über deren Tatigkeit unterrichten konnte, sprach von „une exploration redoutable et rassurante" und schrieb3): „A travers 1'arsenal des fiches et contra-fiches qu'une armée d'enquêteurs adapte aux consignes des Alliés, des salles d'expertise aux entrepóts-séquestres, du guichet des cautionnements k celui des amendes, j'ai relevé la piste que suivent un acheteur et une cargaison. . C'est bien en vérité une piste de guerres." 1) Das Ergebnis djeser Polemik ist eine ziemlich ausgedehnte. Literatur. Zuletzt erschien: Vissering, De goudquaestie, Antwoord aan prof. Dr. C. A. Verrijn Stuart. 's Gravenhage, W. P. Stockum & Zoon, 1918. Hier ist die frühere Literatur erwahnt. *) Siehe darüber oben S. 90. ") Revue des deux Mondes 1. Sept. 1916, S. 127. 185 Was für Umstande und Kosten muS das alles mit sich gebracht haben! Das einfachste Handelsgeschaft lief über zebn und mehr Bureaus, und dabei Gefahr, trotz allem zu scheitern. Man betrachtete das als ein notwendiges Übel und fügte sich deshalb. Von diesem Standpunkt aus kann man schwerlich anders urteilen als daB die N. O. T. Holland sehr wertvolle Dienste erwiesen hatJ). Man kann ihr viélleicht den Vorwurf nicht ersparen, daB sie gegen die Entente etwas allzu entgegenkommend gewesen ist. Die deutsche Regierung, die anfanglich ebenfalls die Dienste der N. O. T. in Anspruch nahm, hat die Beziehungen zu ihr sehr bald abgebrochen und die Kontrolle der aus Deutschland eingeführten Güter eigenen Agenten anvertraut. Aber man müBte doch eine intimere Kenntnis der Geschaftsführung der N. O. T. besitzen als das augenblicklich mögbch ist, wenn man hier ein begründetes Urteil fallen wollte. Fest steht jedenfalls, daB die englische Kontrolle der hollandischen Handelsgeschafte sehr weit ging. Man erzahlt sich sogar von diversen Firmen, daB sie ihre deutschen Angestellten auf englischen Befehl entlassen oder ihre deutschen Teilhaber auszahlen muBten. Man erz&hlt auBerdem, daB gewisse Firmen solange keine Güter von der N. O. T. geliefert bakamen, bis sie „deutschenrein" geworden waren. DaB in diesem Geist von englischer Seite gearbeitet wurde, kann man sich leicht vorstellen. Ging doch England im Wirtschaftskrieg ganz öffentlich so weit, daB es hollandische Geschafte boykottierte, weil sie mit Deutschland einen auf jeden Fall loyalen Handel getrieben hatten. Es waren die berüchtigten schwarzen Listen unseligen Andenkens, die die Namen dieser hollandischen und anderer auslandischer Firmen offizieU bekannt machten, um sie geradezu an den Ententeschandpfahl zu stellen. Was sollte unter solchen Umstanden aus dem selbstbewuBten Kaufmannsgeiste werden? ZweifeUos wirkten jene MaBnahmen deprimierend und entnervend und muBten eine Beeintrachtigung der Moral zur Folge haben. Wurde doch die Locknng allzu groB, sich auf die eine oder andere listige Weise aus dem Netze loszumachen, das die Bewegungsfreiheit einzuengen drohte. Wir kommen hier ganz von selbst auf eines der in Holland meistbesprochenen Themen, das des Schmuggels. Was zuweilen ein einzelner Kaufmann, der eine Partie Waren, z. B. Automobilreifen, unter N. O. T.-Bedingungen eingeführt hatte, im groBen zu machen versuchte, das probierten Hunderte, ja Tausende im kleinen. Man sagt, daB ganze Dörfer an der Grenze geschmuggelt haben. Und wenn der Kaufmann mit seiner Partie Waren einen Gewinn machte, der ihm seine der N. O. T. verfallende Bankkaution reichlich ersetzte, verdienten die Schmuggler an der Grenze wiederholt kleinere Betrage, die ihr Risiko und selbst zuweilen eintretende Verluste aufwogen. Dabei handelte es sich nicht nur um Im- *) Vgl. Treub, a. a. O. S. 333. 186 portwaren, deren Wiederausfuhr an und für sich verboten war, sondern ebensogut, ja vielleicht in erster Linie, um Lebensmittel oder andere Artikel, für welche die hollandische Regierung mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage im eigenen Lande vorübergehend oder dauernd ein Ansfuhrverbot erlassen hatte. Der Anreiz zum Schmuggel wurde um so starker, je höher allmahlich durch die Hungerblockade die Not in Deutschland stieg. Die immer, fortschreitende Verringerung der hollandischen Vorrate schob dem Abflufi über die Grenzen schlieBlich wieder einen Riegel vor. Dieser Schmuggel war gewifi ein wenig löbliches Gewerbe, aber ein neuer Beweis für die Tatsache, wie stark der Trieb nach Gewinn die Menschen, nicht nur die Hollander, beherrscht. Was hat die Regierung nicht alles getan, um den Schmuggel zu unterbinden! Man wird sich nicht darüber wundern, daB die Beamten, die mit der Beaufsichtigung der Ein- und Ausfuhr in normalen Zeiten betraut waren, nun sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigten, so eifrig sie sich auch im allgemeinen ihren erschwerten Berufspflichten widmeten. Ihre Anzahl war eben zu gering, und ihre Befugnisse reichten nicht weit genug. Die Zokbeamten bekamen dann Unterstützung durch das Militar, indem die MiUtar- oder Landwehrdienstpflicbtigen aus den Grenzdistrikten zur Kontroke des Schmuggelwesens herangezogen wurden. Aber auch das half nicht. Das Zusammenwirken der Zollbeamten und Soldaten lieB, so getreulich die letzteren auch, abgesehen von einzelnen Ausnahmen, sich ihrer Aufgabe widmeten, zu wünschen übrig. Man arbeitete sich zuweilen sogar entgegen. _ Das Heer ist eben für derartige Dienste, wie sie nun von ihm verlangt wurden, ungeeignet und war darauf auch keineswegs vorbereitet. 1916 wurde die Grenzbewachung dahin verandert, dafi eine Anzahl verlafilicher Leute — es waren bald an die 6000 — aus dem Heer als aufierordentliche militarische Zollwachter angestekt wurden. - Die Grenzwachen selbst' wurden wieder auf ihre gewöhnlichen militarischen Pflichten beschrankt. Gleichzeitig wurde die Oberaufsicht über den Grenzverkehr in der Hand des Finanzministers zentraksiert. Durch Bestimmungen t über Transport und „Lagerung" von -Gütern sorgte man dafür, dafi im Grenzgebiet nicht zu grofie Vorrate aufgehauft werden konnten, und beschrankte so die Gelegenheit zu Ausfuhr 2). Tatsachlich war seitdem der Schmuggel erschWert und wurde also wohl auch eingeschrankt. Ob die Warenknappheit in Holland selbst dazu letzten Endes nicht das meiste beigetragen hat, mag dahingestellt bleiben. Ganz und gar hat man den Schmuggel nie verhindern können. Das ware, sagt ein früherer Finanzminister 3), der es wissen kann, „ ein für die Steuerverwaltung verlockendes, aber unerreichbares Ideal". 1) Das wird mit Recht her vorgehoben in Brugmans u. a. Nederland in Oorlogstijd, S. 53. *) Durch das Gesetz vom 31. Dez. 1915 (Staatsanzeiger Nr. 533), das am 1. April 1916 in Wirkung trat. 8) Treub, a. a. O. S. 338. 187 Dieses Schmuggelunwesen hat Holland im Ausland viel geschadet. Dazu hat eine in Holland erscheinende Tageszeitung, die von autoritativer Seite allerdings einmal als nichthollandisch gebrandmarkt wurde, in der argerlichsten Weise beigetragen. Das Anti-Schmuggelbureau, das durch diese Zeitung — gemeiht ist natürlich der „Telegraaf" — gegründet wurde, muBte schon durch die Tatsache seiner Gründung nach aufien hin den Eindruck machen, daB es mit dieser -Schmuggelei in Holland doch ganz und gar nicht in der Ordnung sei. Der „Telegraaf" weckte, vielleicht mehr als beabsichtigt war, übertriebene VorsteUungen über die Schmugglerei und führte — das war noch das argste an dem Fall — zu der völlig verkehrten SchluMolgerung, es sei der hollandischen Regierung mit ihrem Kampf gegen den Schmuggel eigentlich ganz und gar nicht ernst. Treub hat dagegen schon energisch protestiert. Ich zitiere gerne seine diesbezüglichen Bemerkungenl): „ Deingegenüber erklare ich mit Nachdruck, daB die hollandische Regierung alles nur irgend mögliche getan hat und noch tut, um das Schmuggelunwesen zu unterdrücken, und daB durch die Hintertürchen, die sich die Schmuggler immer wieder zu öffnen verstanden, nicht soviel hinausgewandert ist, wie man sich im Leserkreis d6s genannten Blattes, das solch merkwürdige Auffassungen über die Pflichten hat, die die Vaterlandsliebe in Kriegszeiten auferlegt, infolge seines fortwahrenden Geschreibes über den Schmuggel an der deutschen Grenze vorstellen mag." Vielleicht kann dieser Protest auch nun noch zur Beseitigung schiefer VorsteUungen über das hollandische Schmuggelunwesen beitragen. Nötig ist das namlich noch immer. Schmuggler und bona fide an Deutschland kefernde Kaufleute und Bauern — beide Kategorien wurden im Ausland oft zusammengeworfen und einander gleichgestellt — sind wahrend des Krieges wohl die meistgeschmahten Personen in Holland gewesen. Man schalt auf sie, weil man ihre Tatigkeit gleichmaBig verabscheute, und eigentlich wolke man damit ganz Holland treffen 2). Die so geweckten und durch eine geschickte Pressetaktik in den Ententelandern propagierten VorsteUungen sitzen fest im VolksbewuBtsein, und sind nicht leicht auszurotten. Erst wenn man sich einen richtigeren Gesamtbegriff von Hollands Situation wahrend des Weltkrieges gebildet haben wird, ist das auf die Dauer viélleicht zu erwarten. Aber genug von diesen nicht sehr anziehenden Dingen, die auf jeden Fall beweisen, daB die hollandischen Zustande nicht so rosig gewesen sind wie" man auf Grund einer oberflachlichen Schilderung der in vielen Erwerbszweigen herrschenden verhaltnismaBig groBen Wohlfahrt vermuten. könnte. Auch diese Wohlfahrt selbst hatte schlieBlich etwas Prekares. Ganz richtig ') a. a. O. S. 339. *) Siehe darüber Paragraph 9. 188 heiBt es in einem öfter zitierten Berichte (vom Januar 1916) über die wirtschaftliche Lage: „Obgleich, wie gesagt, tatsachlich eine gewisse Stabilitat zu konstatieren ist, darf man darunter doch nicht etwa verstehen, dafi man nicht jeden Tag grofie Veranderungen für möglich zu halten habe. In der Tat bestehen so viele unsickere Faktoren, die die wirtschaftliche Lage beherrschen, dafi auch nun, ebenso wie in ; den früheren Berichten, der Vorbehalt jederzeitiger sehr bedeutender Anderungsmöghchkeiten gemacht werden muB." Hat nun die Regierung bzw. der Minister für Landbau, Handel und Industrie, als in erster Linie dafür in Betracht kommende Persönkckkeit, in der nötigen Weise diesen unsicheren Faktoren Rechnung getragen? Man hat diese Frage zuweilen verneint. Besonders wurde der Regierung vorgeworfen J), sie habe die gunstige ihr 1915 gebotene Gelegenheit, Reservevorrate aufzuhaufen, versaumt. Besonders habe sie, so betonten die Kritiker, zu viel von einem Tag auf den andern gelebt und zu wenig Voraussicht gezeigt. Weder für Ansammlung eines Getreidevorrats, noch für Kohlenreserven habe sie gesorgt und sei deshalb jederzeit Überraschungen ausgesetzt gewesen. Darauf dürfbeine Regierung es in Kriegszeiten aber nicht ankommen lassen. Diese Kritik hat wahrscheinlich eine gewisse Berechtigung. Es ist auch von sachkundiger Seite2) festgestellt, daB „die Ansammlung eines Standardvorrats" aus der erstklassigen Ernte von 1914 im folgenden Jahre jederzeit möglich gewesen ware. Auch die Ernte von 1915 fiel zwar qualitativ weniger gut, jedoch so reichlich aus, daB auch aus ihr Vorrate hatten eingelagert werden können. Demgegenüber steht die höchst merkwürdige Tatsache, daB der Getreidevorrat, statt zuzunehmen, von September 1915 ab allmahlich sank. Am 1. September 1915 betrug er 120 000 Tons Weizen, bei einem wöchentlichen Verbrauch von 13 000 Tons. Von September bis Marz sorgte die Regierung nur für eine Anfuhr von 284 733 Tons, wahrend der Verbrauch etwa 390 000 Tons gewesen sein mufi. Der Weizenvorrat betrug deshalb am 31. Marz 1916 reichlich 6000 Tons, der ganze Getreidevorrat reichte für zehn, allerhöchstens zwanzig Tage! Damals begann aber der Kampf zur See gerade scharfere Formen anzunehmen, wodurch die Weizenanfuhr natürlich in hohem MaBe behindert werden muBte. Die Regierung sah sich deshalb am 15. April zu der Bekanntmachung genötigt, wegen des geringen Weizenvorrats dürfe vom 24. ab bis auf weiteres nur noch Schwarzbrot gebacken werden. Das dauerte bis zum 24. Juni. Erst dann waren die Vorrate wieder einigermaBen erganzt, so dafi die Schwarzbrotperiode auf hören konnte. ') z. B. durch R. Groeninx van Zoelen in seiner Broschüre: De Amsterdamsche Geest. 'sGravenhage 1917. ') Siehe das Zitat a. a. O. S 38. 189 Das Publikum behielt aus ihr nur die Erinnerung an etwas Unangenehmes, ohne sich bewufit zu sein, daB viel schlimmere Dinge zu erwarten standen. Mangel an Voraussicht kann wohl in diesem Falie nicht geleugnet werden. Für ihn waren aber noch mehr Beispiele anzuführen. So sah sich die hollandische Öffentlichkeit im Februar 1917, gerade beim verspateten Einsetzen eines strengen Winters, plötzlich einer sehr "ernsten Kohlennot gegenüber. Sie war wesentlich mitbedingt durch den Umstand, daB nach dem Auf hören des Verkehrs zu Wasser nicht genug Transportmittel zur Verfügung standen, um die Anfuhr aus Deutschland in der nötigen Weise aufrechtzuerhalten. Man hatte aber auf derartige Möglichkeiten schon den ganzen Winter gefaBt sein müssen! So begann man erst jetzt, im Februar, als es Not an Mann ging, 400 Wagen aus Seelandisch-Flandern über die Schelde bringen zu lassen! Versuche, die inlandische Kohlenproduktion, u. a. durch Ausbeutung der Braunkonlenlager in Nordbrabant, zu erhöhen, begegneten lange Zeit nur sehr geringer Aufmerksamkeit. Auch RegierungsmaBnabmen zur Forderung des Getreideanbaus blieben lange Zeit aus. Die Ursache dieses Mangels an Weitblick scheint mir einfach genug zu sein : Man schmeichelte sich in Regierungskreisen mit der Hoffnung, der Krieg werde nicht allzulange dauern, und man werde auch so durchkommen. Im Sommer 1916 waren die Friedenserwartungen im Haag sogar recht hoch gespannt, wahrscheinlich infolge von Nachrichten über Friedensbemühungen, die, wie sich jetzt mehr und mehr zeigt, ja beinahe wahrend des ganzen Krieges im Gange waren. Es herrschte demnach eine zu groBe Leichtglaubigkeit, ein zu optimistisches Vertrauen, zu wenig Realitatssinn. Solch* vager Hoffnungen willen hatte man die Vorsorge für die andere Eventualitat, namlich eine lange Fortdauer des Krieges, nicht aus dem Auge verheren dürfen! Auf jeden Fall ware es besser und einsichtiger gewesen, einen anderen Kurs einzuschlagen. Staatsmanner von hervorragender Begabung, denen es vielleicht gelungen ware, die Klippen zu vermeiden, hat Holland jedoch, wenigstens für die Leitung der wirtschaftlichen Angelegenheiten, in den spateren Jahren des Krieges nicht auf den Plan gehoben. Die vorhandenen Führer haben auf ihre Weise ihr Möglichstes getan und sich zweifellos ernsthaft bemüht, der Not zu begegnen, ohne daB es ihnen vollstandig gelungen ware. Ihnen deswegen vorzuwerfen, ihre Politik sei eine Folge zu geringen Vertrauens auf das Volk gewesen, und diesen Vorwurf auf die liberalistische Kultur Hollands auszudehnen, die für diesen Mangel verantwortlich und mit dem mit Beschranktheit reichlich gesegneten „Amsterdamer Geist" zu identifizieren sein soll *), scheint mir eine allzu gezwungene Erklarung für eine nach meiner Ansicht ganz einfach menschliche Erscheinung. x) So der Verfasser der oben genannten Broschüre. 190 Tatsache ist es jedenfalls, daB Holland, als die auBenpolitische Lage ein sehr viel ernsteres Gesicht bekam, über keine Vorrate von einiger Bedeutung verfügte. Die Situation verschlimmerte sich im Laufe des Jahres 1916 infolge des heftigen Charakters, den der Seekrieg annahm x), und ganz besonders 1917, als Amerika in den Krieg eintrat. Liest man den Anfang 1917 publizierten Wirtschaftsbericht2), dann sieht man die Wendung bereits kommen, zum Teil schon erfolgt. „In der letzten Zeit", so heiBt es darin, „droht die Stabibtat der meisten EinnahmequeUen, die nach der wechselvollen Situation zu Kriegsbeginn eingetreten war, durch den Stillstand des Seeverkehrs und den teilweise darauf zurückzuführenden Kohlenmangel ein Ende nehmen zu sollen. Hinsichtlich der naheren Zukunft kann man deshalb sehr wenig Bestimmtes sagen." Der Verfasser des Berichtes fühlte sich so wenig sicher, daB er schrieb: „Es ist keineswegs ausgeschlossen, daB bei der Publikation dieses Berichtes eine Anzahl der bei seiner Abfassung bestenenden Umstande ganzlich verandert sein werden." Der Bericht vermittelt im ganzen für 1916 den Eindruck einer ertragkchen Lage in den meisten Geschaftszweigen, obwohl verschiedentlich auch die Bemerkung auftaucht, da und dort drohe oder bestehe schon Kohlen- oder Rohstoffmangel mit ihren naturgemaB schadlichen Folgen. Die Schiffahs^ erzielte noch gute Gewinne. Die Sehiffe hatten an Zahl weiter zugenommen. Aber die ungünstigen Momente, wie Behinderungen auf See, starkes Steigen der Versicherungspramien und der Preise für Gagen, Schiffsartikel und Bunkerkohlen, machten sich doch schon deutlich fühlbar. Die Zufuhr aus Indien war stark erschwert, und der Handel in Kolonialprodukten dementsprechend Schwankungen unterworfen, obwohl mit den meisten Artikeln noch grofie Gewinne erzielt wurden. Die Produkte der Landwirtschaft hatten wegen des weniger guten Ernteausfalls keinen so grofien Nutzen abgeworfen. Die Viehzucht zeitigte bessere Besultate. Die Lage im Bauhandwerk gestaltete sich infolge des starken Ansteigens der Baukosten besonders schwierig. In einer Stadt wie dem Haag, die sich in den letzten Dezennien auBerordentkch stark ausgedehnt hatte, nahm die private Bautatigkeit zusehends ab. Hier und da spürte man auch den EinfluB der riesigen Gewinne, die viéle Leute gemacht hatten: „Ein nicht unbetrachtlicher Teil der grofien Gewinne, die in der Nahe der Ost- und Südgrenze durch den Schmuggel, an der Küste mit der Fischerei und akem, was damit zusammenhangt, gemacht wurden, hat für den Ankauf billiger Luxusartikel Verwendung gefunden, mit denen durch die Ladeninhaber am meisten verdient worden ist. Aus denselben Gründen ') Siehe darüber oben § 4 und 5. ')Beilagen zu den Sitzungsberichten der zweiten Kammer 1916/17, Nr. 440. 191 haben Gold- und Silberwaren, besonders solche, die vom Volk getragen oder gebraucht zu werden pflegen, viel Absatz gefunden. Die unter der Landbevölkerung herrschende Wohlfahrt kam ebenfalls den Inhabern von Gold- und Silberwarenladen zugute." Ich erinnere mich selbst, in einer bekannten Gold- und Silberwerkstatt beobachtet zu haben, daB man sich hier besonders mit der Anfertigung von goldenen Zigarettenetuis beschaftigte, die sehr gesucht waren, wahrend der Verkauf sokden silbernen Tafelgeschirrs, für das diese Fabrik vor dem Krieg bekannt war, stark nachgelassen hatte. So etwas ist bezeichnend, ebenso wie die Tatsache, dafi die Diamantenindustrie, die erst sehr schwer getroffen war, sich wieder erholte. Mit Nachdruck weist der zitierte Wirtschaftsbericht auf die zunehmende Teuerung. Man lese nur folgende Stelle: „Auch abgesehen von direkten Kriegsgewinnen haben viele Kapitalisten aus ihren Anteilen an TJnternehmungen höhere Dividenden bezogen als in normalen Jahren. Dem steht allerdings gegenüber, daB infolge der Kursdifferenzen verschiedene Effektengruppen weniger Nutzen, andere gar keine Rente abgeworfen haben. Trotzdem ist aber jedenfalls das Kapitalvermögen kaum weniger rentabel gewesen als in gewöhnbchen Jahren. Demgegenüber stehen jene, die nicht über ein sehr grofies Vermogen verfügen und in normalen Zeiten gerade ihr Einkommen verzehrten, sowohl infolge der Preissteigerung der wichtigsten Lebensbedürinisse als auch wegen der Erhöhung der Steuern einer sehr betrachtlichen Vermehrung ihrer Ausgaben gegenüber, so dafi diese Leute wirklick sehr schwere Zeiten durchmachen. In mancher Familie, wo finanzielle Sorgen früher beinahe etwas TJnbekanntes waren, spielen diese jetzt eine sehr groBe Rolle. Bezüglich der Familien, die von Kapitalzinsen leben müssen, ist zu bedenken, dafi gerade die kleinen Kapitalbesitzer in Holland von jeher auslandische Papiere bevorzugt haben, so dafi die Dividendenerhöhung der hollandischen und kolonialen Unternehmungen ihnen nichts nützen. In vielleicht noch höherem Mafie fühlen alle jene die Not der Zeit, die von ihrem Beamtengehalt oder -pension leben müssen. Ihre Lage ist geradezu ernst geworden. Mögen die Preise der Lebensbedürfnisse durch die Organisation der Lebensmittelverteilung von seiten der Regierung auch gesunken sein, so haben doch die starke Steigerung der Mietspreise, die stellenweise I 25 Prozent und darüber betragt, und die unglaubliche Teuerung der Kleidung die Ausgaben dieser Familien derartig anschweken lassen, dafi sie die Sparsamkeit auf die wichtigsten Bedürfnisse ausdehnen müssen. „Jenen vor akem, die nun einmal in Wohnung und Kleidung ein gewisses standesgemaBes Auftreten wahren, aber von einem geringen Einkommen, z. B. etwa 3000 Gulden, mit Familie leben müssen, bringt die heutige Zeit viele Sorgen." 192 Wir sprechen hier von der Krisis, die, seit Kriegsbeginn in der Entstehung begriffèn, nun in voller Spharfe auftrat, und in der Folgezeit bis auf den heutigen Tag soviel Kopfzerbrechen gemacht hat. Die Preissteigerung der vitalsten Bedürfnisse betrug damals, verglichen mit 1914, in Amsterdam 50—75 Prozent; in Rotterdam war sie etwas geringer! Schuhwerk und Kleidung waren sogar um 100 Prozent teurer geworden. Auch auf dem Lande machte sich die Krisis stark bemerkbar. Das neutrale Holland bekam eben die unerfreuliche Wirkung verschiedener weltwirtschaftlicher Faktoren, in erster Linie der Produktionsverminderung, zu spüren. Sie machte sich 1917 und 1918 in noch viel höherem Mafie geltend, sowohl wegen der Verstarkung dieser Faktoren, wie auch infolge der wesentlichen Erschwerung des auf Hokands Wirtschaftsleben von Übersee her ausgeübten Druckes. Nun war mit den von der Regierung nach Kriegsausbruch getroffenenund seitdem in langsamem Tempo hier und da etwas weiter ausgedehnten MaBnahmen nicht mehr auszukommen. Die Regierung mufite viel scbarfer eingreifen. Immer mehr Regelungen aller möglichen Dinge muBten getroffen werden, bei deren praktischer Durchführung neben den Gemeindeadministrationen eine dauernd steigende Anzahl von Kommissionen in Tatigkeit treten mufite. Des Ineinandergreifens gar vieler Rader bedurfte es, wenn die Maschine laufen sollte. DaB ihr Gang nicht immer tadellos war, kann niemand verwundern. Es ist gleich unnötig wie unmögkch, hier eine Detailbeschreibung dieser Maschine zu geben. Wir müssen uns auf einige der hauptsachlichsten Regierungsmafinahmen beschranken. Ihr System blieb übrigens dasselbe wie bisher und wurde nur weiter ausgedehnt, nicht tiefer fundiert. Der Grundgedanke der Regierung bei all ihren Bemühungen war und blieb naturgemafi, das hollandische Volk vor Mangel, mindestens vor Hungersnot, zu bewahren und aufierdem das Wirtschaftsleben möglichst in Gang zu halten. Sie hat dabei nicht gezögert, tief, sehr tief in den Beutel zu greifen, und hatte es am Gelde allein gelegen, so hatte akes gut gehen müssen. Als die Produktion und die Transportkosten immerzu stiegen, oft sprunghaft, unerklarlich und scheinbar-abrupt, aber stets in Zusammenhang mit der wachsenden Not, hielt die Regierung an ihrem System der Enteignung und Festsetzung von Maximumpreisen fest. Aber sie begann zudem, um die Produzenten nicht zu entmutigen und die Zufuhren möglichst lange aufrecht zu erhalten, bei verschiedenen Artikeln Zuschüsse zu leisten. DeiMaximumpreis wurde so eigentlich fiktiv; der tats&chliche Preis war viel höher. AuBerdem übernahm die Regierung die Verteilung von immer mehr Artikeln selbst und tat damit das Ihre, dafi das Vorhandene einigermafien gleich verteilt wurde. Natürlich kostete das aufier einer Riesenmühe und vielen Umstanden sehr viel Geld. Den Beginn dieser fortschreitenden Entwicklung brachte 13 Japik»e, Holland 193 das Gesetz vom 8. Marz 1916 durch das ein Betrag von 17 000000 Gulden zur Beschaffung von Lebensmitteln, besonders nicht gebeuteltem Weizenbrot, nicht gebeuteltem Weizenmehl, Roggenbrot und Viehfutter und zur Einrichtung von Reichsbureaus für die Verteilung dieser Artikel genehmigt wurden, ebenso wie drei Tage darauf ein Betrag von 1 116 000 Gulden zur Beschaffung von Mehl2). AH diese Waren sollten zu verminderten Preisen abgegeben werden. Durch die Gesetze vom 21. August 1916 wurden Betrage von 20 000 000 und 21901000 Gulden für ahnliche Zwecke ausgeworfen, und gleichzeitig die Lebensmittelverteilung im Interesse der Volksernabrung zweckmafiig organisiert3). Die wichtigste Bestimmung war dabei, daB der Minister für Landwirtschaft, Handel und Industrie den Auftrag erhielt, dafür zu sorgen, daB soweit möglich, „von den Lebensmitteln und Rohstoffen, Brennmaterialien und Haushaltungsartikeln, deren Verteilung ihm untersteht, für alle Gemeindeverwaltungen, die ihre Bedürfnisse rechtzeitig angemeldet haben, genügende Quantitaten vorhanden sind". Die Gemeinden wurden ihrerseits angewiesen, dafür zu sorgen, daB diese Güter stets in gehörigen Mengen bei ihnen vorhanden und erhaltlich seien. Dem Minister lag die Preisfestsetzung für die erwahnten Artikel ob. Das Reich mufite 9/J0 und die Gemeinden 1/10 der Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis aufbringen. Dieser Grundgedanke der Rationierungsgesetze sieht sehr einfach aus, aber seine Ausfuhrung brachte allerlei kleinere und gröfiere Schwierigkeiten mit sich. Die eben genannten Betrage reichten bei weitem nicht. Durch das Gesetz vom 27. April 1917 4) wurden neuerdings 80000 000 Gulden ausgeworfen und noch im gleichen Jahre erwies es sich als notwendig, diese Summe noch um 24 000 000 Gulden zu erhöhen. Für 1918 muBten dann für die gleichen Zwecke 130000000 bewilligt werden, eine Summe, die nachher bis auf 201000000 stieg und zwar nur für den Bedarf von 9 Monaten. Die Gesetze, durch welche die beiden letzteren Betrage genehmigt wurden, kamen erst im Juli 1918 zustande5). AuBerdem waren im Juni noch 950000 Gulden zur Bestreitung der Kosten für die Reichsbureaus und -Kommissionen genehmigt worden 6). Diese lange Verzögerung ■—- waren doch die Gesetzentwürfe schon im November 1917 eingereicht worden — wurde durch die ausführliche parlamentarische Behandlung der Entwürfe verürsacht. Alle Beschwerden, die durch die Lebensmittelpolitik der Regierung entstanden waren, alle Verbesserungen, die ihr eine mehr oder weniger wohlwollende Kritik angedeihen lassen wollte, alle 'Von den Grundsatzen der Regierung abweichenden Meinungen, die auch schon vorher zu mancher Interpellation in der ^Kammer geführt hatten, kamen bei der Durchberatung des Zweihundertmillionenentwurfes zur Sprache. Der Landwirtschaftsminister wurde heftig *) Staatsblad Nr. 111. *) Ebenda Nr. 125. ') Ebenda Nr. 414—416. *) Ebenda Nr. 312. 6) Ebenda Nr. 453 u. 454. 6) Ebenda Nr. 323. 194 angegriffen, verteidigte sich aber kraftig und zeigte dabei, daB er im allgemeinen gut informiert war. SchlieBlich schlug er seine Gegner aus dem Felde, wozu sicher der Umstand beitrug, dafi die Debatten in der zweiten Kammer, wo der starkste Widerstand geboten wurde, gerade mit den kritischen Tagen der Beschlagnahme der hollandischen Sehiffe in England und Amerika zusammenfiel. Es hat mir immer den Eindruck gemacht, als ob die Gegner Posthumas nicht über ein klar abgezeichnetes Aktionsprogramm verfügt hatten, das sie an die Stelle seiner von ihnen so heftig bekampften Politik zu setzen in der Lage 'gewesen waren. Es konnte allerdings nicht schwer fallen, zahlreiche und zweifellos nicht seiten berechtigte Einwürfe zu erheben, aber dabei übersah man doch leicht die gewaltigen Schwierigkeiten, mit denen der Minister zu kampten hatte. Ist es nicht bemerkenswert, dafi der Plan, ein besonderes Departement für Lebensmittelversorgung zu gründen, dem der Minister mit Vergnügen zustimmte, sich nicht verwirklichen lieB, weil sich niemand bereit fand, die Verantwortung dafür zu übernehmen? Letzten Endes mufite man eben doch anerkennen, dafi trotz mancher groben Fehler, die begangen wurden, trotzdem manches vielleicht in vieler Hinsichf besser hatte gemacht werden können, Minister Posthuma Holland ohne allzu viel Schaden über sehr schlimme Tage weggeholfen hat. Die ganze parlamentarische Behandlung jener Gesetzentwürfe, besonders in der zweiten Kammer, bekam eine pikante Note durch die Uneinigkeit, die anlafilich ihrer zwischen dem Finanz- und Landbauminister, also zwischen Treub und Posthuma, an den Tag trat. Der erstere konnte sich auf die Dauer nicht dabei beruhigen, dafi sein Kollege vom Landwirtscbaftsministerium das Rationierungssystem immer weiter ausdehnte, ,so daB dessen Kosten stets zunahmen. Er wollte schliefilick zugeben, daB man noch sechs Monate lang in der bisherigen Weise weiterarbeite, aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dafi dann nach einer anderen weniger kostspieligen Methode verfahren werden sollte. Damit war jedoch der Landwirtschaftsminister wieder nicht einverstanden. Der Streit wurde dann unter eifriger Mitwkkung eines einfluBreichen Abgeordneten und des Premierministers geschlichtet, wobei, um es noch einmal zu wiederholen, der ernste Konflikt mit der Entente das seine beitrug. Treub, der bereits mit Rücktritt gedroht hatte, blieb im Amte. Posthuma bekam seine Kredite für 10 statt für 9 Monate bewilligt. Von seiten der Regierung wurde zugesagt, die inlandische Produktion solle so hoch wie möglich gesteigert, die Wareneinfuhr aus dem Auslande, unter möglichster Behinderung der Luxusartikel, erleichtert, MaBnahmen gegen den Kettenhandel getroffen und zu diesem Zwecke das Enteignungsgesetz verscharft werden; auBerdem sollte eine Verscharfung der Kontrolle der Produktion, ihrer Einsammlung und Lagerung eintreten, die Inlandrationierung sollte einen möglichst lückenlosen Ausbau erfahren und eine Berufungsinstanz für Krisisangelegenheiten 13* 195 gebildet werden. Mit diesen und einigen anderen Zusagen hoffte man die sehr starke Unzufriedenheit, die in und auBerhalb der Kammer über das Rationierungswesen geauBert worden war, dampten zu können. Dieses friedliche Ende ausgedebnter, oft leidenschaftlich geführter Debatten war durch die herannahenden Wahlen x), die aller Wahrscheinkchkeit nack die Lekensdauer des Ministeriums Cort van der Linden beschkeBen würden, nicht unbeeinfluBt. Die Wahlen standen zu nahe vor der Tür, als daB es sich rentiert hatte, das Ministerium noch vorher umzubilden oder zum Rücktritt zu zwingen. Aber trotzdem keBen die Lebensmitteldebatten einen sehr peinlichen Eindruck im Lande zurück. Ganz besonders gilt das von dem Konflikt zwischen den beiden Ministern. Hatte man den denn nicht innerhalb des Ministerrates erledigen können 1 DaB das nicht geschehen war, mufite als ein Anzeichen für Schwache und Uneinigkeit im Ministerkollegium aufgefafit werden — in solcher Zeit eine böse Erscheinung! _Fragt man nun, wer die meiste Schuld trug, so mufi ich ausweichend antworten und darauf verweisen, was ich über die groBen Schwierigkeiten des Lebensmittelproblems bereits bemerkt kabe. Ich will aber noch darauf hinweisen, dafi alle Zusagen, mit denen Treub und die starke Opposition in der zweiten Kammer zufriedengestekt werden sollten, die, Kursrichtung von Posthumas Politik nicht ge&ndert haben. Die meisfen waren ziemlick vage und allgemein gehalten, wie z. B. die folgende, bisher noch nicht genannte: ,, Die Festsetzung der Preise soll nicht so niedrig sein, dafi die Produktionsneigung verschwindet, aber doch auch nicht so hoch, daB ein über das strikt Notwendige hinausgehender Kriegsgewinn auf Kosten der Konsumenten und des Staates erzielt wird." Eine goldene Regel, die kein Minister je aus, dem Auge verlieren durfte. Aber auf ihre Anwendung kam es an, und mit ihr begannen eigentlich erst die Schwierigkeiten für den Minister und seine Beamten. Die Opposition hatte aber auch ihr Gutes. Sie zwang den Landwirtschaftsminister, die Kritik zur Kenntnis zu nehmen, teilweise auch ihr Rechnung zu tragen. Ihre schwache Seite war, daB sie aus voller Uberzeugung das angewandte System für untauglich erklarte,ohne doch selbst ein neues zur Einführung verlegen zu können. Man erwartete das nun von dem neuen Kabinett, dessen Bildung man im Laufe des Jahres 1918 sich vollziehen zu sehen hoffte. Der Reputation des Landwirtschaftsministers hat der Umstand auch viel geschadet, dafi mehrere Persönlichkeiten, auf deren Hilfe er angewiesen war, sich der ihnen zugeteilten Aufgabe nicht gewachsen zeigten. Posthuma war mehr als einmal in der Wahl seiner Mitarbeiter nicht glückhck. Es mufi auch nicht leicht gewesen sein, für all die neuen Kommissionen und Amter die richtigen Leute zu finden, womit denen, die mit Ehren ihren Posten ausfüllten, nicht zu nahe getreten werden sok. Man hat nun *) Siehe Paragraph 10. 196 niéht allein viel über Unfahigkeit, sondern auch von Korruption gesprochen. Selbst der Minister wurde in verschiedenen Broschüren unerlaubter 0ewinnsucht beschuldigt, wofür jedoch niemals wirkliche Beweise erbracht worden sind. Im Gegenteil ist mir persönlich verschiedentlich von Leuten, die Posthuma gut kannten, versichert worden, sie hielten ihn für absolut ehrlich. Einige Kommissionsmitglieder und auch ein Abgeordneter hatten dagegen keine reinen Hande, wahrend Bescbuldigungen, die gegen andere erhoben wurden, keine völlige Klarstellung erfuhren. Manche Kommission erschien in einem ungünstigen Licht. Die verdachtschwangere Atmosphare veranlafite drei Kammermitglieder, einen Antrag auf Einleituhg eines Verfahrens wegen der Falie unrechtmaBiger Bereicherung bei den Rationierungsarbeiten zu stellen, der aber nie zur Behandlung kam 1). Immerhin machte die Regierung am Ende der oben besprochenen Debatte die Zusage, daB die verschiedenen Kommissionen und Vereinigungen, denen die Ausführung des Rationierungsgesetzes oblag, durch Institutionen mit amtlichem Charakter ersetzt oder in solche umgewandelt werden sollten. Daraus- geht deutlich hervor, daB auch die Regierung eingesehen hatte, daB viele Vergehungen vorgekommen waren. Man wird sich mit dem Gedanken an die Schwachheit der Menschen über sie hinwegtrösten 'müssen und mag sich freuen, einmal über die Tatsache, dafi nicht noch mehr Leute der Versuchung nachgaben, zum andern über die Entrüstung, die sich bei Bekanntwerden der Falie von Korruption der öffentlichen Meinung bemachtigte. Es war eine ganze Anzahl von Artikeln, die, wie man sich ausdrückte, allmahlich der Rationierung anheimgefallen waren. Die Liste der sogenannten Regierungsgüter, d. h. der Artikel, deren Verteilung die Regierung in die Hand genommen hatte und zu denen sie einen Zusch'ufi gab, umfafite Ende 1917 Mehl, Weizenmehl, Roggen, Hülsenfrüchte, Reis, Gries, Hafermehl, Buchweizen, Kartoffeln, einen Teil der Gemüsesorten (namlich die sogenannten Stapel- und Fafigemüse, wie Kohl, Zwiebeln, Rüben und Eohlraben), ferner Milch, Butter 2), Kase, Normalmargarine, Fleisch, Seefische, Normalbrat- und Backfett, Eier, Zucker, Heizmaterial und weicbe Seife. Mehrere andere Artikel wurden rationiert, ohne daB die Regierung darauf bezablte, u. a. Kaffee und Tee. Bei wieder anderen beschrSnkte sich die Regierung auf die Festsetzung von Höchstpreisen, aber in diesem Falie verschwanden die Waren_ oft spurlos aus dem Handel. So ging es z. B. mit dem Kakao, der im UberfluB in den Schaufenstern lag, aber mit einem Schlag unsichtbar wurde, als die Regierung ihr Auge auf ihn rich- l) An seine Stelle trat eigentlich ein Antrag auf Konstituierung einer staatlichen Kommission, die zu untersuchen hatte, was wahrend des Zustandes drohender Kriegsgefahr geschehen sei, um das Land mit Lebensmitteln zu versorgen und Landbau, Handel und Industrie zu unterstützen. Die ersten Abteilungen des Rapportes dieser Kommission wurden im Oktober 1918 publiziert, und spater folgten mehrere. ') Dazu leistete die Regierung damals keinen Zusatz. 197 tete l). Wenn der eine oder andere Artikel verschwand, so bedeutete das meistens, daB er in den Schleichhandel überging, und dann tat der Kettenbandel tuchtig das seine, um die Preise hochzuschrauben. Dasselbe war übrigens auch bei den „Regierungsgütern" zu bemerken, wenn ihre Vorrate sich bedenklich zu verringern begannen, was 1918 einzutreten drohte. Wer dann die Schleichwege kannte und gehorig Geld besafi, konnte die knappe Regierungsration vieler Waren aus diesen geheimen Kanalen erganzen, die zuweilen eine erstaunliche Ergiebigkeit zeigten. Es gab viele, die ihren Tee nach wie vor tranken, als der Regierungsvorrat davon 1918 erschöpft war. Allerdings wurde das Pfund damals, wie man sagt, mit 10 bis 12 Gulden bezahlt. Wer sich ein Stück Kase extra verschaffen wollte, hatte dazu Gelegenheit, wenn er für das Pfund 2 Gulden auf den Tiscb legen wollte. Eier, die im Sommer 1918 im offenen Verkauf beinahe nicht zu finden waren, konnte man im Schleichhandel für 35 Cent das Stück bekommen. Solche Preise fand man in Holland schandlich hoch, und doch blieben sie noch weit unter denen, die in den Landern der Zentralmachte für manche Artikel bezahlt wurden. Ich vermute, daB der deutsche Leser über die hollandischen Preise lacheln und sagen wird: „ nun, das war aber noch nicht so arg", wie ja Fremde, die nach Holland kamen, immer fanden, man könne es sich da noch ganz gut gehen lassen, zu einer Zeit, als wir Hollander meinten, daB es schon recht bedenklich mit uns stehe. Als Beispiel dafür, welche Ration in den schlimmsten Tagen, im Frühjahr 1918, auf den Kopf der Bévölkerung verteilt wurde, wahle ich einige Wochenksten aus dem Haag 2). 29. Oktober 1917 2. Februar 1918 9. Februar 1918 *. 4 kg Kartoffeln 4 kg Kartoffeln 4 kg Kartoffeln 100 g Reis 100 g grüne Erbsen 100 g Grütze 50 g Hafermehl oder Kapuziner ' 200 g grüne Erbsen 200 g grüne Erbsen 100 g weiche Seife 150 g Normalback- u. 200 g weiche Seife Bratfett Mau darf dabei nicht vergessen, daB diese guten Sachen, obwohl sie offiziek erhaltlich waren, nicht immer auch wirklich zu bekommen gewesen sind — auBer im Schleichhandel, ebenso, daB es oft betrachtliche Mühe kostete, sich das zu verschaffen, was ausgeschrieben war, und daB Rationierungskarten und Gutscheine viel TJmstande verursachten. Die hollandischen Hausfrauen hatten ungewöhnlich viel zu tun, und Falie von nervöser Überreizung waren nicht seiten. In verschiedenen Gemeinden wurden *) 1918 wurde dann Schokolade in kleinen Tafeln verteilt. *) Nach dem „Crisiscourant" von 'sGravenhage. 198 Notküchen eingerichtet und Rat erteilt, wie Mahlzeiten gut und möglichst billig hergestellt werden könnten. Die Zentral- und Notküchen kosteten den Gemeinden viel Geld, haben sich aber sehr nützlich gemacht, indem sie zu bilügem Preis einfaches und kraftiges Essen austeilten. Dabei war es merkwürdig genug, daB jene, fur die diese Mahlzeiten ursprünglich in erster Linie bestimmt waren, sich am wenigsten durch sie beglückt zeigten, ein Beweis dafür, wie ich zu sagen pflegte, daB die Not noch nicht so arg hoch gestiegen war. Erst im Frühjahr 1918, als es doch etwas unangenehm zu werden begann, stieg die Kundenzahl der Küchen einige Wochen schnek an. In den oben aufgefuhrten Listen kommen einige wichtige Artikel, namlich Brot und Heizmaterial, nicht vor, da sie auf andere Weise verteilt wurden. Was man davon im Winter 1917/18 erhielt, war wahrlich nicht allzuviel. Man mufite diese Dinge eben aus dem Ausland beziehen 1). Ich halte es für erwünscht, darüber noch das eine oder andere mitzuteilen. Bezüglich des Brotes haben wir bereits gesehen, daB es zum ersten Male im Frühjahr 1916 schwierig wurde, über die nötigen Quantitaten geregelt zu verfügen. Bis dahin war es ganz gut gegangen und Notbrot nur vorübergehend oder aushilfsweise verabfolgt worden. So machte z. B. die Gemeindeverwaltung vom Haag am 16- Oktober 1914 bekannt, dafi vom 19. ab infolge zu geringer Weizenmehlvorrate nur noch Notbrot erhaltlich sein würde, d. k. Schwarzbrot aus dunklem Weizenmehl, auBerdem kleines WeiB- oder Luxusbrot, das letztere zu stark erhöhten Preisen. Diese Mafiregel konnte aber bald wieder eingezogen werden (am 22. Dezember). Da die Brotpreise sehr stiegen, wurde im Mai 1915 beschlossen, Regierungsbrot (Schwarzbrot) zu billigerem Preis (6 Cent per 0,5 kg.) für diejenigen zur Verfügung zu stellen, die darum einkamen und dann eine Brotkarte erhielten. Dieses Brot gab es also seit damals neben dem Weifibrot, das ebenfalls regelmafiig erhaltlich war, aufier zwischen dem 24. April und 24. Juni 1916, wie wir schon gesehen haben. Aber wenn auch im Juni 1916 wieder genügende Getreidevorrate vorhanden waren, das blieb nicht so. Die auslandische Zufuhr wurde nun immer unregelmafiiger, und es- gelang nicht, die Inlandproduktion trotz aller dafür aufgewandten Mühe einigermafien bedeutend zu erhöhen. Im Oktober 1916 bestimmte der Landwirtschaftsminister, es dürfe kein anderes Schwarzbrot mehr geliefert werden als Regierungsbrot. Am 5. Februar war die Einführung von Brotkarten für alle Brotsorten und allgemein nötig. Die Konsumenten hatten die Wahl zwischen WeiB- oder Schwarzbrotkarten, nur sollte niemand mehr als 400 Gramm taglich erhalten. Diese Ration wurde schon am 2. April auf 311 Gramm per Tag herabgesetzt und hielt sich von da an einige *) Verschiedene Warenkategorien, die aus dem Ausland kamen, konnte man überhaupt nicht mehr bekommen, so Petroleum, Benzin und Gummi. Die Begierung besaB ebenfalls nur geringe Vorrate davon. 199 Zeit auf dieser Höhe, bis sie am 2. September 1917 auf 250 und mit dem 30. Marz 1918 auf 200 Gramm festgesetzt wurde. Verschiedene Kategorien von Personen hatten Recht auf eine Erganzungsbrotkarte. Die Zusammensetzung des Brotes schwankte ziemlich stark. Im allgemeinen wurde reichlich Kartoffelmehl eingebacken. Geschmack und Qualitat keften im Winter 1917/18 oft viel zu wünscken übrig. Im Brotverbrauch waren die neutralen Hollander damals nicht besser daran als die kriegführenden Deutschen 1). . Ebensowenig war das der Fall mit dem Heizmaterial. Die ersten Anzeichen dafür, daB es mit der Kohlenfrage nicht sehr glanzend stand, machten sich, wie wir schon gesehen haben, im Februar 1917 bemerkbar. Für den folgenden Winter wurden dann Vorkekrungen getroffen, um eine gleichmafiige Verteilung zu ermögkcken. Die Ration wurde entspreckend der Anzahl der. FeuersteUen festgesetzt, und die Lieferung einer Minimumration gegen einen von der Regierung festgesetzten Preis für jede der einzelnen Verbraucherklassen sichergestellt. Wurden Überschüsse erzielt, dann sollten sie zum Selbstkostenpreis der Regierung, der betrachtkch höher war als der für die Minimumration, an jene, die mehr als zwei FeuersteUen besafien, geliefert werden. Die Minimumration für die unterste Klasse (eine Feuersteke) betrug 10 Hektoliter Anthrazit, Kohlen oder Eierbriketts, bzw. 15 Hektokter Koks. Für 1 Hektoliter Anthrazit konnten auch 400 Stück Torf oder 300 Braunkohlenbriketts geliefert werden. Für die anderen Klassen (bis einschlielilich 8 FeuersteUen) betrug die Minimumration 12 Hektokter. Für die Wohnungen mit Zentralheizung, sowie für gröfiere Etablissements und die Industrie galten besondere Vorschriften. TJberall beruhte die Rationierung auf der Grundlage des Verbrauches der früheren Jahre a). Die Rationen für die Industrie waren ebenso knapp bemessen wie die für den Hausbrand, und es passierte mehr als einmal, daB eine Fabrik wegen Kohlenmangels — ahnlich wie infolge des nicht selteneren Rohstoffmangels — für langere oder kürzere Zeit stillgelegt wurde. Besonders im Spatjahr 1917, als die Kohlenlieferungen aus Deutschland eine Weile aufhörten, kam das haufig vor. Eine natürliche Begleiterscheinung zu dioser Kohlenratlonierung war eine ansehnkche Einschrankung des Zugverkehrs. Besonders im Winter 1917/18 muBte man dazu übergehen. In groBe Schwierigkeiten gerieten die Gasfabriken, da man für die von ihnen *) Uber diese ganzen „ Brotfragen" kann man sich unter anderem orientieren in: 'sGravenhage gedurende den oorlogstoestand. Maatregelen door het gemeentebestuur genomen en gevolgen van den Oorlogtoestand voor de Gemeente. Dieses Werk, in drei Lieferungen, enthalt eine Menge Tatsachenmaterial über allerlei Angelegenheiten. Leider geht es nicht weiter als bis Anfang 1917, ebenso wie die öfter zitierten „Documenten" die die Königliche Bibliothek herausgégeben hat. *) Die Gesamtregelung ist enthalten in dem Zirkular der Reichskohlenverteilungsstelle vom 14. Juli 1917; vgl. z. B. Nieuwe Botterd. Courant dieses Datums, Abendausgabe C. 200 benötigten Steinkohlen groBenteils auf Zufuhr aus dem Ausland angewiesen war. Die Limburger Kohlen waren namlich für Hausbrand bestimmt. So wurde eine starke Einschrünkung des Gasverbrauches dringend nötig. In mehreren Gemeinden ermunterten die Autoritaten zum Gebrauch der Elektrizitat für Beleucktungszwecke, und das Publikum ging gerne darauf ein, weil es mit der Lieferung von Elektrizitat viel besser stand als mit der von Gas. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dafi eine Stadt wie der Haag 1917 und 1918 beinahe durch weg mit elektrischem Licht versehen wurde, eine der wenigen Folgen des Kriegszustandes, über die man Grund hat sich zu freuen. Durch solch einschneidende MaBnahmen gelang es wahrend des Winters 1917/18 und ebenso 1918/19 mit den vorhandenen Heizmaterialien für Hausbrand und Industrie einigermafien durchzukommen. Vielköpfige Familien muBten sich freilich arg bebelfen und in einem Raum zusammendrangen. Unvorsichtigen Leuten, die mit ihrer Ration nicht sparsam genug umgingen, passierte es, daB sie eine Zeitlang im Kalten sitzen muBten. Wer es bezahlen konnte, schaffte sich, gewöhnlich für viel Geld, einen Vorrat Holz an. Ganze Walder Wurden gefallt, so daB die Regierung sick genötigt sah, Anordnungen zu treffen, um die völlige Entwaldung des Landes und rohe Zerstörung von Naturschönheiten zu verhindern. Im allgemeinen überstand man die schbmmen Zeiten ohne groBe Unglücksfalle. Gerade die Heizmaterialregelung der Regierung kann man als Beweis anführen, dafi es ihr, wenn sie erst zur Tat schritt, an Organisationstalent nicht fehlte. Der gröBte Teil der gebrauch ten Heizmaterialien, einschliefilich Torf, Holz und geringer in Nordbrabant geförderter Braunkohlenmengen, war nun inlandischer Herkunft. Es gelang, die Kohlenproduktion in Limburg auf 250 000 Tons per Monat zu bringen. Die auslandische Belieferung steilte sich folgendermafien: Aus England kam so gut wie nichts mehr. Sein Angebot auf Lieferung von 100 000 Tons per Monat konnte wegen Transporttchwierigkeiten nicht angenommen werden 1). Nur Deutschland setzte aus begreiflichen Gründen seine Kohlensendungen fort, nützte aber dié Not seines Nachbars, der selbst keine groBen Exportmöglichkeiten mehr hatte, aus, indem es sehr.schwere Forderungen dafür stekte. Im Oktober 1917 wurde nach langwierigen Unterhandlungen und einem Stillstand der Anfuhr wahrend einiger Wochen im Haag ein deutsch - hollandisches Protokoll2) zur Regelung verschiedener wirtschaftlicher Punkte *) Es wurde damals die Insinuation ausgesprochen, der GroBkaufmann Kröiler habe in seiner Eigenschaft als Berater des Landwirtschaftsministers in Krisisangelegenheiten absichtlich diése englische Kohlenlieferung hintertrieben. Beweise dafür wurden jedoch nicht beigebracht. *) Zu finden als Anhang zu den Beilagen der Sitzungsberichte der zweiten Kammer 1917/18 Nr. 243, und jetzt auch im Orangebuch Juni 1919 / April 1920, S. 5. Es wurde 201 unterzeicb.net, demzufolge Deutschland die Ausfuhr von 250 000, womöglich 300 000 "Tons Steinkohlen eigener Produktion und aus dem besetzten Belgien per Monat für die Dauer der Übereinkunft*) zusagte. Der Preis der Kohle steilte sich auf 45 Gulden per Tonne ab Zeche. AuBerdem sagte Deutschland die Lieferung von 20 000 Tons Stahl monatlich zu, ferner regelmaBige Anfuhr von Zement, Salz, Maschinen, Werkzeugen, chemischen Produkten, Kali, Farbstoffen, Farben und derartigen Artikeln, wahrend sich Holland zur Verleihung eines Kredits von monatlich 11,25 Milkonen Gulden verpflichtete, um die Zahlungsbilanz zwischen den beiden Landern möglichst im Gleichgewicht zu erhalten. Das waren keine leichten Bedingungen, aber man bekam wenigstens etwas dafür! Die deutschen Kohlen steilten sich nun mit den Transportkosten auf 69 Gulden, die aus Limburg durchschnittlich auf 19,60 Gulden per Tonne. Bedenkt man, daB die Heizmaterialien der Minimumration zu den alten Preisen, z. B. der Hektoliter Anthrazit zu 2,50 Gulden bei einem Selbstkostenpreis der Regierung von 5,65 Gulden ausgegeben wurden, so kann man sich einigermafien vorstellen, was sie den Staat gekostet haben (bei einer für Hausbrand nötigen Menge von 2 200 000 Tons). Mehr als über den Brot- und Kohlenmangel mag' man sich darüber wundern, dafi in Holland auch eine Knappheit an Fleisch und Milchprodukten eintrat. Ihre Ursache ist zum guten Teil darin zu suchen, dafi das nötige Viehfutter, besonders in den Wintermonaten, nur schwer beschafft werden konnte. Mit dem Heu ging es noch, aber Ölkuchen waren beinahe nicht zu bekommen, ebenso wie Kunstdüngemittel. Infolgedessen mufiten zahlreiche Kühe abgeschlachtet werden, eine Anzahl ging auch nach Deutschland. Schweine verschwanden 1918 beinahe vollstandig vom Markte, und der hollandische Schweinestapel schien mit Vernichtung bedroht. Die Fleischpreise stiegen erschreckend. Auch hier suchte die Regierung 1918 helfend einzugreifen, indem sie für verschiedene Fleischarten Höchstpreise festsetzte, ein zeitliches Schlachtverbot erlieB und schliefilich sogenannte Einheitswurst ausgab, ohne aber damit gröfiere Erfolge zu erzielen. Die Fleischarten, die unter den Regierungshöchstpreis fielen, waren meistens nicht erhaltlich, wahrend der Schleichhandel darin üppig blühte, wobei besonders die Gemüsehandler eine grofie Rolle spielten. Inzwischen waren auch Butter und Kase rationiert worden, und wurde das Fett sehr knapp, nicht zuletzt infolge des Aufhörens der Rohstoffanfuhr aus den Koloniën. Man mufite es also in einem der milchreichsten Lander erleben, dafi das Hauptprodukt des eigenen Bodens beinahe nicht mehr zu bekommen war. Es hat den Anschein, als ob die Regierung bei ihrer Beschaftigung mit dieser Angelegenheit keine glückliche Hand gehabt in Erwartung einer definitiven Übereinkunft, auch bezüglich anderer Punkte, abgeschlossen. *) Bis 31. Ma>z 1918 und auf Widerruf. 202 hatte. Allerdings wurde ihr die Sache durch die Haltung der Bauern und eines groBen Teiles des Publikums nichts weniger als erléichteit. AuBerdem muBte man einen kleinen Teil der Milchprodukte stets als Tauschobjekt für das Ausland, sowohl Deutschland wie die Entente, freihalten. Auf Grund dieser Bemerkungen kann sich ein auslandischer Leser ein Bild der Lage machen, in der sich eine hollandische Familie etwa in den ersten Monaten des Jahres 1918 befand. Mancher Ausl&nder wird sie so schlecht nicht finden. Zugegeben! Das andert aber nichts an der Tatsache, daB auch in Holland Zeichen von Unterernahrung sichtbar wurden. Viele begannen sich schwach zu fühlen, und besonders die alten Leute hatten schlimme Tage. Die zahlreichen Opfer, welche die Grippe im Sominer und dann wieder in den letzten. Monaten des Jahres 1918 in Holland forderte, beweist in gewissem Grade die Abnahme des Widerstandsvermögens, wenn auch an und für sich zwischen dieser schreckhchen Krankheit und dem Krieg kein direkter Zusammenhang zu bestehen braucht, da sie auBerhalb Europas am starksten wütete. War auch die Gesamtlage in Holland schliefilich noch betrachtlich besser als in den Landern der Zentralen, so wird man es sich doch leicht vorstellen können, dafi viele einem neuen Kriegswinter mit banger Sorge entgegensahen, und nach dem WaffenstUlstand vom November 1918 erleichtert aufatmeten. Hollands wirtschaftliche Situation wahrend des Krieges gewahrt ein eigenartiges Bild. Das Land, das gleich Belgien eine für den Handel so gunstige geographische Lage besitzt wie wenige Staaten Europas, und dessen wirtschaftliche Funktion sich daraus von selbst ergibt, wurde im Laufe des Krieges beinahe von aken überseeischea Verbindungen abgeschnitten. Seit Ende 1917 eine groBe Anzahl Sehiffe in Amèrika und anderen Gegenden in Erwartung des Abschlusses einer Übereinkunft mit den Alliierten und assoziierten Machten still lagen, fand nur eine sehr geringe Ausfuhr von Kartoffeln und Milchprodukten *) nach England statt, und zwar in Schiffen, die in englischem Convooi über die Nordsee fuhren. Wirtschafthch tendierte Holland beinahe ganz nach Deutschland, und es lag nur an der Knappheit der vorhandenen Ausfuhrwaren, dafi auch der Verkehr mit diesem 1917 stark abnahm 2). Mit Recht bezeichnete man es als gefahrkch, dafi die Beziehungen zum Westen so stark gelockert und die mit Deutschland so einseitig gepflegt wurden. Wie sollte das nach dem Kriege werden? Aber es war eben wenig daran zu andern. Denn die hollandischen Kaufleute handelten nicht aus freiem Wklen, sondern unter dem Zwange der Not. Die oben besprochenen „Agreements" *) Infolge des oben genannten s, Agreement", vgl. S. 115. ') Auefe die Fischausfuhr war damals kaum noch der Rede wert, da die Seefischerei beinahe ganz still lag. 203 bildeten ein gewisses Gegengewicht gegen den einseitigen Wirtschaftskonnex mit Deutschland 1). Eine sebr starke Wandlung erfuhr auch die wirtschaftliche Position vdn Hollands Koloniën, besonders der ostindischen. Ihre Beziehungen zum Mutterlande wurden von Anfang an erschwert und auf die Dauer völlig unterbunden. Was sollte nun mit den Ausfuhrprodukten geschehen, die vor dem Kriege in einem Werte von 635 Millionen Gulden nach Holland gegangen waren, wo sie besonders in Amsterdam einen Markt gefunden hatten? Natürlich suchten sie sich nun andere Absatzmarkte, die sie auch zumeist fanden. Wo sie hinkamen, begreift man sofort, wenn man hört, dafi die Ausfuhr aus Hollandisch - Indien nach den Vereinigten Staaten, die vor dem Krieg 5,2 Millionen Dollar betrug, schon 1916 auf 62 Mil- , honen gestiegen war, wahrend die nach Japan von 5,1 Millionen auf J7,é Millionen Jen stieg. Lehrreiehe Zahlen! Diese Umwalzung — man kann es ruhig so nennen — erregte bei den hollandischen GroBbandlern starke Unruhe, die sich besorgt fragten, ob es gelingen werde, den europaischen Markt in Kolonialprodukten, den Holland vor dem Krieg besafi, zu behalten, bzw. zurückzugewinnen. Man sprach von der Möglichkeit eines regulierenden Eingreifens der Regierung nach dieser Richtung: Es wurde jedoch nichts daraus, sondern man lieB dem indischen Handel seine Bewegungsfreiheit, die er denn auch gründlich ausgenutzt hat. Allerdings hatte auch er 1918, besonders nach der. Beschlagnahme der hollandischen Flotte durch die Entente, mit grofien Verkehrsschwierigkeiten zu kampfen. Was die Zeit in dieser Hinsicht nach dem Kriege bringen wird, wer könnte darüber heute schon etwas sagen? Dazu sind die wirtschaftlichen Verhaltnisse noch viel zu sehr in Unordnung, und für ein kleines Land gilt hier in seiner ganzen Tragweite das Wort: „Du glaubst zu schieben, aber du wirst geschoben." ~ Noch von anderen wirtschaftlichen Beinühüngen der Regierung wahrend des letzten Kriegsabschnittes haben wir zu erzahlen, müssen uns darüber aber kurz fassen. Auf bèinahe allen Gebieten griff sie ein, und die Aufzahlung all dieser MaBnahmen würde viel zu lange dauern. Höchst bedeutungsvoll war die Gründung einer Exportzentrale in der Form der „Nederlandsehe Uitvoer-Maatschappij" 2) (N. U. M.). Schon 1916 hatten der Prasident der niederlandischen Bank ?) und andere auf ihre Notwendigkeit aufmerksam gemacht. Vissering wies dabei auf das Vorbild der deutschen *) 1917 betrug der Wert der boUandischen Ausfuhr nach England, nach-der hollandischen Handelsstatistik, ƒ 162383543, der nach Deutschland ƒ 205211542. 1914—17 bezog Deutschland aus Holland 67,8, 86,3, 90,3 und 29,2'Millionen Kilo Kase; die entsprechenden Zahlen für Butter sind 28,3, 42,3, 35,8 und 17,7 Millionen Kilo; für Eier 22,2, 33,2, 31,4 und 16,5 Millionen Stück. Auffallig ist der starke Bückgang im Jahre 1917. Die Zahlen stammen aus der Wochenzeitschrift „In-en Uitvoer" vom 19. Marz 1918. *) Niederlandische Exportgesellschaft. a) Siehe Mr. Gr. Vissering, De Goudquaestie, S. 36ff. 204 Zentral-Einkaufsgenossenschaft und betonte die bei der hollandischen Ausfuhr herrschende Systemlosigkeit; besonders auch die Eröffnurjg von Krediten für das Ausland durch Banken und Privatleute, drohe sehr nachteilig zu werden, da das Ausland dabei zu keinen Gegenlèlstungen verpflichtet werde. Nur durch eine kraftige wirtschaftliche Zentrale könne das geschehen. Es dauerte ziemlich lange, ehe, die Regierung diesen Plan aufgriff. Erst im April 1917 brachte sie einen Antrag ein, der mit betrachtlichen Abanderungen im September des Jahres Gesetz wurde. Aber die Gründung der, N. U. M. verzögerte sich dann noch bis Anfang 1918. Sie wurde schliefilich in viel starkerem Mafie als der Prasident der niederlandischen Bank, der sich eine Organisation mehr privater Art vorgestellt hatte, für erwünscht gehalten, ein mit dem Staate eng verbundenes lnstitut. Ihre Gründung *) bezweckte einmal eine Regelung der Ausfuhr im Zusammenhang mit den Bedürfnissen des Inlandmarktes an einheimischen Produkten, wie solchen fremden Ursprungs, ferner eine Beförderung der Einfuhr von im Inland nötigen Artikeln, schliefilick die Ermöglichung der Ausfuhr von Waren, die im Inland hoch im Preise standen, unter für dié verschiedenen Kategorien derselben möglichst gleichen Bedingungen. Nach solchen Grundsfttzen hatte die Handelsgesellschaft „de Nederlandsehe Uitvoer Maatschappij"2) zu verfahren. Sie bekam das Recht, unter bestimmten Bedingungen Ausfuhrkonsente zu verleihen, für die sie Gebühren fordern konnte. Mit der Einfuhr hatte sie also nichts zu tun. Infolge der starken Einschrankung der Ausfuhr hatten die Geschafte der N. U. M. anfangs nur eine geringe Ausdehnung. Ihren Einflufi auf Schiffahrtsangelégenheiten verstarkte die Regierung, indem sie sich die gesetzliche Bèfugnis3) verleihen liefi zu verlangen, dafi niederlandische Seeschiffe oder ein Teil ihres Laderaumes wenn nötig ihr zur Verfügung gestekt würden. Schon 19164) war sie ermachtigt worden, den Verkauf von Schiffen nach dem Ausland zu verhindern, wenn 'sie es für nötig hielt. Auf diese Weise konnte sie bewirken, dafi HoUand, bzw. sie selbst,, stets genügend Schiffsraum zur Verfügung hatte. Auch auf die infolge des Stillstandes im Baugewerbe herrschende Wohnungsnot richtete die Regierung ihr Augenmerk. 1917 kam ein Gesetz zustande s), durch das sie in die Lage versetzt wurde, übertriebenen Steigerungen der Preise für biUigere Wohnungen zu begegnen. 1918 wurden auch die Kündigung von Wohnungen und deren Raumung gesetzlich geregelt6), wobei "nun\ auch die teuren Wohnungen miteinbezogen wurden. ») Auf der Basis des Gesetzes vom 1. September 1917, Staatsablad Nr. 576. ') Auf Grund königlicher EntscheiduBg vom 22. Dezember 1917, Staatsblad Nr. 726. s) Gesetz vom 10. Februar 1917, Staatsblad Nr. 211. *) Gesetz vom 18. Marz 1916, Staatsblad Nr. 139. *) Gesetz vom 26. Marz 1917, Staatsblad Nr. 257. •) Gesetz vom 25. Marz 1918, Staatsblad Nr. 182. 205 - 1 Dann muBte auch für die Beamten gesorgt werden. Man begann 1917 ihnen Gehaltszulagen zu bewilligen, und zwar zunachst nur den niedereren Beamten, jedoch wurde 1918 und 1919 die Grenze „weker gezogen. Schliefilich kam es in zwei Stadiën zu einer allgemeinen Gehaltsrevision, die eine betrachtliche Erhöhung der Bezüge mit sich brachte. Alle Bemübungen der Regierung hatten jedoch nicht zur Folge, dafi überall im Lande Zufriedenbeit herrschte! Das Mifivergnügen, das, wie wir gesehen haben, in der zweiten Kammer sich aufierte, zeigte sicb ebensogut auch aufierhalb derselben und wurde vor allem durch die Lebensmittelpolitik der Regierung verstarkt. Es manifestierte sich besonders in den Grofistadten, zum ersten Male im Sommer 1917, dann im Frühjahr 1918. Amsterdam war im Juli 1917, der Haag, Rotterdam und mehrere andere Platze im April 1918 der Schauplatz heftiger Unruhen, die mit Hilfe des Militars gedampft werden mufiten. In Amsterdam gab es dabei im Juli nicht weniger als 10 Tote und 113 mehr oder weniger schwer Verwundete. Den Anlafi gab hier eine zéitweilige Herabsetzung der Kartoffelration, die den Hauptbestandteil des Mittagessens ausmachten und denen die minderbemittelte Bévölkerung ungern entsagte, obwohl statt ihrer andere hochwertige Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt wurden. Ahnlich war der AnlaB an anderen Orten. Im Frühjahr 1918 gab die Verminderung der Brotration den Anstofi. Aber die Ursache lag tiefer: Es war akmahlich eine gereizte Stimmung entstanden und teilweise auch künstlich gezüchtet worden. Der Bericht der Regierung über die Unruhen in Amsterdam an die zweite Kammer x) enthalt darüber folgende bedeutsame Bemerkungen, die ein scharfes Licht auf den bei einem Teil der hollandischen Bévölkerung damals herrschenden Geist werfen: „Zunachst mufi auf die Tatsache hingewiesen werden, dafi der Kriegszustand Erscheinungen gezeitigt hat, die auf eine betrachtliche Verminderung des moralischen Widerstandsvermögens bei einem Teil der Bévölkerung hindeuten. Die Anzahl der Anzeigen von Diebstahlen hat sich wahrend des Krieges in der Hauptstadt mehr als verdoppelt. Sie geschehen hauptsachlich auf den ausgedehnten Lagerplatzen, wo stets grofie Vorrate an Kohlen und anderen Artikeln aufgestapelt sind. „Als zweite Ursache der Unruhen ist eine gewisse Nervositat eines groBen Teiles der Bévölkerung zu nennen. Es ware sicher falsch zu bebaupten, dafi die grofie Mehrheit nicht willens sei, unvermeidliche Entbehrungen auf sich zu nehmen. Aber der Horizont der Masse ist beschrankt, und die Schwierigkeiten der Produktion und der Verteilung über das ganze Land, sowie der internationalen Lage, begreifen wohl Einzelne, aber die Masse hat kein Gefühl für sie und ist deshalb geneigt, der Regierung oder *) Beilagen zu den Sitzungsberichten der zweiten Kammer 1917/18, Nr. 187. 206 der Gemeindeverwaltung zur Last zu legen, was in Wirklichkeit die Folge unvermeidlicher und stets wechselnder Umstande ist." Die gereizte Stimmung bildete einen fruchtbaren Boden für revolutionaire Propaganda, wie sie von seiten der sozialdemokratischen, spater kommunistischen Partei betriében wurde. Diese entfaltete zu Amsterdam eine höchst eifrige Tatigkeit, und übte auf die Unruhen dort und and,erwarts einen starken EinfluB aus. Sie spiegelte dem Volke vor, die. Regierung verderbe die Versorgung mit Lebensmitteln systematisch, indem sie deren Ausfuhr gestatte. Sie verkündete, eine Untersuchung der Keiler bei der begüterten Bürgerscbaft sei notwendig, da hier Riesenmengen verborgen gehalten würden. Alle Lebensmittelvorrate, einschliefilich der militarischen, müfiten sofort gerecht verteilt werden. Es wurde mit Streiks gedroht und dazu aufgefordert*). Letzten Endes arbeitete die kommunistische Partei (S.D.P.) auf die Revolution hin, welche die Macht an die Arbeiter bringen sollte. Diese revolutioneren Neigungen brachte sie in scharfen Konflikt mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (S.D. A.P.), die, wenigstens wahrend des Krieges, den Weg des Gesetzes nicht verlassen wollte, sondern sich darauf beschrankte, eine möglichst gleichmaBige Rationierung für Arme und Reiche zu fordern, wobei üe Demonstrationen und Aufzüge als Propagandamittel benutzte. Abgesehen von zeitweiligen Erfolgen, die leicht werden muBten, weil die Lebensmittelnot Stoff zur Hetze genug bot, fand die S.D.P. auf die Dauer keinen gröfieren Anhang. Es ist auch noch die Frage, ob jene, die an den Unruhen teilnahmen, durchweg wirklich ernsthafte Anhanger des Kommunismus gewesen sind, einige Drahtzieher ausgenommen. Die Tatigkeit der Aufrührer bestand, solange sie die Hande frei natten, im Einwerfen von Scheiben und Plündern von Laden. Es war merkwürdig zu sehen, wie schnell in den Geschaftsstrafien des Haag alle Laden verbarrikadiert waren, um die nun doppelt und dreifach kostbaren Auslagefenster zu schützen. Das kraftige Auftreten der Behörden bei all diesen Ungeregeltheiten hat sicher dazu beigetragen, daB die Ruhe im weiteren Verlauf des Krieges im allgemeinen gewahrt blieb, sogar wahrend des schweren Winters'1917/18. Die unruhige Stimmung hielt zwar an und war, z. B. in Amsterdam, den ganzen Winter hindurch sehr zu spüren, aber Ausbrüche von einiger Bedeutung kamen nicht mehr vor. Man könnte leicht geneigt sein, auch diesen Umstand gegenüber den vielen AuBerungen der Kritik als AnlaB zu einem Kompliment für die ') Man gestatte ein Zitat aus einem im Haag verteilten Flugblatt: „Die Regierung und der Eapitalismus haben in unserem Lande Hungersnot verürsacht. Die Nahrungsmittel, die unser Land in gewaltigen Mengen produziert, sind zu enormen Preisen, vor allem nach Deutschland, verschachert worden. Eine unverschamte Bande von Wucherern, an ihrer Spitze der fünfzigfache Millionar Kröller, hat durch ihre 'scbandlichen Praktiken zum Schaden des Weltproletariats die deutschen Schlachtermeister Hindenburg und Konsorten unterstützt" usw. 207 Regierung aufzufassen, obwohl man einen Teil des Lobes den Gemeindeverwaltungen wird zubilligen müssen. Besonders die von Amsterdam, die teil weise sozialistisch war, hat sich groBen Schwierigkeiten gewachsen gezeigt, indem sie zuerst mit groBer Langmut, schlieBlich, als es nicht anders ging, kraftvoll und energisch auftrat. Eine Seite von Hollands wirtschaftlicner Position müssen wir noch deutlicher kervorheben. Wir haben das bis ans Ende dieses Rapitels aufgespart, weil sie gerade in der letzten Zeit des Krieges am klarsten in die Erscheinung trat. Wir tneinen Hollands absolute wirtschaftliche Abhangigkeit vom Ausland, die im Verlauf des Krieges dauernd wuchs. Sie fand schlieBlich ihren scharfsten Ausdruck in den Wirtschaftsabkommen, die Holland mit Deutschland, und den Agreements, die es mit den Alliierten und Assoziierten abschlieBen mufite. Anfanglich hatte die Regierung derartige Übereinkünfte auf fester Basis abgewiesen. Auf die Dauer konnte sie sich ihnen jedoch nicht entziehen. Sie bildeten das einzige Mittel, um von der einen Seite Kohlen, Eisen und Stahl, von der andern Nahrungsmittel zu bekommen, und dabei in strenger Rationierung immer nur soviel, um von der Hand in den Mund leben zu können, besonders von Beiten der Entente, zudem gegen groBe finanzielle Opfer. Denn etwas anderes als Geld hatte Holland an und für sich nicht anzubieten, auch nicht aus seinen indischen Koloniën, da der Verkehr mit ihnen still lag. Das erste durch die Regierung mit Deutschland abgeschlossene Wirtschaftsabkommen war das vom Oktober 1917, über das wir sckon gesprochen haben. Ihm war ein Provisorium (am 16. Dezember 1916) vorausgegangen, in dem mit Prcisfestsetzung bestimmt war, dafi Holland einen Teil seiner Ausfuhr (z. B. an Milch, Kase, Butter, Rindern, Gemüse, Kartoffeln, Zucker, Flachs) an Deutschland abgeben solle, und zwar gegen Kompensationsleistungen von deutscher Seite, worüber eine Verstandigung zustande kommen sollte. Es war ein Pendant ahnlicher Übereinkünfte mit England und hatte in der Hauptsache einen privaten Charakter J). Die Absicht war dabei in erster Linie, beiden Parteien einen Teil der überschüssigen Vorrate zu kefern und damit auch in wirtschaftbcher Hinsicht neutral zu sein. Über eine weitérgehendere Abmachung wurde besonders 1918, als die vom Oktober 1917 am 1. April aufier Kraft getreten war, lange verhandelt. Aber zu einem definitiven Resultat kam es mit nichten. Jedoch erklarte sich Deutschland, das im April die Kohlenanfuhr stillgelegt hatte, im Juni bereit, 50 000 Tons Kohlen herauszulassen, wenn Holland ein bestimmtes Quantum neue Kartoffeln zugestehen wolle. Wirklich kam eine diesbezügliche Regelung zustande 2). AuBerdem fand sich Deutsch- ') Der Text ist neuerdings publiziert im Orangebuch Juni 1919 bis April 1920, S. 66. '2) Siehe die Mitteilung der hollandischen Regierung in den Tageszeitungen vont 29. Juni. 208 land bereit, vom 1. August ab auf 5 Monate 120 000 Tons Kohlen monatlich zu liefern, und zwar zu dem stark erhöhten Satz von 90 Gulden plus 30 Gulden Kredit per Tonne. Darüber wurde am 31. Juli eine Übereinkunft geschlossen da es wegen des in Holland bevorstehenden Kabinettswechsels nicht möglich gewesen war, die Unterhandlungen über eine allgemeinere wirtschattliche Abmachung zu einem guten Ende zu führen. Das war auch noch nicht der Fall, als die Ereignisse vom November 1918 völbg neue Verhaltnisse schufen. Auch über die Agreements wurde man erst im Dezember 1918 2), also. nach dem Zustandekommen des Waffenstillstandes, einig, obgleich die Verhandlungen schon vor der Beschlagnahme der hollandischen Sehiffe durch England und Amerika begonnen worden waren. Die letztere hatte ihr Zustandekommen naturgemafi sehr verzögert. Die Agreements hatten eine sehr ausgedehnte Reichweite und wurden resp. am o , 6., 3. und 6. Dezember mit England, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten unterzeichnet. Sie sind auf Wunsch der assoziierten und alliierten Regierungen nicht vollstandig publiziert und enthielten aufier der durch die hollandische Regierung geschlossenen Übereinkunft eine solche über Landwirtschaft und Fischerei, welche durch die hierzu in Betracht kommeuden Privatgesekschaften getroffen war. AuBerdem ging die N. O. T. ein neues Abkommen mit den Alliierten ein, das den Gebrauch der von den letzteren besonders von Amerika zu liefernden Güter regelte. Alle diese Abmachungen kamen zwar mit Kenntnis der Regierung 'zustande, wurden aber nicht von ihr sanktioniert. Sie blieb eben ihrem von Anfang an befolgten Grundsatz treu, derartige Dinge möglichst auf private Schultern zu legen. Die Übereinkünfte selbst sind einfach als Piazisierungen und Bestatigung ahnlicher früherer Abschlüsse 3) anzusehen. Bekannt gemacht sind von ihnen nur die Listen der Güter, die an Holland geliefert werden sollten, aufierdem die Bedingungen, unter denen die Anfuhr der verschiedenen Artikel stattfinden sollte und die natürlich in erster Linie ein Wiederausfuhrvérbot nach Deutschland bezweckten, söwie ferner die von der Regierung übernommenen finanziellen Verpflichtungen. Diese waren sehr schwer, so dafi Privatleute die Verantwortlichkeit dafür nicht zu tragen vermochten. Da es sich um Finanzangelegenheiten handelte, hatte die Regierung für sie die Genehmigung der Generalstaaten nötig. Samtkche vier Übereinkünfte liefen auf Verleihung von Krediten durch Holland hinaus 4). Ohne sie batten die Assoziierten sich nicht dazu *) Mitteilung der hollandischen Regierung in der Presse dieses Tages- — Jetzt veröffpntlieht im Orangebuch Juni 1919 bis April 1920, S. 54. *) Einzelheiten über die Unterhandlungen finden sich im Orangebuch Juni 1919 bis April 1920, S. 101 ff. ») Siehe oben S. 115. *) Beilagen zu den Sitzungsberichteu der zweiten Kammer 1918/19, Nr. 325. Unsere Darlegung über die Vertrage stützt sich auf die bei ihrer Behandlung in der 14 Japikse, Holland 209 bereit finden lassen wollen, Holland zu belfen. Die Abmacbung mit Amerika trug einen einigermafien anderen Chafakter als die mit den drei anderen Landern. England bekam einen Kredit von 75 0000' O Gulden in sechsmonatlichen Raten, gegen 5 °/0 englische Schatzkistbiljette von fünfjahriger Laufdauer, irrGuldehwahrung. Kapital und Zinsen waren in England steuerfrei. Die Biljette wurden a pari übernommen. Ihre Ablösung sokte spatestens am 31. Dezember 1923 stattfinden. Für den Fall, daB die assoziierten Regierungen die wirtschaftlichen Verpflichtungen nicht erfüllten, sollte die Kreditabmachung von selbst aufier Wkkung treten. Die Kredite für Frankreich und Italien bekefen sich auf 30 bzw. 18 Millionen Gulden zu denselben übernahmebedingungen. Hier beteiligten sich Bankgruppen der beiden Lander, für Frankreich Crédit Lyonnais, Comptoir National d'Escompte und Banque de Paris et des Pays Bas, für Italien ein Konsortium unter Führung der Banca d'Italia. Als Garantie wurden 5 °/0 französische und 5 °/0 italienische Schatzkistbiljette in Guldenwahrung zu einem Kurs von 20 resp. 10 Prozent über Pari gegeben. Aufierdem sollten die genannten Banken Wechsel im Gesamtbetrag des Kredits und mit eigener Bürgschaft ausgeben. Der französische Kredit sollte spatestens 1. April 1922 in Gulden oder Gold, der italienische spatestens 31. Dezember 1921 abgelöst werden. Auch hier kef der Kredit ab, sobald die Assoziierten den wirtschaftlichen Abmachungen nicht nachkamen. Was Amerika angeht, so wurde allein eine Regelung getroffen, derzufolge die beiden Kontrahenten einander Zahlungsmittel in der eigenen Valuta zur Verfügung steilten. Holland sollte entweder im Mutterland oder in den Kolonjen Betrage in Gulden von höchstens 20 Millionen für je zwei aufeinanderfol eenden Monate des Zeitraums zur Verfügung stellen, wahrend dessen das Wirtschaftsabkommen zwischen beiden Landern in Wirkung blieb, also bis zu einer Höchstsumme von 120 Millionen Gulden. Seinerseits steilte Amerika gleiche Dollarbetrage zu Goldparitat bei sich für HoUand bereit. Die Regierung gab offen zu, dafi diese Abmachungen „eme schwere Last" auf Hollands Schultern legten. Aber es standen eben die Lebensinteressen des Landes auf dem Spiel. Deshalb hielt sie es im öffentkchen Interesse für gèboten, ihrerseits an diesen Finanzoperationen mitzuwirken und die Verantwortung für sie nicht vollstandig den an ihnen in erster Linie beteiligten Körperschaften und Personen, wie Rheedern und anderen, zu überlassen, die auf Grund der privaten Abkommen an die Alliierten zu.' liefern hatten. Wenn sie auf deren Mitwirkung auch weiterhin rechnete, so meinte sie doch selbst vor aUem hand eind auftreten zu müssen. Die Ausführung der Kreditabkommen wollte sie der N. U. M. überlassen. Da Kammer gewechselten Schriftstücke. — Siehe jetzt auch das Orangebuch Juni 1919 bis April 1920, S. 121 ff. 210 diese aber infolge des starken Rückganges des Exports auBerstande war, aus eigener Kraft die Kredite zu finanzieren, machte die Regierung den Vorschlag, aus der Staatskasse Vorschüsse zu verleihen. Zu diesem Zwecke wollte sie Schatzkistpromessen und Schatzkistbiljette unter den ihr nötig scheinenden Bedingungen ausgeben. Die zweite Kammer urteilte über die in Rede stehenden Übereinkünfte nicht anders als die Regierung: „Allgemein war man der Ansicht, dalï die Annahme dieses Gesetzentwurfes im Interesse des Landes unvermeidlich sei. Zwar legt uns der AbschluB der Vertrage schwere finanzielle Opfer auf, aber unser Vólk wird sich darüber trosten müssen, da dieselben die Gelegenheit geben, Lebensmittel und andere Güter einzuführen, fclie unmöglich auf andere Weise erhaltlich sind, und nach denen'hierzulande ein dringendes Bedürfnis besteht." Die Abmachungen wurden denn auch durch beide Kammern genehmigt und damit zum Gesetz eihoben 2). Ihre Notwendigkeit ist nicht ab* zustreiten. Sie ermöglicbten die Versorgung des Landes mit einer bedeutenden Anzahl dringend nötiger Artikel. Schon im November 1918 hatte die Regierung bekannt geben könnens), ein vorlaufiges Abkommen mit den Assoziierten stelle unter anderem die Lieferung von 5ü 000 Tons Weizen, 2000 Tons Kakao, auBerdem von 40 000 Tons Getreide aus Amerika in Aussicht. Die damals schon beinahe fertige definitive Regelung würde, wie gleichzeitig verlautete, Holland jahrlich 375 000 Tons Brotgetreide, inklusive Reis garantieren 4). Im Januar zeigte sich, daB die versprochenen Vorrate noch betrachtlich höher waren, unter anderm 600 000 Tons Brotgetreide, dazu 711000 Tons Reis 5). Die definitive Liste wurde im Februar bekannt gemacht 6). Wir brauchen sie hier nicht abzudrucken. Es handelte sich dabei vornehmlich um Rohstoffe im weiteren Sinne des Wortes, die Fertigfabrikate kamen in zweiter Linie. DaB die Rationen — die Liste brachte namlich die völlige Rationierung Hollands —, verglichen mit der früheren Festsetzung, erhöht waren, hing natürlich mit der Beendigung der Feindseligkeiten zusammen, die gerade eintrat, als die Unterhandlungen Hollands mit den Assoziierten beinahe zu einem Resultat geführt hatten. Das vergröBerte die Lieferungsmöglichkeiten mit einem Male bedeutend. Die Bereitwilligkeit auf seiten der Alliierten war von selbst vorhanden. Denn es mufite für den Handel der Assoziierten von Interesse sein, die Beziehungen zu den Neutralen, die gut bezahlen konnten, möglichst rasch *) Wodurch die Regierung die Genehmigung der finanziellen Abmachungen beantragte. *) Gesetz vom 11. April 1919, Staatsblad Nr. 162. ") Durch Regierungsproklamation vom 13. November 1918; vgl. die Tagespresse des Datums. 4) Mitteilung des Ministeriums des Auswartigen in der Tagespresse des gleichen Tages. ') Presse vom 23. Januar 1919. *) Ebenda. 14* 211 wieder anzuknüpfen. Es ging denn auch alles ziemlich flott von statten, und Holland stand auf dem Gebiet der Ernahrung im' Winter 1918/19 schnell viel besser da als man erwartet hatte; Grund zur Freude für alle, und eine Beruhigung besonders für die Regierung, die schon im September v zu Rotterdam und Amsterdam infolge der Lebensmiltelnot mit Schwierigkeiten und im November sogar mit ernsten revolutioneren Umtrieben zu kampfen gehabt hatte. Aber die wirtschaltlichen Sorgen waren damit nicht gewichen. Die Teuerung, die, statt nachzulassen, wie man erwartet hatte, weiterging und noch zunahm, drückte mit all ihren Folgen auf Hollands Wirtschaftsleben. Darüber. werden wir spater noch zu reden haben. § ;7. Finanzielle MaBnahmen Vor dem Kriege konnte man aus befugtem Munde nicht seiten sorgenvolle AuBerungen über Hollands finanzielle Lage hören. Die Ausgaben waren in den letzten Jahren stark gestiegen und ein drohendes Defizit im Budget nur durch unerwartet günstige, infolge der steigenden^Wohlt'ahrt eizielte Einnahmen vermieden worden. Einzelne Jahre hatten sogar Überschüsse ergeben. Man war jedoch der Meinung, die Finanzlage berge \zuviel uns-ichere Faktoren in sich, und kam immer mehr zu der Uberzeugung, daB eine radikale Reform des Steuersysteras nötig sei, besonders weil die wichtigen Sozialgesetze des Kabinetts Heemskerk betrachtliche Neuausgaben mit sich brachten, zu deren Bestreitung die aus der eben eingeführten Einkommensteuer zu erwartenden Einnahmen lange nicht ausreichten. So war die Situation, als der Moloch des Krieges auch von den Neutralen seine Millionenhekatomben forderte. Man war in Holland mit der Bewiiligung neuer Ausgaben zuerst ftuBerst vorsichtig, wenigstens nach unseren heutigen Begriffen. Als der Ministerrat Ende Juli 1914 über die Erklarung der Mobilisation beratsphlagte, bildeten die damit verbundenen Kosten von 12 Millionen Gulden mit einen Gegenstand ernster Überlegung. „Eine solche Ausgabe glaubte die Regierung nur im dringendsten Notfalle verantworten zu können Kein Wunder bei der finanziellen Lage des Landes! Aber als was für eine Kleinigkeit erscheinen jene 12 Millionen im Vergleich zu den hunderten, zu deren Ausgabe spater der Krieg zwang! Der einzige Trost, den man in Holland beim Verschwinden so vieler Millionen im DanaidenfaB der Zeitnöte empfinden konnte, lag darin, daB bei den Kriegführenden selbst immer neue Millionen nur so wegrollten und das Papiergeld bald zum Edelmetallvorrat in keinem gesunden Verhaltnis mehr stand. Kurz, man konnte zufrieden sein, daB es einem doch besser erging als den Nachbarn. Bald sah sich Treub (siehe a. a. O., S. 355 ff), der schon im Oktober 1914 Finanzminister wurde, der Notwendigkeit gegenüber, nach neuen *) Treub a. a. O., 8. 10. 212 Einnahmequellen zu schürfen, aber nun nicbt mehr für die gröfitenteils aufgeschobene Sozialgesetzgebung, sondern für militarische Zwecke. Treub glaubte, das nötige Geld in erster Linie durch eine Anleihe aufbringen zu müssen, und liefi noch im Herbst 1914 einen diesbezüglichen Gesetzentwurf an die Volksvertretung gelangen. Der Betrag der Anleihe wurde auf 275 Millionen* Gulden, der Zinsfufi auf 5 Prozent festgesetzt. Die Summe sollte zur Deckung der Kriegskosten seit August 1914 dienen. Das Heer kostete taglich ungefahr 500000 Gulden, und die gesamten durch den Krieg verursachten Ausgaben stiegen rasch auf 22 Millionen monatlich. Man hoffte mit der Anleihe bis September 1915 auszukommen. Zur Zinsdeckung wurden ZuschlSge zur Vermogens und Einkommenssteuer in Höhe von 33 Prozent erhoben. Die Amortisationsfrist der Anleihe sollte 15 Jahre betragen. Der Gesetzentwurf war nach langen Beratungen mit Vertretern der Hochfinanz zustande gekommen, die ihre Zweifel über die Aussichten des Gelingens einer so grofien Anleihe nicht verhehlt hatten. In den Generalstaaten gab das Anleiheprojekt zu vielem Streit, besonders mit den Freisinnig Demokraten und den Sozialdemokraten, AnlaB. Die Gegner des Projektes pladierten für eine einmalige Vermögensabgabe. Treub bemerkte demgegenüber mit Recht, daB ein derartiger Aderlafi des Kapitals in so schwerer Zeit, wo alle Papiere stark im Werte gesunken seien, zu grofie Gefahren für das Nationalvermögen mit sich brachte. Er betonte auBerdem, man könne doch schwerlich die Linien der bestenenden Steuerpolitik verlassen. Man tue gerade das Menschenmögliche, um dem Streit der politischen Parteien in dieser Zeit aus dem Wege zu gehen. Vergeblicb bewies der Minister sein Entgegenkommen, indem er in den Gesetzentwurf die Verpflichtung aufnahm, daB vor 1. Januar 1917 eine andere Regelung der Zuschlagseinziehung zur Bestreitung der Kosten des Anleihefonds von 1914 zustande kommen müsse. Die Gegner des Entwurfes waren damit nicht zufrieden, und in der zweiten Kammer folgten heftige Debatten, eine groBe Ausnahme in diesen Monaten, die noch eine pikante Note bekam durch die Tatsache, daB die Opposition mit in erster Linie von den Freisinnig- Demokraten ausging, bei denen Treub fiüher eine führende Rolle Jjespielt hatte! Der Gesetzentwurf wurde schlieBlich angenommen gegen 'die Stimmen der Sozialdemokraten und der meisten Freisinnig-Demokraten. Die Anleihe war trotz aller dunklen Prophezeiungen der Bankiers ein groBer Erfolg. Anfanglich gingen die Zeichnungen nur zögernd ein. Da wies die Regierung in der Presse mit Nachdruck darauf hin, welches die Folgen einer ungenügenden Zeichnung sein würden. In diesem Falie schrieb das Gesetz eine Zwangsanleihe von 250 Millionen mit 3 Prozent Verzinsung vor. Nun ging die Sache flott von statten, und es wurde sogar ein Betrag von 407 Millionen gezeichnet. Königin Wilhelmina war mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte 2 t Millionen gezeichnet. 213 Damit wurde die Schleuse für den Millionenstrom geöffnet, der nun in Holland zu fliefien begann. Zunachst folgte eine bescheidene 5 %Anleihe für Indien im Betrage von 61 i Millionen, abzulösen in 25 jahrlichen Terminen. Sie hatte schon vor dem Kriege als nötig gegolten und diente in erster Linie zur Rückzahlung von Vorschüssen der hollandischen Schatzkiste an die hollandisch - indische Regierung. Auch diese Anleihe, diö erste, welche für die Koloniën selbst ausgegeben wurde und die darum auch sehr sorgfaltig vorbereitet worden war, war sehr erfolgreich. Im Mal 1916 kam dann eine zweite ebenfalls 5 °/o indische Anleihe von 80 Millionen, welche durch die vielen aufierordentlichen Ausgaben nötig wurde, zu denen sich auch Indien infolge des Krieges entschliefien mufite. Sie wurde ebenfalls ohne Schwierigkeiten gezeichnet1). Ehe wir unsere Aufzahlung fortsetzen, müssen wir der umfassenden Steuerplane gedenken, welche der Finanzminister der zweiten Kammer vorlegte 2). Es handelte sich dabei nicht allein um einige neue Steuern, sondern um ein ganz neues Steuersystem, das der Minister einführen wollte und das er in einem besoadaren Gesetzentwurf darlegte. Es war auf Friedenszeiten berechnet, d. h. es hatte auch in Friedenszeiten kommen müssen. Stand doch aufier den durch den Krieg verursachten Kosten ein Defizit von 60 Millionen für die nachsten Jahre in Aussicht. Es sei darum nötig, so meinte der Finanzminister, das in Geltung befindliche Steuersystem im ganzen zu überbhcken und daran sowohl den MaBstab einer guten Steuertechnik wie den der modernen Finanzkunst anzulegen und sorgfaltig^zu bedenken, ob es möglich sei, das bestehende System nicht nur einer Revision zu unterziehen, sondern auch derartig zu erganzen, dafi ein einheitliches und in seinen Wirkungen gerechtes Ganzes entstehe. Das war eine lobenswerte Absicht, denn das bestehende Steuersystem datierte von 1821, wenn es auch in mehrfacher Hinsicht gründlrche Revisionen erfahren hatte. Treubs Absicbten waren um so lobensiverter, als er den Entwurf des neuen Systems trotz der infolge des Krieges eingetretenen Verhaltnisse hatte zustande bringen können. Aber Treubs Steuergesetzentwurf ist nie Gesetz geworden. Bevor es zu seiner Behandlung in den Generalstaaten kam, trat Treub zurück und sein Nachfolger zog den Entwurf ein. Allerdings hielt dieser an den meisten neuen Steuerentwürfen fest, und mehr als einer von ihnen ist dann auch genehmigt und eingeführt worden, aber nur stückweise, und ohne dafi daraus ein System wurde. Einige sehr wichtige Vorlagen verschwanden aber endgültig von der Bildflache, besonders die auf Erhebung einer Steuer zu einem bestimmten Zweck, z B. als Beitrag zu den Kosten der Landes- *) 1917 folgte noch eine 5'/» indische Anleihe von 50 Millionen und 1919 eine 6% von 180 Millionen. ') Sitzungsberichte der zweiten Kammer 1915/16, Beilagen Nr. 198 —222, eingereicht am 23. 10. 15. 214 verteidigung — das sogenannte Wehrgeld — und der Marine, oder zurj Bestreitung der Ausgaben für Pensionen. . Die letztgenannte Vorlage gab die Veranlassung zu Treubs Rücktritt. Schon bei Behandlung des Budgets für 1916 hatte er deutlich zu erkennen gegeben, daB er mit Rücks'icht auf die Finanzlage des Staates eine rasche Behandlung seiner Gesetzentwürfe für höchst nötig halte. Er hatte das dann noch schSrfer pointiert in einem Briefwechsel mit dem Vorsitzenden der zweiten Kammer und darauf hingewiesen, dafi ohne Annahme der Pensionssteuer die Weiterbehandlung eines Entwurfes' über Altersrente, der ein Teil der neu entstehenden Sozialgesetzgebung war, nicht stattfinden könne. Über diesen Zwang, diese Einmischung eines Ministers in ihre Tatigkeit, zeigte sich die zweite Kammer sehr entrüstet. Sie war zwar bereit, die Antr&ge des Ministers bald in Behandlung zu nehmen, wollte sich aber an keine von ihm gestelken Bedingungen binden. Als Treub trotzdem an seiner Forderung festhielt, nahm die Kammer mit geringer Mehrheit eine von sozialdemokratischer Seite beantragte EntschlieBung an, in der erklart wurde, die Kammer könne sick mit dem durch den Finanzminister auf sie ausgeübten Druck, um zwischen dem Altersrentengesetzentwurf und dem über Pensionssteuer eine unverbrüchliche Verbindung herzustellen, nicht einverstanden erklaren Treub reichte daraufhin sein Rücktrittsgesuch ein, das von der Königin angenommen wurde. Dieser Konflikt zwischen der auf ihre Rechte pochenden Kammer, welche in dem Auftreten Treubs eine Aufierung antidemokratischer Gesinnung glaubte sehen zu müssen, und dem für einen Hollander sehr impulsiv veranlagten Finanzminister, der die an langsame Arbeit gewöhnte, bedachtsame Kammer hatte zwingen wollen, ihm zu folgen^ ist ein bemerkenswerter parlamentarischer Zwischenfall. In jenen Kriegszeiten war der auch von parteipolitischen Berechnungen nicht unbeeinflufite Konflikt eine bedenkliche Sache, da die Regierung durch ihn einer ihrer starksten Krafte verlustig ging. Die mit dem Krieg zusammenhangende Spannung war damals gerade in Holland nicht eben auf dem Höhepunkt. Um so mehr konnte die Kammer sich erlauben, gegen den Finanzminister derartig aufzutreten. Treubs Nachfolger war der damalige erste Schatzmeister im Finanzministerium A. van Gijn. Wahrend seiner Amtsdauer als Minister, die nur ein Jahr wahrte, kamen Gesetze über Auflegung zweier nèuen Anleihen zustande 2), zu denen die militarischen Ausgaben, die Fürsorge für die vielen Internierten und Flüchtlinge und in steigendem MaBe die Versorgung der Bévölkerung mit Lebensmitteln nötigten. Beide Anleihen betrugen 125 Millionen Gulden bei einer Verzinsung von 44 Prozent. Die sehr starke Geldflüssigkeit ermöglichte es, die Rente etwas niedriger zu *) Am 28. Januar 1916: Sitzungsberichte der zweiten Kammer 1916, S. 1083ff. SJ 18. August und 16. Dezember 1916, Staatsblad Nr. 410, 412 und 533. 215 setzen als 1914. Beide Anleihen wurden ohne Schwierigkeiten voll gezeichnet. Gleichzeitig mit der ersten dieser Anleihen wurden auch neue Einnahmequellen erschlossen, und zwar durch Einführung der sogenannten Verteidigungssjeuern Nr. I und Nr. II. Nr. I sollte vom 1. Mai 1916 an drei Jahre hintereinander vom Vermogen erhoben werden, und zwar . einmal in Form einer auBerordentlichen Steuer bis zur Höhe der Vermögenssteuer selbst, zum anderen als auBerordentliche Steuer nach anderen noch 1'estzustellenden Grundsatzen. Nr. II wurde nach einem Tarif, der einem Drittel der Einkommensteuer entsprach, von dem Einkommen erhoben. AuBerdem wurde anlaBlich des 1. Januar 1917, welcher Termin durch das Anleihegesetz von 1914 dazu ausersehen war, eine Anderung in der Einziehung der Zuschlage für diese Anleihe vollzogen1). Treub' hatte die Absicht gehabt, diese Steuer verfallen zu lassen, wenn sein ganzes Steuersystem angenommen sein würde. Da es dazu nicht kam, muBte man, eben auf dem alten Wege weitergehen. Die Zahl der Zuschjage vermèhrte sich, statt sich zu vermindern. Es ist also deutlich, daB man in Holland höhere Steuerergebnisse in erster Linie durch Ausdehnung und Vermehrung der wichtigsten bestenenden Steuern zu gewinnen suchte. Gleichzeitig wurden Aussichten auf neue Einnahmen durch Einführung einer Kriegsgewinnsteuer eröffnet. Schon Treub hatte eine Kommission mit dem Entwurf eines diesbezüglichen Gesetzes nach dem Vorbild anderer Lander beauftragt. Das Gesetz kam im Juni 1916, also ebenfaks wahrend Van Gijn Minister war, zustande 2). Die Steuer bestand in einer Abgabe „wegen Vermehrung des Einkommens oder Erzielung von Gewinn mittelbar oder unmittelbar infolge des KriegszustandesJede Einkommensvermehrung und jeder Gewinn wurde als Folge des Kriegszustandes angesehen, wenn und insoweit das Gegenteil nicht wahrscheinkch gemacht werden konnte. Was nicht als Kriegsgewinn betrachtet werden sollte, wurde einzeln aufgeführt. Die Steuer wurde nur erhoben, wenn bei Betragen unter 2000 Gulden eine Vermehrung von über 1000 Gulden, bei solchen von 2500 Gulden und mehr eine solche von über 2000 Gulden stattgefunden hatte, und war sehr hoch. Innerhalb Jahresfrist nach Beendigung des Kriegszustandes sollte ein Gesetzentwurf eingereicht werden, der diese Steuer wieder aafbob. Minister Van Gijn machte sich wegen des steten Steigens der Ausgaben groBe Sorgen. Nur widerwillig gab er seine Zustimmung zu einem Antrag, 80 Millionen Gulden für die Lebensmittelverteilung3) flüssig zu machen. Über die Verwendung dieses Betrages kam es zu ernsten Meinungs- *) Gesetz vom 20. Januar 1917, Staatsblad Nr. 192. \ ') Gesetz vom 16. Juni 1916, Staatsblad Nr. 288. Es wurde am 23. Mai 1917 revidiert, Staatsblad Nr. 406. *) Siehe darüber oben S. 194. • f% 216 verschiedenheiten im Ministerrat. Der Finanzminister war der Meinung, daB ihm auch darauf ein EinfluB zustehe. Nur dann, betonte er, könne er einen zügelnden EinfluB bei der Verwendung der groBen Ausgaben ausüben, welche aus jener Summe zu bestreken waren. Aber Van Gijns Kollegen teilten diese Auffassung nicht, und dieser bat deshalb um seinen Rücktritt. Kann man sich wundern, dafi der Finanzmann die Anhaufung immer gröBerer Staatschulden nur ungern sah und die ernste Verantwortung dafür nicht mehr auf sich nehmen woUte? Aber auch er konnte kéinen anderen Weg zur Befriedigung der einmal vorhandenen finanziellen Bedürfhisse angeben, und seine Auffassung über die Verwendung einmal genehmigter Betrage scheint staatsrechtlich wenig haltbar. Der Nachfolger Van Gijns war niemand anders als Treub! Seine Auferstehung machte nach den Ereignissen von 1915 einen einigermafien komischen Eindruck, aber es können genug Gründe vorhanden gewesen sein, diesen Kraftmenschen zum Widereintritt in das Ministerium zu veranlassen, besonders da gute Finanzleute nicht dicht gesat sind. Ausdrücklick wurde von seiten der Regierung erklart, der Personalwechsel bedeute weder eine Anderung in der bisher von der Regierung befblgten Politik, noch irgendwelche Reaktion gegen das Votum der Kammer, dessentwegen Treub das Jahr zuvor zurückgetreten war Die Verbindung von Akersrente und Vermögenssteuer war also aufgegeben. Aber bald nach Wiederaufnahme der ministeriellen Funktion gab Treub doch zu verstehen, daB die erstere, auch wenn der diesbezügliche Antrag Gesetz werde, nicht eingeführt werden solle, bevor auch die Mittel zur Deckung der durch sie verursachten Ausgaben vorhanden seien. Wahrend seiner zweiten ministeriellen Tatigkeit verursachte Treub grofies Aufsehen durch Bekanntmachung eines Planes, demzufolge das Versicherungswesen an den Staat kommen sollte. Dadurch sollten die nötigen Mittel hereinkommen, um die finanzielle Lage gründlich zu verbessern. Eine staatliche Kommission wurde mit der Untersuchung des Planes beauftragt. Aus allen bei den VersicherungsgeseUschaften interessierten Kreisen wurden lebhafte Proteste laut. Dabei blieb es. Die Kommission lieferte kurz vor dem definitiven Rücktritt des Ministeriums ihren Bericht ab, und Treubs Nachfolger denkt nicht mehr an die Verwirklichung jenes Planes. 5 Inzwischen hatte sich Treub damit zufrieden geben müssen, einen Teil der wahrend des ersten Abschnittes seiner ministeriellen Laufbahn eingereichten Steuergesetzentwürfe, u. a. eine Anderung der Erbschaftssteuer, unter Dach zu bringen. Aufierdem sah er sich genötigt, neuerdings eine Anleihe vorzuschlagen. Sie betrug diesmal 500 Millionen Gulden zu 4£ Prozent, konvertierte / *) Erklürung des Vorsitzenden des Ministerrates in der zweiten Kammer, SitzungsDerichtè 1916/1917, Sp. 535 ff. 217 jedoch gleichzeitig die öprozentige erste Anleihe von 275 Millionen1). Zu ihrer Deckung wurde eine Erhebung der Verteidigungssteuern auf weitere vier Jahre nötig erachtet, und diese sollten gleichzeitig erweitert werden. Die zweite Kammer nahm den diesbezüglichen Gesetzentwurf an, nachdem sie die Art der Steuererhebung wesentlich abgeandert hatte; die erste Kammer dagegen verhielt sich ablehnend (Juli 1918). Sie hielt den Unterschied der beiden Steuern für zu groB um zu meinen, der Verlangerung e|ner solèh unbilligen Verschiedenheit in der Besteuerung ihre Zustimmung geben zu können. Drückte doch die Verteidigungssteuer Nr. I beinahe viermal so schwer auf das Vermogen als die Verteidigungssteuer Nr. II auf das Einkommen. Das war das traurige Ende von Treubs Ministerlaufbahn. Denn als das Votum der zweiten Kammer ausgesprochen wurde, hatten bereits die Neuwahlen stattgefunden, die den Rücktritt des ganzen Ministeriums zur Folge haben muBten 2). Treubs Nachfolger blieb also dié Aufgabe, das infolge der steigenden Ausgaben entstandene Loch zu stopten. Beim Rücktritt Treubs wurden die gesamten Krisisausgaben bis Ende 1917 auf ungefahr 970 Millionen berechnet. Dem stand eine Erhöhung des Steuerertrags von ungefahr 291,5 Millionen gegenüber, darunter 167,9 Millionen Kriegsgewinnsteuer 3). Ungefahr 30 Prozent der Krisisausgaben waren also gedeckt. Ferner war für das Jahr 1918 mit Krisisausgaben im Betrage von weiteren 675,5 Millionen zu rechnen. Anleihen waren für 900 Mülionen ausgegeben worden. Treubs Nachfolger hat sein Heil bisher auf demselben Wege gesucht, im Ausschreiben von Anleihen und ihrer Deckung durch Erhöhung der Vermogens- und Einkommensteuer. Nach Treubs Rücktritt, ist eine neue 4»°/o-Anleihe von aufgenommen worden4). 1919 wurden die Termine für die Verteidigungssteuer um vier Jahre verlangert und ihre Tarife etwas verandert. AuBerdem wurden die 1914 beschlossenen Zuschlage auf die Vermogens- und Einkommensteuern in Höhe von 25 Prozent für 15 Jahre bewilligt5). Ende 1919 wurde dann eine neue Anleihe von 450 Millionen angekündigt, die die Form einer Zwangsanleihe haben sollte, an der sich alle Einkommen und Vermogen, die eine bestimmte Grenze überschritten, beteiligen muBten. Bisher war mit einer derartigen Anleihe nur gedroht worden für den Fall, dafi eine freiwillige Anleihe mifiglücken sollte. AuBerdem wurde von mehr als einer Seite nach durchschlagenderen Mitteln gerufen, z. B. einer einmaligen Vermögensabgabe, um damit einen *) Gesetz vom 15. Dezember 1917, Staatsblad Nr. 170. *) Siehe § 10. *) Die Kriegsgewinnsteuer brachte bis 1. Oktober 1919 469578000 Gulden auf, laut Antwortmemorandum auf den vorlaufigen Bericht der zweiten Kammer über Teil I des 'Staatsbudgets für 1920. *) Gesetz vom 19. Dezember 1918. ') Durch die Gesetze vom 11. April 1919, Staatsblad Nr. 171 u. 172. 218 Teil der schweren Schuldenlast zu decken und eine finanzieke Sanierung zu ermöglichen. Stellt man die genannten 450 Millionen mit in Rechnung, so ergibt sich, daB die hollandische Staatsschuld seit 1914 um reichlich 1,5 Milliarden gestiegen ist. Das ist für ein kleinês Land ein ansehnlicher Betrag, wenn er auch, selbst nicht relativ, in keiner Weise mit den Milliarden betragen verglichen werden kann, deren Last auf die groGen und kleinen Machte drückt, die am Kriege teilgenomtnen haben. Das hollandische Nationalvermögen wird auf etwa 20 Milliarden Gulden geschatztEs hat wahrend des Kriege» betrachtlich gelitten, unter anderera durch die Verluste in russischen, österreichischen und ungarischen Efïekten, von denen in Holland groBe Betrage plaziert waren, besonders russische. Andererseits nahm es durch Kriegsgewinne schatzungsweise um 2 Milliarden zu. Bisher zeigte sich Holland imstande, die auf ihm ruhenden Lasten zu tragen. Dabei darf man nicht vergessen, daB die regularen Staatseinnahmen infolge der verschiedenen, von Treub eingeführten Steuern betrachtlich gestiegen sind. Allerdings ist das ebenso sehr mit den regularen Staatsausgaben der Fall. Es wird einer starken Persönlichkeit bedürfen, um für die vorhandenen und drohenden Fehlbetrage die nötige Deckung zu finden und die hollandischen Staatsfinanzen auf eine gesündere Basis zu stellen als das bisher der Fall ist. Für 1920 fordert der Budgetentwurf reichlich 686,5 Millionen Gulden, was im Vergleich mit den letzten Kriegsjahren einen gewissen Rückgang bedeutet, der jedoch kleiner ist als man erwartet hatte 2). Es eind nun nicht mehr die sich natürlich in sinkender Linie bewegenden Krisisausgaben, sondern die ordentlichen Ausgaben, die immer starker anschwellen und die Budgetziffern in so besorgniserweckender Höhe halten.' § 8. Die Wehrmacht wahrend der Kriegszeit Beim Verbrauch der riesigen Millionenbetrage waren Heer und Flotte stark beteiligt. Sie und die Lebensmittelversorgung verursachten die meisten Ausgaben, die jedoch von Anfang an ohne grofie Schwierigkeiten von allen Parteien genehmigt wurden, höchstens dafi zuweilen gefragt wurde, ob man denn nicht mit weniger auskommen könne. Das Bewufitsein, dafi man es hier mit absolut nötigen Aufwendungen zu tun habe, blieb stets vorherrschend. Es ist unmöglich, eine Geschichte der Tatigkeit von Hollands Wehrmacht wahrend des Krieges zu geben. Die Verteilung des Heeres, die Stellung der einzelnen Truppenteile und ihre Bewegungen sind nur den *) Treub, De economische Toestand van Nederland, Haarlem- Amsterdam 1917, S.13. 2) Die Ausgaben betrugen 1916, 1917 uud 1918 resp. 582,5, 684 und beinahe 971 Millionen Gulden. 219 Eingeweihten bekannt. Die wenigen über Mobilisferung und erste Gruppierung bekannt gegebenen Einzelheiten haben wir bereits erwahnt1). Was nach aufien deutlich in Erscheinung trat, war eine Erweiterung von Hollands Wehrmacht, die eine betrachtliche Verstarkung seiner Defensiv* kraft darstellte und damit eine sicherere Garantie — auch für das Ausland —, daB Holland zur Aufrechterhaltung seiner Neutralitat imstande sein werde. Die Heeresvermehrung erfolgte durch die Umbildung des Landsturms, die durch die Gesetze vom 11. Juni und 31. Juli 1915 gesichert wurde2). Das letztere ist das wichtigere. Es setzte lest, die Königin könne die Einberufung zum Landsturm für alle diejenigen befehlen, die bis 1916 das dreiBigste Lebenjahr noch nicht erreicht und bisher dem Landsturm nicht angehört hatten. AuBerdem sollte die Königin die Registrierung beim Landsturm für alle diejenigen anordnen können, die bis 1916 das dreiBigste Lebensjahr überschritten, aber das vierzigste nicht vollendet hatten. Von 1915 ab wurde denn auch jahrlich regelmaBig ein alterer Jahrgang der Landsturmpfliehtigen (eine sogenannte Landsturmklasse) zum Dienst einberufen. Diese Verwendung der Landsturmpfliehtigen, die nun alle auch zum Dienst mit der Waffe herangezogen werden konnten — bisher war das nur mit einem Teil derselben möglich gewesen, wahrend der Rest nur zu militarischem Hilfsdienst verpflichtet war —, ermöglichte es, die Landwehr und spater auch einen Teil der Reservisten zu beurlauben. AuBerdem stieg so die Anzahl der waffengeübten hollandischen Soldaten betrachtlich, was für den Kriegsfall natürlich ein wesentlicher Vorteil war. Praktisch galt somit, wenigstens für die Dauer des Krieges, in Holland das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht. Man lieB es sich nun notgedrungen ohne groBen Widerspruch gefallen. Nur die, die unerwartet noch zum Dienst eingezogen wurden, murrten natürlich. Es war aber nür selbstverstandlich, daB jeder das Seine für die Landesverteidigung tat, und daB aus nationalen und Billigkeitsgründen der Kreis derer, die an den militarischen Lasten mittragen muBten, möglichst ausgedehnt wurde. Ohne den Krieg ware jedoch die Annahme der allgemeinen Wehrpflicht ganz undenkbar gewesen; denn der Hollander hat absolut keine Anlagen zum Militarismus und spielt nicht gern den Soldaten. Als zu Kriegsbeginn der frei willige Eintritt in die Armee offengestellt wurde, meldeton sich im ganzen 2000 Frei willige, deren Qualitat dazu noch viel zu wünschen übrig liefi!3) Alle anderen warteten, bis Gefahr und Not noch naher gerückt waren. Dazu kam es glücklicherweise nicht, und die reichlich 600 000 Hollander zwischen 17 und 40 Jahren, die nichts vom Heeresdienst wufiten, waren weiter in diesem glücklichen Naturzustand verblieben, wenn der Staat sie nicht zum Gegenteil gezwungen hatte. Selbst die *) Siehe oben S. 39 ff. s) Staatsblad Nr. 242 u. 345. I 8) Siehe Brugmans u. a., Nederland in Oorlogstijd (Amsterdam 1919), S. 28—29. 220 sogenannten Wehrvereine, die sehr zahlreich waren, und deren Mitglieder sich verpflichtet hatten, im Kriegsfall sich zur Verfügung zu stellen, hielten sich nun zurück. Alle Initiative mufite von der Regierung ausgehen, die nur durch eine kleine Schar begeisterter Patrioten unterstützt wurde. Sie lieB es denn daran auch nicht fehlen und trat im letzten Kriegsjahr nach dem Vorbild anderer Lander sogar mit einem Entwurf zur Einführung der bürgerlichen Hilfsdienstpflicht hervor, zu dessen Behandlung durch die Volksvertretung es aber nicht mehr kam. Im allgemeinen zeigten sich die Generalstaaten bei der Beratung der verschiedenen militarpolitischen Gesetzentwürfe sehr entgegenkommend. Nur zuweilen verursachte ein Antrag über Verlangerung der Dienstpflicht eines Jahrganges der Landwehr oder auf Einherufung einer neuen Landsturmklasse einige Schwierigkeiten. Ein solcher Fall kostete 1917 dem Kriegsmioister Bosboom sein Portefeuille. Im November 1916 hatte die Kammer ihre Meinung dahin zu erkennen gegeben, die Einberufung der Landsturmklasse 1909 müsse hinausgeschuben werden, bis der aktive Jahrgang 1917 unter die Waffen getreten sei. Auf diese Weise konnten die alteren Leute noch etwas langer zu Hause bleiben und ihrem Beruf nachgehen. Der Minister batte sich um diesen Kammerantrag nicht gekümmert, weshalb im Mai 1917 ein zweiter Antrag bezüglich der Landsturmklasse, 1918 folgte 1). Das veranlafite den Minister, um seinen Abschied zu bitten, den er auch erhielt. Es scheint jedoch, als ob sein Rücktritt eine tiefere Ursache gehabt habe. Man warf ihm Schwachheit vor, /besonders in der Regelung seines an und für sich schwierigen Verhaltnisses zum Oberbefehlshaber der Land- und Seemacht2). Man munkelte denn auch schon einige Zeit vor seinem Rücktritt, dafi seine Stellung erschüttert sei, er oder der Oberbefehlsheber müsse gehen s). Was daran wahr gewesen ist, kann man heute noch nicht sagen. Bezeichnend war jedoch, dafi Jhr. Mr. de Jonge, einer der höheren Zivilbeamten des Kriegsministeriums, also kein Soldat, Bosbooms Nachfolger wurde. Die Lage von Hóllands Heer und Marine wahrend der langen Kriegsjabre war sehr schwierig. Die Dienstpflichtigen hatten sich pdichtgemafi aber ohne grofie Begeisterung gestellt. Die erste Kriegszeit brachte viel Spannung, Ableitung und Arbeit. Zwischen Militar und Bürgerschaft bestand ein herzliches Verhaltnis. Die letztere zeigte deutlich ihr Interesse für das Heer, so dafi die Soldaten auf allerlei Weise bedacht wurden. Aber diese fröhlicbe Stimmung dauerte nicht lange. Es begann die Zeit des Wartens auf die Dinge, die da kommen sollten. Der Dienst wurde vielerorts bald langweilig. Es gab wenig Zérstreuung, trotzdem die Heeres- *) Sitzungsberichte der zweiten Kammer 1916/17,, S. 603 u. 2538. ') Siehe hierüber S. 40. *) Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. u. 29. Mai 1917, Abendausgabe C. 221 leitung und eine Anzahl Offiziere sich Mühe gaben, die Mannschaften zu beschaftigen. Das ewige Warten wirkte entnervend. Mancher Soldat fragte sich: „Was habe ich hier eigentlich zu tun?" Besonders bei der Infanterie machten sich 'Zeichen von Ermüdung und Demoralisierung geltend. Die Mobilisiérung bot Gelegenheit, das gesamte Heer zu üben. Das war sehr nötig. Besonders bei der Landwehr fehlte es an Übung und Zucht bei Kriegsausbruch sehr stark. Die Heeresleitung tat das möglichste, hierin Abhilfe zu schaffen. Jedoch scheint ihr das nicht völlig gelungen zu sein. „Der Mtmgel an Disziplin", so.schreibt ein aktiver Hauptmann, „kam deutlich zum Vorschein, als die ernsten Ereignisse, die für unser Land beiürchtet wurden, ausblieben,. und die wahrend der ersten Kriegstage herrschende gute Stimmung verflogen war. Da zeigte es sich 'nur allzusehr, daB bei vielen die Disziplin nicht auf der gesunden Basis des Pflichtbewufitseins beruhte, sondern auf Furcht vor Strafe oder Urlaubsentziehung."!) Es gelang zwar, die Truppen besser einzuexerzieren, besonders durch Vermehrung der Kaders, indem Hunderte neuer Offiziere und Unterolfiziere ausgebildet wurden, aber der Kern wurde doch nicht so, wie man gewünscht batte. Das war auch schwerlich anders zu erwarten bei einem Volke, das stets eine sehr unmilitarische Gesinnung gehegt und für militarische Angelegenheiten gewöhnlich wenig mehr als Abneigung an den Tag gelegt hat. Es glückte auch nicht, wahrend des Krieges das Heer mit allem Nötigen zu versehen. Dauernd herrschte Mangel an Artillerie, Maschinengewehren und Flugzeugen, trotzdem es gelang, die Waffen- und Munitionsvorrate wesentlich zu vergröBern. Das war zum guten Teil eine Folge davon, daB die Heeresbedürfhisse wahrend diesls Krieges über alle Erwartungen stark anschwollen, zum andern hing es mit den Schwierigkeiten in der Beschaffung der hier zulande nicht vorhandenen Bohstoffe zusammen. Aber auch die übertriebene Sparsamkeit, die man vor 1914 bei der Anschaffung der Heeresbedürfhisse beobachtet hatte, trug zum Teil die Schuld. Man darf sich allerdings auch kein zu ungünstiges Bild von Hollands Heer wahrend der Kriegszeit machen! Man konnte es glücklicherweise nie im Kampfe beobachten, so dafi die Möglichkeit des Vergleichs mit den meisten anderen Heeren fehlt. Daran ist jedoch nicht zu zweifeln, dafi es seine Pflicht voll und ganz getan hatte, wénn es zum Schlagen gekommen ware. Inwieweit seine Mangel, deren es natürlich bei jedem Heere welche gibt, seinen Gefechtswert beeinflufit hatten, laBt sich heute nicht beurteilen. Ich vermute, dafi das, vorausgesetzt, dafi die Materialbeschaffung gelungen ware, in sehr geringem Mafie der Fall gewesen ware. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen das Heer zu aktivem Eingreifen herangezogen werden mufite, hat es, wie allgemein anerkannt wird, x) Nederland in Oorlogstijd, S. 24. 222 seine Aufgabe vortrefflicb gelost. Es bandelte sich dabei groBenteils urn Dinge, die kaum oder nur entfernt zur eigentlicben Bestimmung des Heeres in Beziehung standen. Als der Strom der belgischen Flüchtknge im Herbst 1914 über die Grenzen von Brabant und SeelandischFlandern flutete, hörte man nur eine Stimme des Lobes über die liebenswürdige Hilfsbereitschaft der hollandischen Soldaten an der Grenze. Als Anfang 1916 ein Deichbruch Nordholland gefahrdete, legten die zur Unglücksstelle entsandten Militarkommandos den gröBteh Eifer an den Tag, sowohl bei dem Rettungswerk, wie beim Ausbessern der Deiche. Weniger geeignet zeigte sich die Truppe zur Bekampfung des Schmuggelbandels, wie wir schon bemerkt haben 1). Aber auch bei rein militarischen Angelegenheiten — soweit diese erforderlich wurden — steilte es seinen Mann, so besonders bei der Internierung fremder Soldaten, die über die Grenze kamen und bei ihrer Bewachung. Denn die paar Schwierigkeiten, die sich dabei ergaben, unter anderem anlaBlich eines Aufruhrs belgischer Internierter im Lager von Zeist, wo es einige Tote gab, oder spater, als wahrend der Nahrungsmittelnot 1918 die belgischen und englischen Internierten sich über die knappen Rationen beklagten, kann man nicht den hollandischen Soldaten zur Last legen. In diesem Zusammenhang mag auch der Tatigkeit der Marine dankbar gedacht werden, deren Aufgaben nicht sa sehr ins Auge fielen, die sich aber u. a. durch die Abmontierung von Tausenden von Minen, die ans Land gespült wurden, sehr verdient machte. Die ersten ernsten Anzeichen von Disziplinlosigkeit scheinen sich bei der Ausführung militarischer MaBnahmen zur Bekampfung der Lebensmittelunruhen von 1917 und 1918 gezeigt zu haben. Viel ist darüber nicht bekannt geworden. Sehr bedenklich war eine Meuterei im Harskamp bei Amersfoort im Oktober 1918, wobei Brandstiftung und Desertion vorkamen. Schlechte Ernahrung sollte die Schuld tragen, Aber die ganze Angelegenheit war doch ein böses Zeichen. Wenn auch der Geist im ganzen Heeresicher lange nicht so schlecht war wie bei den Truppen im Harskamp und sonst hier und da, so war es doch auch für das hollandische Heer ein Glück, daB Waffenruhe eintrat und es dadurch möglich wurde, die militarischen Lasten zu vermindern. § 9. Die Stimmung der Kriegführenden Holland gegenüber Ein hollandischer Staatsmann des 18. Jahrhunderts hat, als die Republik zum erstenmal in einem europaischen Krieg neutral bleiben wollte — es bandelte sich um den österreichischen Erbfolgekrieg — an das Wort Ferdinands von Arragonien erinnert: „Les pays neutres ressemblent a ceux *) Siehe darüber oben S. 187. 22a qui demeurent au second étage d'une maison, incommodés par la fumée du locataire d'en bas et par 1'eau de celui d'en haut." Hollands Erfahrungen wahrend des Weltkrieges sind danach gewesen, die Wahrheit dieses Satzes zu erharten. Von beiden Seiten wurde es angegriffen und fand nicht das geringste Verstandnis für seinen Versuch, wenigstens einen Teil der Welt aus dem allgemeinen Brande zu retten. Im Gegenteil! Undank und Vorwürfe, ja Drohungen," erntete Holland, weil es sich hartnackig weigerte, das Feuer mit zu schüren. Bald bekam es auBerdem Beschuldigungen zu hören, z. B. es begünstige die eine oder andere Partei, Angriffe, die nicht zuletzt eine Folge f'alscher und einseitig' gefarbter Nachrichten waren, wie sie auch über Holland in reichlichem MaBe kolportiert wurden. Es begann schon frühzeitig mit der Verbreitung tles Gerüchtes in den Ententelandern, besonders in Belgien und Frankreich, daB deutsche Truppen durch Hollandisch Limburg gezogen seien, und daB also Hollands Neutralitat verletzt sei, Holland aber trotzdem seine Neutralitat nicht aufgegeben habe. Das Gerucht wurde mit aller Energie als falsch gekennzeichnet, und nach den von der5 hollandischen Regierung gegebenen Beweisen *) laBt sich keinen Augenblick bezweifeln, daB es wirklich falsch war. Aber seine böse Wirkung tat es doch, und die Regierung ist daran insofern nicht ganz frei von Schuld, als ihr Dementi sehr spat kam und etwas schüchtern vorgebracht wurde. Die Regierung war sich eben offenbar der Gefahrlichkeit der Kriegspropaganda nicht genügend bewuBt. Die auslandische Kolportage, die sogar mit Karten arbeitete, auf denen das angeblich verletzte hollandische Hoheitsgebiet abgebildet war, hatte reichlich Gelegenheit, ihre Insinuationen in der Welt zu ver brei ten, die selbst heute noch in manchen Köpfen spuken. Dieses falscke Gerücht hat zu der kurz nach Kriegsausbruch in ïlén belgischen Stadten fühlbaren schlechten Stimmung gegenüber Holland, die sich mehr als einmal in sehr unangenehmen Auftritten auBerte, das Seine beigetragen2). Aber der eigentliche Grund der MiBstimmung lag doch tief'er. Sie war verürsacht durch die lebhafte Enttauschung, welche bei dem belgischen Volke die Tatsache von Hollands Fernbleiben vom Kriege hervorrief. Sogar bekannte, sehr hollandisch gesinnte Belgier verbargen ihren Arger darüber nicht. Die MiBstimmung breitete sich auch nach *) Siehe hierüber oben S. 43. *) In Antwerpen wurde, wenn ich gut unterrichtet bin, das Gerucht sogar auf Befehl des Bürgermeisters J. C. de Vos bekannt gegeben. Soviel Ulauben fand es. Kürzlich nahm dt-r Leidener Professor C. van Vollenhoven die noch stets im Umlauf befindlichen Geruchte zum AnlaB für den Vorschlag, dem Völkerbund von hollandischer Seite sofort nach seiner Gründung Gelegenheit zu einer Untersuchung über die damaligen Geschehnisse zu geben, da das das einzige Mittel sei, um die Grundlosigkeit der Gerüchte endgültig zu erweisen (Economisch-Statistische Berichten vom 29. Oktober 1919). 224 Frankreich aus, wo sogar ein Journalist und Staatsmann vom Range Clemenceaus in seinem Blatte „L'homme enchainé" sein Mifivergnügen über Hollands Haltung nicht verbarg *), Auch in England stiefi man auf Gehassigkeit. Das ist ganz selbstverstandlich. Wenn man selbst fest überzeugt ist vom guten Recht der Sache, für die man kampft, wenn man glaubt, das Schwert für die Gerechtigkeit, Freiheit und Kultur und das Existenzrecht der kleinen Nationen gezogen zu haben, dann ist es nicht angenehm, einen Nachbarn scheinbar gleicbgültig, nur aufmerksam, beiseite steken zu sehen. Man kann dann keinen Sinn erwarten für die Beweggründe, die den Nachbarn, der innerlich sehr wohl erregt ist, beherrschen. Man wollte sich keine Rechenschaft darüber geben, dafi keine seiner vitalen Interessen bei dem Kampfe auf dem Spiele standen, und man erinnerte sich der Besprechungen über eine Entente zwischen Holland und Belgien 2), die gewisse vage Erwartungen erweckt hatte, obgleich es zu keinen irgendwie definitiven Resultaten gekommen war. Ebensowenig machte man sich klar, dafi die hollandische Neutralitat auch ihre grofien Vorteile mit sich brachte, ware es auch nur durch die gastfreie Aufnahme von Tausenden belgischer Flüchtlinge in Holland. Wir Hollander brauchen darauf nicht etwa stolz zu sein oder dafür Dank zu fordern; denn es ist selbstverstandlich, dafi man in solchen Fallen Barmherzigkeit übt, wir dürfen jedoch konstatieren, dafi die Aufnahme der belgischen Flüchtlinge für die Entente ihre angenehmen Seiten hatte. Aber was rede ich? Nicht verstandesmafiige Überlegung ist in Kriegszeiten ausschlaggebend, sondern Leidenschaft und Sentiment bestimmen den Eindruck, und was das Schlimmste ist, dieser Eindruck laBt sich, auch wenn mit dem Frieden Zeiten ruhigen Nachdenkens angebrochen sind, nicht völlig verwischen. Auf die Nachwirkung, welche die gegen Holland herrschende ungünstige Stimmung zeitigte, werden wir Gelegenheit genug haben zurückzukommen. Die Stimmung in Deutschland war von Anfang an eine andere. Das deutsche Volk sah sich mit Erstaunen einer solchen Menge von Feinden gegenüber, dafi es sich rasch bewufit wurde, sich alle Mühe geben zu müssen, um wenigstens einige Sympathien zu erwecken oder zu behalten, wo das möglich war./ Ist denn die ganze Welt Deutschland feindlich gesinnt, fragten sich viele und versucbten auf vielerlei Weise eine Antwort zu finden. Auch hierzulande war, wie wir gesehen haben, die Stimmung gegen die Deutschen im allgemeinen durchaus nicht freundscbaftkch. Aber es 1) Der Chefredakteur der Amsterdamer Wochenzeitschrift „De Groene Amsterdamer" nahm das zum AnlaB eines offenen Briefes an Clemenceau (Nr. vom 27. 12. 1914). Clemenceau glaubte, Beweise für eine bollandisch-deutsche Entente bei Beginn des Krieges zu haben. Dem scheint das Marchen von einem Bündnis zwischen Holland und Deutschland seinen Ursprung zu verdanken. (Siehe darüber oben S. 43 und L. Piérard: GroBdeutschland, La Belgiqueet la Hollande, Bruxelles et Paris 1918, S. 46.) s) Siehe darüber oben S. 26. 15 Japikse, Holland 225 fehlte doch auch nicht an einem Streben nach unparteiischerem Urteil als dem gangbaren, und es offenbarte sich hier und da einige Sympathie und zwar wahrhaftig nicht allein bei jenen, die aristokratisch waren oder es zu werden hofften, wie es einmal ausgedrückt wurde x). Das konnte natürkch in Deutschland nicht unbekannt bleiben und ist auf die dortige Stimmung nicht ohne Wirkung geblieben. Sicher waren die AuBerungen in Deutschland gegen das hollandische Nachbaryolk durchaus nicht immer freundkch. Wenn man es den Hollandern auck nie zum Vorwurf machte, daB sie nicht mit der Waffe in der Hand an Deutschlands Seite traten, man fand doch, dafi die Hollander, auch die hollandische Regierung, sich etwas gar zu viel von der Entente gefallen liefien. Auch erregten natürlich die scharfen antideutschen AuBerungen, die verschiedentlich laut wurden, Anstofi. Man hat sich, wenn ich recht unterrichtet bin, auch von offizieller deutscher Seite bémüht, die hollandische Regierung zu bewegen, gegen die Ungebundenbeit der Presse MaBnahmen zu ergreifen, aber ohne Erfolg. Mit Recht steilte sich die Regierung auf den Standpunkt, der Presse müsse, abgesehen von der Beschrankung, die sie sich im Landesinteresse selbst auferlegen wollte, die weitgebendste .«Freiheit zugebilligt werden. Eine Verletzung dieser fundamentalen, historisch begründeten hollandischen Freiheit würde eher noch mehr scharfe AuBerungen provoziert als dieselben unterdrückt haben. Nur hinsichtlich anstöfiiger Karikaturen und Bücher zeigte man hollandischerseits einiges Entgegenkommen: lm September 1915 ersucbte der Staatsanwalt des Haager Gerichtes yerschiedene Buchhandkingen seines Rechtsgebietes, in Zukunft keine Zeichnungen von Raemaekers, Braabensiek u. a. oder sonstige Bücher, Zeichnungen oder Postkarten auszustellen, an denen die Regierungen der kriegführenden Lander Anstofi nehmen konnten 2). Im allgemeinen kann man ruhig gestehen, daB deutscherseits mehr guter Wille vorhanden war, die Schwierigkeiten von 'Hokands Position zu begreifen und sich nach ihnen ein Urteil zu bilden als auf seiten der Entente. Persönkch habe ich mehr als einmal die Erfahrung gemacht, daS hierzulande sich aufhaltende Deutsche sich ein sehr richtiges Bild von Hollands Situation zu machen verstanden hatten. Verschiedene Korrespondenten führender deutscher Blatter — ich denke hierbei in erster Linie an den des „Berkner Tageblattes" und der „Frankfurter Zeitung" — haben das Ihre dazu beigetragen, um durch Mitteilung ihrer Erfahrungen an das deutsche Publikum dasselbe über die wirklichen Verhaltnisse in Holland zu unterrichten. Ich glaube, dafi sie mehr Erfolg gehabt haben als die eifrige 'deutsche Propaganda in Holland, welche die hollandische Offentkchkeit von der RechtmaBigkeit der deutschen Sache zu überzeügen suchte *) Durch Professor Kernkamp in „Vragen des Tijds" Juli 1916.. *) Siehe den Bericht im Nieuwe Courant vom 10. September 1915. 226 und die, obwohl ihre Bemühungen nicht ganz ohne Erfolg blieben, es eigentlich doch nie so weit bringen konnte, daB der deutsche Standpunkt und der der Entente unter dem gleichen Gesichtswinkel betrachtet wurden. Es blieb eben immer mehr oder weniger bei einem Messen mit verschiedenen Mafien. Man darf allerdings auch nicht vergessen, daB die deutsche Militarpartei viel getan bat, um die Tatigkeit der Propaganda wirkungslos zu machen, und zwar immer gerade dann, wenn diese einigermafiën erfolgreich zu werden schien. Die Propaganda der Entente hatte viel leichteres Spiel, besonders die französische, der die Sympathien eines groBen Teiles der hollandischen Offentlichkeit geradezu entgegenkamen. Man hat in Holland immer viel auf „das edle französische Volk" gehalten, wie man es oft lobend nennen hören konnte. Umgekehrt haben verschiedene Franzosen gezeigt, daB sie diese Sympathien scb&tzten, und haben sich Mühe gegeben, dem französischen Volke eine bessere Einsicbt in. die bei den Hollandern herrschende Stimmung zu verschaffen. Das gilt vor allem von den Herren Gandolphe und Rocheblave, die, der letztere im Auftrag des französischen protestantischen Komitees für Propaganda im Auslande, Holland besuchten und über die hier gernachten Erfahrungen in ein paar Artikeln einer so angesehenen Zeitschrift wie der „Revue des deux mondes"1), berichteten. Rocheblave und sein Begleiter Soulier wurden sogar von I. M. der Königin und I. M. der Königin Mutter in Audienz empfangen. Die erstere sprach dabei nicht über Politik und Krieg, sondern gab ihrer Bewunderung für Frankreichs „Heroismus" und die moraksche Kraft der französischen Frauefi Ausdruck. Bezeichnenderweise wies die Königin dabei auf ihre Abstammung von dem Admiral Caspar de Coligny hin. Auch sonst fanden die genannten Pioniere der französischen Kultur wahrend des Krieges wohlwollende, ja selbst zuvorkommende Aufnahme. Sehr treffend bemerkte M. Gandolphe, daB selbst die Gegner Frankreichs ihre.Waffe im Stillscbweigen suchten. Man hörte keine antifranzösischen AuBerungen und sah keine Karikaturen auf „Marianne". Man iühlte auch in Kreisen, die nicht auf seiten der Entente standen^ daB. Frankreich auf jeden Fall nicht der Hauptschuldige im Weltendrama sei, daB es sich aber sehr wohl um seine Existenz hahdle. Letzten Endes herrschte ein Gefühl des Mitleides, wie das ja auck zu Kriegsbeginn selbst in Deutschland zum Ausdruck kam. Ganz unzweifelhaftf hat eine geschickte Propaganda, besonders in den Kreisen der. Intellektuellen, die frankophile Stimmung sehr verstarkt. Sie hatte auch dauernde Folgen in dem wahrend des Krieges im Haag gegründeten „Oifice francais" 2), das den Interessen deB französischen Buch- *) 1. September 1916 und 1. Oktober 1917. Siehe auch E. Soulier, La Hollande, une nation amie, 1919. 2) Es ist aber bald nach~dem Eriege verschwunden. 15* 227 handels diente, sowie in der seit Juli 1914 bestehenden „Revue de Hollande". Die 1916 gegründete Vereinigung „Holland-Frankreich", welche die geistigen Beziehungen zwischen beiden Landern durch Vortrage, Ausstellungen und anderes starken wollte und mehr EinfluB gewann als die schon vor dem Kriege bestehende „ Alliance francaise", arbeitete in derselben Richtung. Das Ziel all dieser Bemühungen ist die Bekampfung und mögr lichste Ausschaltung des deutschen geistigen Einflusses. Viel zu grofi ist dieser EinfluB vor dem Krieg geworden, schreibt der Groninger Professor in der französischen Liteiatur, Salverda de Grave Das früher so überwie"ende und angenehme Französisch droht durch das Deutsch überflügelt zu werden, klagt er. Zu einem groBen Teil ist das bereits der Fall. Der französische Buchhandel, der die Auslandkolportage nicht sehr eifrig betreibt, ist vom deutschen zurückgedrangt worden. Auf wissenschaftlichem Gebiet ist Deutschland in Holland beinahe völlig vorherrschend geworden. Auf literarischem Gebiet werden oft die weniger guten französischen Produkte dem Publikum vorgelegt. Die Vereinigung „Holland Frankreich", so fahrt De Grave fort, will danach streben, das Gleichgewicht zwischen deutschem und französischem Geisteseinflufi wieder herzustellen. Das halten die guten Patrioten, welche die Vereinigung gegründet haben, für ihre Pflicht, gerade um dafür zu sorgen, daB das National-Hollandische nicht ins Gedr&nge kommt. Trotz solcher Freundschaftsbezeugungen blieb doch die in den Ententelandern gegen Holland herrschende Stimmung im allgemeinen wenig günstig. Es kam bald wahrend des Krieges noch ein Faktor hinzu, der sie weiter verschlechterte, namlich der Umstand, daB Holland sich weigerte, bei der Hungerblockade gegen Deutschland mitzutun. Die Tatsache, daB der hollandische Markt für die deutschen Kaufer immer offen geblieben ist, hat Holland unberechenbar viel gescbadet. DaB die Wirkungen des Krieges schlieBlich zur Folge hatten, daB der ÜberschuB, der nach Befriedigung der hollandischen Bedürfnisse übrig blieb, sehr klein wurde, anderte nichts an dem Handelsprinzip selbst, ebenso wenig, daB hollandische Kaufleute sich der Entente gegenüber verpflichteten, gewisse vom Ausland eingeführte Waren nicht an Deutschland zu liefern. Auf Grund ihrer richtigen Neutrahtatsauffassung hat sich die hollandische Regierung stets geweigert, die Grenzen für die Ausfuhr hollandischer Produkte nach Deutschland zu schheBen, auBer wenn auch die Ausfuhr nach der Gegenseite aus Gründen inlandischen Interesses verboten werden muBte. Diese Auffassung an sich war es, die AnstoB erregte. Übertriebene Gerüchte über die ausgeführten Quantitaten und über den unerlaubten Schmuggelhandel, die durch eine hollandische Tageszeitung verbreitet wurden, verstarkten den unangenehmen Eindruck. Es gab bei der Entente Leute, die in ihrem Herzen überzeugt 1) lm „Gids", Februar 1917; vergleiche „Revue de Hollande" Nr. 2. 228 waren, daB Holland i ganz Deutschland ernahre und damit instand setze, den Streit immer weiter fortzusetzen. Wir haben in einem früheren Kapitel schon gesehen, was daran war. Die Jingopresse, die für die Verbreitung dieser falschen VorsteUungen vor allem verautwortlich zu machen ist und die deutlich die Absicht batte, die hollandische Regierung zur Stillegung der ganzen Ausfuhr nach Deutschland zu nötigen oder zwingen zu lassen, hat der hollandischen Sache nicht weniger geschadet als jene Leute, welche die Gerüchte über den Durchzug der deutschen Truppen durch Limburg zu Kriegsbeginn verbreiteten. Bei vielen Bewohnern der Ententelander sank das hollandische Ansehen unter den Nullpunkt. Bemerkenswe/terweise kam auch in Amerika, sobald es am Kriege teilnahm, eiö groBer Teil der öffentlichen Meinung gegen Holland in Bewegung1); und das in dem Lande, das selbst ungezahlte Millionen mit seinen Lieterungen an eine der kriegführenden Parteien und sogar ' noch mit Lieferungen von Kriegsmaterial verdient hatte! So ungeheuer einseitig war das Urteil unter den Wirkungen der Kriegspsychose. Die gutgemeinten Bemühungen eines in Amerika weilenden hollandischen Journalisten 2), um die Amerikaner besser zu unterrichten, scheinen damals nicht viel genützt zu haben. Um die Stimmung zu verstehen, welche die Bekrittler von Hollands Haltung,beherrschte, lese man ein paar Strophen aus einem Gedicht von Paul Lesseron s): „Shylock voulait du sang. Vous, vous faites mieux certes: Des plaines en entier de cadavres couvertes ' Sont lk pour vous payer vos carottes, vos choux." Man spürt die niederschmetternde Beschuldigung wegen des Verkauf» von Lebensmitteln an „ld Monstre". Tief verfichtlich heiBt es weiter: „Rien de haut! Rien de grand! Rien de noble et de beau! Sans nous vous n'auriez pas même votre drapeau." Dann lautet es an die Adresse der Regierung: „Que font donc votre élite, ce trésor cérébral? Tout vos hommes d'état? Votre petite reine? On le voit bien d'ici. lis ont beaucoup de peine A discuter des prix pour vaches et chevaux Et puis a ramasser une fortune énorme." Worauf es warnend klingt: „Hollandais, prenez garde! ... un grand livre est ouvert. Jamais vous ne saurez tout ce qu'on a souffert pour vous." J) Es kursierten stark gefarbte VorsteUungen über die hollandische Ausfuhr nach Deutschland, die im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom ö. 7. 1917, Abendausgabe, korrigiert wurden. *) H. W. van Loon. a1 Aus dem „Telegraaf" voin> 4. 8. 1916. 229 Eine hübsche Probe von Kriegspoesie, die reichlich deutlich macht, wie falsch Hollands Stellung unter dem EinfluB falscher VorsteUungen eingeschatzt wurde! AuBer dem Motiv der Gewinnsucht wurde auch das der Angst gegen uns ausgespielt: „Die Angst> m der die Hollander im Gedanken an das Schicksal von Leuven und anderen belgischen Stadten leben, laBt sie hie und da die hohen Interessen, die auf dem Spiele stehen, aus dem Auge verlieren", schreibt der „ TempsAnfang Juli 1916, und verschiedentlich konnte man in diesem und anderen Blattern warnende Winke wegen Hollands Zukunft hören, die angeblich auf dem Spiele stehen sollte. Besonders arg fand man es, daB es Hollander gab, die am liebsten gar nicht über den Krieg sprachen und so taten, als ob er mit allen seinen Furchtbarkeiten gar nicht vorhanden sei. Es sollte, so erzahlte der „Temps" durch „de placides sujets de ia reine Wilhelmina" ein „suprème moyen de propagande" erfunden worden sein, namlich das Tragen eines Abzeichens mit der Aufschrift „Ne me parlez pas de la guerre", um dadurch ihren paziflstischen Ansichten Ausdruck zu geben. Diese Erfindung sei sehr vernünftig, sagte das französische Blatt, „mais on se demande quelle peut être la mentalité de ces gens qui veulent interdire de parler du plus grand drame de 1'Histoire, dont les épisodes se déroulent devant leurs yeux". Und dann kommt folgender ErguB: „Etrange mentalité, en verité. Ce n'est pas paree que les Pays-Bas sont neutres que le peuple néerlandais peut se désintéresser d'une tragédie qui marqué une crise profonde de la civilisation et passionne, par lk même, toute 1'humanité La neutralité n'est point 1'indifférence, car elle serait alors haïssable en présence de telles souffrances. Et ce peuple néerlandais vit au centre de la catastrophe; il est entouré de belligérants, il a accueilli sur son sol des centaines de milliers de Beiges fuyant leur patrie envahie, il a vu de ses yeux ce qui émeut jusqu'aux larmes les foules des lointaines Amériques, ne connaissant la guerre que par les récits publiés. C'est a ce peuple lk, lui-même menacé par 1'orgueil allemand et dont 1'indépendance sombrerait immanquablement, si i'Austro-Allemagne, par impossible, pouvait être victorieuse, c'est k ce peuple lk, qui sut, lui aussi, ü y a quatre siècles, se sacrifier pour la liberté, que 1'on recommande de ne pas parler de la guerre, et sans doute, de n'y pas penser." Begriff man denn nicht, dafi „le silence aussi peut être un mensonge, le plus lache et le plus perfide, celui qu'on se fait k soi-même?" So1 lautet die Klimax des leidenschaftlichen Artikels, der heute die Lachmuskeln in Bewegung setzt, wo man weiB, daB es sich dabei um einen Kampf gegen Windmühlen bandelte. Der „Temps" bat-sich da einmal gehorig' zum Narren halten lassen; denn es gab allerdings Hollander, die den Krieg lieber übersahen, so gut wie es Franzosen gab, die in Paris, oder sogar' *) November 1915, abgedruckt in der „Gazette de Hollande" vom 8. 11. 1915. 230 Belgier, die in Brussel wahrend der Besetzung lustig weiter Feste feierten, um das Elend zu vergessen, aber von einer Vereinigung solcher Hollander zum Tragen von Abzeichen ist nie die Rede gewesen. Ich wenigstens habe nie etwas davon gesehen oder gehort. Aber ist es verwunderlich, daB man Leuten, von denen soviel Böses erzahlt wurde, nichts Gutes gönnte? Holland, so schrieb ein französischer Journalist in einem Artikel, der in mehr als einer Zeitung abgedruckt wurde , verdient in keiner Weise von der Entente geschont zu werden. Der Verfasser setzte das an Hand einer Reihe schiefer VorsteUungen auseinander, die ihren Höhepunkt in der Erzahlüng tanden, HoUand babe mitgehoffen, Belgien niederzuwerfen und den Fall von Lüttich zu beschleunigen, indem es die deutschen Truppen instand setzte, die Maas zu überschreiten, dadurch daB es —. man lache nicht! — alle Schleusen öffnete, um den FluB leerlaufen zu lassen. Die hollandische Regierung versaumte nicht, solche Nachrichten zu dementieren, ohne dem aUerdings genügend Aufmerksamkeit zu widmen. Solche Dementis haken auch gewöhnlich nicht viel. Gegen die Nachteile der Neutralitat waren die Hollander aUerdings langst gewarnt. HeiBt doch ein bekannter Vers des Dichters De Genestet: „Zoo'n middenman, Wat heb je er'an? Hij krijgt van beide kanten ervan2)." Die HoUander bekamen nun reichlich Gelegenheit, die Wahrheit dieser Worte am eigenen Leibe zu spüren und darüber pbilosophische Betrachtungen anzusteUen. Ein Neutraler braucht sich zwar, im BewuBtsein seines guten Rechtes, über feindselige Stimmungen in kriegführenden Landern keine grauen Haare wachsen zu lassen. Diese Feindseligkeit wird aber gefahrlich durch die Folgen, welche sie zeitigen kann, insofern sich, wenn es erst einmal gelungen ist ein Volk verhafit zu machen', leicht Gelegenheit bietet ihm zu schaden. Es ist der hollandische Journalist C. K. Elout gewesen, der meines Wissens zuerst auf diese Gefahren hinwies 3). Er besprach die Schwierigkeiten, von denen Holland bedroht sei, und zwar nicht so sehr wahrend des Krieges als beim FriedensschluB, und war der Meinung, die Gefahr von seiten der Entente sei urgenter als die von seiten Deutsch- *) z. B. im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. Januar 1916. 2) «Nur nicht zwischen zwei Parteien Als Neutraler sich bewegen! Segen bringt es nicht, Aber Hiebe hageldicht." *) In der „Haagsche Post" von Anfang Januar 1916, gröfitenteils abgedruckt im „Nederlander" vom 5. Januar 1916. 281 lands. Da die belgische Regierung aus begreiflichen Gründen sehr stark unter den EinfluB der französischen gekommen sei, „ist die Empfanglichkeit für französische Einflüsterungen, die schon vor dem Kriege bei dem herrschenden wallonisch - franskiljonischen Elementen sehr groB war — man denke an das Geschrei von Roland de Marès und Konsörten wegen des ^Forts zu Vlissingen, das offenbar eine Folge französischer, Hetze war — natürlich noch gewaltig gewachsen. Da die Stimmung in Frankreich gegen uns sehr ungünstig ist, dank dem dort stets nach allen Seiten wachen MiBtrauen, dank auch der hierzulande gegen unsere Regierung geführten Hetze, so brauchen wir uns über die in den französisch-belgischen Kreisen gegen uns herrschende Stimmung keine Illusionen zu macken. Auf Grund der von Mieser Seite — einschlieBlich der belgischen Minister — über uns laut gewordenen AuBerungen bin ich davon überzeugt, daB bei den Friedensverhandlungen wenig mehr übrig sein wird von der doch auch heute nur platonischen Dankbarkeit der Belgier gegen uns. Nicht minder glaube ich, daB die belgische Regierung, gestützt auf die französisch-belgischen leitenden politischen Kreise und im Schlepptau der französischen Animositat gegen uns_versuchen wird, uns einen Teil von Belgiens Verlusten aufzubürden. AuBerungen, wie sie unlangst wieder von seiten Baies zu hören waren, zeigen uns, welche Gefahr wir laufen, Limburg zu verlieren, wenn die Entente gewinnt und Belgien nach den knks und rechts abfallenden Broeken schnappt. „Aber noch viel gefahrdeter ist Seelandisch-Flandern, vielleicht auch, wenn die Zentralen Sieger bleiben, weil sie dann eveotuell etwas anderes dafür an die Entente verhandeln können. Ganz sicher ist jedoch Gefahr im Verzuge, wenn die Entente siegt. • Denn dann bekommen'Frankreich und England die langörsehnte Gelegenheit, Holland die Scheldemündung zu nehmen und das Hindernis, das unsere Souveranitat auf der unteren Schelde für jede Flotte, die nach Antwerpen hinauffahren will, bedeutet, endgültig zu beseitigen. Die Gefahr, die uns beim FriedensschluB droht, besteht in der Aussicht, daB ein von der Entente diktierter Friede durek die in deren Landern gegen uns bestehende Animositat und das öfter geaufierte Begehren nach Stücken unseres Landes beherrscht sein wird." Diese Perspektive war richtig gesehen, und Elouts Voraussage ist eingetroffen. Man muB sich zum besseren Verstandnis an die Zeiten von 1906 und spater erinnern, als von französisch • belgischer Seite eine Kampagne für belgisch-hollandische Annaherung geführt und darauf dann das Geschrei über dén Bau des Forts von Vlissingen erhoben wurde. Die damals in ihren Erwartungen hinsichtlich Hollands getauschten Herrschaften spieken auch jetzt wieder die Hauptrolle. Es war ein ganz groBzügig angelegtes Unternehmen, das nun von Franzosen und Belgiern zunachst gemeinsam begonnen, aber anscheinend spater nur von den Belgiern weiter betrieben wurde. Ubrigens ist man über die ganze Sache, die erst bei 232 den Friedensverhandlungen sich voll und ganz fühlbar machte, nicht besonders gut unterrichtet. Vieles bleibt uudeutlich oder völlig dun kei. Folgendes ist aber mit Sicherheit auszumachen. Schon 1915 eröffnete die belgische Zeitung „Le XXme Siècle", die damals in Havre erscbien, eine annexionistische Kampagne: Belgien müsse vergröBert' werden. Die beroische Haltung, welche die Belgier beim Einfall der Deutschen eingenommen hatten, gebe ihnen das Becht pder wenigstens eine gunstige Gelegenheit, gewisse schon früher in mehr oder minder vager Form'geauBerten Wünsche scharfer zu prazisieren. Es handelte sich dabei um Luxemburg, um eine Ausdehnung in östbcber und nördlicher Richtung, dem Rheine und Holland zu, wahrend die Kühnsten begehrliche Blicke auf Eranzösisch Flandern zu richten wagten, jenen Teil Flanderns, der im '17. Jahrhundert an Frankreich gekommen ist. Auf einer Karte, die schon damals in gewissen Kreisen zirkulierte *), wurde das gröBere Belgien mit Rhein und Mosel als Ostgrenze gezeichnet; Luxemburg, Trier, Koblenz und Köln gehörten dazu und im Norden lief die Grenze quer durch Limburg, Nordbrabant und dann der östlichen Schelde entlang. Ungefahr die Hakte von Hollandisch-Limburg mit Maastricht und ein betracbtlicher Teil der hollandischen Provinz Nordbrabant mit 's Hertogenbosch, ferner Seelandisch-Flandern mit den seelandischeu Insein Walcheren und Südbeveland sollten also an Belgien kommen. Tm Süden war die Grenze bis südlich Douay, Lille und Dünkirchen verlegt. Der Appetit kommt beim Essen! Man darf nicht glauben, daB diese Annexionsplane so plötzlich entstanden sind, wie man heute vielleicht anzunehmen geneigt ist. Hatte doch hinsichtlich Hollands ein belgischer Staatsmann und vertrauter Bérater König Leopolds II. bereits 1882 in einem für den damaligen belgischen Ministerpresidenten Frère Orban bestimmten Bericht folgendes geschrieben 2): „Kein pobtisch Einsichtiger in ganz Europa kann es sich heute verhelden, daB das unabhangige Belgien schlechte Grenzen bekommen hat. Es hat nirgends gutë politische oder militarische Grenzen. Belgiens Schicksal ,ist eng verbunden mit dem Besitz der beiden Ströme, die es durchflieBen, und dem freien Verfügungsrecht über dieselben. Die Schelde ist ein Handelsstrom. Unsere wirtschaftliche Zukunft wird erst ganz gesichert sein, wenn wir diesen Strom bis an seine Mündung mit beherrschen, d. h. wenn wir Seelandisch-Flandern besitzen. Die Maas bildet eine politische und militarische Linie, deyen Besitz von Dinant bis nördlich Maastricht erst unsere Unabhangigkeit wirklich garantieren würde. Es handelt sich dabei um die alte Frage Limburgs, selbst Luxemburgs, denn die Zugehörigkeit des GroB- ') Sie ist reproduziert in dem unten zitierten Werke „La Belgique au tournant' de son histoire". t . *) Publiziert in „La Belgique au point de vue militaire et international" par £. Banning, études publiées par £m. Gossart (Bruxelles 1901). 233 herzogtums zu Deutschland oder Frankreich müfite für uns bald den Verlust des rechten Maasufers mit sich bringen." Es muB der belgischen Historiographie als Zukunftsaufgabe überlassen bleiben, den Ursprung und die Wirkung dieser Gedankengange festzustellen. Fiir uns genügt es zu konstatieren, daB sie erst wahrend des Weltkrieges ganz offen ans Tageslicht getreten sind und sofort einen gewissen Anhangerkreis gefunden haben. Sie hangen deutlich mit der ganzen Entwicklung der belgischen Geschichte seit 1830 zusammen und sind eine AuBerung der belgischen Nationalidee, die seit 1830 deutlich erkennbar ist. Ihr Mittelpunkt ist Brussel und ihre kulturelle Basis das französisch-wallonische Element. Man kann noch so verschiedener Meinung sein über die Frage, inwieweit dieses Zentrmn für ganz Belgien gilt oder gelten kann, inwieweit man also von einer belgischen Nation spreohen darf — das hangt übrigens eng zusammen mit dem Werte, den man dem flamischen als selbstandigem Kulturelement innerhalb Belgiens jetzt oder in Zukunft zuerkennen will —, man wird keineswegs leugnen dürfen, daB sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein starkes belgisches Nationalgefühl entwickelt hat. Es findet seinen Aüsdruck in der Zentralisation des Staates und in der Kongokolonisation. Seine Haupttrager sind besonders die Kreise der Hochfinanz und GroBindustrie. Ihr Geschichtschreiber wurde Pirenne, dessen Postulat einer belgischen Nation schon fürs Mittelalter etwas künstlich ist. Ihre extremste AuBerung fand die belgische Nationalidee in den eben genannten Aspirationen nach einem gröBeren Belgien und in der infolge des Krieges érfüllten Forderung auf Aufhebung der belgischen Neutralitat. Nur so hielt man die Möglichkeit eines ganz freien und unabhangigen Belgiens für gegeben. Wer Augen hat zu seben, kann sich der Tatsache nicht verschliefien, daB Belgien im Laufe des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft dieser Brüsseler Mentalitat sich machtig entwickelt hat und zu Reichtum gelangt ist. ' Aber der dunkle Punkt dabei ist Flandern, das mehr oder minder unterdrückt worden ist, und wo man vielfach bei einem völligen Sieg der auf das französische Kulturelement basierten Entwicklung des modernen Belgiens den Untergang der flamischen Eigenart befürchtet. Diese Flamen wollen von einem gröBeren Belgien nichts wissen und wurden von selbst die Gegner des Chauvinistenkreises um das XXme Siècle. Niemand hat lebendiger als sie schon wahrend des Krieges dazu beigetragen, die für andere Lander, besonders für Holland, aus den belgischen Wünschen sich ergebenden Gefahren ins Licht zu setzen. Die Tatsache, daB der belgische Annexionismus keine plötzlich auftretende Erscheinung ist, sondern in der historischen Entwicklung seine Erklarung findet, macht ihn für jene, die von ihm bedroht werden, um so gei'ahrlicher. Die Annexionisten waren sich von Anfang an deutlich bewuBt, daB die Erfüllung ihrer Wühsche oder nur eines Teiles derselben, soweit sie sich auf das neutrale Holland bezogen, ganz besondere Scbwierig- 234 keiten mit sich brachte. Deshalb kam ihnen die feindselige Stimmung, die infolge falscher Verdachtigungen gegen Holland in weiten Kreisen der Ententelander herrschte, sehr zustatten und trachteten sie dieselbe nach Kratten zu verstarken. ^ Ihre Karapagne gegen Holland führten sie nicht nur mit Hilfe des schon erwahnten „XX. Siècle", das durch einige andere, in französischer Sprache erscheinende Zeitungen wie „ Echo Beige", „ La Belgique", „Indépendance Beige", mehr oder weniger kraftig unterstützt wurde, sondern aiich durch eine flamische Zeitung, namens „Het Vaderland", die gewissermafien als eine Nebenausgabe des „XX. Siècle" anzusehen ist. Pierre Nothomb, Roland de Marès, Eugène Baie, Fernande Neuray, Maurice des Ombiaux, Louis Dumont-Wilden und der Flame Van Goethem gehörten zu den rührigsten Mitgliedern des halb mysteriösen Kreises, der die antihollandische Stimmung schürte. Nur ein Beispiel. für die Methode, mit der man Holland als Gefahr für Belgien hinzustellen suchte „ Es steht unumstöBlich fest, daB wir zwischen uns und den Deutschen auf materiellem wie ideellem Gebiet einen sehr energischen Strich ziehen werden, und daB dann von direktem deutschem EinfluB bei uns keine Rede mekr wird sein können. „Aber die Deutschen sind Schlauberger, und es ist für sie keineswegs ein Axiom, daB der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten die gerade Einie ist. Für sie kann der'kürzeste Weg auch einmal die gebogene, die krumme Linie sein. „ Wenn sie unser Denken und Fühlen nicht direkt beeinflussen können, wenn zwischen ihnen und uns eine unübersteigbare Schranke liegt, dann können sie immer noch auf einem Umweg unser eigenes Wesen mit Entartung und Verderb zu bedrohen suchen. „ Diese Gefahr kann uns dann von Norden bedrohen, aus Holland." Das wird dann noch scharfer betont: „Unser historisches Schicksal ist nicht Hollands Schicksal. ... Unsere Freudentage sind nicht Hollands Freudentage, unsere Leidenszeiten nicht Hollands Leidenszeiten. ... Wenn sich Holland widerstandslos deutschem EinfluB unterwerfen will, so mag ès das tun. Will Holland , sich selbst annektieren'2), lassen wir ihm das Vergnügen. Wir wollen weder das eine noch das andere und werden darüber wachen. Wenn uns aber direkt aus dem Norden Gefahr droht, dann werden wir sie auch auf dieser Seite abzuwenden wissen, eingedenk des Wortes: ,Wenn dich dein Auge argert, so reiBe es aus und wirf es von dir'." *) Aus dem „Vaderland" vom 24 August 1916, zitiert im Nieuwe Courant vom 2\ September 1916, Abendausgabe. *) Offenbar eine Anspielung auf den allgemein Bismarck zugeschriebenen Ausspruch: „Holland wird sich selbst annektieren". Ich bin bisher nicht dahinter gekommen, wo Bismarck das gesagt hat. 235 Ein ganzes hollandisches Sündenregister wurde von diesen Zeitungen aufgedeckt und die Sünden Hollands transformierten sich dabei spielend in gerechtfertigte Beschwerden Belgiens. Ganze Litaneien derselben konnte man hier und da «usammengestellt finden, zu denen das Arsenal der Geschichte ebensogut beigetragen hatte wie die Diskussionen der Stammtischpolitiker oder politischen Waschweiber, die sich mit Hollands Stellungnahme zu dén kriegerischen Ereignissen beschaftigten. Uber diese Dingé kann man sich sehr gut in jenem merkwürdigen Buche orientieren, das wahrend der deutschen Besetzung unter dem bezeichnenden Titel: „ La Belgique au toujnant de son histoire"L) in Belgien erschienen ist. Wie und wo ein solch Umfangreiches Buch 1916 in Belgien gedruckt werden konnte, bleibt ratselhaft. Man hat zwar vermutet, es sei auf deutsche Anregung hin geschrieben worden, um zwischen Holland und Belgien Zwietracht zu saen, aber stichhaltige Gründe wurden dafür nie angeführt. Wer das Buch, von dem bald nach seinem Erscheinen tatsachlich etwa hundert Exemplare, offenbar durch den deutschen Propagandadienst, in Holland verbreitet wurden, aufmerksam liest, wird den Eindruck haben, es sei von jemand verfafit, der über die oben beschriebene annexionistische Richtung in Belgien und ihre Lebensauföerungen erstaunkch gut unterrichtet gewesen sein mufi. Der Verfasser kennt sogar verschiedene wahrend des Krieges von belgischer Seite herausgegebene Schriften, mit denen man für die Zeken der deutschen Besetzung in Belgien keine Vertrautheit voraussetzen würde, wenn man nicht inzwischen erfahren hatte, dafi die Verbindung der belgischen Flüchtlinge mit ihrer Heimat lange nicht so absolut unterbrochen gewesen ist, wie man früher annahm. „La Belgique au tournaut de son histoire" ist mit Fug und Recht ein Produkt belgischer Nationalbegeisterung genannt worden. Der Abschnitt, den der Verfasser selibst als den wichtigsten seines Werkes bezeichnet — er heiBt „La Belgique nouvelle" — beginnt mit folgendem lyrischën Ergufi: „Après avoir rapidement passé en revue 1'histoire du pays beige et s'être attaché a montrer les fautes du passé et les nécessités de 1'avenir, il convient de rappeler la conduite de la Belgique au cours de cette guerre. On ne peut être long. Son héroïsme et les services qu'elle a rendus k la cause des Alliés sont indéniables et ont d'aikeurs été loyalement reconnus et célébrés." *) Auf dem Titelblatt steht nur: „1916 Imprimerie nationale" und als Motto das Wort König Alberts: „J'ai foi dans nos destinées, uu pays, qui se défend s'impose' au respect de tous: ce pays pe périt pas." Das Vorwort ist mit E. P. unterzeichuet, was man auf Edmond Picard hat deuten wollen. Im Text wird übrigens verschiedentlich von „les auteurs" gesprochen. Über die Unwahrscheinlichkeit einer deutschen Urheberschaft des Buches finden sich einige richtige Bemerkungen in der Vorrede zu einer 19i7 im Haag anonym erschienenen Schrift: „Het Belgisch Annexionisme een gevaar vor Nederland". 236 „Cette dernière partie d'une oeuvre qu'on voudraif voir lire avec le même patriotisme que celui qui 1'a inspiré, consistera a prouver successi vemen t : Que la Belgique ne peut plus être neutre. Que si elle n'est plus neutre, il lui faut - des garanties. Quelles sont ces garanties et quelles sont les seules qui puissent lui feonvenir. '■ j Auparavant, une courte vision de la Belgique héroïque." Wozu Belgien nicht berufen sein sollte! Man kann es nicht besser andeuten als mit den Worten eines Franzosen, den der Verfasser x) zustimmend zitiert: „II y a pour le monde entier le plus profond et le plus pressant intérêt a bien connaitre 1'esprit beige, a surveiller son histoire, car, tót ou tard — et je pense bientót — l'histoire et la géographie qui ne mentent pas Taffirment — la Belgique déja le carrefour du monde civilisé en sera le centre"2). Belgien als „capitale de 1'Europe"! Die Gesinnung gegenüber Holland, die das Buch beherrscht, kommt am allerstaxksten in einer Anmerkung des Verfassers zu einem Zitat aus einer Rede von Pirenne zum Ausdruck, der daran erinnert, daö nach der Goldensporenschlacht die Lütticher der Stadt Brugge, die durch ihren Heldenmut Belgien vor französischer Annexion bewahrt hatte, ihren Glückwunsch sandten. Die Anmerkung lautet wörtlich: „En 1914 les Hollandais qui ont été préservé de la même facon de 1'annexion allemande, ne 1'ont pas compris et ils n'ont donné aux Beiges aucun témoignage de sympathie 3)." Eine argere Unverschamtheit ist beinahe nicht denkbar! Ist es doch geradezu notorisch, daB so gut wie kein Hollander versaumt hat, den Belgiern in jenen schweren Tagen von' 1914 einen Beweis seiner Sympathie zu geben, wenn auch die hollandische Regierung mit Rücksicht auf ihre Neutralitat das natürlich nicht tun durfte. Die zitierte Anmerkung ist aber bezeichnend für das ganze Buch, soweit es sich mit den belgischbollandischen Beziehungen beschaftigt, was sehr ausgiebig der Fall ist. Bélgien bat, so wird gefolgert, der Welt unschatzbare Dienste geleistet. Es hat deshalb ein Recht darauf, daB seinen — ausführlich aufgezahlten — Beschwerden abgeholfen wird. Dazu dient unter anderem die Annexion hollandischer Gebietsteile, besonders da Holland sich in einer Weise benommen hat, die es ungerechtfertigt erscheinen lassen muB, seiner zu schonen. Es ist im Grunde prodeutsch, und seine Zeitungen sind mit Ausnahme des Telegraaf nichts als kamouflierte deutsche Blatter, die ihre Instruktionen aus der WilhelmstraBe bekommen. Es herrscht in diesem Buche eine eigenartige Begriffsverwirrung, die wohl den Geist des Kreises widerspiegelt, in dem die Schrift entstand. Das wird besonders im letzten Abschnitt deutlich *), wo hervorgehoben *) S. 43, Anmerkung. *) Diese Worte sind fettgedruckt. B) S. 35, Anm. 1. *) S. 371 ff. 237 wird, alle Nationen hatten den Drang nach Ausdehnung und besafien ein Ideal, das in der Ehre bestehe. Das Ideal Belgiens könne nicht durch Eroberungskriege verwirklicht werden. Dem widersetze sich seine ganze Vergangenheit. Seine Bewohner hatten bewiesen, eher in zu hohem Malie jenes Enrgefuhl zu besitzen, so dafi sie es nie aufgeben könnten: „Noblesse obbge". Der belgische Nationalismus könne nicht kriegssüchtig, sondern werde friedliebend sein. „Beprendre aux nations conquérantes les morceaux qu'elles détiennent du patrimoine beige n'est pas une fin guerrière. Des guerres successives imposées a la Belgique peuvent amener la réalisation de son idéal." Hat man jemals eine gewundenere Beweisführung gehort? Man glaubt nach solchen schonen Reden dann natürlich gerne, daB das Ideal Belgiens ein bescheidenes sei, daB Bei,ne Verwirklichung naherrücke und daB Belgien ohne dieselbe nicht existieren könne! Die Verwirkkchung jenes Ideals, so heiBt es weiter, sei notwendig aus militarischen Gründen und gerechtfertigt — aufier durch Holland» lendenlahme Haltung wahrend des Krieges — aus historischen Gründen. Notwendig sei sie aus militarischen Gründen. Denn Hollands Haltung habe zur Folge gehabt, dafi die Entente Belgien nicht auf der Schelde habe zu Hilfe kommen können. Limburgs Zugehörigkeit zu Holland habe Belgien seine Verteidigung wesentlich erschwert1). So etwas dürfe nicht noch einmal passieren. Die Schlufifolgerungen liegen dann auf der Hand. . Und dann die historischen Gründe! Die Hollander hatten den Belgiern die Scheldemündung und die Halfte Luxemburgs weggenommen („ravi") und sie des deutschen Teiles von Luxemburg beraubt („privé"). Man könne also nicht behaupten, daB die Belgier auf eine Gebietserweiterung in Europa aus seien. Der Krieg habe sie einfach an ihre Pfkcht erinnert hinsichtlich „des rameaux détachés de 1'arbre national" 2). Auf dem historischen Gebiet begegnet man übrigens noch einer anderen „Autoritat", die ihr Licht darüber bat scheinen lassen, namlich Herrn Nothomb, der seine Auffassungen in einer Gruppe von Aufsatzen nieder» gelegt hat, die den ebenfalls sehr bezeichnenden Namen „La Barrière Beige" tragt3). Darin wird die Geschichte Luxemburgs 'in einer Weise behandelt, die dem hokandischen Generalleutnant De Bas die Feder in die Hand drückte zu einem sehr deutlichen Wort der Erwiderung gegen die völlig unrechtmafiigen Beschuldigungen Nothombs an die Adresse der hollandischen Herrscher, die ja bis 1890 zugleich GroBherzöge von Luxemburg gewesen sind. „Valsche Staatkunde" („Pohtiscke Falschungen") betitel te General De Bas seine Broschüre *). *) So wird es hiogestellt! Siehe über die wirklichen Verhaltnisse oben S. 41 ff. *) S. 372. ") Mit dem Untertitel: Essais d'histoire territoriale et diplomatique. Paris, Perrin & Co., 1916. *) 's Gravenhage, gebroeders van Cleef, 1916. Auch in der wahrend des Krieges 238 Ausführlicher noch als seine AuBerungen über Luxemburg ist Nothombs Auseinandersetzung über die hollandisch - belgischen Beziehungen und ihre historische Entwicklung. „Les emprises de Hollande" überschreibt er diesen Abschnitt, der ein Musterbeispiel tendenziöser Geschichtschreibung genannt werden muB. Der Utrechter Professor De Louter hat Nothombs Schrift in einem seiner Artikel, die er ihr widmete (Nieuwe Courant 27. und 28. Oktober 1916), mit Recht als ein „gefahrhches Buch" bezeichnet. Man muB sich wahrhaftig Mühe geben, nicht laut aufzulachen, wenn man am ScbluB ihres Vorworts liest, es handle sich um ein Buch „strictement conforme, dans chacun de ses détails, k la rigoureuse exactitude historique". Nothomb stellt einfach Behauptungen auf, sucht dann nach Beweisen dafür, laBt fort, was ihm nicht in den Kram pa6t, und kommt damit leicht zu den gewünschten Eraebnisssen. Schon seine ersten Worte sind sehr geeignet, Stimmung zu machen: „Pendant deux siècles et demi, s'acharnant contre la Belgique, la Hollande en définitive travailla pour l'Allemagne." Aber um diese „grande ironie, qui plane sur son histoire", handelt es sich für Nothomb letzten Endes doch nicht. Es dürfte auch wirklich sehr schwer fallen, einen Schimmer von Beweis datür aufzudecken, daB Holland, als ein von Deutschland im Laufe der Geschichte abgetrenntes Land, schheBlich nur für Deutschland gearbeitet haben sollte. Nein, Nothomb ist es um „ 1'acharnement" Hollands gegen Belgien zu tun. Wahrend seiner ganzen Geschichte ist nach ihm Holland darauf ausgewesen, Belgien zu unterdrücken, und hat es ihm gegenüber eine zwar wenig sympathische, aber auBerordentlich geschickte Grenzpolitik getrieben. Selbst ein Hollander, der ja nicht gewöhnt ist, in seinem Vaterlande Lobgesange über dessen Auslandpolitik zu hören, schaut erstaunt auf, wenn er Nothomb deklamieren hört: „Nulle ne révèle plus de réalisme dans 1'ambition, plus de continuité dans la préparation, plus d'opiniatreté dans 1'exécution, plus de maitrise dans la passion. Ceux qui 1'ignorent ne savent pas ce que peut le géhie silencieux, obstiné et patiënt d'un petit peuple. Voir clairement ce que 1'on veut, économiser savamment ses forces, se servir de ses ennemis, dompter sqs voisins sans les détruire, négtiger le détail pour 1'essentiel, refuser d'être plus grand pour être plus fort, attendre longtemps pour avoir sürement, se contenter du nécessaire, obtenir peu, maintenir ferme, ne céder jamais k 1'utopie, aux mirages ni au sentinent, se garder de tout idéal contraire k son intérêt; méthode habile et sage sinon toujours sympathique." Man ist fürs erste geneigt, sich durch soviel Lob sehr geschmeichelt zu fühlen. Wer hört nicht gerne über seine Vorfahren ein so günstiges in Holland erscheinenden belgischen Zeitung1!,, 1'Echo beige" polemisierte General De Bas gegen Nothomb. Siehe Piérard, a. a. O. S. 148 ff. 239 Urteil? Aber wir Hollander sind nun einmal vorsicbtige Leute und fragen vor allem nach den Beweisen. Da finden wir sie denn in einer völlig verdrehten, zudem mit bissigen Bemerkungen reichlich bespickten Darstellung unserer Geschichte, soweit sie unsere Beziehungen zu Belgien angeht, und — weisen das uns auf solche Weise dargebrachte Lob ganz energisch ab. Schon im spateren Mittelalter sollen die Seelander sich auf dem linken Scheldeufer festgesetzt haben, um durch „leurs travaux d'endiguement malveikant" zum Verfall von Brugge und Damme beizutragen. Der Aufstand der Hollander 'und Seelander gegen Spanien wird völlig zu einem Kampfe erniedrigt, durch den Antwerpen, die blühende Stadt an der Schelde, zum Vorteil Amsterdams und der seelandischen Kaufleute zurückgedrangt werden sollte. Bein eigensüchtige Absichten waren es nach Nothomb, welche die Aufstandischen beseelte. Nachdem sie gesiegt hatten, unterdrückten sie Belgien fortwahrend, indem sie den Verkehr auf der Schelde sperrten und durch andere MaBnahmen, zu denen sie infolge ihrer Machtposition in der Lage waren. Wahrend des Aufstandes hatten sie einen Teil der südlichen Niederlande besetzt, die sie nun behielten und als unterworfenes Land behandelten. Erst die Franzosenzeit und Napoleon brachten die Rettung: Dér Verkehr auf der Schelde wurde freigegeben, und die Belgien weggenommenen Landesteile Holland entzogan. Napoleon gab so Belgien seine natürlichen Grenzen, ja noch mehr als das zurück. Aber er lieB die Zukunft Hollands auBer acht. Er hatte es nach Osten bedeutend vergröfiern sollen. Dann hatte er aus ihm einen treuen Bundesgenossen gemacht, da der innerste Lebenstrieb des hollandischen Volkes eigentlich östlich gerichtet sei! Ware Holland an Stelle Spaniens im 16. Jahrhundert die GroBmacht gewesen, dann hatten sich die Hollander anders orientiert und hatten die Mündungen der Ems und Weser abgeschlossen und Bremen Antwerpens Schicksal bereüet (sic!). Wenn nun Napoleon den Hollander n den richtigen Dreh gegeben batte, so waren 1815 und 1830 ausgeblieben. Sie würden dann, ebenso wie Belgien, innerhalb seiner natürlichen Grenzen, ihrer natürbchen Sendung gefolgt sein gegen den gemeinsamen Feind, der nicht mehr im Süden stand, sondern sich im Osten erhob, „menacant, formidable et lourd". Nun wird es deutlich, worauf Nothomb hinzielt: Napoleons Fehler muB korrigiert werden. Belgien mufi seine natürlichen Grenzen zurückbekommen und Holland darf dafür einen Teil Deutschlands annektieren — ein Tauschgedanke, der in der Litefatur über diese Frage mehr als einmal auftauchte. Ich habe nicht die Absicht, die „historischen" Auseinandersetzungen Nothombs hier zu widerlegen 1). Sie sprechen so laut gegen sich selbst, J) Das habe ich im Nieuwe Courant vom 4. und 5. September 1916 getan. 210 «*ur uiu ua8 uuernussig eracneint. Uie Frage, um die sich hier alles dreht »8t folgendé: Gewisse Teile der früheren südlichen Niederlande sind zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert auf völlig rechtmatige Weise, namlich auf «rund der Vertrage von 1648, 1713 und 18:59, an den hollandischen btaat gekommim. Es sind dies Seelandisch - Flandern, Nordbrabant und Limburg. So ist die Schelde teilweise ein hollandischer Strom geworden und hat Hollands Gebiet im Südosten seine heutige weit vorspringende Form bekommen. Die jetzigen Verhaltnisse sind also ein Produkt histomcher Entwicklung, die ihrerseits wieder aus einer ganzen Anzahl von Faktoren resultiert. Die Bévölkerung jener Gebietsteile ist heute ohne Zweifel hollandisch gesinnt, auch in Limburg, wo 1839 noch hier und da starke belgische Sympathien herrschten, ein deutlicher Beweis für die Eesorptionskraft und das Anpassungsvermögen des hollandischen Staates Die Schelde ist für den Handelsverkehr völlig frei, und die Belgier geniefien innerhalb dieses hollandischen Hoheitsgewassers gewisse Rechte *) Zweifellos erinnert dieser Zustand an die Zeit, als HoUand in Europa eme überragende Stellung einnahm. Denn damals formten sich die Vérhaltnisse zu ihrer jetzigen Gestalt. Das ist für viele Belgier eine harte NuB. Sie können sich an die historisch nun einmal gegebene Situation nicht gewöhnen und versuchen sie zu andern, wobei ihnen jedes Mittel recht ist. Am liebsten würden sie die Rollen einfach tauschen. In dem Tief land an der Nordsee, wo wahrend des Mittelalters die südkchen Gebiete, mehr blühten, wo im 17. und 18. Jahrhundert die nördlichen Gegenden den wichtigsten Platz einnahmen, und wo nach der kurzen Vereinigung beider Teile, die nach dem Sturze Napoleons zustande gekommen war, seit 1830 beide Teile unter so ziemlich den gleichen Ëntwicklungsl>edingungen nebeneinander existieren konnten, da wollten die Belgier nun den südlichen Gebieten die gröBere Macht verschaffen. Das wird deutkch m „La Belgique de demain" von Eugène Baie ausgesprochen, einer der ersten Schriften der belgischen Annexionisten, die wahrend des Krieges erschienen ist2) und worin, kurz zusammengefafit, dasselbe dargelegt Wird Wie in „La Bejgique au tournant de son histoire" und den historischen Schriften von Nothomb. Baie entwickelt folgendes: Da HoUand sich vom Kriege fernhalt — nach seiner Ansicht war es morahsch verpflichtet, sich an ihm zu beteiligen —, muB Belgien die Lasten der Verteidigung gegen die feindliche eroberungssüchtige GroBmacht allein tragen: „II n'en sera que plus fort-pour réclamer dans 1'Europe nouvelle une place en regard avec ses lourdes obligations." Es braucht jedoch soweit nicht zu kommen. Die Hollander („nos excellents voisins des Pays-Bas'0 müssen sich eben davon Rechenschaft geben, daB ihre Haltung in den :*) In einem spateren Abschnitt werde ich Gelegenheit haben, darauf naher einzugenen. *) Paris, Librairie Perrin & Co., 1916. 16 Japikse, Holland 241 Kanzleien Europas („au sein des chancelleries") bei weitem nicht einstimmig gebilligt wird. Es wird dann an die Schelde erinnert, an das unbefestigte Venlo und Roermond, wahrend andrerseits die ganze Defensivkraft („tout l'effort défensif") auf Vlissingen konzentriert gewesen sei, natürlich auf geheime Anweisung von deutscher Seite. Aber das Versaumte kann noch gutgemacht werden. Trotz des MiBkngens der Besprechungen von 1906 und spater, durch Hollands Schuld, hatten wir Hollands Eingreifen im August 1914 ganz bestimmt erwartet. Wir erwarten es noch („nous Tattendons encore"). Die beiden Zwilkngsnationen hatten 1914, eng verbunden, eine Barrière, „issue du viril hymen de |eurs volontés", aufwerfen und das Ungewitter vielleicht von der Maas fernhalten können. Auck nun nock kann das hollandische Volk das Wort sprechen: „qui force Pavenir, ouvre les horizons, honore k jamais" und wird das sicher tun. Es wird nicht in die Vergessenheit versinken wollen und eine Vergangenbeit vok Ruhm, seine historische Sendung, seine traditionelle Politik und seine Brüder verraten woken. Dann heiBt es drohend: „Aber wenn ich mich irre (,me trompé-je'), dann wird Europa aus der neuen Lage, die für seine und Belgiens Sicherheit nötigen Folgerungen zu ziehen wissen." Etwas weniger dithyrambisch lauft die Erörterung dann auf dasselbe hinaus, wie die der anderen Annexionisten. Sie ist eigentlich für den Eingeweihten noch verstandlicher, und um ihrer schlecht verhehlten Ironie wiken wirkt sie beinahe noch unangenehmer. In Holland machte man sich anfSnglich wenig aus der Schreiberei der belgischen Annexionisten. Einzelne Zeitungen lenkten so im Vorübergehen die Aufmerksamkeit des Publikums auf sie und widmeten ihr zuweilen einmal einen kleinen Artikel. Nachdrücklich und warnend tat dies nur der „Nieuwe Courant", ohne damit aber viel BeifaU zu finden. Die öffentliche Meinung zeigte sich keineswegs beunruhigt. Man hielt eben die Warnungen für arg übertrieben und glaubte, es sei das beste, nicht viel Notiz davon zu nehmen. Man schien sich in diesem Falie geradezu an die Devise zu halten: „Ne pas en parler." Dann würden die paar annexionistiscben Schreier, die doch nicht den geringsten EinfluB besafien, von selbst verstummen. Diese Auffassung beweist wieder einmal, daB man in HoUand die Entwicklung Belgiens seit 1830 sehr schlecht kannte und ihr Wesen nicht hegriff. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, wie sehr man in Holland Pirenne, dessen „Histoire de Belgique" übrigens sehr bedeutende wissenschaftkche Qualitaten besitzt, schatzte und verehrte. Pirenne wurde tatsachlich bei uns sehr hoch gesch&tzt und fand ebenso wie der Flame Paul Fredericq viele Freunde. Man vermutete nicht im geringsten, eu welchen Schlufifolgerungen Pirennes Begriff der belgischen Nation führen oder. doch beitragen soUte. Gerade die warme Sympathie für einen Mann 242 wie Pirenne, die sich sehr deutlich auBerte, als die deutsche Verwaltung Belgiens ihn nach Deutschland verbannte, hat das Verstandnis für die wirkliche Gefahr der annexionistischen Treibereien mit verhindert, ebenso wie die allgemeine Sympathie für Belgiens Leiden im Kriege. Zudem war es auch gar nicht leicht, sich eine VorsteUung über die Krafte zu bilden, über welche die Phalanx des „XX9 Siècle" eigentlich verfügte. Die Flamen, Aktiyisten so gut wie Passivisten, wiesen jegliche Verantwortlichkeit fur ihre AuBerungen von sich. Auch aus belgischen Regierungskreisen wurden Stimmen laut, die sich in ablehnendem Sinne über die Annexionisten aufierten. K. Huysmans, der bekannte Sekretar der Internationale, einer der einfluBreichsten belgischen Sozialisten, erklarte einem Korrespondenten des „Nieuwe Courant"1) unter anderm: „Kürzlich habe ich mit führenden Persönlicbkeiten aus belgischen Regierungskreisen gesprochen. Ich kann versichern, dafi in offiziellen Kreisen nicht die geringste Absicht auf irgendwelche Annexionsplane im allgemeinen und noch weniger auf Annexion irgendwelcher hollandischer Gebietsteile besteht. Es ist mir sogar bekannt, dafi, wenn in anderen Ententekreisen von derartiger Annexionslust je etwas zum Durchbruch kame, die sozialistischen Minister Belgiens zurücktreten würden." Die belgische Regierung in Havre lieB zu Anfang 1916 mitteilen, sie habe ebensowenig wie die englische und französische Regierung je eine Bewegung oder Plane begünstigt oder unterstützt, die von Holland Gebietsteile fordern oder erzwingen wolle. Spater hat sie eine ahnliche Erklarung gegenüber der hollandischen Regierung in offizieller Form wiederholt. Der hollandische Aufienminister machte darüber in Antwort auf eine diesbezügkche Frage in der Kammer in folgenden Worten Mitteilung 2) : „Der belgische Minister des Auswartigen hat mit Zustimmung seiner Kollegen seinen diesbezüglichen Standpunkt dem hollandischen Gesandten in Havre schriftkch mitgeteilt und erklart, er zögere nicht, gleichzeitig mit dem Wunsche, die Beziehungen zwischen Holland und Belgien mochten fortwahrend den Stempel des Vertrauens und der Freundschaft tragen, seine Versicherung zu wiederholen, dafi die belgische Regierung alle Treibereien, die die Antastung der Integritat hollandischen Gebietes zum Ziel batten, aufs scharfste ablehne." Was konnte man mehr verlangen? Minister Loudon war nun völlig berechtigt, bei der Behandlung seines Budgets in der zweiten Kammer im Januar 1917 zu erklaren, daB seiner Meinung nach die belgische Regierung allen Annexionsgedanken völbg fernstehe 8). Es berührte auBerdem angenehm, dafi die Redaktion des „XX« Siècle" auf Veranlassung der belgi- *) 2. September 1916, Abendausgabe. ") Nieuwe Kotterdamsche Courant, vom 9. Januar 1916, Morgenausgabe B. 8) Sitzungsberichte der zweiten Kammer der Generalstaaten vom 25. Januar 1917 16* 243 sehen Regierung von Havre nach Paris verlegt wurde. Die AuBerungen teAiïïSLten sehienen aueh etwas gemaBigter zu werden. Nur^konnte man wieder irre werden dureh die Tatsache, daB an der^ für den Annexionismus eifrig Propaganda gemacht wurde. Nohomb hatte dafür sogar einen „Petit catéchisme national'< zusammengestellt. Warum wandte sich die Regierung in Havre nicht dagegen? Lebten in ihrem Ssen vielleicht doch noch stille ^^A\%A^TmSi dem bei BrocqueviUe, dem damaligen Premier, oder bei Carton de Wiart, dem llZSter, oder bei Paul Hymans, welcher ^ Baron Beyensvertreten batte, als AuBenmimster getolgt war." tlier fas ete mTn schUlich doch halb oder ganz im Dunkeln. Die weitere Entwicklung hat dann jenen, die sich über den Annexionismus nicht beberuhigen wollten, recht gegeben. „Ye d^-i-w „lir Noch unklarer ist das Verhaltnis der Herren vom „XX* Siècle zur französischen Regierung und ihre Beziehungen « fi»»^» J7™cTe~. und -Politikerkreisen. Eine so angesehene Zeitschnft wie Le Lorre spondant" gewahrte sehr tendenziösen Artikeln uber Holland Aufoahme, und eine so wichtige Zeitschrift wie die „Revue Historique" widmete dem obengenannten Wefke Nothombs freundliche Worte war jedoch auch geJecht genug, sofort auf meine Kritik an Nothomb aufmerksam zu machen Groln Antng besaBen die belgischen Annexionisten dama s in BJnfa^ V sicher noch nicht3), und ich ware zu .der Annahme geneigt daB sie auf Jahres 1917 nicht so hartnackige Gerüchte im Umlauf gewesen, die das Gegenteü doch nicht so völlig unwahrscheinbch machten. Ich meine bier natürlich die Geruchte, welche seit August 1917 m der hollandischen Presse zirkulierten, wonach bei den^französiscli-russischen Abmachungen vom Beginn dieses Jahres, über die damals von deutscher feite die eesten überraschenden Mitteilungen gemacht worden waren, auch hoLdische Interessen auf dem Spiele gestanden Mitteilung des Berliner Korrespondenten des Nieuwe Rotterdamsche Cou rant" der RuBland besucht und dort von der Sache gehort hatte Die Geruchte nahmen allmahlich eine ernstere Form an. Die Amsterdamer ZeiCg „Het Nieuws van den Dag" zeigte sich im November uber sie sehr beunruhigt, und der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" ubernahm am 9 Noveml*Ê AuBerungen des „Nieuws van den Dag" und unterstnch sie noch. Die französisch - russische Ubereinkunft sokte sich sogar weiter ») Beyens galt als Gegner der Annexionisten. Nieuwe Rotterdamsche Courrant vom 9. Nov. 1917. 3 Im^Meïc'^Fr^^ï Rliïïw" -rden die Ahsichten der A»driDnisten iJ^nd her^gehoben und auBerhalb Frankreichs tat dasselbe dle sehr ententefreundliche „Gazette de Lausanne". $Sfji 244 als auf hollandisches Gebiet in Europa erstreckt haben. Gegenüber einem offiziös aussehenden französischen Dementi hielt der „ Nieuwe Rotterdamsche "Courant" (11. November) seine Behauptungen sehr deutkch aufrecht, ohne sich jedoch in weitere Diskussionen einlassen zu wollen. Auch das sozialistische Hauptorgan „Het Volk" erklarte, es halte das französische Dementi nicht fiir genügend J), und schrieb, die französisch - russische Ubereinkunft habe sehr wohl Bestimmungen zum Nachteile Hollands und zu Belgiens Vorteil enthalten. Der Gewahrsmann für diese Meldung habe sein Wissen nicht aus deutscher Quelle geschöpft, fügte das Blatt hinzu. Es gehort nicht viel Einbildungskraft dazu, um zu erraten, dafi er sie auf der internationalen Sozialistenkonferenz in Stockholm gehort hatte. Es ist wahrhaftig kein Wunder, dafi man gegenüber dem französischen Dementi etwas skeptisch gestimmt blieb. Die Art und Weise, wie sowohl im englischen als auch im französischen Farlament Anfragen über das Wesen der französisch - russischen Abmachungen beantwortet wurden, war ausweichend oder leugnend und konnte deshalb nicht beruhigend wirken. Man kam jedoch nicht dahinter, inwieweit und wie hollandische Interessen berührt worden waren, obwohl man mit Sicherheit vermuten konnte, dafi, wenn Hollands Interessen in Frage standen, sie im Sinne der belgischen Annexionisten bedroht waren. Handelte es sich doch bei dem russischfranzösischen Abkommen letzten Endes darum, das knksrheinische Gebiet jedem deutschen Einflufi zu entziehen und den Rhein in seiner ganzen? Lange zum Grenzstrom zu machen. Lag es da nicht ganz in der Linie des Gewollten, den belgischen Wünschen entgegenzukommen und dafür, dann Holland mit irgendeinem Stück westdeutscben Gebietes zu entschadigen ?2). Es mufi jedoch nachdrücklich festgestellt werden, dafi in den von der bolschewistischen Regierung Ende 1917 publizierten Veröffentkchungen über die Abmachungen zwischen den Ententemachten mit keinem Worte Belgiens oder Hollands gedacht wird 3), weder in der Verabredung zwischen Frankreich und Rufiland vom Februar 1917 über das Rheingebiet, noch in irgendeiner anderen. Das argumentum ex.silentio, das sich hieraus ergibt, vermag uns jedoch gegenüber all den eindrucksvollen Gerüchten nicht voll und ganz davon zu überzeugen, dafi absolut keine Bedrohung des hollandischen Landbesitzes bestanden habe. Das gilt auch für unsere Koloniën. Die oben zitierte diesbezügliche x) Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 16. November 1917, Morgenausgabe B. 2) Nach naheren Mitteilungen des Berliner Korrespondenten des Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 22. Februar 1919, Abendblatt D, sollten die belgischen Annexionisten nicht über die geheimen Abmachungen unterrichtet worden sein, weil man vor ihnen geheim halten wollte, dafi Luxemburg Frankreich versprochen war. 3) Sie sind gesammelt in „Geheime Diplomatie" von Dr. Am. B. Bamson. . Amsterdam, W. ten Have, 1919. 245 Andeutung des „Nieuwe Rotterdamsche Courant" wurde einigermaBen bestatigt durch folgende der russischen „Iswestia" entlehnte Nachricht1): , „Aus der Korrespondenz zwischen Japan und seinen Bundesgenossen aus den Jahren 1915 und 1916 geht hervor, dafi Japan seit Jahren nicht nur nach Ausdehnung seines Einflusses in China und Sibirien, sondern auch auf den Insein des Stillen Ozeans und den südchinesischen Gewassen! gestrebt hat. „Die von uns aus dem Geheimarchiv des damaligen Ministers des Auswartigen hervorgezogenen Berichte beweisen, daB die Entente — ,und zu ihr gehorte auch RuBland — Japan, um es zur aktiven Teilnahme am Kriege zu bewegen, sogar Belohnung durch hollandisches Gebiet — natürlich óhne Wissen Hollands — angeboten hat, namkch die hollandischen Koloniën Borneo, Java und Celebes." Japans IJegehrlichkeit nach noch anderen Objekten, namlich nach den amerikanischen Insein und der englischen EinfluBsphare in Südchina, sokten jedoch die Unterhandlungen haben scheitern lassen. Einige Tage spater verbreitete Reuter eine offizielle Mitteilung, derzufolge nicht der geringste Grund für die Behauptung bestehe, daB die Entente jemals Japan' eine derartige Kompensation für seine Teilnahme am Kriege vorgeschlagen habe. Diese Behauptung, so hieB es, ist so lacherlich, daB sie keiner Widerlegung bedarf2). Aber der arglose Leser fragt sich, ob denn dieses Dementi die ganze Behauptung deckt! Ich bringe hier diese Dinge nur der Vbllstandigkeit halber und ohne ihnen allzu groBen Wert beizumessens) zur Sprache. Gleichzeitig ware in diesem Zusammenhang noch mit einigen Worten an das Geschreibe eines jipanischen Staatsmannes und Journalisten von einigem Ruf, namens Takekoshi Yosaburo zu erinnern, der tatsachlich' in seinem Heimatlande für eine Ausdehnung der japanischen EinfluBsphare auf Hollandisch-Indien eintritt und das auch wahrend des Krieges öffentlich getan hat. Es scheint jedoch, als ob seinen publizistischen Bemühungen nicht .allzu viel Bedeutung beizumessen ware und man - sich darüber keine grauen Haare wacksen zu lassen brauchte. Man darf es auch als erfreulich bezeichnen, daB sich 1918 eine Kommission gebildet hat4), die eine Abteilung der „Vereinigung *) Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 26. Juli 1918, Abendausgabe C, und Vossi'che Zeitung vom 25. Juli 1918, Abendausgabe. *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 28. Juli 1918, Morgenblatt B. Auch die japanische Gesandtschaft im Haag lieB die Meldung dementieren. Gleiches Blatt vom li August 1918, Morgenblatt B. *) Spater wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, Deutschland habe Japan mit der Eröffnung von Aussichten auf hollandisch-indisches Gebiet verlocken wollen! Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 4. Juli, 1919, Abendblatt C. . *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 1. MSrz 1918, Abendausgabe C. Sehr verstandig auBert sich über diese Angelegenheiten Roeper Bosch in einem Artikel im „Gids" von 1916, Teil III. 246 BrasmHslffl zur Verbreitung der Bekanntheit mit Holland im Auslande" darstellt und sich zum Ziel setzt, die gegenseitige Wertschatzung des japanischen Volkes einerseits und des hollandischen Volkes und der Bewohner des hollandischindischen Archipels anderseits zu fordern. Was kapn auch fbrderlicher sein, feindliche Stimmungen von Vólkern gegeneinander zu verhindern als eine gründliche gegenseitige Kenntnis zu fordern und auf dieser Basis die gegenseitige Wertschatzung aufzubauen? Doch genug von den Geruchten, denen zufolge die in Ententekreisen gegenüber' Holland herrschende schlechte Stimmung böse Wirkungen zu zeitigen gedroht haben soll. Mag auch in Verabredungen oder Übereinkünften nirgendwo etwas über die Besprechungen festgelegt worden sein, deren nicht eben wohlwoUend betrachtetes Objekt Holland doch auf jeden Fall gewesen zu sein scheint, die sehr bedenklicke Seite für HoUand an der ganzen Sache lag bereits darin, daB in leitenden Ententekreisen Plane über die Verschacherung hollandischen Gebietes ventUiert worden sein sollten. Wir dürfen indessen nicht versaumen, neben die von sehr unfreundlichen Gesinnungen zeugenden AuBerungen von belgischer Seite auch andere zu stellen,, die von Sympathie zeugen. Denn an ihnen fehlte es ebenfalls nicht. Man darf sie jedoch nur bei den Flamen suchen und zudem sind sie, was die Warme angeht, sehr verschieden, ein Umstand, der mit der groBen Uneinigkeit zusammenhangt, welche sich wahrend des Krieges im Lager der Flamen offenbarte. ϧN^P lm allgemeinen zeigte sich bei den Flamen, die wahrend des Krieges nach Holland geflüchtet waren, guter WUle, den hollandischen Volkscharakter richtig einzuschatzen. Man fühlte oder bemerkte besser als bisher die völkischen Verschiedenheiten, erkannte die eigenen Mangel bei den Flamen, ebenso, wie ihrerseits die Hollander in flamischer Geséllscbaft ihre Fehler, z. B. ihren Mangel- an Lebhaftigkeit und ihre groBe Steifheit, bemerkten. „Uns", so schreibt ein flamischer Flüchtüng x), „möchte ich die hollandische Soliditat wünschen. Wir Flamen, deren Element bei grofiem Anpassungsvermögen eine starke Spontaneitat ist, sind deshalb auch oft nachlassiger beim organisatorischen Aufbau ideelier Plane, Absichten und Bestrebungen. Es fehlt uns an Korrektheit, und wir sind nicht immer genügend vorbereitet. Wir sind romantisch gesonnen, ohne dabei stets die entsprechende, kraftige Willensfundierung zu besitzen. Wir beginnen rascher und impulsiver als die Hollander mit bedeutenden Arbeiten, aber wir sind nicht immer unserer Idee gewachsen und formsicher. Wir bekennen uns plötzlicher zu kühnen Idealen, erreichen jedoch 'nicht immer voU und ganz unsere Absicht. Wir traumen mehr1 von groBen Taten als daB wir sie ausführten, wir sind Poëten und Gefühlsmenschen." *) Karei van den Oever, Hollandsch-Belgische Toenadering, een verklaring aan Nederland. (Ohne Erscheinungsort und Datum. Letzteres ist das Jahr 1917.) 247 Das Bekanntwerden und Zusammenleben von Flamen und Hollandern hat Freundscbaftsbande geknüpft und das Zusammengehörigkeitsgéfuhl verstarkt. Was Holland für die Flüchtlinge getan bat, wurde von seiten der Flamen dankbar anerkannt. Sie waren deutlich der Meinung, daB dié offizielle Dankesbezeugung der belgischen Regierung fdr*> die den Flücht- , lingen bezeugte „edle Gastfreundschaft"1) etwas sehr spat gekommen sei. Bei ihnen finden sich auch AuBerungen dér Anerkennung für die-Tatsache, daB die hollandische Regierung anlaBlich der Deportationen belgischer Einwohner durch die deutsche Militarverwaltung nach Deutschland für jene eingetreten ist. Unsere Regierung hatte dabei eine Handhabe an der Ende 1914 den belgischen Flüchtlingen gernachten Zusage, denen für den FaU ihrer Rückkehr versprochen worden war, sie würden nicht gegen ihr eigenes Vaterland gebraucht, und glaubte deshalb, die deutsche Regierung darauf hinweisen zu dürfen, daB dieses Versprechen gebrochen werde, wenn jene Flüchtlinge nach ihrer Rückkehr in Deutschland oder sonst irgendwo für militarische oder andere Zwecke beschaftigt würden. Die deutsche Regierung hat diesen Einwanden gegenüber eine entgegenkommende Haltung eingenommen und versprochen, die Rückkehr jenër Leute nach ihren Wohnsitzen zu befördern 2). Was auBerdem von hollandischer Seite getan worden ist zur Unterstützung des Hilfswerkes der bekannten amerikanischen Reliëf kommission, das nach dem Eintreten Amerikas in den Krieg unter der Leitung von anderen Neutralen, darunter Hollandern, fortgesetzt wurde, und das in so hohem MaBe dazu beigetragen hat, die Lebensmittelversorgung des belgischen Volkes wenigstens einigermaBen zu sichern, hat auch wieder besonders bei den Flamen dankbare Anerkennung gefunden. Jedock bat és den Anschein, als ob die geistige Annaherung von Flamen und Hollandern wahrend der Kriegszeit keine direkten praktischen Resultate auslösen wolle, wenigstens keine von gröBerer Bedeutung. Bei Beurteilung dieser Erscheinung muB man vor allem in Erwagung ziehen, daB unter den Flamen sehr viel Meinungsverschiedenheiten, ja starke Uneinigkeit, herrschten, und daB die Hollander schon deshalb wenig Lust haben muBten, sich mit der flamischen Bewegung als solcher weiter einzulassen. Man hatte vor dem Kriege im allgehoeinen in Holland nicht viel Vertrauen zu ihr und, abgesehen von einigen wenigen Gelehrten, auch ein sehr geringes Interesse für sie. Ich habe dieNFlamen oft seufzen hören: Ach, ihr Hollander kennt unsere Bewegung nicht, ihr habt keinen Begriff von ihr. Ganz richtig, war ich geneigt zu antworten, aber ihr macht uns das auch ganz besonders schwer, denn das Ziel eurer Bewegung kommt *) Schreiben des belgischen Gesandten an Loudon vom 1. Januar 1916. Vgl. Piérard, a. a. O. S. 125. s s) Vgl. darüber u. a. die Sitzungsberichte der hollandischen zweiten Kammer vom 24. und 25. Januar 1917. 248 uns trotz allerlei Programmen recht wenig deutlich umschrieben vor. Und nun wahrend des Krieges wird es mir nur noch unfaBkcher. Es kann nicht meine Absicht sein, hier eine wenn auch noch so obèrflachliche Geschichte der flamischen Bewegung zu entwerfen. Sie gehort nicht hierher, aber' zum richtigen Verstandnis der ganzen hier behandelten Fragen mufi ich doch bemerken, dafi sie wahrend des Krieges eine grofie Wandlung durchgemacht, oder besser gesagt, sich erst in ihrer vielseitigen Bedeutsamkeit starker geoffenbart hat. Sie war vor dem Kriege, wenigstens ihren Aufierungen nach, in der Hauptsache kultureller Natur: sie arbeitete an der Starkung des flamischen KulturbewuBtseins. Wahrend des Krieges bekam sie nun sehr deutlich einen wirtschaftlichen, besonders aber pojitischen, selbst weltpolitischen Zug 1). Das kommt vor allem auf Rechnung jener Flamen, die den Namen Aktivisten erhalten haben. Es sind jene, die auch wahrend der deutschen Besetzung den Kampf für die früher von der belgischen Regierung nur zögernd und widerwillig und nur teilweise anerkannten Rechte der Flamen fortsetzen, ja gerade nun die Gelegenheit benützen wollten, um mit Hilfe der Deutschen diesen Rechten in Belgien zur Anerkennung zu verhelfen. Für sie war Flandern in erster Linie das Vaterland. Zur Erweckung des flamischen Stammesbewufitseins haben sie sicher viel beigetragen. Der Gegensatz zwischen Aktivisten und Passivisten — die letzteren wokten wahrend des Krieges die inneren Gegensatze ruhen lassen — pflanzte sich natürlich auBerhalb der Grenzen des deutschen Generalgouvernements Belgien fort und machte sich eigentlich erst in Holland richtig geltend. Denn in Belgien genossen die Aktivisten zwar nicht sofort, aber doch sehr bald deutschen Schutz, wurden ihre Auffassungen propagiert und ihre Wünsche — es offenbarten sich bei ihnen grofie Meinungsverscbiedenheiten über die Grenze, bis zu der man geben müsse — teilweise verwirklicht, wahrend die Aufierungen ihrer Gegner— sicher dieübergroBeMehrheitderBevöTlïerung, auch der Flamen selbst— unterdrückt wurden. In Holland konnten beide sich frei auBern. Der hervorragendste Vertreter der Passivisten war Franz van Cauweiaart, Redakteur der wahrend des Krieges in Holland erscheinenden Zeitung „Vrij België". Ihn und Julius Hoste kann man beinahe als die offiziösen Vertreter des flamischen Passivismus in Holland betrachten. > Der erstere hat auch mit der Regierung in Havre in engen Beziehungen gestanden. Als Hauptvertreter der Aktivisten muB man den jugendbchen Leo Picard betrachten, der schon zu Beginn der deutschen Besetzung den Kampf für die Flamen in Belgien begonnen hatte und ihn spater in Holland fortsetzte. Er gab in Holland die Zeitschrift „Vlaamsche Gedachte" *) Eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Linien der Entwicklung der flamischen Bewegung'findet sich in Nederlandsehe Gedachten, II: De internationale beteekenis der Vlaamsche beweging door G. Gossaert (Utrecht, C. J. A. Ruys, 1919), besonders S. 17, Anm. 1. Gossaert ist ein Pseudonym für Gerretson. 249 heraus und z'eigte sich im Laufe der Zeit als ein gemaB.gter Aktivist, der sich keinen Erfolg von den extremsten Richtungen versprach, welcke sogar die Gründung eines selbstandigen flamischen Zwergstaates erstrebten. Aktivisten sowohl wie Passivisten suchten die Unterstützung des hollandiscken Volkes zu gewinnen, allerdings auf verscbedene Weise Van Cauwelaart war der Vorkampfer einer politischen und zugleich kultarellen Annahferung beider Lander. Er begriff sehr wohl daB die flamische Bewegung infolge des Krieges viel starker geworden war und sich nacb. dein Krieg voraussichtlich kraftiger geltend machen müsse. Dafur suchte èr Hollands Unterstützung jedoch nicht, da er die Lösung der flamischen Frage als eine innerbelgische Angelegenheit betrachtete. Aber er fuhlte, daB die Sache der Flamen gestarkt werden würde wenn die belgische AuBenpolitik sich, nach Norden orientieren würde. Ganz natürlich muBte er .wenn die Interessen der Flamen ihm tatsachlich zu Herzen gingen, ein Gegner eines allzu engen Anschlusses an Frankreich und ebenso des Annexionismus sein, den er verurteilte, aber in seiner Bedeutung unterschatzte. Die Aktivisten, welche im Grunde eine Auflosung des zentralistischen Einheitsstaates Belgien in seiner seit 1830 entwickelten Form erstrebten, wenn auch in verschiedener Weise, waren viel mehr auf hollandische Hilfe und Sympathie angewiesen. Ihre Auslandpohtik, wie sie sie sich dachten, muBte sich völlig auf Holland stützen ja war eigentlich ohne Holland nicht denkbar, wenn sie nicht ausschhefihch in deutschern Fabrwasser segeln wokte. „SchlieBkch dürfen wir nie vergessen, daB jede Neuregelung der internationalen Verhaltnisse Westeuropas, dte Hollands Position schwachen würde, unsere eigene flamische Zukunft erschweren müfite. Eine Grundbedingung für Flanderns kulturelles Wiederauf bluhen ist das Gedeihen Hollands" sagt der „Vlaamsche Gedachte" Sehr scharf verurteiltèn die Aktivisten die annexionistischen Treibereien und benutzten deren schriftkche AuBerungen als Propagandamittel für sich selbst m Hol- laild Die Stimmung in Holland war entschieden mehr zugunsten der Passivisten als der Aktivisten, und der reprasentativste Teil des hollandischen Volkes steht naher bei den Passivisten. Mit ihnen wurden, besonders auf wissenschaftlichem und literarischem Gebiet, die bedeutendsten Beziehungen angeknüpft. Ihre Anschauungen fanden im „Gids ,_einer der wichtigsten hollandischen Zeitschriften»), Aufnahme, und ein Redakteur dieser Zeitschrift, Dr. H. T. Colenbrander, vertrat in einem besonders zu diesem Zwecke geschriebenen Artikel Ansichten, welche denen der Passi- l) Nr. 1, 5. April 1916. / ' ») Das obea S. 236 genannte Werk: „Het Belgisch Annexiomsme een gevaar ' voor Nederland ", stamtnt ohne Zweifel aus den Kreisen der Aktivisten. 8) Leo van Puyvelde, „Gids" vom Februar 1918. 25,0 visten sehr nahe kamen und eine Verurteilung des Aktivismua enthielten 1). Eines der bemerkenswertesten Symptome dieser Annaberung ist das KöniginElisabetbuch, eine Scböpfung der Literatenvereinigung, das in erster Linie zu einem hollandisch flamischen Protest gegen die Einseitigkeit warde, mit der von seiten der FranskiUions in England das König-Albertbacb zusammengestellt worden war 2). Auch die an der Universitat Utrecht eingerichteten Lehrgange fiir flamische internierte Studenten sind auf jene Annaherung zurückzufiihren. Auf politischem Gebiet hatte dieselbe jedoch ' keine fühlbaren Folgen. Die Ablehnung der Aktivisten geschah in Holland zuweilën in sehr scharfen Tönen. Ihre Verurteilung fiel um so scharfer aus, weil sie mit den doch von vielen verabscheuten Deutschen zusammen arbeiteten. / Viele, betrachteten und bezeichneten sie, ganz im Einklang mit den belgischen Ministern zu Havre, als „Hochverrater". Dabei spielte das ethische Moment eine grofie Rolle, da man es für unmoraksch hielt, vom Landesfeind Geschenke anzunekmen. Wahrend Belgien durch Deutschlands Schuld in tausend Nöteu war, wagten es eine Anzahl flamischer Belgier, die Hand auszustrecken, um ein deutsches Almosen in Empfaug zu nehmen! Das verriet doch einen bedenklicken Mangel an moraUschem Bewufitsein. Das Argument der Flamen, Flandern habe von einer Regierung mit Brüsseler Mentalitat nie etwas Gutes zu erwarten und müsse deshalb die gunstige Gelegenheit ausnützen, machte im allgemeinen keinen Eindruck, so wenig wie die Erwagung, es liege im Gang der Entwicklung,' dafi 'die Flamen auf ihrem Recht besteben blieben, und lange innere Kampfe seien deshalb unausbleiblich, aufier wenn die Anerbietungen der Deutschen angenommen würden. Man fürchtete in Holland'auch, ebenso wie in den Reihen der Passivisten, dafi der Aktivismus für die Zeit nach dem Kriege der flamischen Bewegung unberechenbaren Schaden bringen werde, wogegen die Aktivisten dann wieder einwandten, dies Argument bedeute wenig, da jeue, auf sich selbst gestellt, doch bitter wenig Aussicht auf Erfolg habe. Jedoch verurteilten nicht alle Hollander den Aktivismus. Es gab auch solche, die Sympathie für ihn hatten, entweder weil, sie die Gründe der Aktivisten billigten, oder weil sie in einer Schwachung des belgischen Staates einen Vorteil für Holland 'sahen, oder weil sie durch Zusammenarbeit mit den Aktivisten eine Starkung des niederlandischen Stammes zu erzielen hofften, wie man sieht, sehr verschiedenartige Motive, die aber darin übereinsfimmen, dafi der ethische Gesichtspunkt beiseite gesetzt wurde, unter Hinweis auf die Vorfalle in mehr - als einem slawischen Lande üsterreich-Ungarns, wo ebenfalls, und zwar unter dem Beifall der gleichen Entente völker, welche den Aktivismus so scharf verurteUten, ein Teil der *) „Gids" vom April 1916. *) Van den Oever, a. a. O. S. 99. 251 Bévölkerung mit dem Landesfeind, namkck der Entente, in ein Horn stiefi! In der Art und Weise, wie man glaubte die Aktivisten behandeln zu müssen, war man sich dann wieder nicht einig. Manche Leute, die den Aktivisten ihre Sympathien nicht vorenthielten, glaubten doch, daB von einer Begünstigung derselben keine Rede sein könne, da Holland die internen Angelegenheiten Belgiens nichts angingen. Sie standen demnach, abgesehen von ihren geheimen Sympathien, der Auffassung van Cauwelaarts und seines Kreises und seiner hollandischen Anhanger nahe. Das AuBerste, wozu sie sich verstanden, war ihre Mitwirkung bei der Gründung einer hokandischen Sektion des Vereins „Volksopbeuring", der wahrend des Krieges in Flamisch-Belgien gestiftet worden war, und zwar ausschlieBlich mit der Absicht, den materiell und moralisch schwer geprüften Flamen auf dem Wege der Wohltatigkeit zu Hilfe zu kommen. Aber selbst diese vorsichtige und bescheidene Handlungsweise zog ihnen geradezu den Fluch vieler anderer Belgier zu. Eine Anzahl derselben, aus allen politischen Parteien, hielt es sogar für angebracht, sich in einem offenen Brief an den Erzbischof von Utrecht zu wenden, der den Ehrenvorsitz der „Völksopbeuring" übernommen hatte, und sich folgendermaBen zu auBern l): , , „L'ceuvre , Volksopbeuring' est anti-beige, dans ce sens qu elle tend a semer la désunion en Belgique. Quelle idéé de secourir les Flamands k 1'exclusion des Wallons! N'est-ce pas attiser la discorde dans notre pauvre pays déjk si a plaindre? „Le fait que Votre Grandeur est Président d'honneur de la ,Volksopbeuring' est de nature k aliéner de plus en plus k la religion une foule de Beiges déjk profondément blessés par le compte rendu, évidemment ïnfidèle, de 1'interview qu'EUe a accordée jadis k un journaliste allemand. „Nous sommes convaincu que les promoteurs de la ,Volksopbeurmg' ont surpris votre.bonne foi. Votre Grandeur est invitée souvent k autoriser de son nom quelque ceuvre de charité. Comment un évêque s'y refuserait-il et comment y regarderait-il de bien prés? C'est ce qui explique sans doute votre adhésion k l'entreprise dont l'immense majorité des Beiges se plaint k si juste titre. Nous osons espérer, que mieux in• formé k son sujet, le Primat de Hollande ne voudra pas sé prêter a une manoeuvre aussi dommageable aux intéréts cathokques qu'k la cause belgè eüe-même." . . , Eine relativ kleine Minderkeit' der Hollander nakm den Aktiviéten gegenüber keine so reservierte Haltung ein. Als 1916 das deutsche Generalgouvernement Belgien beschlofi, die Genter Hochschule in eine flamische umzuwandeln, entsprechend dem schon vor dem Krieg geauBerten Wunsche vieler Flamen, und das ganze ProfessorenkoUegium mit einer *) Piérard, a. a. O. S. 137. 252 einzigen Ausnahme sich weigerte dabei mitzuwirken, so dafi die Ernennung einer Anzahl neuer Hochschullebrer nötig wurde, wurden einige Hollander eingeladen, sich dafdr zur Verfügung zu stellen. Die meisten antworteten ablehnend, einzelne nahmen jedoch an und haben an der flamischen Hochschule wahrend ihres kurzen Bestehens doziert. Diese Handlungsweise wurde in Holland aufs scharfste verurteilt, um so mehr, als man vermutete, dafi Pirenne und Fredericq gerade wegen ihres Widerstandes gegen die Verflamung der Genter Hochscbule nach Deutschland deportiert worden seien. Und da gingen nun Hollander hin und nahmen die Platze so allgemein geschatzter Gelehrter ein! Dafi diese Hollander, wenn auch vielleicht nicht durch weg, im Glauben an ein Ideal handelten, fand keine Anerkennung noch Verstandnis. Dieses Ideal war der grofiniederlandiscbe Gedanke, dem ein allerdings nicht sehr zahlreicher Kreis huldigt, dessen Organe zwei Zeitschriften, „Dietsche Stemmen" und „Toorts", sowie ein grofiniederlandisches Pressebureau sind. Ziel der Bewegung ist die Sammlung aker Angehörigen des niederlkndischen Stammes, in erster Linie der Hollander, Flamen und Afrikaner, und zwar zu intensiverer und allgemeinerer Zusammenarbeit, als sie der „Algemeen Nederlansch Verbond" beabsichtigt, der in Dordrecht seinen Sitz hat und seit 25 Jahren ausschliefilich auf kulturellem Gebiet nach Annaherung zwischen den verschiedenen Zweigen des niederlandischen Stammes strebt. Unter den Führern der grofiniederlandischen Bewegung ragt ein Afrikaner, Professor Bodenstein, hervor, und mit ihm zahlt ein Hóllander, C. Gerretson, zu den prononciertesten Érscheinungen. Natürlich ist dieser Kreis den Aktivisten besonders wohlgesinnt, so dafi sich zwischen beiden Gruppen viel herzlichere Bande geknüpft haben als zwischen den Passivisten und deren hollandischen Freunden. Den Unterschied, der zwischen den beiden Hauptrichtungen besteht, die sich in Holland bezügkch des Aktivismus gèbildet baben, kann man sehr gut aus den Thesen kennen lemen, die durch Dr. Colenbrander und Gerretson in einer Versammlung der Haager Abteilung des „Algemeen Nederlansch Verbond" verteidigt wurden. Der erstere erklarte dabei1): „Wir wollen Belgiens Selbstbestimmungsrecht auch auf kulturellem Gebiet achten.... Wir müssen auch die Flamen in Belgien stets für sich selbst eintreten lassen. Es könnte der flamischen Sache nur schaden, wenn Holland sich direkt damit bemühen woüte. Wahrend des Krieges haben leider nur zuviel Hollander sich in dieser Hinsicht vergessen: Sie können nun die Früchte dieses ihres Treibens sehen. Wh? können der flamischen Kultur dienen, indem wir unsere eigene zu möglichster Höhe steigern, anders nicht." *) Gossaert, a. a. O. S. 3ff. Die Versammlung galt dem Protest gegen den belgischen Annezionismus und wurde am 23. Januar 1919 abgehalten. 253 Gerretson führte dagegen aus: „dafi der annexionistische Geist in Belgien nicht verschwinden wird und dafi innigere auf beiderseitigem Vertrauen beruhende Beziehungen zwischen Holland'und Belgien, wie sie im Interesse beider Lander erWünscht sind, nicht entstehen können, bevor die flamische Frage radikal gelost ist, und das flamische Volk, innerhalb des belgischen Staatsverbandés, das Recht kultureller Selbstbestimmung besitzt, welches nach den Prinzipien Wilsons eine der Grundbedingungen eines dauerhaften Friedens ist." J Sehr verschiedene Grundsatze, auf den ersten Bliek! Mir persönlich will es aber scheinen, als ob der Unterschied in der Theorie gröfier aussehe als er in Wirklichkeit ist. Denn Gerretson wagte ebenfaljs nicht die Konsequenz zu ziehen, die seiner These implicite eigentkch zugrunde lag, namkch dafi Holland sich offiziell in die flamische Frage einmischen sollte1). Praktisch ging er auch nicht weiter als zu bet°nen> daB das flamische Volk die einzige zuverlassige Basis für die hollandische Politik gegenüber Belgien sei. Er überliefi es auch den Flamen, selbst dafür zu sorgen, dafi sie eine Macht im belgischen Staate würden, mit der die belgische Regierung rechnen müfite. Was könnte er auch sonst tun? Sein Aktionsprogramm besteht letzten Endes darin, die Hokander und Flamen dazu zu bringen, ihre Sache gegenseitig als die ihre zu betrachten, und in dieser positiven, bewufiten Anknüpfung und Pflege hollandisch flamischer Beziehungen auf allerlei Gebieten geben er und seine Anhanger weiter als die meisten ihrer Landsleute. Es wird, glaube ich, vom Lauf der Dinge in Belgien abhangen, inwieweit dabei Resultate erzielt werden. Bei der gegenwartigen Sachlage ist es nicht unmöglich, dafi der Aktivismus für Holland und für die hollandisch-belgischen Beziehungen gute Folgen gehabt hat, wie ja die Aktivisten Holland unzweifelhaft schon dadurch einen Dienst erwiesen haben, dafi sie es auf die Gefahren aufmerksam gemacht haben, welche von seiten des Annexionismus nicht nur wahrend sondern auch nach dem Kriege drohten, wie wir noch sehen werden. Augenblicklich beruht die grofiniederlandische Bewegung auf wenig mehr als auf einem idealistjschen Glauben 2). Das ist die Folge der Kleinheit des hollandischen Staates, ein Faktor, der erst dann seine dominierende Bedeutung verlieren wird, wenn im Völkerverkehr das Machtbewufitsein nicht mehr die überwiegende Rolle spielt wie bisher. In einer nicht mehr allzufernen Zukunft also? Wer vermochte das mit Bestimmtheit zu sagen? Wenn es zu einer weiteren Verwirklichung des grofiniederlandischen Ideals kommt, wozu sich auch aus Deutschland zuweilen plattdeutsche Stimmen zustimmend hören lassen, dann iBt das letzten Endes dem Kriege zu verdanken. Denn so gering auck die siebtbaren Resultate der flamisch- ») a. a. O. S. 13. ') So auch Hampe, Belgien und Holland, S. 94. 254 boUandischen Annaherung bisher sind, die Keime dafür sind doch gepflanzt. Auf jeden Fall werden sich viele Flamen dessen erinnern, was Holland von 1914 bis 1918 für sie getan hat, ebenso wie viele Hollander nicht vergessen werden, daB ihnen die Flamen ebenso wie eine Anzahl Afrikaner Sympathien entgegenbrachten in Zeiten, als man die Hollander auBerhalb ihrer Landesgrenzen meist nicht mit freundlichen Augen ansah. § 10. Die innerpolitische Entwicklung Die Bewufitseinsverengung, die bei Kriegsausbruch beinahe auf der ganzen Welt eintrat, war derartig, daB die Kriegführenden sich mit anderen als mit dem Krieg zusammenhangenden Angelegenheiten fast nicht beschaftigen konnten. In den neutralen Landern wurde ebenfalls weitaus der gröfite Teil der Aufmerksamkeit durch den Krreg in Anspruch genommen. Das haben wir in den bisherigen Kapitein mehr als genügend erfahren. Immerhin behielt man auch für anderes noch Zeit übrig, besonders als man sich an den kriegerischen Larm in der Umwelt etwas gewöhnt batte. Man gewöhnt sich eben schliefilich an alles, und zuweilen erscheint das Anpassungsvermögen des Menschen unendlich. Zwei neutralen Staaten, Danemark und Holland, war es im spateren Verlauf des Krieges sogar möglich, ihre Verfassung einer Revision zu unterziehen. Unsere Geschichte Hollands wahrend des Weltkrieges ware unvollstkndig, wenn wir diese Verfassungsrevision sowie einige andere innerpolitischen Geschehnisse unerwahnt lassen würden. Beim Ausbruch des Krieges fühlte jeder instinktiv, daB man alles vermeiden müsse, was zu innerem Streit Anlafi geben könnte, und daB aUe Energie auf den einen Punkt zu konzentrieren sei, wie man das Volk aus der verzweifelten Lage, in der es sich befand, zu erretten vermöge. Ganz von selbst trat ein politischer Waffenstillstand ein, nicht auf Grund einer unter gewissen Bedingungen geschlossenen Vereinbarung, sondern als Aufierung der freiwilligen Zucht eines sich selbst regierenden Volkes. Die Eintracht, welche sich im August 1914 in so schoner Weise offenbarte x), und auf deren Aufrechterhaltung die Königin in ihrer Thronrede am 15. September 2) drang, machte sie möglich. Sie blieb ungefahr ein Jahr lang bestehen. Man überging 1914 sogar die sonst sehr aüsführliche Behandlung des Staatsbudgets, um die politischen Leidenschaften nicht aufzuwecken. Nur bei Behandlung des ersten Anleihegesetzes in der Kammer regten sie sich einigermafien *). Im September 1915 kündigte die Königin in der Thronrede jedoch an 4), es bestehe die *) Siehe hierüber oben S. 38 ff. ) Siehe die Presse dieses Datums. *) Siehe darüber oben S. 213. ( *) Siehe die Presse vom 22. September. 255 Absicht, das Regierungsprogramm von 1913 ^) wieder aufzunehmen Die Opposition in der zweiten Kammer griff deswegenCort, van dor Linden an der in einer vorzüglichen, anlaBlich der Budgetdebatten fur 191b gehaltenen Rede 2) antwortete, die Regierung beabsichtige keineswegs Gesete-, entwürfe auf d e Tagesordnung zu bringen, welche die nationale Einheit Wendwie in Frage Lllen könnten. Sie wisse viel zu gut wie schwieng die Zeitumstande noch seien, und daB die Spannung jeden A^bbckj^ nehmen könne. Deshalb wolle sie diejenigen Fragen, welche d^ G™n berührten - gemeint war das religiöse BewuBtsem, m Holland stets erra schwieriger Punkt -, bestimmt unberührt gelassen wissen Aber ihre Plane hitten damit nichts zu ton, mit Ausnahme der Untemchtsfrage und bezüglich ihrer dürfe man doch wohl eine versöhnhche Gesinnung erwarten. Die Regierung brauche also nicht zu befürchten, daB aUzu heftige Zwistigkeiten entstehen würden. Die Einheit, welche eine Reahtat und keine FUrtion sei, dürfe nicht darunter leiden. Klopft die Not von neuem w e im August 1914 an die Tür, gut, sagte der Premier, dann begraben wir das Streitbeil und entfalten unsere nationale Einheit wieder m voller Kraft. Begreiflickerweise befafite sich die Regierung nun, wo sie die Ausführung ihrer solange aufgeschobenen Aufgaben von neuem in Angriff nahm n erster Linie mit der Verfassungsreform; war sie doch der wichtigste Punkt ihres Programms.. Schon im Oktober 1915 reichte sie bei der zweiten Kammer einen Gesetzentwurf ein, der die Anderung yersctuedener Paragraphen der Verfassung zur Debatte steilte Die wichtigste der voTS war, daB das Recht die Mitglieder der zweiten Kammer und die der Provinzialkammern sowie der Gemeinderate zu wahlen, allen ansassigen Hollandern mannhchen Geschlechtes zustehen sollte, welche ein gewisses gesetzlich festzulegendes Alter jedoch mindestens das dreiundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatten. AuBerdem wurde die Erteilung dieses Rechtes an die Emwohner weibhchen geschlechtes ermöglicht, insoweit das Gesetz ihnen namlich dazu die ae{^ZelTlnviè. Ferner wurde ^,EW»^^W^5^ vorgeschlagen. Nur einigen Kategorien sollte das Wahlrècht ™renthalten werden. Gleichzeitig mit der Einführung des allgemeinen wurde die des Proportionalwahkechtes entsprechend dem Rapport einer zur Untersuchung desselben eingesetzten Kommission vorgeschlagen. , So wichtig diese Antrage auch waren, sie beabsichtigten doch nur eine sehr beschrankte Verfassungsrevision. Das wurde bei ihrer Behandlung von mehr als einer Seite hervorgehoben. Man bedauerte, dafi die *) Siehe darüber oben S. 31. « .77 ') Sitzunesberichte der zweiten Kammer 191&/lb, S. „ , » AUesfuf diese Verfassungsrevision Bezügliche ist zusammengestellt in „Handelingen over de Herziening der Grondwet", uitgegeven door Mr. J. B. Kan, 6 leile, -■sGravenhage, Buchhandel vormals Gebr. Behnfante, 1916—lö. 256 Gelegenheit nicht benutzt werde, eme Revision gröBeren Stils in Angriff zn nehmen, wo doch im Laufe der letzten Jahrzehnte sich verschiedene Mangel der bestenenden Verfassung gezeigt hatten, und des öfter en der Wunsch nach Anderungen laut geworden sei. Man hatte dabei doch die Arbeiten der Verfassungsrevisionskommissionen von 1905 und 1909 benutzen können! Aber der Premier, der als Minister des Innern diese Angelegenheit zu behandeln hatte, woUte sich auf derartig weitgehende Plane absolut nicht einlassen. Br suchte seine Meisterschaft in der Beschrankung, und es ist verstandlich, daB er sich nicht dazu verleken lieB, die genau abgegrenzte Plattform, auf die er sich von»Anfang an gestellt hatte, zu verlassen. Denn er kannte den langsamen Gang von Hollands parlamentarischer Maschine nur zu gut. Und dann die Zeitumstande! Die Vorschlage fanden keine ungeteilt gunstige Aufnabme. Wer batte das auch erwartet, wo doch die Wünsche der einzelnen politischen Parteien hinsichtlich des Wahlrechtes stark auseinanderliefen. Bei der Rechten hatte das Famikenwahkecht, welches auf dem Grundsatz beruhte, daB die menschkche Gesellschaft sich auf die Famikenoberhaupter stütze, seit langem viel Anhang gefunden; auch jetzt wurde dieses Wahlrecht zur Debatte gestekt. Die Linke erklarte sich im allgemeinen mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts einverstanden, obgleich die Warme, womit die Sozialdemokraten und womit es die Freiliberalen begrüfiten, einen wesentlichen Temperaturunterschied aufwies. Für die Erhaltung des bestenenden Zustandes traten nur einige wenige ein, weitaus die meisten waren überzeugt, daB eine Anderung nötig sei. Cort van der Linden selbst berief sich bei Verteidigung seines Antrages in erster Linie auf die veranderte Zeitströmung. Von Begeisterung für das Neue war bei ihm keine Spur zu finden. Wahrend der ersten gewohnheitsgemafi schriftlich stattfindenden Lesung mochte man sich fragen, ob der Antrag des Ministers Aussicht auf Annahme habe, wo doch eine Zweidrittelmehrheit dafür nötig war. Gegen das Preportionalwahlrecht bestanden weniger prinzipieke Beschwerden, wenn auch gegen das System an sich verschiedene Éinwande gemacht wurden. Was den Wahlzwang anbelangt, so wurde von einzelnen behauptet, er widerspreche dem Freiheitssinn des hollandischen Volkes. Das verhindert» jedoch den Ministerprasidenten nicht, im Laufe der schriftkchen Beratungen dem von anderer Seite geauBerten Wunsch nach Festlegung des Wahlzwanges in der Verfassung nachzukommen. Zu den Paragraphen der Verfassung, welche einer Revision bedurften, gèhörte vor allem der über das Unterrichtswesen. Auch wurde nun von neuem besonders von der Rechten diese Notwendigkeit betont. Hier kam der Premier dem Wunscke nach Revision direkt nach, etwas, was von Anfang an beabsichtigt gewesen war, aber nicht sofort offiziell hatte bekannt gegeben werden können, da schon im Jahre 1913 eme 17 Japikse, Holland 257 Kommission *) ausschlieBlich zur Untersuchung des Unterrichtswesens eingesetzt worden war, die jedoch bei Einreichung der ersten Anderungsvorscklage ihre schwierige Arbeit noch nicht beendigt hatte. Bei der Einsetzung jener Kommission sprach Cort van der Linden einige denkwürdige Worte: „Die Arbeit, der sich diese staatliche Kommission widmen wird, hat für die Zukunft unseres Vaterlandes eine auBerordentliche Bedeutung. Wenn ihre Arbeit von Erfolg gekrönt wird, dann wird damit die Grundlage für eine krSftige und dauerhafte Entwicklung unseres Volkes gelegt sein und wird unsere nationale Einkeit gefestigt werden." Nur wer die innerpolitische Geschichte Hollands seit 1848 und besonders seit 1870 kennt, vermag die Bedeutung dieser Worte zu erfassen. Die Unterrichtsfrage hatte jahrzehntelang einen höchst ungünstigen EinfluB auf die nationale Entwicklung ausgeübt. Nur ganz langsam trat eine allmahliche Annaherung der auseinanderlaufenden Meinungen ein, vor allem infolge der Erwagung, daB ein fortwahrender Parteienstreit über diesen Punkt die verderbkchsten Folgen nach sich zieben könnte, ware es auch nur weil so die parlamentarische Arbeit auf anderen Gebieten stark behindert wurde. Man muB es sicher als ein grofies Glück für Holland bezeichnen, daB die Kommission für das Unterrichtswesen unter Leitung ihres tüchtigen Vorsitzenden Dr. D. Bos, einer bekannten Autoritat auf dem Gebiet des Unterrichtswesens, der zu einer versöhnkchen Haltung schon seit langem bereit war, eine Formel zu finden verstand, mit der sich fast alle Parteien einverstanden erklaren konnten. Die Kommission arbeitete einen neuen Verfassungsparagraphen über das Unterrichtswesen aus und, óhrem Auftrag' entsprechend, gleichzeitig einen Gesetzentwurf zur Anderung und Erganzung des Gesetzes über den Volksschulunterricht. Nur mit dem ersten brauchen wir uns hier zu beschaftigen, da der Gesetzentwurf nicht direkt zur Behandlung kam. Das vornehmste Ziel des neuen Paragraphen wurde mit folgenden Worten ausgedrückt: „Der private Volksschulunterricht, der> gewissen gesetzkck festzulegenden Bedingungen genügt, wird nach demselben MaBstab wie der staatkche Unterricht aus der Staatskasse bezahlt." Unter Aufrechterhaltung des schon lange geitenden Grundsatzes, daB das Unterrichtswesen ein Gegenstand fortwahrender Sorge für die Regierung sei, und daB der Unterricht, vorausgesetzt, daB er gewissen gesetzlich formulierten Forderungen auf seine Leistungsfahigkeit genügte, unter einer von seiten der Obrigkeit auszuübenden Kontrolle volle Freiheit genieBen müsse, wurde in den zitierten Worten festgelegt, daB, öffentlicher und privater Unterricht in den Augen des Staates gleichwertig seien. Es war ') Ihr Kapport ist als Sonderdruck erschienen. 's Gravenhage, Algemeene Landsdrukkerij, 1916. 258 ein groBer Triumph für die Anhanger des privaten Unterrichts. Zur Beruhigung der Anhanger des öffentlichen Unterrichts wurde aus der bisherigen Redaktion des Paragraphen über das Unterrichtswesen die Bestimmung aufrechf erhalten, es müsse allenthalben im Reiche durch den Staat Gelegenheit zum Empfang öffentlichen Volksschulunterrichts gegeben werden. So wurde eine Garantie dafür geschaffen, daB die öffentkche Schule nicht durch die private verdrangt werden kann. Bezüglich des öffentlichen Unterrichts wurde noch festgesetzt, er solle gesetzlich und unter Berücksichtigung von jedermanns religiöser Uberzeugung geregelt werden. Das war eine andere Form für die früheren Bestimmungen über die Neutralitat dieses Unterrichts. Der Minister übernahm den Entwurf der Kommission wie er war. Mit vokem Recht konnte er ihn „die Folge geduldiger Beratungen und versöhnkcher Gesinnung" nennen. Zwar wurden gegen den Entwurf verschiedene Einwande erhoben, die natürlich auch schon innerhalb der Kommission geauBert worden waren, aber die überwiegende Mehrheit erklarte sich deutlich zur Annahme des Kompromisses bereit. Am energischsten opponierten jene, die ein wanden, daB nun, wo öffentlicher und privater Unterricht einander gleichgestekt worden seien, der Staat aucb dem letzteren gegenüber gröBere Rechte bekommen, mit anderen Worten, daB auch in dieser Hinsicht eine Gleichstellung eintreten müsse. Dieselben Leute hielten die Garantieen für den öffentlichen Unterricht für ungenügend. Der Entwurf über das Unterrichtswesen hat die Aussichten für den vorher über das Wahkecht eingereichten zweifellos verbessert. Von nun an war es eigentlich so gut wie sicher, daB der ganze Komplex von Entwürfen angenommen werden würde. Man hat denn auch von einem politischen Kuhhandel gesprochen, bei dem eine Hintanstellung der Prinzipien stattgefunden habe: Die Linksparteien sollten ihre Einwande gegen die Verb esserung der Position des Privatunterrichts, die rechten die ihrigen gegen das allgemeine Wahkecht faken gelassen haben, die einen um das allgemeine Wahlrecht, die anderen, um den Privatunterricht unter Dach zu bringen. Gegen diese Darstellung des Sachverhalts wurde in der Kammer protestiert, nicht ohne Grund, insofern von einem direkten Handel keine Rede gewesen ist. Aber im übrigen besteht ein unleugbarer Zusammenhang zwischen den beiden Vorschlagen. Der Minister des Innern hat das anerkannt, als er in einem der über die Vorschlage gewechselten Schriftstücke die Erwartung aussprach, die Rechte möchte sich zu einer konzilianten Haltung in der Wahlrechtsfrage bereitfinden lassen, nachdem der Entwurf über die Revision des Unterrichtsparagraphen eingereicht worden sei. Dieser ganze Sachverhalt hat durchaus nichts Schmahliches an sich. Die Poktik ist meistens eine Sache von Geben und Nehmen, und bei richtiger Anwendung dieses Prinzips sind schon die fruchtbarsten Resultate 17* 259 erzielt worden. Im vorliegenden Falie steht die Sache eigentlich so, daB alle Parteien von ihren in den Parteiprogrammen niedergelegten Grundsatzen etwas geopfert haben. Es handelte sich eben um zwei Angelegenheiten, über die in weiten Volkskreisen eine bestimmte Uberzeugung herrschte, in den linksgerichteten mehr hinsichtlich des aUgemeinen Wahlrechts, in den rechtsgerichteten mehr bezüglich der Untemchtsfrage Die beiden Kreise überschnitten sich teilweise, und für jede der zwei Tendenzen darf man zweifellos annehmen, daB eine wenn auch jedesmal yerschieden zusammengesetzte Mehrheit hinter ihr stand. MuB man es nicht als ein erfreuliches Zeichen der Zeit betrachten, daB eine Ubereinkunft getroffen werden konnte, die allen Interessen Recbnung trug? Gerade das war, Claube ich, ein sehr schönes Vorbild demokratiscker Staatsleitung, das für die Zukunft die Einheit HoUands, welche zuweilen so sehr durch das Parteiwesen verdeckt wird, starkte und letzten Endes ja auch wieder ein AusfluB derselben war. Die Übereinkunft ist als ein wichtiger Markstein in der Entwicklungsgeschichte des hollandischen Volkes zu betrachten, uber dessen Bedeutung erst ein spateres Geschlecht wird urteilen konnen. Nack dieser Vorbereitung ging die Arbeit der Verfassungsrevision glatt vonstatten. Die öffentlichen Beratungen in der zweiten Kammer wahrend des Oktober und November 1916 waren auf einen konzihanten Ton gestimmt. Der Premier hatte sich nicht geirrt, als er prophezeite, daB die Behandlung dieser Gesetzentwürfe die poliüschen Leidenschaften nicht allzu stark entfesseln werde. Die Bedeutung der Verfassungsrevision, wurde von Troelstra, der die Ehre für sie, insofern sie der Einführung des allgemeinen Wahlrechts galt, nicht zu Unrecht in erster Linie fur die Sozialisten in Anspruch nahm, in einer der besten bei diesem AnlaB m der Kammer gehaltenen Reden gut hervorgehoben. Im Jahre 1848, so saste er, begann die Herrschaft der liberalen Bourgeoisie im politischen Leben Hollands. Ihre groBen Verdienste für die wirtschaftbche und politische Entwicklung Hollands müsse man anerkennen. Aber nun sei eine neue Zeit gekommen, in der eine neue Klasse auf dem Schauplatz erschienen sei, die mehr und mehr die Politik unseres Landes zu beherrschen beginne und von der jeder fühle, daB man mit ihr in der nötigen Weise rechnen müsse. Zweifellos habe der Liberalismus auch seine Fehler gehabt. Er habe die Minderheiten zu wenig berücksicktigt und besonders in der Schulfrage den Wünschen bezüglich des privaten Unterrichts zu wenig Recbnung getragen. Mit Rücksicht darauf bezeichnete Troelstra „was wir im Begriffe sind zu tun, als einen Sieg des Ideals der Freiheit m unserem Staatsieben". Der Liberalismus habe auBerdem die Macht im Staate nut Hilfe eines an einen hohen Zensus gebundenen Wahlrechtes an sich gerissen und sich sehr ungeneigt gezeigt, von seiner Machtstellung etwas aufzugeben, als die Bewegung, die jedem Bürger an der Staatsleitung Anteil geben woUte, zunahm. Deshalb mufite seine Bedeutung stark zuruck- 260 gehen. „Ein groBer Teil des Mittelstandes, des Kleinbürgertums und der Kleinbauernschaft und so ziemlich die ganze Arbeiterklasse haben sich politisch gegen den Liberalismus orientiert, die alte liberale Partei ist mehr und mehr auseinandergefallen, und die freisinnigen Parteien, die wir jetzt vor uns sehen, haben nur durch eine gröBere Anpassung, einmal an das soziale Streben der Arbeiterklasse, zum andern an den religiösen Zug der Bechtsparteien, wie er sich im Eintreten für die Privatschule verkörperte, neue Lebenskraft und neue Zukunftsmöglichkeiten gewonnen'." Hier ist in groBen Linien Hollands innerpolitische Entwicklung gut gezeichnet, wenn auch vielleicht die groBen Verdienste, die sich Thorbeckes Liberalismus um Holland erworben hat, nicht deutlich genug werden, und die Usurpationsneigungen der liberalen Bourgeoisie vielleicht etwas übertrieben sind. Die Hauptsache war, daB an Stelle des Bürgertums nun die Arbeiterscbaft, organisiert in der S.D.A.P., und die kirchlichen Parteien, unter denen die katholische die starkste war, das pobtische Übergewicht im Staate besafien. Im übrigen brauchen wir unseren auslandischen Lesern nicht über die Beratungen der zweiten Kammer zu berichten, in denen die Parteiansichten über das Wahlrecht und das Unterrichtswesen von neuem auseinandergesetzt wurden, wobei ein Kammermitglied auch davor warnte, sich durch die Lockungen der Demokratie, oder was man so zu nennen beliebe, blenden zu lassen. Es war kein groBer Enthusiasmus zu spüren, aufier bei den Sozialdemokraten. Man hatte wahrend der Debatten fortwahrend das Gefühl, dafi der Minister eigentlich das Spiel schon gewonnen hatte. Nur einer Episode müssen wir besonders gedenken, weil sie eine der .berüchtigtsten Szenen aus Hollands parlamentarischer Geschichte betrifft und ganz sicher auch einer allgemeineren Bedeutung nicht entbehrt. Auf Verlangen der zweiten Kammer hatte Cort van der Linden sich damit einverstanden erklart, daB der Artikel der Verfassung, in dem die Vergütung für die Kammermitgbeder festgesetzt war, ebenfalls revidiert würde, und zwar sollte die Entschadigungssumme von bisher 2000 Gulden auf 3000 Gulden erhöht werden. Zudem sollte für jedes Jahr, das ein Abgeordneter in der Kammer gesessen war, eine gewisse Pension gewahrt werden. Damit wurde nur einem durchaus billigen Wunsche genügt. Der Charakter der Kammermitgliedschaft hatte sich infolge der Zunahme des Tatigkeitsbereichs der Generalstaaten und der Ausdehnung der Bevölkerungsschicht, aus der die Abgeordneten gewahlt wurden, allmahlick wesentlich verandert. Sie erforderte unendlich viel mehr Kraftaufwand und Zeit als dreifiig Jahre früher. Die Erhöhung der Vergütungssumme war zudem im Vergleich mit dem, was Parlamentsmitgkeder in anderen Landern beziehen, wahrbaftig nicht übei trieben zu nennen. Jedoch konnte dahinter ein egoistischer Gedanke gesucht werden, man konnte etwa insinuieren, die Kammer sorge 261 für sich selbst und gar noch durch eine Pension. Die sehr starke Kntik, die sich auch auBerhalb der Kammer gegen den Antrag auBerte dart in erster Linie als" Folge einer derartigen Betracbtungsweise aufgefaBt werden. Aber anlaBlich der öffentlichen Behandlung in der zweiten Kammer wurde ein Angriff von viel gröBerer Tragweite von seiten des frèüiberalen Abgeordneten Nierstrafi, im Privatleben Direktor einer der groBen hollandischen Dampfscbiffahrtsgesellscbaften, darauf eröffnet. Dieser verstieg sich zu einer heftigen Philippika gegen seine Kollegen: . I/» Fragt einmal auBerhalb der Kammer", rief er aus, „wie man darüber denkt, was man überhaupt von dieser Verfassungsrevision meint. AuBer von séiten lener, die ein direktes Interesse an der Wirkung haben welche diese Revision für sie selbst und ihre Standesgenossen zeitigen wird, und auBerVon seiten der Berufspolitiker wird man unterschiedslos in mehr oder minder parlamentarischem Ton zur Antwort bekommen: Ihr heben Leute mit Eurem wochenlangen Gerede über Wahlrecht und Unterrichtswesen, wie könnt Ihr Euch denn soviel Arbeit mit solchen Dingen machen, wahrend doch so viel dringende Angelegenheiten auf Taten warten? Da gibt es doch andere Aufgaben; um nur einige herauszugreifen etwa die Verteidigung von Hollandisch-Indien, die Trocken egung der Zuiderzee und die Organisation und Einrichtung des gewerbhchen Unterrichts. Staatsmann sein ist in meinen Augen kein Beruf, sondern die Folge einer auBerhalb persönlUen Interesses stehenden Berufung zur Anteilnahme an ernster und schwerer Arbeit für die Allgemeinheit." Diese Art von Staatsmannern gebe es in der Kammer zwar, aber viele und manche der Besten saBen nicht in ihr. „Wenn wir ms Auge fassen, was in der Welt vor sich geht und was gegenwartig gerade unseren Welttéil in seinen Grundfesten erschüttert, wenn wir darauf achten, wie Manner der Tat nun schon über zwei Jahre lang mit Hintanse zung ihrer Berufsarbeit ak ihre Kraft einsetzen, um uns vor Unglucksfallen zu bewahren, mit denen die Kriegsnöte unser Land -fortwahrend und in steigendem Mafie bedrohen, und man kehrt dann in die Atmosphare dieser Kammer zurück, könnte man da nicht glauben, daB an Stelle des blutigen Kampfes, der rings um uns tobt, auf der ganzen Welt Friede herrsche auBer gerade hier?" Und dann folgte auf einen Stofiseufzer die Kammer nehme alle Zeit in Beschlag, der Kulminationspunkt dieser Rede mit den °rteUnd nun kommt der Minister und laBt mit groBmütiger Geste und ohne "jede Erklarung, ganz diktatorisch und ohne jede Begründung ein paar Talerstücke in die Hapde des Abgeordneten fallen, der meiner Meinung nach lieber seinen Wahlern Sand in die Augen streut als seine Pflicht im weitesten Sinne des Wortes tut, des Abgeordneten, der sich an sein Mandat als an die Grundlage seiner Existenz festklammert. Wenn der vorliegende Gesetzentwurf angenommen wird, so wird damit gesetzkck ein Gedanke 262 und eine Auffassung festgelegt, die ich ohne Zögern als verderblich bezeichne. — Aber wozu klage ich? Chaque peuple a le gouvernement qu'il mérite. Jede Kammer wird von ihrer Regierung so behandelt wie sie es verdient." Der SchluB der Rede erregte eine gewaltige Unruhe, nachdem schon wahrend ihres Verlaufes Zwischenrufe ertönt waren, und der Kammerprasident Ordnungsrufe ausgeteilt hatte. Nun sah sich dieser genötigt, die Sitzung auf eine halbe Stunde zu unterbrechen. Nach Wiedereröffnung kanzelte er den Redner, der den Spektakel verürsacht hatte, tuchtig ab. Nierstrafi entschuldigte sich am folgenden Tage sowohl dem Minister wie seinen Kollegen gegenüber. Aber Cort van der Linden nahm das Ereignis trotzdem zum AnlaB für einige ernste Worte, um den Eindruck von Nierstrafi' AuBerungen abzuschwachen. Er wies auf „den aufiergewöhnlichen Eifer" der Abgeordneten hin, den sie im Interesse des Landes „ unter Aufopferung persönkcher Vorteile, nicht seiten sogar des eigenen Wohles" an den Tag legten. Er protestierte gegen die Vermutung, als katte die Regierung der Kammer mit Mifiachtung begegnen woken. Damit war der Zwischenfall erledigt, sein Eindruck aber nicht völlig verwischt*). Die Rede von Nierstrafi ist ein merkwürdiges Zeugnis für die in Holland wahrend der Kriegszeit herrschende Mentahtat! Denn man kann kei nén Augenbkck daran zweifeln, dafi der Krieg sie in erster Linie verürsacht hat. Es auBerte sich in ihr die Unzufriedenheit und Fassungslosigkeit des GeschSftsmannes über die parlamentarische Tatigkeit als solche, die sich nicht imstande zeigt, mit dem Volksleben mitzugehen und es zu umfassen, eine Erscheinung allgemeiner Art, die in parlamentarisch regierten Staaten oft wahrzunehmen ist, und in Holland, wo das Parlament sehr langsam arbeitet, um so deutkcher in die Augen sprjngt. Denn die hollandische Gesetzgetmng ist betrachtlich im Rückstand, besonders was das moderne Wirtschaftsleben anbelangt. AuBerdem machten sich jedoch vielleicht sogar noch starker die auBergewöhnlichen, ganz besonderen Zeitumstande in der Rede von Nierstrafi gekend. Es spiegelte sich in ihr die Unzufriedenheit wieder, die in sehr weiten Kreisen über die Lebensmittelpolitik, in engerem Kreise über die AuBenpolitik der Regierung herrschte, und es kam der Abstand zwischen Volk und Regierung, der, wie wir gesehen habön, bei mehr als einer Gelegenheit zu konstatieren war, deutUck zum Vorschein. Nirgends wurde es offenkundiger, wie viel dem Kabinett van der Linden von der allgemeinen Sympathie, die es anfanglich besessen hatte, verloren gegangen war. Aber trotz alledem steekt diese Phikppika voll greulicher Übertreibungen. Unleugbar wurde in ihr die in kleineren oder gröfieren Volkskreisen herr- • *) „ Niet geëindigd" nannte Nierstrafi selbst eine eigenev Broschüre über den Zwischenfall. Amsterdam, Van Holkema en Warendorf. 263 schénde starke Unzufriedenheit mit einzelnen Teilen des Regierungsprogramms auf Kosten der gesamten Geschaftsführung der Regierung' in den Vordergrund geschoben. Ebensowenig kann man leugnen, daB durch diese Generalisierung den eminenten Verdiensten des Ministeriums nach verschiedenen Richtungen unrecht getan wird. Am unerquicklichsten an der ganzen Rede ist aber die Tatsache, dafi sie rein negativ ist und der positiven, aufbauenden Tendenzen völlig entbehrt. Wie konnte das Band zwischen Regierung und Volksvertretung enger geknüpft, wie eine andere mehr den wahren Interessen des hollandischen Volkes dienende Auslandspolitik geführt werden? Die Arznei für die Krankheit, deren Diagnose man steilte, wurde nicht verschrieben! Hatte man denn die Verfassungsrevision liegen lassen sollen? Nein, es war im Gegenteil ein grofies Glück, dafi diese nationale Angelegenkeit vor Beendigung des Krieges erledigt wurde. Bald nack dem Nierstrafiscken Zwischenfall gingen die Beratungen in der zweiten Kammer zu Ende. Die Scklufiabstimmung fand am 21. Dezember statt, wobei die Entwürfe ohne persönkche Abstimmung angenommen wurden. Vor Annahme des Schulparagraphen hatte nur ein Abgeordneter zu verstehen gegeben, dafi er dagegen stimmen werde. Es ist ganz sicher eine bemerkenswerte Erscheinung, dafi zwei so wichtige Antrage, denen im Grunde mancher prinzipiell ablehnend gegenüberstand, mit solcher.Einstimmigkeit angenommen werden konnten. Man wird Beispiele dieser Art nicht in der parlamentarischen Geschichte vieler Lander namhaft machen können. Die Weiterbehandlung der Antrage ging in ahnlicher Einigkeit vor sich. Die erste Kammer nahm sie im Januar 1917 in Angriff. Es wurden ahnliche Einwande vorgebracht wie in der zweiten Kammer. Aber die öffentkchen Debatten (14.—16. Mai) endeten auch hier mit einem völkgen Sieg der Regierung. Beide Entwürfe, der über das Wahlrecht so gut wie der über das Unterrichtswesen, über die auf Ersuchen einiger Abgeordneten abgestimmt wurde, fanden einstimmige Annahme. Nur bei dem Entwurf über die Revision der Erganzungsbestimmungen der Verfassung, in dem unter anderem die Art und Weise der Anwendung des Proportionalwahlrechtes vorlaufig geregelt wurde, erklarte éiner der Abgeordneten vor der Annahme, er würde bei einer eventuell stattfindenden Abstimmung gegen den Entwurf stimmen. Die hollandische Verfassung schreibt für Verfassungsrevisionen zwei . Stadiën der Behandlung vor. Im ersten Stadium werden, wie der Ausdruck lautet, Gesetzerkwürfe über das Inerwagungziehen der Revisionsantrage behandelt. Dieses Stadium war nun erledigt. Nun mufiten die Generalstaaten aufgelöst werden. Die neugewahlten Generalstaaten mufiten dann die Revisionsvorschlage, d. h. also die im ersten Stadium angenommenen Entwürfe prüfen. 264 r Dieses zweite Stadium war diesmal nicht viel mehr als eine Formalitat. Um bei den fortwahrend herrschenden kummervollen Zeitumstanden jeden Anlafi zu Reibungen mögkchst auszuschhefien, wurde die Kammerauflösung derart festgestellt, dafi sie mit dem Ende der vierjahrigen Sessionsperiode des Parlaments, die mit den Kammerwahlen von 1913 angefangen hatte, zusammenfieL Für die nun vor der Türe stehenden Neuwahlen verabredeten die Parteien untereinander, die zurücktretenden Abgeordneten wiederzuwShlen. „Wer in der Kammer sitzt, soll dort bleiben", war die Losung. Dieser poktische Waffenstillstand, an dem auch die Regierung selbst beteiligt war, trug einen offiziellen Charakter. Er schlofi in sr«h, dafi in den neuen Generalstaaten keine Gegenstande, die zu poktischera Prinzipienstreit AnlaB geben konnten, auf die Tagesordnung gesetzt werden sollten, mit Ausnahme „der Finanzgesetze, die nötig waren und die eventuell auch eine politische Seite haben konnten". Man hatte damit gerechnet. dafi die Behandlung der Verfassungsrevisionsentwürfe einschliefilich der Vorbereitung der auf sie folgenden Neuwahlen ungefahr ein Jahr in Anspruch nehmen würde. Dieses Programm ist denn auok in der angegebenen Weise durchgeführt worden. Opposition von einiger Bedeutung zeigte sich bei den Wahlen nicht. Das hollandische Volk erklarte sich also mit der Handlungsweise der poktischen Parteien solidarisch. Nur die 1914 gegründete „Allgemeine Staatspartei für die Beherzigung der Interessen des hollandischen Volkes" rüstete sich zum Kampfe. Sie erachtete die Revisionsantrage. nicht im Einklang fait ihrem Parteiprogram m, das unter anderem den ganz allgemeinen Grundsatz enthielt, es sei als den Interessen des hollandischen Volkes widersprechend jede Bestrebung zu betrachten, welche die Macht in den Verwaltungskörpern in die Hande einer politischen Partei, einer bestimmten politischen Kombination oder einer bestimmten Volksklasse zu legen beabsichtige, und das aktives und passives Wahlrecht für alle Manner und Frauen, die nicht aus Gründen wichtiger Staatsinteressen davon ausgeschlossen werden müfiten, für wünschenswert erklarte. Auf Grund dieser Prinzipien schlofi sich die Partei mit einigen anderen Elementen zu „einer Aktidn gegen die anhangig gemachte Verfassungsrevion" zusammen. Zu den von dieser Gruppe aufgestellten Kandidaten gehorte unter anderen auch der Exminister Van Houten, von dem der Wahlrechtsentwurf von 1896 stammt, und der Cort van der Linden mit am heftigsten bekampfte. Aber keinem der aufgestellten Kandidaten war Erfolg beschieden. Allé bisherigen Mitgheder der zweiten Kammer wurden ohne Mühe wiedergewahlt (16. Juli), nur in einem Wahlkreis war Stichwahl nötig. Ebenso ging es bei den Wahlen für die erste Kammer und für die Provinzialstaaten. Die Session der neuen Kammer wurde am 28. Juni 1917 durch die Königin eröffhet. Wie zu erwarten war, begegnete die neuerliche Behandlung der Verfassungsrevisionsantrage keinerlei Schwierigkeiten. Nach kurzer 265 tember die zweite und am 29. ^ovemD^ Q nun wieder nur eine einzige stimmung. In beideh Hausern ™ &m M> November Stimme gegen den einen ^ ^^J^ Inre durcb die Verfassung toiïSir^ae, a« Niederlande. alkemeines Mannerwahlrecht und für die Damit war der Streit fur aligememea' . j hren de8 ig.Jahrprivate Volksschule beendigt. Seit-g^f^aftigt, und es lag hunderts batte er das politische Leben Hollands »™a J >r g0 zu Ende ,in der Linie von Hollands ™e$0^^ verdient grofies ging, wie das der Fall war. Minister Cort van der L,mae ^ Lf'für die ^™*^Xpt£^^^ n f leitet hat, gestu zt auf die bei allenim» h ^ rascher meinsamer Arbeit, die unter der Y^n^ftanden zU erwarten gewesen ware. vor sich ging als das unter nor Allgemein gesehen »t ai%bef"aXch zeradezu symbolisch für die 1917 deren sóhwache Seite. Sie ist jedoch JP™T e? letzten 20 Jahre. irblitsweise des Nie wird gesetzgeberiscbe Arbeit im^groBen ge , ^ Cort «ch mit Fragmenten, gXfierten Dring* nach van der Linden dem von mehr als einer oei t da(J gifi «iner weitgebenderi Revision nachgegeben, gke ^ dafi nicht zu Ende gekommen ware Es war geradse ^ *r sich damit zufrieden gab, nur ganz reite PüberlaS8en. Der nnreifen und zweifelhaften einem spateren^°^e^0h\ bleM, dafi grofie Vorteil von Corts Handlungsweise forjiaAllgem hrehden fr noch vor dem Ende des> Krieges zwei Jjj°jj» ™n politischen Leben Zwistigkeiten AnlaB gebende Angelegenhe ^ a^ ^m P der «ntfernte. Das hat nach A»^ ^jf^Lta, Neigungen zum politischen Verhaltnisse in Holland als £De™. hne die Ver- Vorschein kamen, ^f^^StSJi^ des November ?9T8Dg:TrwTr\p\9ter Sruckkommen werden, viel schhmmer Feststimmung bat -^E^ SataS Interesse für sie war wahrend ^J^^^ z^^anden erkllrt, sogar gering, was °^ denen zufolge eben die pofienWeltgescnen^ni Zustimmung 266 in dem sehr beschr&nkten Kreise, aus dem die oben genannte Aktion gegen dié Revision'sich entwickelt hatte, bestand eine gewisse Enttauschung bei einem Teil der antirevolutionaren Partei, die sich wahrend der . Behandlung in den Generalstaaten zwar nicht geauBert, aber sehr wohl bestanden hatte. Kuyper gab selbst nach dem Zustandekommen der Revision deutlich zu verstehen, er bedauere es sehr, daB das Pamibenwahlrecht nun beiseite , geschoben und das Proportionalwahlrechtssystem so zentralistisch eingerichtet sei. Er gab der Hoffnung Ausdruck, in einer kommenden Sessionsperiode möchte^noch das "eine oder andere wieder gutgemacht werden. Man lese nur seine wie .immer bemerkenswerte Rede „de kleyne Luyden" l). Siè sind es (die kleinen Leute), so sagt er, die unsere ganze Geschichte seit dem Aufstand gegen Spanien beherrschen. Aber nun droht ihr Einflufi ^eschmalert zu werden, und dagegen heiBt es Front machen. Enttauschung herrschte auch bei dem aufiersten Flügel der Antirevolutionaren, der sich als christlichsoziale Partei von ihr getrennt hatte — aber damals noch nicht in der zweiten Kammer vertreten war —, weil er der Ansicht huldigte, daB das demokratische Prinzip bei den Antirevolutionaren nicht genügend zur Geltung komme. Hier entsprang die Enttauschung der Unzufriedenheit über den Schulparagraphen, bei dem nach Auffassung der Partei die Gruridsatze Groen van Prinsterers übër den privaten Unterricht zugunsten der Katholiken aufgegeben worden waren, mit denen ein enges Züsammengehen abgelehnt wurde 2). ■ Auch die Chrrstkchsozialen sind der Meinung, daB der Schulstreit noch nicht als beendigt anzusehen sei. Aber es hat doch den Anschein, als ob weder sie noch Kuyper und seine nachsten Anhanger stark genug sein werden, um eine Entwicklung wie die eben béschriebene ungetan zu machen und das Ruder des Staatsschiffes nach einer anderen Seite zu drehen. Man wird es verstandkek finden, daB von den anderen Programmpunkten des Ministeriums von 1913 nicht viel zur Ausführung kam. Dafür kann die Tatsache des Weltkrieges ohne weiteres als Entschuldigung angeführt werden. Immerhin ist es bedauerlich, dafi die Revision der Sozialgesetzgebung3) stecken blieb, und dafi diese deshalb am Ende des Krieges noch nicht vollstandig eingeführt war. Nur ein Artikel aus ihr, der einer bestimmten Kategorie Bedürftiger eine kostenlose Altersrente zuerkannte, wenn sie das 70. Jahr erreicht oder überschritten hatten, und der infolge eines sozialdemokratischen Erganzungsantrages binnen sechs Monaten nach Bekanntmachung des Alterspensionsgesetzes in Wirkung treten mufite, wurde praktisch durchgeführt4). Ein Antrag zur Revision der Altersversicherung und weitere zur Revision der übrigen Sozialgesetze, *) J. K. Kok, Kampen 1917. 2) Diesbezügliche Ausführungen von E. A. Keuchenius in der Zeitschrift Klaroen en Beukelaar, April—Juli 1917. ! 8) Siehe ohen S. 30—31. *) Durch das Gesetz vom 1. Dezember J913, Staatscourant Nr. 427. 267 unter anderem der Kranken- und Invaliditatsversicherung, wurden 1914 und 1915 gestellt. Der erstere kam erst im Frühjahr 1916, die toderen im Mai 1917 in der zweiten Kammer in Behandlung, und sie waren noch. nicht vökig durchberaten, als infolge der Verfassungsrevision die Kammerauflösung erfblgte. Nach Wiederzusammentritt der Kammern mufiten sie in der zweiten Kammer von neuem bearbeitet werden. Denn die neue erste Kammer batte beschlossen, alle in der vorigen Session eingekommenen, aber noch nicht vökig abgehandelten Entwürfe als verfallen zu erklaren, und dazu gehorte auch der Entwurf über diè Altersversicherung. Als man diesen neuerdings behandeln wollte, berief sich die Rechte auf die gescblossene politische Abmachung! Eine loyale Politik kann man das schwerlich nennen, wo es sich doch eigentlich nur um eine Formfrage handelte! Die Regierung hielt sich nun nicht für berechtigt den Entwurf einzureichen, kam also der Rechten sehr weit entgegen. Auf die Initiative einiger Abgeordneten hin nahm die zweite Kammer den Entwurf dann doch wieder in Behandlung und entschied sich von neuem für ihn. Aber die in Her Mehrheit rechtsstehende erste Kammer trat diesem BeschluB nicht bei, sondern verwarf den Antrag (19. Juli 1918) kurz vor dem Rücktritt des Ministeriums Cort van der Linden. Es war das gerade keine erfreulicke Geschichte! Jedoch konnte Minister Lely, unter dessen Departement die Revision der Sozialgesetze gehorte, in anderer Hinsicht einen wichtigen Erfolg buchen. Es gelang ihm namlich, die Generalstaaten zur Annahme eines Gesetzentwurfes über die teilweise Trocbenlegung der Zuiderzee zu veranlassen. Damit bekam ein alter Lieblingsplan dieses Ministers gute Aussichten auf Verwirklickung, wenn auch der Weg noch lang und die Kosten grofi sein werden, bis der ganze Plan ausgeführt sein wird. Man schrieb den 5. Juli 1918, als dieses Gesetz in der Staatszeitung erschien. Zwei Tage zuvor fanden die ersten Wahlen auf Grund des neuen Wahlrechtes statt. Sie ergaben eine Zusammensetzung der zweiten Kammer aus 30 Katholiken, 22 Vertretern der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, 12 Antirevolutionaren, 7 Christlichhistorischen, 6 Unionsliberalen, 5 Freisinnig-Demokraten und 4 Freiliberalen, wahrend auBerdem noch 10 weitere Parteien einen, zwei oder drei Sitze gewannen, so der im Laufe des Krieges von Treub gegründete Ökonomiscbe Bund, die christbchsoziale Partei und die sozialdemokratische, nun kommunistische Partei. Diese Aufstellung zeigt deutlich, daB die Katholiken und die S.D.A.P. sehr viel starker geworden sind, und dafi die liberalen Parteien den starksten Rückgang zu verzeichnen hatten. Das war ganz im Einklang mit der politischen Entwicklung Hollands wahrend des 'letzten halben Jahrhunderts. Ihre starke Organisation erleichterte den siegreichen Parteien ihren Erfolg. Es ist nur allzu begreiflicb, dafi gerade Troelstra am Tage der Verkündigung der neuen Verfassungsparagraphen sich berufen fühlte, 268 ZÏ?™S f ffl 1 nSeiD.r Tr6ude Jkund Za Seben- Im Haag ™ndte er sich nach der offiziellen Verlesung der Paragraphen an das Publikum, um dessen Aufmerksamkeit auf den grofien damit von der kokandischen Ar|K " emmgenen Sieg zu lenken. Aber damit, sagte er, ist der - Streit noch nicht zu Ende. Die neue Waffe müsse' de? Arbéitern zu emem Hammer werden bei der Aufrichtung.der neuen Gesellschaftsordnung. 'r™ ^lcbt schimmert am Horizont! Setzt den Kampf unter Leitung i5tD-An- f°rt! fS Td die Zeit anbrec^n, wo es keine Sklaven und keine Herren mehr geben wird Die Katholiken, die auch allen Oi^d^zur Zufnedenheit hatten, auBerten sich nicht derartig in der Öffentkchkeit Vorlaufig sind sie im Besitze der gröBten politischen Macht, eine verwunderhche Entwicklung der Dinge in demselben Holland, das einmal die kathohsche Kirche aufs aufierste bekampft hat. Aber die Kirche von 1918 ist nicht mehr dieselbe wie anno 1572. Auch sie hat sich in vieler Hinsicht dem Neuen angepafit. Die Zukunft wird lehren, ob sie imstande sein wird dies Neue zu beherrschen, indem sie Seine Führung übernimmt. P- vTv* Kabl"ett. Cori y»,4» Li°den reichte nach den Wahlen sein Eücktrittsgesuck em. Seine Aufgabe war vollbracht und seine Popularitat stark vermindert. Man scheint nicht ernsthaft daran gedacht zu haben, es bis zum Ende des Krieges im Amte zu belassen. Das wünschte es auch selbst nicht. D,e Bildung des neuen Kabinetts dauerte sehr lange Ganz im Einklang mit dem parlamentarischen Gebrauch übertrug die Konrgin dieselbe dem vornehmsten Mitgked der starksten Partei, also der kathokscken Aber es gelang Monsignore Nolens nicht direkt eine Regierung zu bdden Die Kathokken waren akein nicht stark genug dfzu abgesehen von der ünerwünschtheit einer solchen Parteiregierung bei den bestehenden Zeitverhaltnissen. Schliefilich wurde nach langen Bespïechungen ein Mimstenum gebddet das in der Hauptsache auf der alten kirchhchen Koahtion zusammengestellt war, aber doch keinen akzu ausgepragten kircnnu t Sr okterJtrU|- De,r Vor8itzende des Kabinetts wurde Jhr. Dr. Mr tf. J- f - Rn?* de Beerenbrouck, der als Minister des Innern fungiert. Die anderen Portefeuilles wurden folgendermaBen verteilt: Jhr Mr Dr 7' fn™ Kar°ebeek, AuBeres, Mr. Th. Heemskerk, Justiz, jhr. G. a' A. Altmg van Geusau, Krieg W. Naudin ten Cate (spater ersetzt durch Mr. Byleveld) Marine, Mr. S. de Vries, Finanzen, A A. H. W König Wasserbau H A. van Ysselsteyn, Landwirtschaft, Handel und Gewerbl' • ■ Id«nb.ur&. Kolomen (1919 ersetzt durch S. de Graeff). Es wurden zwei neue Ministerren gegründet, eines für Unterricht, Kunst und Wissenschaft und emes für Arbeit. An ihre Spitze traten Dr. J. Th. de Visser und Mr. P. J. M. Aalberse. Das ganze Ministerium kennzeichnet sick als ein Koalitionsministerium, l) Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 12. 12. 1917, Abendausgabe C. 269 in dem das katholische Element überwiegt. Aber die alten Verhaltmsse ° i ^nWömV verandert' Das zeigte sich bald nach dem Amtsantritt sind doch ^"f^^^^eieh^ine solche Masse neuer Fragen oder ILTÏ^Si vo^lTl8 alten Parteischeidehnien sich verwischen °d6r £ ITlrts^r, als die neuen, Minister mreju.htion an traten Kaum hatten sie ibre Sitze richtig eingenommen, da machte jder werden. töliijfil § 11. Zwischen Krieg und Frieden a) DerWaffenstillstand. - Hollandische Friedensversuche. Der Kaiser in Holland Nur wenige haben sicher, zu den Eingeweihten gehort, die im Sommer talg weslnthfh Grund zu der Annahme hatten, dafi das Kriegsende so aart srxrsz ^bK^ Wust waï ZT^üT,, erkennen. Aber die Deutschen würden stand hïï£ wenn nicht auf der ersten, dann doch auf einer zweiten oder driUen ïtie Auf ieden Fall stand noch ein wütender, vernichtender Kampf hevor' Man Ikterte um Belgiens schreckliches Schicksal Von neuem kam erFÏücïthngtlrom über L hollandischen Grenzen,,d-r -llem aus Nordfrankreick, wo der Streit am heftigsten wutete. B»tarf m den Oktober hinein hielt der Zuzug der von Haus und Hot Vertriebenen ocier Genïcntemn an und wieder wurden die Flüchtlinge sorgsam empfangen Weenen Es war eine bange Zeit! Gerade damals herrsch e die spanische GrS" beunruhigender Weise in Holland, und die Zeicher> der UnzlifiSedenbeit unter der Bévölkerung nahmen von Tag zu Tag ™- Tnzwischen sah man die Lage der Zentralen sich dauernd verscniecn tem Ts t^e L Kapitulatio/Bulgariens und der Z^JjJ^f ^ Bafkanfront Ende September, dann die, Bemühungen P^scWands und Österreichs um Waffenstillstandsverhandlungen anzuknupfen, die Bidung SlS^-iLtoiiun. in Deutschland, und im Oktober die Kapitulation 270 der Türkei.- Aber noch dachte man im allgemeinen nicht, daB auch Deutschland direkt am Abgrund stehe. Ich muB ehrlich gestehen, daB ich einem Deutschen, der mir schon im August ein ungeschminktes Bild der Lage zeichnete, wie es sich spater als völlig richtig herausstellte, keinen Glauben schenken konnte, obwohl ich wuBte, daB er über sehr gute ïnformationen verfügte. Ich hielt ihn für allzu schwarzseherisch. Die Ereignisse im November vollends waren für die meisten Hollander — und für wie viele anderen desgleichen! — eine absolute Überraschung,. der "mifitarische Zusammenbruch Deutschlands so gut wie die Bevolution, die die Fürsten,, voran den Kaiser, entthronte. Holland hatte allen Grund sich zu freuen, dafi nun das Kriegselend zu Ende und der Friede in Sicht war. Wir Hollander hatten seit 1914 nichts feuriger gewünscht als das, und verschiedentlich haben Leute aus unserer Mirte, soweit es in ihren Kraften stand, allerlei Versuche gemacht, um die Herbeiführung des Friedens zu fordern. Diese Bemühungen wurden wahrend des ganzen Krieges fortgesetzt, sind aber bisher nicht völlig zur Kenntnis der Offentlichkeit gelangt. Trotzdem dürfen wir sie hier nicht mit Stillschweigen übergehen. An erster Stelle in unserer naturgemafi sehr unvollstandigen Aufzahlungmag der internationale FrauenJsongreB stehen, der vom 27. bis 30. April 1915 im Haag stattfand, nicht allein um über den Krieg den Bannffuch auszusprechen, sondern um aufierdem zu verkünden, dafi der ewige Friede •nicht erreichbar sei, wenn die Frauen keinen politischen EinfluB, d. h. dasWahlrecht, bekamen. Es war damals noch möglich, dafi Frauen aus den meifeten kriegführenden Landern an dem KongreB teilnahmen, wenn auch die Teilnahme lange nicht so grofi war, wie man gehofft hatte. In Holland selbst herrschte ein sehr reges Interesse für die Zusammenkunft, und der Sitzungssaal war an allen Tagen überfüllt. Es herrschte eine begeisterteStimmung, und wer an der Wirkung des Kongresses zweifelte, galt. alsPessimist. Der KongreB war auf Ersuchen verschiedener Organisationen mehrerer Lander und nach Beratung mit Frauen verschiedener Nationalitat durch ein hollandisches Komitee unter Leitung von Frau Dr. Aletta H. Jacobseinberufen worden. Dieselbe fungierte auch als Prasidentin des Kongressesi Bei der Eröffnung sagte sie untef* anderm folgendes: „Nicht eher werden wir Frauen die Macht haben, die Wiederholung solcher Katastrophen zu verhindern, als bis wir direkten EinfluB auf die Regierungen ausüben können, und in den Parlamenteh neben den Stimmen der Manner auch die der Frauen gehort werden. „Die Regierungen der Welt haben, gestützt auf nur die Hakte der Menschheit, keine Methode für die Lösung'internationaler Streitfragen finden können. Stets starker wird darum in uns die Überzeugung, daB es Pflicht,. heilige Pflicht jeder Frau ist, sich zu erheben, um mit den Mannern ihren 271 Anteil an der Regierung der Welt zu fordern. Nur wenn Frauen in den Parlamenten aller Nationen Sitz und Stimme, nur wenn sie das Wahlrecht haben, werden sie die Macht besitzen, um mit Erfolg die Forderung zu stellen, daB internationale Streitigkeiten so geschbchtet werden, wie es sich gehort, namlich durch ein Schiedsgericht und durch Versöhnung." In diesem Sinne wurden mehrere Resolutionen angenommen. Die Diskussionen trugen verschiedentlich einen leidenschaftlichen Charakter, und sie bleiben, ebenso wie der ganze KongreB, eine bemerkenswerte Erscheinung. Im Auftrage des Kongresses bereisten einige Frauen, darunter Frau Aletta Jacobs, die kriegführenden Lander, um deren Regierungen die gefaBten Beschlüsse mitzuteilen. Sie wurden freundlich aufgenommen, bekamen viel schone Worte zu hören aber der Krieg ging weiter. Der Interessenkampf der groBen und kleinen Machte liefi sich eben auch mit den schönsten Prinzipienreden, wenn sie keine Lösung der Streitfragen enthielten, nicht aus der Welt schaffen. Dann kame die Expedition von Ford, dieses wunderkch - begeisterte, mit etwas arg viel Fanfarengetön eingeleitete Unternehmen des amerikanischen GroBindustriellen, das zuerst nach Dem Haag ygehen sokte, aber schlieBlich in Stockholm landete. Es entsprang zwar nicht hollandischer Initiative, aber an den in Stockkolm gehaltenen Besprechungen nahmen auch Hollander teil. Dabei wurde ein Manifest aufgesetzt, das den Regierungen, Parlamenten und Vólkern zur Untersuchung und Behandlung vorgelegt werden sokte 2). Es ging zwar nicht , so weit, eine bessere Weltordnung schaffen zu wollen, sprach aber die Überzeugung aus, dafi „das allgemeine Verlangen der Menschheit nach einem Frieden, der die Welt gegen dkrWiederkehr eines ahnlichen Unglücks (wie des Krieges) sichert, das Fundament sein muB, auf dem der zukünftige Frieden aufzubauen ist." In dem Manifest wurden ferner einzelne allgemeine Grundsatze, wie das'Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Recht aker Lander auf freie wirtschaftbche Entwicklung und die Freiheit der See, zum Teil mit ihren praktischen Konsequenzen, festgelegt. Die Fordexpedition verfolgte ganz ahnlicbe Ziele wie der „Nederlandsehe Anti Oorlograad". Aber wahrend die Expedition nur eine sehr vorübergehende Erscheinung war, die schkefilicb wie eine Seifenblase zersprühte, arbeitete der letztere dauernd und unverdrossen weiter. Uber seine Gründung, seine Ziele und Tatigkeit haben wir bereits gesprochen s). Seine Bedeutung, auch für die Zukunft, liegt grofienteils in seiner Propaganda für pazifistische Ideale ünd in seinem Verkekr mit Auslandern beider kriegführender Parteien, und zwar sowohl mit Privatpersonen % Frau Jacobs berichtete darüber in einem Artikel des „Amsterdammer" vom 28. November 1915. *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 21. April 1916, Morgenblatt Ji. •) Siehe oben S. 76. 272 wie mit Organisationen, z. B. mit dem Generalsekretariat der interparlamentariscb.cn Union. Die starke Zunahme der pazifistischen Strömung wahrend des Krieges darf man sicher zu einem guten Teil dem EinfluB des „Nederlandsehe Anti - Oorlograad " zuschreiben. Das Auftreten des österreichischen Ministers des AuBern, Czernin, und des amerikanischen Prasidenten Wilson ist, wenn auch vieUeicht nur indirekt, durch die Tatigkeit des gesamten Bates und der ihm verwandten Organisationen in anderen Landern offenbar gefördert, auf jeden Fall erleichtert worden. Denn ohne die vorher von Holland aus geführte lebbafte Propaganda hatten die Grundsatze Czernins und Wilsons nicht soviel BeifaU gefunden, wie das tatsachlich der Fall war. Die Lösung ,, ein dauerhafter Friede" ist durch den Bat endgültig auf das Programm der Friedenskonferenz gekommen. Trotzdem muB man sick küten, den EinfluB des Rates zu hoch anzuscblagen. Er gab sich in dieser Hinsicht selbst keinen IUusionen kin, wie folgendes Zitat beweist *): „Wir haben durch unsere Tatigkeit kein einziges Menschenleben retten, das allgemeine Kriegselend nicht im geringsten vermindern können und sind auch durchaus nicht sicher, das für die nachste Zukunft tun zu können. Keine Taten, die zu Jedem sprecben, haben wir also zu verzeichnen, so wenig wie Ereignisse, auf die wir stolz und freudig hinweisen konnten. Zwar vermogen wir konkrete Mitteilungen zu machen über unsere Bemühungen, wie das ja auf den vorhergehenden Seiten geschehen ist, aber greifbare Resultate unserer Tatigkeit können wir natürhcherweise nicht aufzeigen. Diese Resultate müssen in der direkten Beeinflussung der öffenthchen Meinung, womögkck auck in der indirekten der Regierungen kegen, aber es ist nun einmal im allgemeinen wohl nicht möglich, die Faktoren namhaft zu machen, durch welche bestimmte Strömungen innerhalb der Völker kis Leben gerufen und die Handlungsweise der Regierungen bestimmt worden sind." „Ultra posse nemo tenetur." Gegen den groBen Interessenstreit der Völker aufzukommen, ist auck dem Anti-Oorlograad nicht gelungen, so wenig wie übrigens der pazifistischen Strömung, die doch deutlich erkennbar über die Welt hinging. Inwiefern der Rat den Frieden selbst mit vorbereiten geholfen hat, ist nicht deutlich. Aber die zablreiehen im Haag und anderswo mit allerlei Persönkchkeiten abgehaltenen Besprechungen und die mehr oder minder offiziellen Konferenzen mit Neutralen und Kriegführenden haben sicher eine gewisse Wirkung gehabt. MuB man es nicht als einen Beweis für den wachsenden EinfluB des Rates ansehen, daB im Laufe der Zeit mehr als eine der kriegführenden Regierungen seiner Tatigkeit Hindernisse in den Weg zu legen begann, eine Erscheinung, die *) Aus der Broschüre: Wat de Nederlandsehe Anti-Oorlograad doet en gedaan heeft. April 1918. S. 34. 18 Japikse, Holland 273 besonders 1917 deutbch wurde, als der grofizügig entworfene Plan einer Konferenz in Bern scheiterte, weil die Teilnehmer aus den Ententelandern verhindert wurden, sich nach Bern zu begeben. Monatelang weilte der Sekretar des Rates in der Schweiz, wo er mehr Gelegenheit zu Verhandlungen mit Auslkndern hatte als in Holland, aber die geplante Konferenz kam nicht zustande. Es ist an und für sich eine bemerkenswerte Tatsache, daS je langer der Krieg dauerte, Zusammenkünfte von Angekörigen der kriegführenden Lander auf immer gröBere Schwierigkeiten stieBen. Der internationale FrauenkongreB hatte 1917 nicht mehr abgehalten werden können. Die Erbitterung war eben im Laufe des Krieges gestiegen. Auch gibt es zu denken, daB die gröBten Schwierigkeiten beim Erteilen von Passen in Frankreick und England gemacht wurden. Das mufiten auch die Soziaksten erfahren, als sie sich im Jahre 1917 ernstkch um die Rekonstruktion der Internationale zu_bemühen begannen, von der allein noch das Zentralbureau und einige Überreste vorhanden waren 1). Die hoMndischen Mitgkeder des Bureaus hielten den Augenblick dazu nach der russischen Bevolution für gekommen 2). Von iknen ging damals die Initiative aus, die auBerdem natürkck auch auf die Forderung des Friedensgedankens zielte. Zum Orte der Zusammenkunft wahltèn sie Stockholm, einen Zentralpunkt internationalen sozialistiscken Verkehrs, in dem viele Friedensfaden, besonders von russischer Seite, zusammenhefen. Gemeinsam mit den Abgesandten aus Schweden, Danemark und Norwegen bildeten sie dort das hokandisch-skandinavische Komitee, von dem die Einladung zu der Konferenz, ungefahr gleichzeitig mit der des russischen Arbeiter- und Soldatenrates, an die soziakstischen Parteien aller Lander für dieselbe Sache ausging. Dann wurde gemeinsam das Organisationsbureau der Stockholmer Konferenz gegründet. Aber auch diese sokte Stückwerk bleiben. Der Ruf nach Vereinigung der Proletariër aller Lander, der von Stockholm aus erschallte, verhakte wirkungslos, ebenso wie der Aufruf der Pazifisten zu Bern. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dafi die ganze Stockholmer Konferenz vökig resultatlos gewesen sei. Es verhalt sich damit wie mit der von Bern. Wiederüm lag die nicht zu unterschatzende Bedeutung der Zusammenkunft in der diesmal lauteren und leidenschaftkcheren Propaganda und in der gegenseitigen Berührung leitender Manner. Man arbeitete mehr für die Zukunft, oder wenigstens für ein Ideal, das vorlaufig noch nicht reaksierbar erschien. Bei aker Übereinstimmung zwischen Pazifisten und Sozialisten hinsichtlich ihrer Friedensbestrebungen — im Haag lagen das *) Siehe darüber oben S. 77. ') Troelstra, De Stockholmsehe Conferentie. Bede, gehouden te Amsterdam, 26. Oetober 1917. 274 Bureau der Internationale und das des Anti-Oorlograad zeitweilig im gleichen Hause — bestand zwischen beiden ein groBer Unterschied: Den einen war es nur um das Friedensideal, den anderen auBerdem um den Aufbau des soziaJistischen Staatswesens zu tun, mit anderen Worten um die politische und soziale Revolution. Das' tratin Stockholm zwar etwas in den Hintergrund: Wir sind nicht der gleichen Meinung wie jene, sagt Troelstra1), die da meinen, daB zuerst die Revolution kommen müsse, und daB der „Friede, solange Wilhelm in Berlin, Karl in Wien, Georg in England und Poincaré in Frankreich am Ruder sind, solange also die Bourgeoisie herrscht", ein Undjng, namkch „ein imperialistischer Friede" sei. Wir wollen den Frieden, weil Europa ihn nötig hat. Aber natürlich war sich Troelstra sehr wohl des ungeheuren Vorteils bewuBt, der sich für den SoziaJismus ergeben hatte, wenn es der Stockholmer Konferenz gelungen ware, die Welt aus der Zwangslage zu retten, in die sie geraten war. „Ein kolossales Prestige", „ein erstaunhcher Kraftezuwachs" standen als Belohnung in Aüssicht Troelstra wuBte auck sehr gut, wie stark der Glaube an den Sozialismus, und damit dessen Krafte wahrend des Krieges gewachsen waren. Mit Donnerstimme schallt es den Regierungen in die Ohren: Eilt Euch'mit dem Frieden, wir können den Krieg nicht langer ertragen, wir sind für ihn nicht mehr zu haben", rief er aus und prophezeite damit die Ausdehnung der Revolution auf andere Lander, die in RuBland bereits begonnen hatte. Das einzige deutiich erkennbare Resultat der Stockholmer Konferenz war das im Oktober 1917 an die bei der Internationale angeschlossenen Parteien gerichtete Manifest8): „Die ganze Menschheit ist des Mordens mtide" ... „Es geht um Europas Rettung"... Von diesen Thesen ausgehend, wird dann ein Friedensprogramm in grofien Zügen nebst den Bedingungen im einzelnen dargelegt, das viel Übereiustimmung mit dem Mimmumprogramm des Anti-Oorlograad aufweist, auBerdem jedoch Anerkennung der Rechte der Arbeiter im Sinne der Beschlüsse der ebenfalls wahrend des Krieges gehaltenen Konferenzen von Leeds, Stockholm und Bern fordert. Die Organisationen, denen dieses Friedensprogramm übersandt wurde, sollten ihr Urteil darüber samt Begründung bis zum 1. Dezember an das Bureau einsenden. Mündkcher Verkehr auf der Konferenz war nur mit den Sozialisten aus den zentralen Landern möghch; denn nur sie, in Deutschland sogar auch die Unabhangigen, bekamen Passé für die Reise nach Stockholm, wahrscheinlich nicht, wie Troelstra auBerte, weil die Zentralen strategisch gunstiger standen und deshalb am liebsten so rasch als mögkch Friedensverhandlungen angeknüpft hatten, sondern eher, weil sie trotz ihrer an- *) In seiner oben zitierten Bede, S. 22. *) Z. B. ais Anhang zu Troelstras zitierten Bede zu finden. 18* 275 scheinend so günstigen militarischen Lage, sich der groBen Gefahren bewuBt waren, welche die Zukunft für sie barg, und darum alle Friedensmöglichkeiten auszunützen strebten. Die Ententespzialisten erschienen jedoch nicht in Stockholm, sondern hielten ihre eigene Konferenz in London ab. Nur die russischen sozialistischen Abgeordneten, die damals Europa bereisten, hielten die Fiktion der Internationale durch ihre Anwesenheit einigermaBen aufrecht. Die Londoner Konferenz war, wie Troelsixa es ausdrückte, für die in Stockholm verderblich. Man konnte sich über die Forderungen, welche die Sozialisten der Ententelander erheben sollten, nicht einig werden. Dieser Umstand erleichterte es den Regierungen, die Passé zu verweigern, was denn England, Amerika, Frankreick und Italien verabredungsgemafi auch taten. Dabei ist sicher ihre Abneigung gegen Friedensbesprechungen im gegebenen Moment, und dazu noch mit Umgehung der Regierungen, maBgebend gewesen, weniger die Angst vor dem Soziaksmus. Die Stockkolmer Konferenz blieb infolgedessen unvollstandig. Die inoffiziellen Besprechungen mit einigen führenden Sozialisten der Ententelander, als diese auf dèm Wege nach RuBland, wo sie Versöhnung stiften wollten, Stockkolm passierten, konnten das nicht wieder gutmachen. Stockholm hat auch auf die innerpolitischen Verhaltnisse einiger Lander sichtbar eingewirkt. In England trat Henderson wegen der Verweigerung der Passé aus der Regierung aus, und auch in Frankreich machte sich eine Protestbewegung geltend. Am starksten war die Wirkung jedock in Deutschland. Die bekannte Reichstagsresolution vom Juli 1917, durch die sich die Mehrheit des Reichstages gegen den Annexionismus erklarte, wurde anscheinend unter dem Einflufi der Stockholmer Konferenz angenommen x). Darum sind wohl der Wert und die Bedeutung der sozialistischen Friedensbewegung höher anzuscblagen als die der Pazifisten, und sèhr viel höher als die der hollandischen Kirchen, die sich auch mehrmals gegen den Krieg aussprachen und sich an die Protestanten anderer Lander wandten2), aber damit keinerlei Erfolg gehabt zu haben scheinen. Unsere Übersicht kann zeigen, daB Holland' in der Friedensbewegung einen wichtigen Platz eingenommen hat, ja dabei vielleicht mehr als irgendein anderes Land in den Vordergrund getreten ist. Die hollandische Regierung hielt sich jedoch abseits. Sie hatte zweifellos nichts lieber getan als vermittelt, wie sie zu Anfang des Krieges auck erklart hat, und sah jeden Schritt und jeden Versuch den Frieden zu fordern, mit Freude. Dafür zeugt folgender Ausspruch von Cort van der Linden: „Dabei handelt es sich *) Troelstra, a. a. O. S. 12. *) Hier ware unter anderem zu eriimern an den „Aufruf an unsere christlichen Brüder in den kriegführenden Landern", der von der „hollandischen Abteilung des Weltbundes der Kirchen zur Forderung des Einverstandnisses zwischen den Vólkern" am 26. Dezember 1916 erlassen wurde. 276 nicht um die Frage, ob die Aussichten, einen Ausweg aus diesem Labyrinth des Elends zu finden, gering oder bedeutend sind, sondern wir müssen Hand anlegen, wo das nur immer möglich ist1)." Jedoch war die Regierung, wenigstens soweit wir wissen, nie der Ansicht, dafi der gunstige Augenblick für eine Aktion von ihrer Seite gekommen sei, und man kann ihre Haltung verstehen, wenn man bedenkt, welcher Hafi sich zwischen den Kriegführenden aufgetürmt. hatte, und welchen Verdachtigungen jeder ausgesetzt war, der einen Finger für den Frieden rührte. Wurde Troelstra wegen seiner Bemühungen für Stockholm und seines Verkehrs mit deutschen Parteigenossen, besonders mit Scheidemann, in den Ententelandern nicht als prodeutsch verschrieen ? Alle Versuche, besonders von seiten des AntiOorlograad, um die Regierung zu einem Friedensschritt zu ermuntern, bkeben ebenso wie alle ahnkchen Bemühungen einzelner Mitglieder der zweiten Kammer vergeblich, desgleichen eine Erklarung von drei Kammermitgliedern 2) im Juk 1918, dafi sie den Moment für einen Schritt der hollandischen Regierung für gekommen und es für 'die Aufgabe Hokands hielten, „eine grofie Tat im Interesse des Friedens zu tun" 3). TJberdenkt man das Gesagte, dann erscheint es nicht verwunderhch, j dafi Holland in den Berechnungen jener Kriegführenden, die selbst einen Friedensschritt unternehmen wollten, ein Faktor von Bedeutung wurde. Die Geschichte der wahrend des Krieges geführten Friedensverhandlungen, beziehungsweise der Versuche zu solchen, ist bis jetzt nur sehr summarisch bekannt. Soviel steht jedoch fest, dafi solche Bemühungen mehr von den Zentralen als von den Alliierten ausgegangen, und dafi, soweit Deutschland in Frage kommt, die Faden hauptsachlich von Holland aus gesponnen worden sind. Wahrscheinkch sind darauf die vielen Beziehungen, die Kühlmann als deutscher Gesandter im Haag anknüpfte, und das freundschaftliche Verhaltnis zwischen den Hausern Oranje und Hohenzollern in den Jahren vor dem Kriege von EinfluB gewesen, zusammen mit mehr allgemeinen Faktoren, die sich aus der pazifistisch gerichteten Stimmung in Holland ergaben. Um so verwunderlicher ist es, dafi es der deutschen Regierung, die sich der Vermittlung von Hollandern bedienen wollte, nicht ohne weiteres klar war, wie nützkch dabei eine unzweideutige Erklarung über Belgien sein mufite, d. h. eine Bestatigung des Standpunktes, den Bethmahn-Hollweg in seiner groBen Reichstagsrede vom 4. August 1914 prazisiert hatte. Die deutsche Regierung kann sick unmöglick je im unklaren darüber gewesen sein, welche Bedeutung man in Holland der bedingungslosen Freigabe Belgiens beimafi. Die diesbezüglichen AuBerungen sind Legion 4), und in allen Friedensprogrammen, die wahrend des Krieges wo immer auch auf- *) In der zweiten Kammer am 10. Juni 1915. ') Dresselhuys, Kooien und Butgers. *) Siehe u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 9. Juni 1918, Morgenausgabe B. *) Siehe darüber oben S. 69. 277 gestellt worden sind, ist die Wiederherstellung von Belgiens Freiheit der allererste Punkt. Deutlichkeit darüber von seiten Deutschlands würde die Mitarbeit für den Frieden für die Hollander, an die man sich wandte, leichter gemacht haben, ja noch mehr, sie hatte in den ersten Zeiten des Krieges — davon war und bin ich aucb heute noch überzeugt — den Frieden vielleicht bringen oder wenigstens in den Bereicb des Möglichen rücken können. Aber Deutschland hat sich von jener Erklarung vom 4. August entfernt, und das hat sich bei allen Friedensbemühungen gerachtx). Fataler vielleicht noch als die Aufgabe des Standpunktes vom 4. August war der Umstand, dafi keine deutlich umrissene Politik an seine Steke trat. Tirpitz und Ludendorff — um nur diese beiden Hauptpersonen zu nennen — waren sehr verschiedener Meinung über die bezüglich Belgiens zu stellenden Forderungen. Der letztere hielt z. B. die Annexion der flamischen Küste für überflüssig *). Und dann die Reichsregierung — ja was hatte sie eigentlich mit Belgien vor? Ich habe vielerlei darüber gelesen, aber, ehrlich gesagt, ich bin mir heute noch nicht klar darüber. Sie scheint zu verschiedenen Zeitpunkten sehr verschiedene Plane gehabt zu haben. Für die bedingungslose Freigabe Belgiens — und auf sie kam es an — wagte oder wünsckte jedenfaks eigentkck niemand mehr einzutreten. Als Tauschobjekt hielt man es für alle Fake für sehr nützkch. Das scheint mir auch der Sinn folgender Aufierung Kühlmanns zu dem Obersten von Haeften zu sein, die Ludendorff mitteilt3): „Wer sagt Ihnen überhaupt, daB ich geneigt bin, das Pferd Belgien zu verkaufen? Darüber habe ich zu entscheiden. Vorlaufig steht dieser Gaul gar nicht zum Verkauf." Aber auch noch in anderer Hinsicht ist diese Aufierung von Interesse — und das gilt für viele ahnkche. gleichfalls —, insofern sie namlich beweist, von wie verschiedenem Standpunkt aus die miktarischen und politischen Leiter Deutschlands ihre Handlungsweise orientierten oder wie wenig sie gegenseitig ihre Ansichten kannten. Sie scheinen einander nicht genügend verstanden zu haben, ja manchmal hat man den Eindruck, als ob sie sich gegenseitig mifitraut hatten. Nicht nur die belgische sondern auch eine ganze Anzahl anderer mit dem Frieden zusammenhangender Fragen können dafür als Beleg dienen. Eine derartige Situation mufite bei jedem Friedensversuch hinderlick sein. Wen dabei die meiste Schuld traf, die Miktar8 oder die Poktiker, brauche ich hier nicht zu entscheiden, ebensowenig wie die Frage, ob Deutschland vor dem Zusammenbruch hatte Frieden schlieBen können, aucb wenn es eine völüg einheitliche, poktische und militariscke Leitung besessen hatte, und wenn eine Figur wie Bismarck an der Spitze gestanden hatte. Die Entente hatte dabei auch ein Wort § Siehe oben S. 124. *"> Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen, S. 416. *j a. a. O. S. 412. 278 mitzureden, und über ihre Ansichten, sowie über deren Bildung und Umbildung wahrend des Krieges, ist noch nicht viel bekanntgegeben. Zum ersten Male waren Hollander an einem Friedensversuch beteiligt im Jahre 1915. Ich übernehme den von deutscher Seite darüber publizierten Berichtvi^raï? „Schon 1915 hatte England zu verstehen gegeben, daB es bereit sei Friedensverkandlungen anzuknüpfen, wenn Deutschland von Belgien absehen wolle. Auf Grund wiederholter Dementierung diesbezüghcher Geruchte, die auch nach Deutschland gedrungen waren, schrieb der pensionierte Bittmeister Kurt von Trepper - Laski am 8. Juni 1915 an die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", er habe im April auf Einladung des Nederlandsehe Anti-Oorlograad mit englischen, schweizerischen, österreichischungarischen und skandinavischen Friedensfreunden eine Zusammenkunft im Haag gehabt, an der auch Professor Schücking teilgenommen habe. Mr. Dresselhuys, der Vorsitzende des N.A.O.R., habe dabei den beiden deutschen Herren mitgeteilt, schon zweimal hatten Englander von politischer Bedeutung sich ihm genahert, um Fühlung mit einflufireichen Kreisen in Deutschland zu bekommen, mit denen man eventuehe Friedensmögkchkeiten besprecben könnte. Auf ausdrückkchen Wunsck kabe Mr. Dresselhuys einen Vertrauten nach England geschickt, der dort eine Bespreckung mit einer tonangebenden Persönkckkeit gehabt habe. Auf Grund derselben erklarte Mr. Dresselhuys, England sei bei Raumung Belgiens zu groBem Entgegenkommen in kolonialer Hinsicht bereit. Wenn man sich in Deutschland dafür interessiere, sei er, Dresselhuys, bereit, auf telegraphisches Ersuchen sofort nach Berlin zu kommen, um als neutraler und privater Vermittler die ersten unverbindüchen 'Besprechungen zu führen. Er woüte das jedoch nur tun, wenn er aus Berlin feste Zusagen mitbekomme, da er auch von der anderen Seite über ernsthafte Unterlagen verfüge. Auf die Fragen Professor Schückings, ob er auck nack Berlin kommen wokte, wenn Deutschland einen rein miktarischen Stützpunkt an der belgischen Küste fordere, antwortete Mr. Dresselhuys, er fürchte, daB die Unterhandlungen in diesem Fake zu nichts führen würden, sei jedoch trotzdem bereit, nach Berkn zu gehen. „Auf verschiedenen Wegen setzten die beiden Herren die deutsche Regierung von diesen Möglichkeiten in Kenntnis. Die ihnen durch den früheren Gesandten von Stumm überbrachte Antwort lautete, daB nach seinen ïnformationen augenblickkck an leitender SteUe nichts auszurichten sei, weshalb er zu verstehen gab, man müsse Mr. Dresselhuys einen ablehnenden Bescheid geben. Nach langem Hin- und Herreden gelang es Professor Schücking, diese Antwort insoweit zu mildern, daB sie lautete, *} Nieuwe Botterdamsche Courant vom 19. August 1919, Morgenausgabe, nach der „Germama". a ' 279 vorlaufig sei ein Besuch von Mr. Dresselhuys in Berlin unnötig. Darauf erschien am 24. April in der ,Norddeutschen Allgemeinen Zeitung' ein offiziöses Dementi der deutschen Regierung, das von einem ,Sonderfrieden' mit England sprach, wovon jedoch in den erwahnten Besprechungen nie die Rede war." Trepper-Laski betonte in der „ Germania" noch, die beiden deutschen Friedensfreunde hatten .sich im Haag einer vollendeten Tatsache gegenüber befunden, insofern die AuBerungen der hollandischen und engbschen Herren ganz deren eigener Initiative entsprungen seien. Die „Germania" fügte hinzu, die Besprechungen im Haag hatten nach der wohlbegründeten Uberzeugung Trepper-Laskis nicht ohne Kenntnis von Sir Edward Grey stattgefunden. Zu den damals anwesenden Pralaten habe auch der papstkche Nuntius zu Budapest, Alexander Giefiwein, gehort. Auch von anderer Seite ist mir zu Gehör gekommen, dafi 1915 von englischer Seite eine gewisse BereitwilUgkpit zu Friedensbesprecbungen an den Tag gelegt worden sei. Die Einzelheiten des Berichte der „Germania", der meines Wissens nie dementiert worden ist, kann ich jedoch weder bestatigen noch widerlegen 1). Unsere Aufzahlung der Friedensbemühungen, an denen Holland beteiligt war, mufi dann einen Sprung bis zum September 1917 machen, womit natürlich nicht gesagt sein soll, dafi in der ganzen Zwischenzeit nichts in dieser Hinsicht vorgefallen sei. Es ist der sogenannte engksche Friedensversuch von 1917, an und für sich doch kaum mehr als ein sehr vorsichtig ausgestreckter Friedensfühler, den ich hier meine. Der Brief des papstkchen Nuntius zu München, welcher eine Abschrift eines dem Kardinalstaatssekretar in Bom vom englischen Gesandten beim Heiligen Stuhl übergebenen Telegrammes enthielt, das eine Antwort der englischen Regierung auf den kurz zuvor vom Papste erlassenen Friedensaufruf darstekte, veranlafite den damaligen Reichskanzler Michaeks zu einer Besprechung mit den Staatssekretaren 2). Er berichtete darüber auch dem Kaiser, den er um Einberufung eines Kronrates bat, zu dem auch Vertreter des Heeres und der Marine eingeladen werden sokten. Er selbst war mit Kühlmann der Meinung, es sei zwar mögkcb, „dafi wir mit einer ernsthaften englischen Sondierung zu tun batten, dafi jedoch der durch den Nuntius mitgeteilte Text des Telegramms des „Foreign Office" an den engbschen Gesandten beim Vatikan nicht mit der nötigen Sicherheit, deren wir bedürften, um unseren Standpunkt in der belgisehen 1) Auch von Gerlach bestatigt ihn in der Hauptsache in einem Artikel der „Welt am Montag". Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 29. Juli 1919, Morgenausgabe B. 2) Die diesbezüglichen Akten sind bekanntlich von der deutschen Regierung im Juli 1919 veröffentlicht worden. Siehe u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 29. Juli 1919, Abendausgabe B, und 30. Juli 1919, Morgenausgabe A. 280 Frage aufzudecken, zeigte, dafi England ernstlich beabsichtigte, mit der deutschen Regierung Frieden zu scbliefien, und zwar unter annehmbaren ±Jedingungen. Deshalb vereinbarte ich mit Kühlmann, es solle in érster Linie versucht werden, der engbschen Regierung durch einen von Kühlrnann dazu bestimmten neutralen Diplomaten auf den Zahn zu fühlèn. lm Kronrat vom 11. September schlug ich unter Zustimmung Kühlmanns vor, der Kaïser möchte mich ermachtigen, wenn nötig zu erklaren, dafi Deutschland bereit sei, Belgiens territoriale Unverletzkchkeit und Souveranitat anzuerkennen. Die Vertreter der Heeresleitung setzten die Gründe ausemander, weshalb sie die militarische Kontrolle der Festung Lüttich und ihrer Umgebung für nötig hielten. Der Kaiser entschied sich für meinen Antrag, mit dem Vorbehalt, die Frage müsse erneut untérsucht werden wenn der Verzicht auf Belgien nicht vor Ende des Jahres zum Frieden fuhre und uns keinen neuen Kriegswinter erspare. In diesem Sinne wurde der neutrale Unterhandler instruiert. Aufierdem wurde ihm in meinem Auftrage mitgetekt, für uns handle es sich in erster Linie darum dafi unser Besitz von vor dem Kriege, einschheBlich der Koloniën, unangetastet bleibe und dafi von Schadenersatz und jeder Fortsetzung des Wirtschaftskneges nach Friedensschlufi abgesehen werden müsse" Q. Die genauen Instruktionen des neutralen Diplomaten, den ich für einen Hokander halten zu dürfen glaubte 2), sind bisher nicht bekannt geworden 3). Was die Keichsregierung hinsichtkck Belgiens eigentlich beabsichtigte, ist deshalb auch heute noch nicht zu sagen. Das Memorandum, das Ludendorff auf Grund der genannten Besprechungen ausarbeitete, ging in seinen Forderungen bezügbch Belgiens sehr weit, und eine derselben, namlich die auf engen wirtschafthchen AnschluB Belgiens an Deutschland, „an der Belgien auch ein eigenes Interesse haben sollte", ist offenbar von der Regierung übernommen worden*). Ob sie auch Ludendorffs Auffassung geteilt hat, daB Holland bei einer verstandigen Interessenpoktik, infolge von Belgiens wirtschaftkckem AnschluB bei Deutschland, der nach Ludendorffs Meinung auch dessen politischen Anschlufi nach sich ziehen würde, ebenfaks zu Deutschland kingezogen werden würde, besonders wenn sein Kolonialbesitz durch ein mit Deutschland verbündetes Japan garantiert a r 6 £e ?en Erklkrungen von Michaelis, deren letztere er auch im Namen der früheren Heeresleitung und Helfferichs abgab, im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 28. Juli 1919, Abendausgabe C, und 8. August 1919, Morgenausgabe B. *) Ludendorff, a. a. O. S. 413, lafit jedoch die Möglichkeit offen, daB es sich stand Spam8C Gesandten in Brussel handelte, mit dem Kühlmann in Verbindung *) Vielleicht existieren darüber gar keine Akten, vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. November, Abendausgabe B. *) Vgl. die erste der beiden Erklarungen von Michaelis. Oben habe ich mich an die zweite als an die meist offizielle gehalten. 281 ware?1). Wer weifi? Wenn ja, dann hat sich die Reichsregierung gewaltig verrechnet. Ich fiir meinen Teil kann nicht glauben, daB Kühlmann, der die koll&ndische Mentaktat gut kennen gelernt hatte, dabei stikgeschwiegen hatte. Die Bemühungen des neutralen Diplomaten, mit dem Kühlmann offenbar persönkck bekannt war, hatten kein Resultat. „Es stekte sick keraus, daB auf der von Deutschlands politischen Leitern angegebenen Grundlage, die auch mit der Friedensresolution des Reichstages im Einklang war, die engksche Regierung nicht zum Friedensschlufi bereit war. Damit war erwiesen, dafi der Kardinalstaatssekretar und der Nuntius dem Brief des ,Foreign Office' eine Bedeutung beigemessen hatten, die ihm nicht zukam." Soweit Michaeks. Aber, stand denn die erwahnte Grdndlage auf dem Boden der Friedensresolution des Reichstages? Scheinbar ja, da dabei von direkter Annexion nicht die Rede war. Jedoch auch de facto, wenigstens hinsichtlich Belgiens? Daran darf man füglick zweifeln, man denke nur an Ludendorffs Gedankengange! Und dieser Zweifel mufi für die engksche Regierung schon Grund genug gewesen sein, dieses Friedensangebot von der Hand zu weisen, abgesehen noch von der Frage, inwieweit andere Faktoren wie die, Haltung Österreicks und dergleichen, worüber man in Deutschland soviel redete, darauf von EinfluB gewesen sind. Wieder ein Jahr weiter! Es war am 8. August 1918, als die deutsche Heeresleitung zu dem Ergebnis kam, dafi es nicht mehr móghch sei „eine strategische Aushike zu finden, welche die Lage wieder zu unseren Gunsten festigte"2), eine Folgerung, die für die Zukunft der Welt von der allergröBten Bedeutung war. Nun kam es zu einer der verwirrendsten Episoden des Friedensspiels, bei der wiederum deutlich die Richtigkeit unserer oben ausgesprochenen Meinung von der geringen Zusammenarbeit zwischen miktarischer und poktischer Leitung in Deutschland an den Tag trat. Am 14. August fand, nach Beratungen zwischen der miktariscken und pobtischen Leitung tags zuvor, eine grofie Konferenz im Hauptquartier statt3), die durch die Anderung der Kriegslage dringend notwendig geworden war. Man sah akgemein ein, dafi Friedensverhandlungen angeknüpft werden müBten, und dafi Deutschland zu einer sehr entgegenkommenden Haltung genötigt sei. Auck hinsichtlich Belgiens begriff man die Notwendigkeit von Zugestandnissen. Ludendorff spricht von einer EntschkeBung, „die unserer ungünstiger gewordenen miktariscken Lage *) Vgl. das Memorandum, u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 31. Juli 1919, Abendausgabe B. Das Resumé, das Ludendorff in seinen „Kriegserinnerungen" (S. 413 ff.) von diesem Memorandum gibt, enthalt die zitierte Stelle nicht. Der ganze Ton des Resumés ist etwas gemafiigter als der des Memorandums selbst. s) Ludendorff, a. a. O. S. 551. °) Siehe darüber: Vorgeschichte des Waffenstillstandes,' Amtliche Urkunden, herausgegeben im Auftrage des Reichsministeriutns von der Beichskanzlei. Berlin 1919, Verlag von Reimar Bobbing in Berlin. Auch Ludendorff, a. a. O. S. 553ff. 282 Rechnung trug". Einen 'vöUigen Verzicht auf Belgien enthielt sie noch nicht; denn sie stimmte zu den Aufsehen erregenden Aufierungen, die der deutsche Vizekanzler von Payer in eiuer zu München gehaltenen Rede über die belgische Frage tat, und diese befriedigten jene, die Belgiens völlige Unabhangigkeit wiederhergestellt sehen wollten, keineswegs. Die Friedensbedingungen, die man sich nun anzubieten vornahm, sind nicht bekannt geworden. Ob sie jemals vokstandig ausgearbeitet worden sind? Wie dem auch sein möge, in der Zusammenkunft zu Spa vom 14. August wurde auf jeden Fall beschlossen, die Vermittlung einer neutralen Macht anzurufen, um zu Friedensverhandlungen zu gelangen. In Übereinstimmung mit dem Wunsch des Kaisers fiel die Wahl auf Königin Wilhelmina von HoUand. Auch der König von Spanien wurde genannt Was ist dann weiter geschehen ? Von Hintze, nach Kühlmanns Rücktritt Staatssekretar des AuBern, kat darüber folgendes erzahlt2): „Am 14. August 1918 war ich ermachtigt worden, Holland um seine Vermittlung zu ersuchen, nachdem ein Erfolg an der Westfront die militarische Lage wieder ins Gleichgewicht gebracht haben würde. Der Generalstab hatte nachdrückkch betont, es könne keinerlei Friedensversuch unternommen werden, solange die militarischen Mifierfolge anhielten. Tags darauf kam Kaiser Karl zu Besuch ins Hauptquartier mit dem Plan einer „Note an alle", der von Burian stammte und durch Publikation der Note am 14. September dann der ÖffenÜichkeit bekannt wurde. Dieser Notschrei an alle wurde vom Generalstab und vom Beichskanzler einstimmig abgelehnt, da man ihn für inopportun hielt. Es blieb bei dem Vorschlag, die lntervention einer neutralen Macht anzurufen. Neben den Besprechungen über eine Vermittlung durch Holland führte ich solche mit Hohenlohe 3), der sich dazu erboten hatte, über eine Dazwischenkunft des Königs von Spanien. _ Unsere diplomatischen Bemühungen richteten sich inzwischen darauf, Osterreich-Ungarn zu bewegen, den Notschrei zurückzuhalten und mit uns Schritte bei Holland zu tun. Ende August 1918 sprach ich mit dem hollandischen Gesandten, Baron Gevers, über ein eventueUes hollandisches Eingreifen und fand ihn dazu vollkommen bereit und meinem Vorschlag sehr geneigt. Am gleichen Tage, am 28. oder 29. August, wenn ich mich recht entsinne, machte ich Hohenlohe davon Mitteilung und hob gegenüber Burians Vorschlag Hollands Bereitwilligkeit hervor." Daraüs scheint sich zu ergeben, dafi nach den Beratungen mit Kaiser Karl, der einem direkten Friedensschritt den Vorzug gab, von deutscher Seite doch Besprechungen mit HoUand gehalten wurden und dafi wenigstens l) Das sagt Ludendorff in seiner Broschüre: Das Schei tem der neutralen Friedensvermittlung August—September 1918. Berlin 1919, Ernst Siegfried Mittler & Sohn, Heft 1, S. 9—10. *) In seinen Artikeln in der „Frankfurter Zeitung" vom 22. und 31. Juli 1919. *) Gemeint ist der Fürst von Hohenlohe-Langenburg. 283 der hollandische Gesandte sich dabei in ermutigendem Sinne ausgelassen hat. Inwieweit der an Hintzes Auftrag geknüpfte Vorbehalt, den dieser erwahnt — er wird übrigens von Ludendorff geleugnet *) —, ihm bei dessen Ausführung hinderlich gewesen ist, ist nicht weiter ersichtlich, ebensowenig wie weit die Unterhandlungen gediehen waren, als die österrèichische Friedensnote am 14. September gegen den Willen Deutschlands abgesandt wurde. Oder haben etwa in der Zwischenzeit keine weiteren Besprechungen stattgefunden? Nach der Absendung der österreichischen Note sicher 2). Denn in dem Weifibuch über die Vorgeschichte des Waffenstillstandes ist zu lesen 3): „Vom 18. September und von den folgenden Tagen datieren Telegramme, in denen von Versuchen bericbtet wird, die gemaeht worden sind, um in Verbindung mit dem österreichischen Schritt die Vermittlung einer neutralen Macht herbeizuführen. Nach einem Telegramm vom 29. August war günstige Aufnahme eines solchen Wunsches zu erwarten. Der jetzt eingeleitete Gedankenaustausck zog sick bis in die letzten Septembertage hin, führte aber nicht zum Ziel. Die Veröffentlichung der Aktenstücke kierüber mufi, da sie keine einseïtig deutscke Angelegenheit ist, spaterer Zeit vorbehalten bleiben." Die Hauptsache hieran ist, daB der iWeinungsaustausch auf jeden Fall nicht zu einem Resultat geführt hat. Man darf natürkch annehmen, dafi die hollandische Eegierung ein an sie gerichtetes Ersuchen um Vermittlung freundlich aufgenommen hat, wie sie ja auch auf den am 25. September von der österreichischen Regierung ausgesprochenen Wunsch, Den Haag für die aus ihrer Note vom 14. September sich eventuell ergebenden Friedensverhandlungen als Tagungsort zuzugestehen, in günstigem Sinn antwortete. Sie auBerte sich damals folgendermafien 4): „Le gouvernement des Pays-Bas dans 1'appbcation de la neutralité ne s'est pas laissé guider par des considérations visant uniquement les intéréts propres du pays, mais il a eu le souci dès le début de la guerre, de faire servir sa position de neutre k l'hospitakté envers les^ belkgérants. 1 Confó,rmément k 1'attitude qu'il a constamment observée, le Gouvernement des Pays-Bas s'empresse de déclarer que Sa Majesté la Reine s'estimera toujours heureuse d'offrir l'hospitalité de sa résidence en vue de réunions que les deux groupes des belligérants voudraient y tenir. „D'avis qu'il aurait tort de ne pas informer les gouvernements des autres pays belkgérants de la démarche de 1'Autriche - Hongrie et de la J) In seiner obengenannten Broschiire. Steht jedoch in dem Protokoll der Konferenz vom 14. August. Vgl. Vorgeschichte S. 15. *) Hertling hat jedoch geauBert, die österrèichische Note habe den Weg nach Holland auf Wochen versperrt. Vgl. Ludendorffs Broschiire, S. 34. *) S. 25. *) Laut offizieller Mitteilung; siehe Nieuwe Botterdamsehe Courant vom 28. September 1918. 284 réponse qui y fut faite, le gouvernement des Pays-Bas a chargé par voie télégraphique ses représentants diplomatiques dans les pays en question d'en faire part aux gouvernements respectifs." Aber die Ereignisse sollten sich in ganz anderer Weise vollziehen, als Deutschland und Osterreich-Ungarn im September zu inaugurieren sucbten. Gerade Ende September brachten die Geschehnisse auf dem Balkan von neuem eine ernste Wendung. Man füfilte auf seiten der Zentralen die Dringbchkeit des Friedens immer lebhafter. Die deutsche Heeresleitung verlangte nun energischer die Einleitung von Friedensverhandlungen. Die kurz darauf in Deutschland gebildete neue Regierung kam diesem Wunscbe nach. Es ist bekannt, wie es dann zum Waffer^tiUstand vom 11. November gekommen ist, ganz ohne Vermittlung einer neutralen Macht und ohne Zutun Hollands, weshalh wir darüber weiter nicht zu reden brauchen. Inwieweit die Haltung der Reichsregierung im August und September, die auf jeden FaU keineswegs durchgreifend gewesen zu sein scheint, eine gute Gelegenheit, Deutschland einen besseren Ausgang des Kampfes zu sicherh, damals vorbei hat gehen lassen, laBt sich nicht beurteilen, bevor noch mehr Material darüber zur Verfügung steht. Als es im Oktober durch die Berufung auf Wilson endkch zu ernsthaften Besprechungen kam, waren die Aussichten für Deutschland vorbei. Von Verhandlungjen war eigentlich keine Rede mehr, sondern die Bedingungen der Partei, die nun plötzkck vokstandig siegreich geworden war, wurden der andern einfach auferlegt. Holland hatte, wie ich schon betonte, Grund zur Freude darüber, daB es nun Frieden geben sollte. Trotzdem kam keine eigentlich glückkche St immung auf. Die Verhaltnisse im eigenen Lande waren keineswegs erfreukch. Auch überstürzten sich die Ereignisse, eines immer wichtiger als das andere, derart, daB man sie gar nicht recht in sich aufnehmen konnte. AuBerdem fragte man sich mit einiger Besorgnis, was das inden Waffenstülstandsbedingungen sich auBernde harte Auftreten der Alkierten und Assoznerten gegen Deutschland eigentlich für Folgen haben sollte? War das nun der Vorbote für den Verstandigungsfrieden, dessen Signatur alle in neutralen Landern aufgestellten Friedensprogramme trugen, und den die meisten Hokander für die Zukunft der Welt für das beste kieken? Versprach das nun die Verwirkkchung von Wilsons idealen Grundsatzen durck den Frieden zu werden, denen man in Holland ganz allgemein freudig zugestimmt katte. Man begann ziemlich skeptisch zu werden, war auch wohl einigermafien enttauscht, daB HoUand bei den Friedensunterhandlungen keine aktive Rolle werde spielen können, und die Friedenskonferenz jedenfalls nun nicht im Haag stattfinden würde. Hatte man doch gehofft, daB man sich in Hollands Residenz zum FriedensschluB zusammenfinden würde, wie ja auch englische und deutsche Unterhandler im letzten TeU des Krieges hier über den Austausch der Kriegs- 285 gefangenen, der in beschranktem MaBe über Holland stattfand, konferiert batten. Der Ton verletzter Eigenkebe klang besonders stark im „Nieuwe Rotterdamscbe Courant" an, der am 11. November abends schrieb: „Das einzige Gute, was am WaffenstiUstand ist, ist, daB er nur dreifiig Tage dauern soll. Ein rascher Friede kann vieUeicht in wenigen Tagen an seine Stelle treten." Aber so bitter war man durchaus nicht allgemein gestimmt Hier und da wurde geflaggt und kam eine festliche Stimmung zum Vorschein. Folgender jltimmungsbéricbt aus Amsterdam dürfte ganz bezeichnend sein *): „Es ist merkwürdig, wie langsam eine Stadt von der GröBe Amsterdams auf wichtige Neuigkeiten reagiert, wie sie der Sonntag und Montag gebracht hat. Ist es die Schwerfalligkeit groBer Körper, zu denen ja ein Gemeinwesen von 650000 Einwohnern zu rechnen ist, die daran schuld ist, oder ist das Publikum durch die Flut aufsehenerregender Nachrichten, welche die letzte Zeit auf sein BewuBtsein einstürmte, abgestumpft? Sicher ist jedenfaUs, daB der EinfluB der groBen Neuigkeit erst heute Mittag sich langsam im Stadtbild gekend machte. Zuerst flaggten die Konsulate -der Lander der Alkierten, dann eine Anzahl französische Handelshauser. Es war besonders die französische Trikolore, die man im Zentrum der Stadt aushangen sah, vereinzelt auch die hollandische Fahne. Das StraBenpublikum begann sich nun auf einmal in Gruppen zu sammeln und zu disputieren, nicht nur vor den Schaufenstern, in denen die Bulletins mit der nun schon wieder alten Neuigkeit auskingen, sondern hier und da auch rings um die Austrager der neuen Zeitungen. Auch die Ladeninhaber, welche aktuelle Bilder ausgehangt hatten, konnten sich über Mangel an Aufmerksamkeit nickt beklagen. Was sie ausgestekt hatten, z. B. das Portrat von MarschaU Foch in einer rot-weiB-blauen Umrahmung, eine eben herausgekommene Karikatur auf die Besiegten — der gewesene deutsche Kaiser und der Kronprinz als Bankrotteure an der Spieltafel —, oder auch alte Bilder wie Napoleon bei Moskau oder eine Kapitulation bei Sedan fand das regste Interesse. Die Belgier, d. h. die belgischen Internierten, hatten schon begonnen Viktoria zu feiern. Jetzt, wo das Ende ihrer Verbannung aus dem Vaterland gekommen zu sein schien, zog ein Trupp von ihnen mit einer rot-gelb-schwarzen Fahne'durch die Stadt, und sah man die Belgier allenthalben sich versammeln, da und dort auch in den Kaffees, um den WaffenstiUstand und die Beendigung des Krieges zu feiern." Zu den Ereignissen, welche in jenen Tagen die Aufmerksamkeit der Hollander stark in Anspruch nahmen, gehorte natürkck auch der Übertritt des eben entthronten Wilhelm von Hohenzollern auf hollandisches Gebiet. Viele behaupteten damals, sie batten den Fall Kaiser Wühelms II. und *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 12. November, Abendausgabe C. 286 seiner Dynastie schon lange kommen sehen. Man wik so gerne prophezeit haben! Eimge Anzeichen dafür, daB in Deutschland die Tione^nkten waren allerdings im Oktober zu konstatieren, und diesbezügliche Wünsché des Auslandes hatte man ja schon langer vernommen. aL zu glaXm dafi das deuteche, besonders das preufiische Volk die Bande, die^s mit T ^kT^ T^P*"' Wirklicn ZerreiBen warde' dazu gehorte mehr Einbildungskraft als die Hollander im ahgemeinen besLfn Als das nun doch geschah, wirkte es konsternierend. Und dann plötzbct die Meldung dafi der Kaiser über die Grenze gekommen sei! Der Mann den man sich, besonders in den letzten Jahren, nur mit der eisernen Faust vorstellen konnte, war nun auf der Flucht vor der Revolution und konnte iTa?T!i7M-JnVbx vertrauen! Es ™ erfreubcher Kontras" Schon deshalb bewillkommnete man Wilhelm von Hohenzollern nicht von fürchtete 8 n ' *UOh Schwierigkeiten mit der Entente Ja, sie waren wenig heroisch, die Einfahrt der kaiserkchen Autos in 'Eysden am fruhen Morgen des 10. November und das Erscheinen des Kaïsers dort. Man halte daneben Napoleons Abschied von Frankreich seine Haltung auf dem Bellerophon und seinen Brief an den PrinzïegenTen! Solche Emzehieiten pragen sich unauslöschlich dem Gedfichtnis eb. An ^ ^ W^elT-U\i5t abCT Dicht8' was diesem historischen Ereignis ^^JEE*?»drohen 8ich einem in der ™ Der Vorgang spielte sich folgendermafien ab: Am 10. November, unt VüL H m^eas'vm°ldete .8ich bei der hokfindischen Grenzwache 'X« wïï^ fTn ZU f78de? dne Reisegesekschaft von 9 Autos an. Die Wache, welche Order hatte, keine bewaffneten Personen hereinzulassen verweigerte ihr den Ubertritt über die Grenze. Übrigens werde dlTzoü bureau erst um 7 Uhr geöffnet, was der inzwischen auch eSenet Zot beamte bestatigte Die HoMnder bheben bei ihrer Weigerung, auch als ein Mitghed der Reisegesellschaft ihnen mitteilte, er sei Wilhelm von HohenzoUern, der Deutsche Kaiser. In Erwartung dér Grenzöffnung unteï Sd. ^kai-Ser mit t^en Banem' d" als ZusehaueAerum- standen und fragte einen von ihnen, wieviel Grad Kalte es die letzte Nacht gegeben habe. Der Kaiser sah wohl aus und unte^hielt sich lebhaft mit STl. Uf^& ■llm l U^ WUrde die öeB^ft offiziell unter mTü tarischer Aufsicht uber die Grenze gelassen. Die Zollrevision fand statt rin '1" ?kaiSer bTi.b 8ich V°m »Weifien Haus" nach d<* Eisenbahh! station. Es waren noch wenig Zuschauer auf den Beinen. Alles vollloe sich in vollster Ruhe^ Nach einigen Schritten auf und ab vor dem StatS gebaude, wobei er sich fortwahrend unterhielt, ging der Exkaiser hinein und spazierte spdter m Gesellschaft des Majors Van Deyl, des Garnisonkömmandanten von Maastricht, auf dem Perron, den knkén Arm am Korper 287 in der rechten Hand einen Spazierstock. Das zahkeiche Gefolge von Generalen, Admiralen und anderen Offizieren hkeb in einiger Distanz. Ailmaklick sammelten sich auck Neugierige an. Es wurde gepfiffen und eerufen Nach Paris". Ein hollandischer Offizier mahnte zur Kuhe. Um 810 Uhr" kef der kaiserliche Zug ein und bald darauf ein zweiter sehr langer D-Zug, in dem nur einige Offiziere und Damen safien. Wilhelm, in Generalsuniform, steigt ein, die Gardinen gehen nieder, es ist nichts mehr zu sehen. Inzwischen sammelt sich eine grofie Volksmenge an, die von Gendarmen in Ordnung gehalten wird. ] Damit war der erste Akt zu Ende. Den zweiten inszemerte die hollandische Regierung, die sofort ihre Mafinahmen getroffen hatte *). „Nachdem die Meldung eingelaufen war, der Deutsche Kaiser sei nach seiner Abdankung am Sonntag ' auf hollandisches Gebiet übergetreten, wurde der Kommissar der Königin in Limburg beauftragt, nut dem Gesandten und Kabinettschef im Ministerium des AuBern Mr. W. J. Doude van Troostwijk und dem Generalsekretar Mr. J. B. Kan, die sich zu diesem Zwecke nack Maastricht begeben haben, über die vorUtufige Regelung des Aufenthaltes des Exkaisers zu beraten, vorbehaltlich nakerer defanitiver EntschlieBung darüber." Der Sonntag verstrich über diesen Beratungen, deren Resultat war, dafi der Zug des Kaisers am Montagmorgen 9 Uhr 25 Minuten von Eysden abfuhr um 9 Uhr 45 Minuten Maastricht passierte, wo die Abgesandten der Regierung zustiegen; dann ging's nack Maarn, der nachsten Station bei Amerongen, wo der Exkaiser im SchloB des Grafen Godard von Aldenburg-Bentinck erwartet wurde. Zuerst war das Gerücht gegangen, der Kaiser werde sich nach Middachten bei Steeg begeben, wo er m glucklicheren Tagen dem Grafen Bentinck, einem Bruder des Besitzers von SchloB Amerongen, einmal einen Besucb abgestattet hatte. Über die Ankunft in Maarn berichtete der „Nieuwe Eotterdamsche Courant"2) folgendes: „An der sonst so StiUen kleinen Station von Maarn, mi'tten in der Provinz Utrecht, war es gestern mittag ungeheuer lebendig. Von aken Seiten war aus den umkegenden Ortkchkeiten, aus Doorn, Driebergen Amerongen usw., eine grofie Menschenmenge zusammengestromt, um der Ankunft des gewesenen Deutscken Kaisers beizuwohnen. Hm und wieder sah man einzelne Maréchausées und Landgendarmen, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufgeboten waren, wahrend sonst die tfemeindepolizei von Maarn dieser Aufgabe genügte. Auf den Bahnsteig wurde, aufier den zahlreicb erschienenen Journaksten, niemand zugelassen, der nicht infolge seines Amtes oder seiner dienstkchen Funktion dort sein muBte. i) Das Folgende nach der offiziellen Mitteilung der Regierung in der Tagespresse vom 11. November abends. s) Vom 12. November, Morgenausgabe B. 288 „Es waren das: Der Eegierungskommissar der Provinz Utrecht Mr. Graf F. A. C. van Lijnden van Sandenburg, der Bürgermeister von Maarn und Doorn Mr. Baron A. Schimmelpenninck van der Ove van Hoevelaken, General Onnen, der Chef des Internierungsdienstes, die Hauptleute Van Son und Schoenmaeckers, ferner Jhr. J. A. van Kretschmar van Veen, DirektionsnntgUed des EiSenbahnkonzerns, und der Gastherr des gewesenen Kaisers, Godard Graf van Aldenburg-Bentinck. „AuBerhalb der Station standen Militar- und Privatautos, die den gewesenen Kaiser und sein Gefolge nach SchloB Amerongen bringen sokten. Der Exkaiser wird im SchloB Amerongen wohnen, sein Gefolge in den Hotels Lievendaal und Oranje. „Punkt 3 Uhr 15 Minuten kam der graue kaiserkche Zug, aus elf Wagen bestehend, in Sicht. Gleich nach seiner Ankunft wurde an den Waggon des Kaisers ein kleines Treppchen angelegt. Der Exkaiser stieg aus, trat auf die Herren Bentmck und Van Lijnden zu und drückte ihnen sehr herzhch die Hand. Der erste Eindruck war der einer martialisch strammen Figur Dazu trug der Umstand, daB der Kaiser in Generalsuniform war, sehr bei. Er schwang einen Augenblick nervös den Stock den er in der rechten Hand trug, und schritt dann, nach rechts und links grulJend sofort über den Bahnsteig. Er sah aufgeregt aus, seine Augen bhtzten lebhaft Sein Gesicht schien etwas gebraunt, der Schnurrbart war wie fruher in die Höhe gedreht. Er trug den Kopf aufrecht. Der rote Band an der Mütze und der gestickte Kragen gaben der feldgrauen Uniform einen farbigen Akzent. „Sein Schritt war etwas unfest, wie bei jemand, der lange gesessen hat und dann plotzhch gehen muB. Beim Gehen stütztó er sich einmal aul seinen Stock, nahm aber gleich wieder seine stramme Haltung an Unverwedt begab er sich nach dem draufien stehenden gescblossenen Auto' in dein er mit seinem Gastherrn, der den Zykndér trug, Platz nahm " • u"orÜOrtA\man ver8chiedenen Steken Geschrei, hier und da höhmsche Bufe. Aber im allgemeinen schien das Publikum nicht unsympathisch gestimmt zu sein. Es versuchte zwar stekenweise sich vorzudrangen aber rechteXaltenWe8en Gendarmen konnten den Ordnungskordon gut auf- „Nachdem die vier Herren des Gefolges und die hotondischen Autoritaten in den anderen Autos Platz genommen katten, ging's nach Amerongen." Wie die Stellung des Kaisers, als er seinen Einzug auf Amerongen hielt, geregelt war ist nicht bekannt geworden. Es laBt sich jedoch mit genugender Sicherheit aus den beiden diesbezüglichen Erklarungen des Premiermimsters in der Zweiten Kammer entnehmen, deren erste eine iSr^f jeme Frage eines Abgeordneten bUdete, wahrend die zweite anlaBhch der Vorbesprechungen über das Staatsbudget am 10. Dezember 19 Japikse, Holland 289 gegeben wurde 1). Daraus ergibt sicb hauptsachlich folgendes: Der Kaiser hat sich bei der hollandischen Regierung als „nur ein einfacher Privatmann" angemeldet. War er doch am 9. November bereits zurückgetreten. Er kam nicht infqlge einer Einladung. Das mufi betont werden gegenüber gewissen Gerüchten, denen zufolge die Reise, welche der frühere Generalgouverneur von Hollandisch-Indien Van HeutS kurz vor dem Zusammenbruch, jedoch auf Grund einer schon viel früher erfolgten Einladung, nach dem deutschen Hauptquartier unternommen hatte, mit der Ankunft des Kaisers in Holland in Zusammenhang gestanden und Van HeutB dieselbe' vorbereitet haben sollte 2). Der Kaiser stekte die hollandische Regierung durch seine Ankunft an der Grenze vor eine vollendete Tatsache. Sie war jedoch der Ansicht, nach dem Verzicht des Kaisers auf den Thron brauche von seiner Internierung nicht die Rede zu sein, sondern müsse ihm nur Gastfreiheit gewahrt werden. Jedoch steilte die Regierung, im BewuBtsein der Schwierigkeiten der Situation, gewisse Bedingungen. So wurde die Wahl des Aufenthaltsortes nicht dem Kaiser überlassen. Graf Bentinck auf Amerongen — begreifkcherweise nicht sein Bruder auf Middachten — wurde von der Begierung gebeten, den Kaiser bei sich aufzunehmen s). Der KommissSr der Königin der Provinz Utrecht bekam entsprechende Instruktionen hinsichtkch des Aufenthaltes des Kaisers in seiner Provinz. AuBerdem wurde die Gastfreundschaft unter der 'iVoraussetzung gewahrt, daB sie nicht für poktische Zwecke miBbraucht werde, wie der Minister des AuBern in einem Interview mit einem Korrespondenten einer auslandischen Zeitung besonders hervorhob4). Amerongen sokte kein Herd poktischer Intrigen werden. Es war für die Regierung natürkck von der gröBten Wichtigkeit festzustellen, daB der Kaiser tatsachlich dem Throne entSagt batte. Als der Kaiser die Grenze überschritt, hatte er tatsachlich die Krone bereits niedergelegt — das war allgemein bekannt —, aber eine Urkunde darüber war noch nicht ausgefertigt. Ende November teilte der damalige deutsche Staatssekretar des AuBern, Dr. Solf, dem hollandischen Gesandten in Berlin mit, daB eine derartige Urkunde vorbereitet werde. Man darf wohl vermuten, daB die hollandische Begierung auf eine gründkche Regelung dieser Angelegenheit gedrungen hat. Die offizielle Urkunde über die Thronentsagung wurde am 28. November zu Amerongen unterzeichnet und zwei Tage darauf offiziell von Berkn aus zur Kenntnis der hollandischen Regierung gebracht. Angenehm war die Ankunft Wilhelms H. in Holland der hollandischen Regierung nicht, erklarte der Premierminister in seiner Rede vom 10. De- *) Siehe die Sitzungsberichte dieses Datums. *) Siehe u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 12. Nov. 1918, Abendausgabe C. ") Gleiche Zeitung vom 13. November 1918, Morgenauseabe B. 4) Gleiche Zeitung vom 30. November 1918, Morgenausgabe B. 290 zember. Damit sprach er ganz im Sinne der überwiegenden Mehrheit des hollandischen Volkes. Nachdem aber der Kaiser einmal im Lande war, mufite auch auf ihn das Recht der Gastfreundschaft angewandt werden, das ungéz&hlten anderen zugebilligt worden ist, die vor ihm aus den verschiedensten Gründen nach Holland geflohen sind. Es handelte sich hier um eine nationale Tradition, die in den echt hoMndischen Eigenschaften des Freiheitssinnes und der Humanitat wurzelt. So wenig sympathisch der Kaiser den meisten Hollandern, nun so gut wie wahrend des Krieges, auch sein möchte, der nationalen Pflicht der Gastfreundschaft untreu zu werden, kam doch nur sehr wenigen in den Sinn, nicht einmal den Anhangern des „Bundes neutraler Lander". Telegraphierte doch dessen hollandische Abteilung, man müsse dem Kaiser gestatten, in HoUand zu bleiben, wenn auch unter Bewachung in einem mihtarischen Konzentrationslager und in Erwartung defmitiver Entscheidungen *). Die Haltung der Ententepresse war nicht danach, den Hollandern den Aufenthalt des Kaisers in ihrem Lande als etwas Angenéhmes empfinden zu lassen! Sie verfolgte den Kaiser mit grimmigem Hasse und drohte Holland mit allerlei unfreundkchen Dingen für den Fall, dafi es wagen soUte, über einen solchen Mann seine schützende Hand zu halten. Von Anfang an drangen einige Blatter auf die Auslieferung des Kaisers. Damit dürfe keinen Tag gezögert werden, schrieb z. B. die „Daily Mail". Der Kaiser sei nicht unschadlich in Holland, sondern werde von dort aus die Ruhe Europas von neuem bedrohen können 2). Nur wenige Blatter z. B. „Der Manchester Guardian", waren für Mafiigung und Untersuchung der primaren Frage, ob Holland, wenn es sich nicht freiwillig zur Auskeferung des Kaisers entschhefie, dazu gezwungen werden könne. Kein Wunder, dafi sich eine solche Stimme gerade in England erhob, wo man das Gastrecht ebensogut wie in Holland hocbgehalten und Tausenden politisciier Flüchtknge, darunter auch Fürsten, im Laufe der Jahrhunderte Zuflucht gewahrt hat. Man hatte sich eher darüber wundern müssen, dafi derartige Stimmen in England und auch in Frankreich so aufierst seiten waren. Uber die Haltung, die voraussichtkch die Ententeregierungen einnehmen würden, hörte man anfanglich nur Vermutungen. Der hoUandischen Regierung blieb einstweilen die Mühe einer offlzieUen Erklarung über die Auskeferungsfrage erspart. Denn es wandte sich keine einzige Regierung wegen der Anwesenheit des Kaisers in Holland an sie. Aber natürlich unterheB sie nicht, ihre Haltung für diesen FaU zu erwagen. Wenn die Regierung vor ein direktes Auslieferungsgesuck gestekt würde, so müfite dessen Beantwortung auf Grund der für dié AusUeferung geitenden Gesetze und Ver- *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 13. November 1918, Abendausgabe C. •) Eine Blütenlese solcher AuBerungen ist zu finden im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 13. November, Abendausgabe C, und den folgenden Tagen. 19* 291 trage erfolgen, erklarte der Premier am 10. Dezember, und fügte hinzu, die Regierung sei geneigt, über die Festsetzung des zukünftigen Aufenthaltsortes des Kaisers in Besprechungen einzutreten. Insoweit trage dessen Regelung einen vorlaufigen Charakter. Weiter brauche die Regierung in absehbarer Zeit nicht zu gehen. Die Öffentlichkeit beschaftigte sich nichtsdestoweniger fortwahrend mit der Auslieferungsfrage, worauf wir in anderem Zusammenhang noch werden zurückkommen müssen. Einige Tage nach dem Kaiser kam auch der Deutsche Kronprinz über die Grenze. Am 12. November mittags meldete er sich mit seinem Gefolge in drei Autos bei Vroenhoven und wurde durch eine RadfahrpatrouiUe interniert. In Erwartung naherer Instruktionen aus Dem Haag bkeb er zunachst in Maastricht. Beim Überschreiten der Grenze war er in Felduniform und trug das Eiserne Kreuz und ein Ordensband. Er machte keinen niedergeschlagenen Eindruck, konstatierte ein Berichterstatter in Maastricht, der dazu bemerkte, er habe wie ein eben vom Tode des Ertrinkens Geretteter ausgeseken. Sein Empfang durch die Bévölkerung war keineswegs freundkch. Man sang die Marseikaise, und Miktar und Pokzei muBten auf der StraBe Kordons bilden. Mitten in der Nacht reiste er aus Maastricht unter miktarischer Bedeckung nack Swalmen, dem SckloB des Grafen Metternich, ab l). Der Kronprinz erfuhr von seiten der Regierung eine strengere Behandlung als der Kaiser. Zwar hatte er vor seiner Ankunft in HoUand das Kommando über seine Truppen niedergelegt, trotzdem wurde er als Soldat angesehen. HinsichtUch seiner Position scheint nicht die Sicherheit geberrscht zu haben, welche der Kaiser für seine Person gab 2). OffizieU ist darüber nichts bekannt geworden. Das Resultat der mit dem Kronprinzen geführten Besprechungen war, dafi ihm das ziemkch unwirtkche EUand Wieringen in der Zuiderzee zum Aufenthaltsort angewiesen wurde, was vielleicht mit Bücksicht auf seine persönkche Sicherheit geschehen ist. Er landete dort nach einer recht unglücklicken Fahrt am 23. November. Der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" beschrieb diese3) wie folgt: ,Die Motorjacht des Reichswasseramtes geriet auf der Fahrt nach Enkhuizen, wo der gewesene Kronprinz abgeholt werden sollte, in dichtem Nebel bei Andijk nahe am Strand auf Grund und erktt dabei einen Schraubendefekt. Als nun der Extrazug aus Amsterdam nachmittags 2 Uhr in Enkhuizen ankam, lag nicht die Motorjacht des Reichswasseramtes sondern ein Schleppboot bereit, um den Kronprinzen mit Begleitung aufzunehmen. Da der Nebel sich zu zerteilen schien, fuhr man ungefahr 2.15 Uhr bei groBer Kalte ab. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 13. November, Morgen- und Abendausgabe. ') Allerdings unterzeichnete auch der Kronprinz bekanntlich eine Entsagungsurkunde. Vgl. u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 6. Dezember, Abendausgabe C. *) 26. November, Morgenausgabe B. 292 1,7* M • ^ befenden uch der gewesene Kronprinz mit Gefolge, nambcb Major Muldner von Mülnheim, Major von Muller und Rittmeister von Zobelütz, auBerdem Oberleutnant der Infanterie Van Mullem, der Ingenieur vom Reichswasseramt, Des Tombes, Herr Visser von der Firma Volker der das Schleppboot gehorte, und zwei deutsche Bediente. „Als das Boot den Hafen verlassen hatte, wurde der Nebel dichter und genet das Boot auf Grund, kam aber nach langen Bemühungen wieder flott Man bescbkfi nun zu versuchen, die. Motorjacht, die einige hundert Meter nordwarts festsaB, flott zu bekommen, um die Gesellschaff auf dieses Kn gelang «ngenchtete Fahrzeug übersteigen zu lassen, was schheB- f„ + w^fn#S8eit Aea Schleppbootes setzte man die Reise auf der Motorjacht tort, mit Kurs nach dem Hafen de Hankes' auf der Insel Wieringen Als man ungefahr um 9 Uhr abends in die Gegend von Wieringen gekommen ZZaZ n-S ?.fer:tT*Th Und der Nebel völ% undurchsichtig geworden Die beiden Sehiffe begannen gefahrlich zu schlingern und wurden krachend gegenemander geschleudert An Weiterfahren war • nicht zu denken da das Wasser dort gefahrliche Untiefen bat, und der Hafen 7^» £VnA durch eme enge Fahrrinne, De Sloot genannt, zuganghch ist Zudem hatte das Schleppboot für die Fahrrinne einen zu grofien Tiefgang, weshalb das zwischen Ewijcksluis und Wieringen verkehrende Motorpostboot an seine S elle batte treten müssen. Man versuchte durch Signale die Aufmerksamkeit auf sich zu leuken, jedoch vergebens: Die Signale wurden nicht beantwortet. Der Kapitan teilte daraufhin mit, es blei be nichts anderes ubng, als die ganze Nacht liegen zu bleiben. Keine verS r H '1^'' Kucksicht auf das stets rauher werdende Wetter und die Gefahr, auf Grund zu geraten, beschlofi das hollandische Geleite m Emverstandnis mit dem Kapitan, mit Hilfe des Kompasses der Motorjacht, nach Medemblik zurückzufahren. Die Motorjacht wurde nun an einer lrosse geschleppt, und man erreichte glückbch Medembkk, wo alles in toetster Ruhe lag, gerade vor Mitternacht, nach einer zehnstündigen Fahrt aut der Zuiderzee. ° „In Medemblik sahen cich der hollandische Offizier und der Ingenieur schnell nach Lebensmitteln um, da an Bord nichts dergleichen vorhanden ZZ'oU L- Iv uAl* "BimAeBhotels'< wurde aus dem Bett gelautet und man ermelt schbeBhch Brot, Butter, Kase und Eier, so daB die Reisegesellschaft nach elfstundigem Fasten eine einfache Mahlzeit einnehmen konnte. Sie übernachtete dann an Bord. ^m n^hsten Morgen war das Wetter herrlich, und man beschloB, die Fahrt uber die Zuiderzee nochmals zu wagen und nicht nach Ewijckslmszu gehen wie man anfanglich vorhatte, da die Verbindung dahin sehr mangelhaft ist und Autos oder Wagen nicht zu bekommen wfren. „Die Bévölkerung von Medemblik betrug sich vorbildhch, im Gegen- 293 satz zu der von Enkhuizen, wo aus der bei der Abfahrt am Hafen versammelten Menge Geschrei und Gejohle ertönte, glücklicherweise in ziemkcher Entfernung von dem gewesenen Kronprinzen. „Wahrend der Fahrt von Medemblik nach Wieringen war der Prinz sehr guter Laune und genoB, ebenso wie das Gefolge, das schone Wetter und die frische Seeluft, Besonders das friedliche BUd zahlreicher Fischerboote, die in der hellen Sonne lagen, erregte die Aufmerksamkeit der Flüchtlinge. Wahrend der Fahrt unterhielt sich der Prinz mit den an Bord befindlichen Hollandern. „In der Nahe von Wieringen kam das Postmotorboot Ewijcksluis-Wieringen den Fahrzeugen entgegen und übernahm die Aufgabe des Schleppbootes. Durch die Fahrrinne De Sloot erreichte man glücklich den Hafen de Hankes, wo die am Hafeneingang versammelten Inselbewohner ruhig zusahen und sich anstandig betrugen. „Zuerst stieg der hokandische Offizier aus, um die anwesenden Journalisten freundlich zu bitten, keinen Versuch zu einem Interview mit dem gewesenen Kronprinzen zu machen, ein Wunsch, der bereitwillig erfüllt wurde. „Die Weiterreise nach Oosterland fand in drei Wagen statt. Im yordersteh nahm der gewesene Kronprinz und Oberleutnant Van Mullem, in den anderen das Gefolge, die Bedienten und der hollandische Fortifikationsaufseher Sparenburg Platz, der das Quartier des Prinzen-in Oosterland vorbereitet hatte. Ohne Störungen wurde um halb drei Ühr 'die Pastorei von Oosterland erreicht, wo der ermüdeten Reisenden eine Mahlzeit wartete. „Erwahnt sei noch, daB die Bemannung des Schleppers und der Motorjacht von dem Ex-Kronprinzen reichlich für ihre Dienste wahrend der beschwerlichen Reise belohnt wurden." Am Tage nach der Ankunft des Kronprinzen auf Wieringen kam seine Mutter in Amerongen an *). Schon früher war mitgeteilt worden, sie habe durch Vermittlung der hollandischen Gesandtschaft in Berlin die Erlaubnis zur Beise nach Holland bekommen 2). Sie kam frühmorgens mit Extrazug über Zevenaar an, von wo der Zug unter militarischer Bedeckung nach Maarsbergen weiterfuhr. Hier wurde sie durch einige Autoritaten aus der Provinz und ihren zukünftigen Gastherrn empfangen. Die Teilnahme der Öffenthchkeit war gering s). b) Innere Unruhen DaB es in RuBland, Deutschland und Österreich-Ungarn zu Revolution und zum Sieg des Sozialismus in den verschiedensten Formen kommen werde, wurde wahrend des Krieges mit wachsender Sicherheit prophezeit. l) Am 28. November. *; Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 15. November, Abendausgabe C. *) Gleiche Zeitung vom 28. November 1918, Abendausgabe C. 294 Der Sturz der Dynastien Mitteleuropas, die man so fest in ihren Vólkern verwurzelt gewahnt hatte, machte dann auf die Phantasie der Menschheit einen gewaltigen Eindruck. Sokte nun die soziaJistische Weltenwandlung sich vollziehen und die Macht an das Proletariat fallen? Kein Wunder, dafi die revolutionar-soziakstische Springflut, die im Herbst 1918 über Mitteleuropa hinweg ging, an den Grenzen Hollands nicht stiUstand. Ahnliche komplizierte Erscheinungen, wie die Eevolutionen von 1789, 1830 und 1848, hatten ja ebenfalls ganz Europa erschüttert. Nun sah es jedoch ganz anders aus als damals. Anscheinend so ahnkche Dinge wie Revolutionen sind grundverschieden und, richtig besehen, treffliche Beweise dafür, dafi die Geschichte sich, man möge dagegen sagen, was man wik, niemals wiederholt. Diesmal war Europa, zum Unterschied gegen frühere Revolutionen, scharf in zwei Lager geteilt, und was im einen passierte, hatte gerade deshalb viel weniger Aussicht, im anderen Nachahmung zu finden. Die soziale Revolution, die in den Landern der Zentralen unter dem direkten Eindruck des Kriegselendes und der schkefilichen Niederlage alles mit sick fortrifi, hatte nun in Frankreich, Belgien und Italien, so sehnsüchtig dort auch viele nach einem gesekschaftkchen Umsturz Ausschau hielten, wenig oder keine Aussichten, einfach deswegen, weil Deutschland den Ton angab. Für Holland lag die Sache jedoch anders. Hier hatte man keinen besonderen AnlaB, etwas, was aus Deutschland kam, nur deswegen abzulehnen. Die beginnende soziale Revolution konnte, woher sie auch kommen mochte, ihre Anziehungskraft ungehindert ausüben. Der Neutrale vermochte sie ganz objektiv zu werten und zu begrüBen, und, wenn es ihn reizte, einen Versuch wagen, sich ihr anzuschlieBen. Das geschah denn auch in HoUand. Aber gerade die Tatsache, daB das übrige Westeuropa nicht mittat und bed der deutschen Revolution nur den Zuschauer spielte, machte diesen Versuch von Anfang an zu einem vermessenen Unternehmen. Der Boden war in HoUand für eine Revolution aUerdings einigermafien vorbereitet, oder besser gesagt, die Bedingungen für eine Revolution schienen nicht völlig zu fehlen. Es herrschte Unzufriedenheit über den Mangel an Lebensmitteln und Heizmaterialien, es zeigten sich Symptome von Garung im Heere, und es war verschiedentlich zu Demonstrationen und selbst zu Unruhen gekommen. Aber was woUte das aUes bedeuten gegen die in den zentralen Landern herrschende verzweifelte Stimmung, die aus dem tiefgehenden Abscheu gegen die bisherige Regierung resultierte, die man für all das Kriegselend verantwortlich machte? Auch in HoUand richtete sich die unverstandige MiBstimmung gegen die Regierung. Man konnte ihr jedoch keinerlei deutlich umschriebene Fehlgriffe vorwerfen, am aUerwenigsten der Königin. Diesen fundamentalen Unterschied der ganzen Lage haben jene, die dem deutschen VorbUd folgen woUten, vöUig aus dem Auge verloren. Er stempelte ikre Bemühungen von vornberein zu einem verlorenen Spiel. 295 Die ersten Anzeichen sich nahender Gefahr und revolutionarer Absichten machten sich in den Tagen der Harskampmeuterei *) gekend, natürkch unter'Einflufi derselben. Ungefahr Anfang November kamen der Regierung die ersten Gerüchte über revolutionare Plane zu Ohren 2). Die am 5. November und den folgenden Tagen in der Zweiten Kammer anlafilich des Zwischenfakes im Harskamp geführten Debatten zeigten deuthch, was damals in den Kopten der Sozialdemokraten spukte. Troelstra sagte bei dieser Gelegenheit unter anderem: „Denfeen Sie an die Zeit, in der wir leben, denken Sie an die Strömung, die sick akenthalben in Europa Bahn bricht, auch in unserem Lande. Denken Sie daran, dafi in unserem Lande eine Kraft existiert, die vorwarts wik nach einer neuen Zeit, dafi es eine organisierte Arbeiterklasse gibt, welche die Gewalt ablehnt, nicht weil sie bange davor ist, nicht weil sie fürchtet der bürgerkchen Rechtsordnung unangenehm zu werden oder sie in Gefahr zu bringen, sondern weil sie sich innerhalb von 25 Jahren durch zunehmende politische und wirtschaftliche Organisation stark entwickelt hat, weil sie sich ein geistiges und soziales Milieu geschaffen hat, innerhalb dessen sie fest vertraut, auch weitergehende Wünsche verwesentkchen zu können, weil sie weiB, dafi sie durch Fortsetzung ihrer Bemüfungen grofie Dinge, viel eingreifendere Dinge erreichen kann als ikr bisher geglückt sind." Er erinnerte dann an die 'in einem Teile des Heeres herrschende MiBstimmung. Das Heer, rief er aus, wird eine Beute von Meuterei. Die Begierung wird, wenn das Heer nicht mehr hinter ihr steht, ihre Funktionen nicht mehr ausüben können. „Stehen Sie denn wirklich sicher und fest?" fragte er herausfordernd, um fortzufahren: „Tauschen Sie sich nicht über Ihre Situation, wenn es einmal so weit ist, dafi Sie sich nicht mehr halten können! Dann werden andere kommen und Ihren Platz einnehmen. Dann ist die Zeit des bürgerlichen Regierungssystems vorbei. Dann wird die Arbeiterklasse, die neu aufgekommene Macht, Sie auffordern, von Ihrem Platz zu weichen und diesen Platz, der nun ihr zukommt, ihr zu überlassen. Ioh ziele nun nicht speziell auf die eben erst aufgekommene Ricktung 3), von der ich mir für unser Land für die Zukunft wenig verspreche, sondern auf die organisierte Sozialdemokratie und die moderne Arbeiterbewegung. Sie werden auch revolutionar '_sein können, in dem von uns immer vertretenen Sinne, im Sinne einer Anderung des Systems, so dafi eine Klasse, die sich nicht mehr behaupten kann, durch eine andere ersetzt wird, die neu heraufgekommen ist und sehr wohl der Meinung ist, sich behaupten zu können. Für uns ist die Sozialdemokratie diese neue ') Siehe darüber oben S. 223. *) Mitteilung des Premierministers in der Zweiten Kammer am 20. November. Vgl. die Sitzungsberichte dieses Datums. ') Gemeint ist die hollandische Kommunistische Partei. 296 groBe Bewegung. Bire Freunde sind wir nicht, wir sind Ihre Gegner, Bire erbittertsten Feinde sogar, wenn Sie es haben wollen. Im Grunde wissen Sie daB sehr wohl. Denken Sie nur einmal nach über unser Heer, und über die Art und Weise, wie Sie es behandeln, dann brauche ich darüber niches weiter mehr zu sagen." Deutkche Worte! Von mehr als einer Seite wurde in der Kammer auf die in Troelstras Rede kegende Drohung hingewiesen. Aber die Debatte éndete schkeBkch ohne Knakeffekt. Troelstra zeigte sich sogar sehr zufHeden, weil die Regierung durchgesetzt hatte, daB der Oberbefehlshaber General Snijders in eben jenen Tagen seinen Abschied nehmen muBte Man brachte Snijders Rücktritt direkt mit Troelstras Rede in Zusammenf^i!111** die Absetzung des a18 TyPU8 des reaktionaren Miktars bezeichneten Oberbefehlshabers verlangt wurde. Diese Kausalverknüpfurlg scheint jedoch zum mindesten eine starke Übertreibung zu enthalten, j Ein Konflikt zwischen Oberbefehlshaber und Kriegsminister hatte schon in der letzten • uidCu vori&en> im Juli zurückgetretenen Ministeriums bestanden. Seine wirkkchen Gründe sind bisher nicht bekannt geworden, ebensowenig was wahr ist an der Behauptung, dafi die Königin sich damals persönlich der Entlassung des Oberbefehlshabers widersetzt habe. Ein offener Ausbruch des Konfbktes war damals vermieden worden, weil die Wahlen in Sicbt waren und sich bald ein neues Ministerium bilden mufite. Der zurücktretende Kriegsminister hinterliefi die Angelegenheit also seinem Nachfolger. Dieser scheint sie zuerst ruhen gelassen zu haben. Nutt, anlaBlieh der Ereignisse im Harskamp, trat er plötzlich sehr forsch gegen den Oberbefehlshaber auf. Dieser wurde in sein Kabinett beschieden und bekam ganz unerwartet zu hören, dafi die Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und dem Minister diesen dazu veranlafit habe ihm mitzuteilen, eine. weitere Zusammenarbek halte er für ausgeschlossen. Es war ein dramatischer Moment, diese plötzliche Kaltstellung des Generals Snijders, der mehr als vier Jahre lang seine rastlose Arbeitskraft dem Dienste des Vaterlandes gewidmet hatte. Sie bedeutet eine grobe Undankbarkeit, und auf jeden FaU ist die Form, in der dem General das Ende seiner Laufbahn angekündigt wurde, einfach empörend. Übrigens wird man mit einer Würdigung seiner Tatigkeit und einer Beurteilung seines Verhaltnisses zu den verschiedenen Kriegsministern warten müssen, bis darüber naheres bekannt geworden ist. Vorlaufig scheint der Eindruck, dafi der Kriegsminister mit unter dem EinfluB der in der Kammer geführten Agitation gehandelt hat,, doch nicht völlig unabweislich zu sein, so sehr die Harskampmeuterei der AnlaB zur Entlassung des Generals gewesen sein mag •*). *) An seine Stelle trat ein zeitweiliger Oberbefehlshaber. 'Diese SteUung wurde im November 1919 dann aufgehoben. ') Das7 versichert ausdrücklich C. C. van As: Novemberalarm, de revolutiebedreiging in Nederland, November 1918 (J. H. Kok, Kampen 1919), S. 15, Anm. 1. 297 Wie dem auch sein moge, die Sozialdemokraten zeigten sich von dem Versehwinden von Snijders sehr befriedigt, das sie als den Anfang eines neuen Eurses in Sachen der Heeresleitung betrachteten. Gunstig wirkte auBerdem, dafi die Regierung ankündigte, die militarischen Vorrate würden mit Rücksicht auf die Entspannung der Kriegslage der Zivilbevölkerung zur Verfügung gestekt werden. Alles schien sich friedlich lösen zu wollen, so war der Eindruck am 8. November, als die Kammer sich, wie gewöhnkch, bis zum folgenden Dienstag vertagte. DaB der Leiter der kommunistischen S.D.P. in der Kammer, Wijnkoop, von einem „Bürgerkrieg" gesprochen, für den seine Partei nötigenfalls eintreten werde, machte keinen grofien Eindruck mehr. AuBerhalb der Kammer ging die revolutionare Bewegung in den folgenden Tagen jedoch viel weiter. Noch im Oktober hatte das sozialdemokratische Hauptorgan „Het Volk" ein „Mahnwort" gebracht, das die Führer der S. D. A. P., des hollandischen Gewerkschaftsbundes und des Bundes der hollandischen Ar bei ter verbande an die Regierung richteten, die aufgefordert wurde, der Not des hollandischen Volkes baldmöglichst durch eine Anzahl wirtschaftlicher MaBnahmen zu steuern 1). Anfang November erschien im „Volk" ein Aufruf, in dem die moderne Arbeiterbewegung darauf hingewiesen wurde, dafi sie der starkste Faktor im politischen Leben des Landes und eine organisatorische Macht im Erwerbsleben geworden sei, die zu grofien Dingen imstande sei. Es wurde ein Kongrefi auf den 24. November ausgeschrieben, um die revolutionare Lage in Europa ernstlich zu prüfen und die Haltung der kampfenden Arbeiterklasse gegenüber den Fragen, vor die sie sich gestellt sah, festzulegen. Da kamen die Ereignisse vom 9. November in Deutschland. Sie beschleunigten den Pulsschlag der Bewegung, die zu grofien Reformen trieb, in hohem MaBe. Sonntagabend, den 10. November, fand in Rotterdam eine Versammlung statt, an der die Parteileitung der S.D.A.P., die Leitung des hollandischen Gewerkschaftsbundes, die sozialdemokratische Fraktion der Zweiten Kammer und die Leiter einer Anzahl anderer auf sozialistischem Boden stehender Vereinigungen teilnahmen. Man besprach die internationale Lage und im Zusammenhang damit die Situation, in der sich die hollandische Arbeiterklasse befand. Der Gedanke an ein revolutionares Auftreten, der besonders in Botterdam Anhanger fand, aber bei der Leitung der Arbeiterbewegung und in deren Beihen selbst auf Widerstand stiefi2), war zuvor schon, laut „Het Volk", in zwei Versammlungen der sozialdemokratischen Parteileitung und des Gewerkschaftsbundes verworfen worden. In der groBen Versammlung wurde nun beschlossen, den in* Aussicht genommpnen Kongrefi eine Woche früher zu legen, also auf Sams- *) Zum Folgenden vergleiche man die zitierte Schrift von Van As, S. 24ff. a) Vgl. Troelstra im „Socialistische Gids" vom Marz 1919, S. 201—202. 298 tag, den 16., und Sonntag, den 17. November. AuBerdem wurde ein Aktionsprogramm aufgestelït, das dann am 11. November publiziert wurde. Die Kernstelle darin lautete x): „Die gewaltigen Erschütterungen, welche Europa bis ins Mark erzittern lassen, nahen den Grenzen unseres Landes und rufen auch die hollandische Arbeiterklasse zu Erfühung der ihr von der Geschichte gestekten Aufgabe. „Die Autokratie in RuBland ist vernichtet, in Österreich und nun auch in Deutschland haben die Arbeiter unter Führung der Sozialdemokratie die Macht in die Hande genommen. Wir hollandische modern organisierte Arbeiter begrüBen diese Tatsachen mit ungeteilter Freude. Eines Sinnes mit der Arbeiterbewegung des Auslandes, verlangen auch wir nun von der regierenden Klasse des eigenen Landes groBe und energische Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen aller, die durch Arbeit sich ihren Unterhalt verschaffen müssen." Die Forderungen, welche gestekt wurden, betrafen militarische, politische und wirtschaftbche Angelegenheiten und bezogen sich auf die augenblickliche Lage ebensogut wie auf die terne Zukunft. Um einige davon zu nennen: sofortige Demobiksation, sofortige Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechtes, Wahlrecht für ake VoUjahrigen, Abschaffung der Ersten Kammer, Deckung der Kosten für ake Krisisausgaben durch Abgaben von GroBkapital und GroBgrundbesitz, Sozialisierung aller Betriebe, die dafür in Betracht kommen, schnelle und genügende Linderung der Wohnungsnot, Besserung der Lage der Kleinbauern, soförtige Einführung des Achtstundentags und des Sechsstundentags für die Bergarbeiter unter Tag. Am gleichen Tage gab die S.P. D. ein Manifest heraus z), das sich an die Arbeiter und Soldaten Hollands, an Manner und Frauen in Stadt und Land richtete. Nach BuBland, nach Deutschland, heiBt es darin, ist es nun „an uns, im Westen Europas, an die Küsten der See die Flut der Befreiung der Menschheit weiter zu tragen". Die Zeit ist reif für die Vernichtung des Kapitalismus und die Eroberung der Macht für die Arbeiterklasse. „ Die Zeit des Privatbesitzes, der die Arbeit ausbeutet, nahert sich ihrem Ende." Darauf folgt der Aufruf: „Schafft eine neue Ordnung auf Grund der Arbeit, welche die Erde behérrscht, auf Grund der Gleichberechtigung von Mann und Frau! „Bringt die Produktionsmittel, die Fabriken und Werkstatten, den Boden und die Rohstoffe, die Verkehrsmittel und Werkzeuge, die Masckinen und Vorrate, an die Klasse der Arbeit! „Soldaten, bildet allenthalben in jeder Garnison und in jedem Lager Soldatenrate, sowohl jetzt wie wahrend der Demobiksation! ») Van As, a. a. O. S. 26. *) Ebenda, 8. 109. X 299 w „Arbeiter in Stadt und Land, haltet Euch bereit, um überall die Arbeit niederzulegen. „ Bezeugt in Massen Eure Solidaritat mit der russischen und deutschen Revolution, verstarkt die Revolution in Europa!" Weiter ging der Aufruf zur Annukierung der Staatsschulden, der Konfiskation der Kriegsgewinne und der unmittelbaren Einführung des Achtstundentages über, um schlieBlich in folgenden Phrasen zu kulminieren: „LaBt die Gemeinden Hollands Kommunen der Arbeit, Arbeitergemeinschaften unter Leitung selbstgewahlter Rate des arbeitenden und bewaffneten Volkes werden. „Stiftet auch in Holland die sozialistische Republik, als einen Teil der internationalen Föderation der Arbeitergemeinschaften in der alten und der neuen Welt." Im Programm des sogenannten landkch-soziakstischen Komitees wurden in der Hauptsache dieselben Wünsche und Forderungen ausgesprochen 1). Das Manifest der S. D. A. P., weitaus der starksten sozialistischen Partei Hollands, schlug am meisten ein. Es wurde noch am Tage seiner Veröffentlichung durch Troelstra in einer groBen Volksversammlung zu Rotterdam 2) kommentiert und dessen hier gehaltene Rede hatte noch einen viel starkeren Effekt. Sie schlug auch einen viel scharferen Ton an und verkündete direkt die Revolution. Die Bourgeoisie, so auBerte er, hat als herrschende Klasse ausgespielt. Das Heer stützt sie nicht langer. Dann folgte plötzkch die Frage: „Was ist eine Revolution ? DaB eine herrschende Klasse, die bisher die Macht in Handen hatte, abdankt und einer neuen Klasse Platz macht, die reif und imstande ist, zu tun was die Umstande erfordern. So betrachtet, ist in HoUand im jetzigen Augenbkck eine revolutionare Situation eingetreten." Die Arbeiterklasse stehe nun vor einer gewaltigen Aufgabe, möchte sie den Augenbkck nicht versaumen! Es müsse eine Revolution ohne BlutvergieBen werden. Durchgreifend, aber mit Besonnenheit, sei nun zu handeln. Dann laBt Troelstra das eben erst aufgestellte Programm fakren und sagt: „Die Hauptsache aber steht nicht in diesem Programm. Die Arbeiterklasse HoUands greift nun nach der politischen Macht! Sie wird sich als revolutionare Macht konstituieren müssen. Das können die Botterdamer Arbeiter nicht auf eigene Faust, das muB die moderne Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit tun. Das Manifest der ZentraUeitung von letzter Woche, dem sich der Bund der MiUtardienstpflichtigen angeschlossen hat, zeigt Euch deutlich, welcher Geist sie beseelt. Mit einem Programm *) Am 10. November bescblossen eine Anzahl Leute in Utrecht die Gründung einer republikanischen Partei. Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. November, Abendausgabe B. Man hörte jedoch davon weiter nichts. 3) Bericht darüber im „Volk". Vgl. Van As, a. a. O. S. 28ff. 300 I kommen wir nicht zum Ziel. Wir müssen uns fragen, welcke Tat wir zu verrickten haben. Ick wik dem KongreB nicht vorgreifen, den wir mit Rücksicht auf den Ernst der Zeiten eine Woche früher gelegt haben. Dort werden wir die Frage zu prüfen haben, ob die hollandische moderne Arbeiterbewegung das Signal zur Büdung von Arbeiter- und Soldatenraten geben^so ^ ^ bekam dann den Rat> sicb in das Unvermeidüche zu fügen Es sei eine historische Notwendigkeit, dafi die Arbeiterklasse machtig genug sei, nicht mehr zu verlangen und zu fordern, sondern sich selbst als oberste Macht zu konstituieren. Das Proletariat müsse ermahnt werden, diese grofie Zeit nicht durch unwürdige Taten zu besudeln, sondern sich seiner Aufgabe würdig zu erweisen. Man müsse einmal sagen können: Die kokandische proletariscke Revolution ist der Glanzpunkt m der Geschichte Hollands gewesen. Erl « , t Die Stimmung, die in dieser Versammlung zu Rotterdam herrschte, war begeistert, wahrend und nach Troelstras Rede und auch als noch andere Redner nicht weniger deutlich das Wort führten. Es herrschte die feste Uberzeugung, dafi die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats im Anzuge seien. Wenn auch die am Schlusse angenommene Resolution nicht viel mehr als die Zustimmung zu den Forderungen des Manifestes erklarte, trotzdem die Redner auf die Entscheidung des zu erwartenden Kongresses verwiesen, der Geist, der die Versammlung beseelte war anders: Man griff den Beschlüssen des Kongresses vor. Es zeigte sick deutlich, dafi der Leiter der S.D.A.P. für ein revolutionares Auftreten waren, zum Unterschied jedenfaks von der Mehrheit der Rarteileitung und des Gewerkschaftsbundes. Troelstras SteUungnahme war gegen die Parteidiszipkn, vor akem aber kindisck und eigentlich beinahe komisch. Wer kündigt denn eine Revolution, die er machen will, zum voraus an und dann noch so viele Tage vorher, bis nach dem Kongrefi? Auf den wollte man doch warton! Welch naives Vertrauen auf die sozialistische Theorie, die nun einmal die Revolution so voraussagte! Tags darauf1) bbeb Troelstra mit seiner Rede in der Kammer auf demselben Niveau. In dieser Umgebung klang alles zwar etwas anders, aber die Drohung war nicht minder deutlick, und groB die Ironie, mit der der Redner sich, ahnkck wie am Abend zuvor, über das Los der Bourgeoisie auslassen zu müssen glaubte. Was er meinte, sagte er unumwunden *). Es ist deutlich, daB jetzt die sozialdemokratische Partei und die moderne Arbeiterbewegung Hollands den historischen Moment versaumen würden, wenn sie nicht sehen woüten, was allenthalben gesckieht und sogar durch die argsten Gegner der neuen Bewegung nicht, allein widerstrebend zugelassen, sondern auch sanktioniert wird, wenn mcht auch in i i) Am 12. November. 2) Van As, a. a. O. S. 47. 301 ihr der Drang aufstiege: Jetzt ist es an der Zeit, nicht 80 Gramm Brot mehr zu verlangen, nicht um mit einer jener kleinen Sozialreformen abgespeist zu werden, wie sie in diesem Parlament immer nur entsetzlich langsam zustande kommen und den Gegenstand des politischen Gezankes der Parteien bilden, sondern um nun, wo die politische Macht uns zufallt, die sozialen Verbesserungen, die wir mit dieser Macht erlangen können, nicht in einer Bittliste zu prasentieren, sondern mit Hilfe aller derer, die mit uns zusammen zu arbeiten wünschen, seien sie wer sie wollen, so rascb und so durchschlagend als möglich zustande zu bringen." Auch diesmal versicherte Troelstra, dafi er an Anwendung von Gewalt nicht denke: „Wir haben aber die Pflicht, diesen historischen Moment für die politische Hebung der Arbeiterklasse zu gebrauchen, und was immer von uns an persönhcher Hingabe und OpfergeBmnung gefordert werden möge, sei es auch unser Leben, wir werden es gerne und freudig geben, um der Forderung des historischen Augenblicks zu genügen." AusführUcher verweilte der Redner beim Heere, auf das sich die Begierung nicht mehr verlassen könne: „Dieser Regierung fehlt der Rückhalt an der Gewalt, wenn es darauf anbommt. Diese Regierung kann zwar versuchen, das Heer oder einen Teil des Heeres gegen die organisierten Arbeiter in ihrem Kampfe um Recht und Macht zu entsenden, aber sie braucht nicht zu denken, dafi diese neue Macht durch das Heer vernichtet werden wkd. , Denn dieses Heer besteht gerade aus Mannern des arbeitenden Standes, und dieses Heer ist von der besitzenden Klasse in einer Weise behandelt worden, dafi es allmahlich in den Vertretern der beutigen Gesekschaftsordnung seine argsten Feinde sieht." Ebensowenig könne die Regierung auf die Pokzei rechnen, da mindestens zwei Drittel oder drei Viertel derselben auf der Seite der Sozialdemokratie standen: „Das ist keine Prahlerei, sondern ich sage es, weil icb diesbezügkcb mein Tatsachenmaterial und meine Zahlenangaben habe. Ihr System ist allmahlich verkommen und verrottet!" *Wenn man Gewalt anwenden wolle, so werde man sich schwerlich etwas anderem gegenüber bfefinden als der Gewalt. Zwar sei die Sozialdemokratie bei den letzten Wahlen im Juli nock nickt in der Mehrheit gewesen, aber was sei inzwischen nicht alles geschehen! Dann folgte ein merkwürdiges Beispiel von Sophistik, da doch so etwas wie ein Rechtstitel für die kommende Revolution gefunden werden mufite. „Aber icb bestreite diese absolute Mehrheitstheorie an sich; denn es handelt sich nicht mehr um die Frage, ob Sie die Mehrheit bei den Wahlen haben, sondern aucb, was Sie in Ihrem innersten Wesen sind; es geht um die Frage, welche Qualitaten haben Sie, um die Frage: was können Sie leisten? Und nun komme ich auf Ihr Ordnungsprinzip, auf Ihren faulen Frieden, auf die Notwendigkeit vor der Sie stehen, die wichtigsten Lebensbedingungen unseres Volkes mögkchst vor Schaden zu bewahren und 302 weiter zu entwickeln. Da ist es nun die Frage, wenn in diesem Parlament eine Mehrheit ist und über ihr eine Mehrheitsregierung steht, ob diese Regierung dazu imstande ist, jene Forderungen zu erfüllen. Die jetzige Regierung ist dazu nicht imstande. Denn sie hat hinter sich nifeht den vorwarts drangenden Teil unseres Volkes, der gegenwartig revolutionar gestimmt ist und unter dem Eindruck der Weltgeschehnisse seine Lage verbessern und groBe soziale Prinzipien und Forderungen verwirkkchen wik. DaB Sie die Mehrheit sind, das bezweifle ich! Genau aber weiB ich, daB Ihnen die sittliche Kraft und die politische Berechtigung fehlt, Ihre Sitze als Vertreter des hollandischen Volkes fernerhin einzunehmen." Wenn man so folgert, kommt man leicht zu dem Ergebnis: „Wir füklen uns nicht nur vor unserer eigenen Klasse verpflichtet, nach der Macht im Staate zu greifen, sondern wir meinen auch, daB dem hollandischen Volke jetzt und für die Zukunft kein gröBerer Dienst bewiesen werden kann als uns die Möglichkeit zu verschaffen, den entscheidenden EinfluB auf die Weiterentwicklung unseres Volkes auszuüben, der zur Verwirklichung unserer wichtigsten Forderungen absolut notwendig ist." Kurz darauf klang es: „Macht ist unumganglich. Unsere Maeht berubt einmal auf der völligen Unentbehrkchkeit der Arbeiter im Produktions-' prozeB, zum andern auf der Tatsache, daB die Grundpfeiler Ihrer Macht zusammengebrochen sind. Macht ist unumganglich, aber für die Beantwortung der Frage, ob der Rückhalt an ihr zur Gewaltherrschaft führen muB, dafür ist ein wichtiger Faktor die politische Erfahrung und die historische Einsicht der Parteien, die sich gegenüberstehen." Unsere Regierung hat nach unserer Meinung, so schloB Troelstra, nicht mehr die Macht und nicht mehr das Recht zu regieren. „Weiter kann und darf ich nicht gehen." Der sozialistische KongreB werde beschlieBen müssen, welche direkten praktischen Folgerungen sich aus der Situation ergaben. „Darüber kann in diesem Augenblick kein definitives Urteü aüsgesprochen werden." Diese letztinstanzliche Berufung auf den KongreB mackt einen armsehgen Eindruck nach dem, was der Redner doch so deutlich gesagt hatte, natürlich ganz im BewuBtsein, als der Führer der machtigen S. D. A. P. zu sprechen! Erhen „Staatsstreich" habe ich nicht beabsichtigt, hat Troelstra spater geSuBert, als die Ereignisse eine ganz andere Richtung nahmen, als vom ihm prophezeit worden war. GewiB nicht in dem herkömmlichen Sinne des Wortes, wobei man in erster Linie an Soldaten und an Gewalttatigkeiten denkt, wohl aber allgemein in dem Sinne, daB ein Greifen nach der Staatsmacht angekündigt wurde, und es ist nur ein Spiel mit Worten, hintennach zu sagen, daB das hein Staatsstreich sein solle! Die Wirkung dieses Auftretens der Sozialisten war eine doppelte, einmal die Erkenntnis bei den bürgerüchen Parteien, daB Reformen nötig seien, ferner eine starke Bewegung gegen die Sozialisten. 303 Das erstere kommt sehr deutlich in einem Artikel des „Nieuwe Rotterdamsche Courant" vom 11. November *) zum Ausdruck, der erkennen laBt, dafi das liberale Blatt sich mit einem grofien Teile der Wünsche der Arbeiter einverstanden erklaren könne. Frauen wahlrecht, Abschaffung der Ersten Kammer, ein Teil der sozialen Forderungen — über all das würde man sich leicht einigen können. Was nötig ist, sagt der Artikel, ist in erster Linie, dafi jeder für sich die alten Anschauungen, die sich versteift haben, revidiert und versucht die Evolution mitzumachen. Man dürfe auf den gesunden Verstand des Bürgertums hoffen: „Dann könnte aus dem Elend, das der Krieg auch über Holland gebracht hat, ein besserer Zustand und eine bessere Oesellschaft geboren werden, als diejenige gewesen ist, deren hafiliche Seite der Krieg so grek beleuchtet hat." Ein gesunder Opportunismus zweifellos, ahnlich wie bei einem Fabrikanten, der in jenen Tagen erzablte, er sinne auf Plane, um mit seinen Arbeitern einen modus vivendi zu finden. Andere liberale Zeitungen hielten es übrigens für nötig, auf kraftiges Handeln von seiten der Regierung zu drangen 2). Die Schwierigkeit lag darin, die Grenze zu finden, auf der sick der Drang nack Reformen und die Autoritat der Regierung begegnen bonnten. Troelstra hatte diese Grenze, wie der „Nieuwe Rotterdamsche Courant" ohne weiteres konstatierte, weit übersdhritten: „Die Zeit ist für Reformen reif, aber Troelstra droht die Situation zu verderben." 3) Die meisten politischen Parteien erachteten plötzkch die Zeit für gekommen, ihre Programme zu revidieren. Sie hielten Versammlungen ab und steilten ihre Forderungen im Einblang mit den veranderten Verhaltnissen. Nicht nur die Liberalen, auch die sogenannten christlichen Parteien rührten sich. Alles kam' in Bewegung. Kraftig verlangten auch die katholischen und protestantischen Arbeiter Reformen. Die römisch-kathokschen Gewerkschaften waren schon am 12. November mit ihrem Programm fertig, die christlich-sozialen (= protestantischen) tags darauf4). Bei ihnen wurden ebenfalls Forderungen wie der Achtstundentag und die Sozialgesetzgebung vertreten. Energisch wurde jedoch auch dazu aufgefordert, nicht zu hören auf „jeden Ruf nach Widersetzlichkeit und Aufruhr der in unserem Lande erschaken sollte". Rufiland darf uns nicht zum Vorbild dienen, heifit es im Programm der protestantischen Arbeiter. „LaBt kein schlimmeres Elend als das gegenwartige über unser Volk kommen. Tretet hinter uns zum Kampfe für das Recht auf Freiheit, Arbeit utad Ordnung." Gemeinsam wandten sich die Rechtsparteien am 14. November an das hollandische Volk mit einem Aufruf, der wie ein Schlachtruf gegen die sozialistische Minderheit klang, die nach der Macht greifen wokte. f) Abendausgabe C. *) Nieuwe Courant u. a. I *) In einem „Gefahrliches Spiel" überschriebenen Artikel in der Abendausgabe O vom 13. November. 6 *) Van As, a. a. O. S. 102ff. 304 Aber die Regierung hatte nicht auf derartige Versprechungen und moralische Unterstützung gewartet. Sie zeigte sich im Gegenteil völlig bereit und entschlossen, der Gefahr zu begegnen, und benutzte dabei die günstigen Umstande, die sich darboten. Da der WaffenstiUstand geschlossen war, liefi sie bereits am 11. November bekannt machen, daB eine teilweise Demobilisierung sehr bald erwartet werden könne *). Am folgenden Morgen wurde offiziek mitgeteilt, die Wirtschaftsverhandlungen in London verliefen gunstig 2), und die Brotration könne auf 300 Gramm erhöht werden s). Am gleichen Tage, noch vor Troelstras Drohrede, bestatigte der Premierminister diese Mitteilung in der Zweiten Kammer und gab gleichzeitig zu verstehen die Regierung werde sich den auslandischen Ereignissen, die auch in Holland ihren EinfluB gekend machen würden, nicht verschhefien. Den Forderungen einer neuen Zeit gegenüber dürfe sich niemand verstandnislos verhalten. Die Fragen, die sich aufdrangten, müBten in gemeinschaftlichen Besprechungen entschieden werden. Gewalttatigkeiten würden zu nichts als zur Störung der Ordnung führen. Auch wegen der Hoffnung, daB Holland eventuell die Friedenskonferenz beherbergen würde damals durfte der Minister diese Hoffnung noch hegen —, müBten Ruhe und Ordnung gewahrt bleiben. Nach Troelstras Rede ging die Regierung einen Schritt weiter Sie fertigte schon am 13. eine glückkch gefaBte Proklamation folgenden Wortlauts aus 4): „In diesen aüBergewöhnhck schwierigen Tagen sieht sich die Regierung genötigt, ake Mitbürger dringend um ihre Unterstützung anzurufen. Zwar ist der Krieg beendet, aber die Störungen im Wirtschaftsleben sind noch keineswegs beseitigt. Nur durch Einsatz aller Krafte können die Schwierigkeiten der naohsten Zeit überwunden werden, ohne daB die schlimmsten Komplikdtionen eintreten. Im Fake von Unruhen oder noch argeren Dingen ist das Schlimmste zu befürchten. Ruflland bietet ein warnendes Beispiel. Die Demobiksation so weit nur irgend möglich ist bereits befohlen, und es ist dafür gesorgt, daB die entlassenen Soldaten nicht brotlos werden. „Die mihtarischen Vorrate werden der Zivilbevölkerung zur Verfügung gestellt. Dadurch werden diejenigen Familien, welche keinen AnschluB an Gas und Elektrizitat besitzen, künftig mit Petroleum versorgt werden können „Ferner werden 500000 Paar Militarstiefel verfügbar werden. BiUige Kleidung wird in den n&chsten Tagen in grofien Posten zur Verteilung kommen. *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. November, Abendausgabe C. *) Siehe darüber oben S. 211. *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 12. November, Morgenausgabe B 4) Van As, a. a. O. S. 107. 20 'Japikse, HoUand 305 „Die Brotration wird in einigen Tagen von 200 auf 280 Gramm erhöht und die Qualitat sowie der Nahrwert des Brotes eine Verbesserung erfahren. „Fett und Kolonialwaren werden baldigst aus Indien eintreffen. Zur Verbesserung der Fleischversorgung werden Pferde und Schafe in groBer Zabl abgeschlachtet werden. „Die Handelsflotte nimmt demnachst den Verkehr wieder auf. „Ein vorlaufiges Übereinkommen mit den Akiierten sichert uns die baldige Lieferung von u. a. 50 000 Tons Weizen, 2000 Tons Kakao, 6000 Tons Petroleum, 1000 Tons Benzin, 1700 Tons Soda und Seife, 3000 Tons Gerbstoffe, 4000 Tons Baumwolle und 1000 Tons Wolle. Aus Amerika können auBerdem 40 000 Tons Getreide und aus England Wollund Baumwollgarne und -Artikel bezogen werden. „Alle mit dem Ausland getroffenen Abmachungen werden gefahrdet, wenn die Stabilitat der gesetzmaBigen Begierung ins Wanken gerat. „Möge der gesunde Verstand der übergroBen Mehrheit unserer Bévölkerung dieselbe, besonders die Minderbemittelten, vor dem namenlosen Elend bewahren, dem sie zum Opfer faken wird, wenn eine Störung der Ordnung eintritt. „Hollandisches Volk, du kast dein Geschick selbst in der Hand! „Angesichts der Ankündigung, daB eine Minderheit nach der Macht greifen werde, hat die Begierung beschlossen, im Interesse der Bechte ünd Freiheiten des ganzen Volkes Autoritat und Ordnung aufreckfzuhalten." In der Zweiten Kammer brachte die Begierung auBerdem durch den ersten Minister ihre Bereitwikigkeit zu Beformen zum Ausdruck. Die Wünsche der kathokschen Organisationen, die ikr Programm schon am 12. dem Ministerium vorgelegt hatten, tanden dessen Zustimmung. Die Begierung teilte ferner mit, sie lege Wert darauf, bald eine MeinungsauBerung des ganzen hollandischen Volkes zu hören, und drangte selbst auf baldige Behandlung eines bereits eingereichten Gesetzentwurfes fiber das Frauenwahlrecht2). Den Drohungen von soziakstischer Seite erklarte sie jedoch nicht nachgeben zu wollen. Wer ungesetzlicbe Wege beschreiten wolle, werde die Begierung sich gegenüber finden. Natürlich versaumte die Begierung nicht, gleichzeitig miktariscke MaBnahmen zu treffen. Die wichtigsten Stadte, besonders Botterdam und Den Haag, erhielten eine Verst&rkung ihrer Garnison, und es zeigte sich, daB die Begierung auf den Geist der Truppen sehr wohl vertrauen konnte. Troelstras Voraussage erfüllte sich nicht, auch nicht hinsichtlich der Pokzei: Weitaus der gröBte Teil von Heer und Pokzei scharte sich um die Begierung. Bei der Marine scheint die Stimmung allerdings viel weniger x) Für die einschlagigen Debatten kann man aufier den Sitzungsberichten das sehr ausführliche Exzerpt darüber bei Van As, a. a. O. S. 56ff, heranziehen. *) Es war von einem Mitglied der Zweiten Kammer beantragt 306 gut gewesen zu sein Unter der Mannschaft aufierte sich eine aufrührenscheGesinnung, und die Befehlshaber vertrauten ihr nicht. Zur Starkmle des Heeres begann man schon damals in verschiedenen St&dten mit de? (irundung von Bürgerwachten. Man hann ruhig sagen, daB infolge dieses erfolgreichen Auftretens der Begierung die Revolutionsgefahr schon am 13. November beschwören war Holland war fur eme Revolution eben nicht reif. Die Einführung des allgememen Wahlrechts im vorigen Jahre hatte der Agitation unzufriedener Elemente viel Boden entzogen. Nun erst zeigte sich recht deutlich, wie gluckkch es gewesen war, daB Cort van der Linden in ruhigeren Tagen eme teilweise Verfassungsrevision durchgesetzt hatte; auBerdem vertrat die Regierung die Uberzeugung, die neue Zeit verlange einen neuen Regierungskurs — wozu also dann noch Revolution machen ? Die Hollander sind ein ruhiges und beddchtiges Volk, das nicht leicht in Bewegung kommt, um bestehende Verhaltmsse umzustürzen. Diesmal waren die Krafte, welche eme solche Aktion auslösen wollten, jedenfalls bei weitem nicht groB genug Am Mittwoch, den 13. November, konnte man in der Zweiten Kammer bereits eine gewisse Beruhigung konstatieren, obwohl „Het Volk" davon sprach die Revolution sei bereits ausgebrochen Der Regierung wurde von seiten der kirchlichen und der liberalen Parteien die weitgfhendste Unterstützung zugesagt. Besonderen Beifall fand Treub, als er auf die Verschiedenheit der Zustande in Holland und in Deutschland hinwies. Der luhrer der Kommunisten, Wijnkoop, dagegen hielt eine sehr heftige Rede, in der er wie gewöhnkch auch| Troelstra sehr scharf angriff, tatsachbch aber ahnbche Forderungen steilte wie der Leiter der S.DA P Er war nur etwas radikaler und wagte auch auszusprechen, was Troelstra stets zu sagen sich gescheut hatte, was jedoch nur die notwendige Folge seiner Revolution sein muBte, daB namlich das Königtum verschwinden müsse: „Hinsichtlich der Krone erheben wir im jetzigen Augenblick die Forderung, daB sie verzichtet. Wenn sie das nicht tun will, so wird es eben einfach dazu kommen müssen, daB das Volk ihrer Herrschaft ein Ende macht. Wenn noch ein Rest des Verstandnisses, das den GroBvater der Kongin auszeichnete, der, wie ich eben erwahnte, über Nacht sich aus einem Konservativen in einen Demokraten verwandelte bei der jetzigen Tragerm der Krone vorhanden ist, dann muB sie sagen: Ich gehe freiwilhg.i bevor ich verjagt werde." Wijnkoop wurde wegen dieser freimütigen Aufierung vom Vorsitzenden der Kammer zur Ordnung gerufen. Im übrigen verkef die Debatte wahrend dieser ganzen Tage, abgesehen von einem heftigen Duell zwischen Sozialisten und Kommunisten, sehr ruhig, trotz der grofien Tragweite der Fragen, die *) Van As, a. a. O. S. 121. 20* ^ An8pieluag auf eine Auiemng des Königs Wilhelm II. aus ;dem Jahre 1848. 307 — eigentlich nur inzidentiek, da die Kammer mit Antragen bezüglich militarischer Fragen beschaftigt war — behandelt wurden. Die energische Geschaftsleitung des Kammervorsitzenden Fock, der wie immer die Zügel fest in der Hand hielt, trug dazu natürlich sehr viel bei. Am Donnerstag, den 14. November, machte sich in den Reihen der Sozialisten selbst eine Umkèhr bemerkbar. Wahrend einer Rede des freiliberalen Abgeordneten Dresselhuys rief Troelstra selbst, nachdem er bereits mehrfache Zwischenrufe angebracht hatte, die seitdem berühmt gewordenen Satze in den Saai: „Das Wort ,Staatsstreich' habe ich absolut nicht gebraucht. Die verehrlichen Herren Kollegen regen sich schon seit einigen Tagen über Absichten auf, die in keiner Weise dem entsprechen, was ich hier ausdrücklich gesagt habe." Gleich darauf klang es aus Troelstras Munde: „Ich habe in meiner Rede mehrmals ausdrücklich betont, dafi ich von Gewalt nichts wissen woüe." AUgemeines Erstaunen in der Kammer, Unruke auf einer der Tribünen; „Feigling", ruft dort jemand. Troésjjpas AuBerungen sind schwerkck anders' aufzufassen denn als Folge seiner Meinungsanderung über die Möglichkeiten seiner Revolutionsplane. Der Führer der S.D.A.P., der sehr nüchtern sein kann, sich aber zuweilen durch sein Temperament — er ist auch Dichter — fortreiBen laBt, ist in den ersten Tagen nach der Revolution in Deutschland davon überzeugt gewesen, daB die Verwirklichung des soziakstischen Heilstaates, letzten Endes doch das Ziel allen soziahstisehen Strebens, auch in Holland vor der Türe stèhe. Ein paar Tage darauf sah er seinen Irrtum ein und muBte sich gestehen, dafi die Mehrzahl seiner Parteigenpsen in der Kammer, die sich von seiner Begeisterung nicht hatten fortreiBen lassen, richtiger gesehen hatten. Ein schwer verzeihlicher Fehler für einen Führer! Mit Becht wurde dann auch Troelstra deswegen heftig angegriffen. Das schlimmste an seiner ganzen Haltung scheint mir zu sein, dafi er es nicht wagte, aus seiner Meinungsanderung die Konsequenzen zu ziehen und sich in der Zweiten Kammer zu ihr zu bekennen. Er hat auch keine nahere Erklarung seiner anfanglichen Haltung gegeben, die er der Kammer, mochte er auch selbst glauben, denselben Standpunkt wie vorher einzunehmen, doch schuldig gewesen ware. Am Freitag, den 15., war Troelstra nicht in der Kammer anwesend! Dagegen hielt der zweite Vorsitzende der sozialistischen. Fraktion, Sckaper, eine ausführliche Bede. Damit kam nun die Mehrheit der Fraktion — man sagt, Troelstra habe nur auf vier oder fünf seiner Fraktionsgenossen zahlen können1) — zu Wort. Schaper mufite „die elende Situation", in die Troelstra den Worten eines seiner Parteigenossen zufolge die Partei gebracht hatte, zu retten suchen. Was er dabei vorbrachte, klang arg gewollt-gemafiigt. Nur gegen die Kommunisten ging er scharf ins Zeug *) Van As, a. a. O. S. 84. 308 und erklarte ausdrücklich, daB von der durch sie geforderten Zusaromenarbeit für die Sozialisten keine Rede sein könne. Bezüglich Troelstras Rede meinte er, man dürfe sie nicht allzu tragisch nehmen. Es kamen doch in jeder Rede Satze vor, die man in doppeltem Sinne auslegeh könne! Troelstra habe aus dem Stegreif gesprochen, habe nicht alles gesagt, was er über einen solch wichtigen Gegenstand hatte sagen sollen. Er hatte das eine und andere noch weiter ausführen müssen. Schaper erklarte aber nicht, was Troelstra denn eigentlich hatte sagen soUen. Vergeblich wandten sich mehrere Abgeordnete durch Zwischenrufe an ihn, um zu erfahren, was die Sozialisten denn eigentlich wollten und ob er, Schaper, für oder gegen Revolution sei und inwieweit seine Ausführungen eine Desavouierung Troelstras bedeuteten. Schaper zeigte sich dabei als einen sehr geschickten Debatter. Er gab zwar zu, daB eine Minderheit ihren Willen nie mit Gewalt durchsetzen dürfe, sagte jedoch auch, es könne soweit kommen, daB die Machtverhaltnisse verschoben seien, und dapn — gehe eben die Macht an das arbeitende Volk über. So wahrte er den Zusammenhang mit Troelstras Aufierungen, schlug aber doch einen ganz anderen Ton an. Sehr bemerkenswert ist dabei, dafi Troelstra einen Augenblick an ein Zusammengehen mit Wijnkoop gedacht zu haben scheint, wahrend Schaper sich dem völlig abgeneigt zeigte und auch nichts davon wufite, dafi mit Wijnkoop verhandelt worden war1). Auf dem Kongrefi in Rotterdam herrschte dieselbe Stimmung wie in Schapers Rede. Man kann ohne weiteres annehmen, dafi sie durch die heftige gegenrevolutionare Bewegung wesentkch verstarkt worden ist. Troelstra selbst fehlte, als der KongreB am 16. November eröffhet wurde. Er hatte mitgeteilt, er werde nicht anwesend sein. Die der Versammlung vorgelegte Resolution 2) war zahm im Vergleich zu den Aussichten, die Troelstra eröffhet hatte. Nach dem Weltkrieg, so betonte sie, steht die Arbeiterklasse vor der Aufgabe dafür zu sorgen, dafi der Wiederaufbau des wirtschaftlichen und sozialen Lebens sich so vollzieht, „daB sie darin den Platz bekommt, der ihr nach Zahl und wirtschaftlicher Bedeutung zukómmt". Auf den wichtigsten Gebieten des gesellschaftlichen Lebens dürften die Arbeiter nicht „weiterhin als minderwertig gelten und ohnmachtig sein". Die Besitzer des Kapitals dürften nicht mehr die ganze Existenz der Arbeiterklasse beherrschen. Dann folgte ein Kompliment an die deutsche Revolution und eine Mahnung an die „organisierte Arbeiterklasse der Ententelander, die Friedensbedingungen derartig zu beeinflussen, dafi die gewaltige Aufgabe, welche die Revolution nicht nur im Interesse des deutschen sondern in dem aller Völker zu erfüllen hat, nicht durch Lahmlegung des Wirtschaftslebens und Hungersnot unlösbar wird." 1-) Vgl. Wijnkoops Zwischenruf bei Van As, a. a O. 8 93. s) a. a. O. S. 127 ff. 309 Zu Holland selbst übergebend, konstatierte die Resolution, daB die Umstande eingreifende politische und soziale Reformen erforderten. Dieselben wurden einzeln aufgezahlt und deckten sich mit den im eben zitierten Manifest gefbrderten. SchlieBlich wurden die Mittel zur Verwirkkchung dieses Programms wie folgt aufgezeigt: „Der KongreB beschlieBt die Ernennung eines Aktionskomitees, das beauftragt wird, sich um Bewilligung der gestellten Forderungen an die Regierung zu wenden und auBerdem im ganzen Lande eine derartige Propaganda zu entfalten, dafi das festgesetzte Programm, gestützt durch den emtrachtigen und unwiderstehlichen Willen des hollandischen Proletariats, angenommen werden muB. Zu diesem Zwecke sok jede Art von Demonstration, auck der Generalstreik, in Anwendung gebracht werden. „Die sozialdemokratische Arbeiterpartei und der hollandische Gewerkschaftsbund erkkïren feierkch, all ihre Krafte und all ihre Ausdauer daransetzen zu wollen, um den in diesem Programm enthaltenen vitalen Bedürfnissen der Arbeiterklasse aufs rascheste zur Befriedigung zu verhelfen. „Sie rufen das hollandische Proletariat energisch dazu auf, ihnen im Kampf um die Durchsetzung der gestellten Forderungen beizustehen." Mit dieser versöhnlichen Erklarung über die geplante Aktion waren die gehaltenen Reden durchaus im Einklang. Sehr deutlich betonte der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes: „Wir denken nicht daran, ungesetz- liche Wege zu betreten Wenn ein Redner, er sei, wer er wolle, die von den Leitern festgelegten Ricbtknien aufier acht laBt, so werden wir uns davon nicht beeinflussen lassen." Aus den Reihen der Versammlung erhoben sich allerdings revolutionarere Stimmen. Es fehlte nicht an solchen, die ausdrücklich ihr Einverstandnis mit Troelstra zu erkennen gaben, und die grofie Sympathie für den Führer, den man auf keinen Fak verlassen dürfe, kam verschiedentlich zum Ausdruck. Das war auch der Fak, als Troelstra auf das Drangen der Versammlung hin am zweiten Tag dem KongreB beiwohnte: Er wurde begeistert begrüBt. Troelstra hielt damals eine sehr bemerkenswerte Rede die um ihrer Offenheit willen Bewunderung verdient. Er gestand, sich geirrt zu haben: „Hiermit komme ich zu dem Punkte, wo ich mich als ehrlicher Mensch verpfkchtet fühle zu sagen, dafi ich die Krafteverhaltnisse nicht völhg richtig eingeschatzt habe. Es mag in gewisser Hinsicht für jemand, der eine Stelle in der Arbeiterbewegung einnimmt wie ich, unerlaubt sein, sich in dieser, Beziehung zu irren, trotzdem kann ich die Tatsache meines Irrtums nicht leugnen und werde auch nicht den geringsten Versuch dazu machen. Aber Ihr, meine Freunde, werdet begreifen und es nachfühlen können, wie man selbst in meiner Position zu einer solchen Überschatzung *) Van As, S. Hïï. 310 unserer Krafte kommen kann. Ist es doch allgemein bekannt, meine Freunde, dafi selbst die gröfiten Führer, Lehrmeister und Verkünder des Soziaksmus, bei der Berechnung des voraussichthchen Tempos unserer Bewegung ihre Wünsche und ihre Sehnsucht etwas zu stark haben mitsprechen lassen. Berufen konnte man sich dafür auf Marx und Engels so gut wie auf Bebel, kurz, auf die gröfiten und feurigsten Kampfer für die Befreiune der Arbeiterklasse. „Ihr wifit das, meine Freunde, und deshalb ruft Ihr mich nicht hierher, um mich Euch gegenüber zu verantworten. Ich weifi, meine Freunde dafi Ihr mit ganzem Herzen und aus tiefster Seele das feurige, unwiderstehliche Verlangen und den revolutionaren Geist mitempfindet, die in jedem Sozialdemokraten leben, und dafi Ihr aus eigenem Erlebnis heraus versteht, welch gewaltigen Eindruck auf unsere Streiter die Geschehnisse in den Nachbarlandern machen, welch gewaltigen Eindruck besonders die Revolution in Deutschland macht. Ich hdbe in dieser Hinsicht, lafit es mich ehrlich gestehen, nicht die Widerstandskraft gegen den gewaltigen Eindruck dieser Ereignisse bewiesen, die für einen ruhig und kühl rechnenden Führer der sozialistischen Bewegung erwünscht gewesen ware." Die Annahme der erwahnten Eesolution, die übrigens schon vor Troelstras Rede festgelegt war, konnte durch dieselbe nur gefördert werden. War damit die Gefahr der Revolution beschwören? Momentan sicher! Sie war eigentlich keinen Augenbkck sehr groB gewesen. Jedoch bestand sie latent weiter, denn es kegt nach der Auffassung vieler Sozialisten, vor akem Troelstras, im Wesen der Sache, dafi die Arbeiter über kurz oder lang auch in Holland die Macht in die Hand nehmen müssen, oder besser gesagt, dafi sie ihnen von selbst zufahen wird. Deshalb haben auch die hoUandischen Sozialistenführer nie in einer programmatischen Erklarung die Aufgabe der revolutionaren Idee konstatiert, so sehr auch von seiten der bürgerlichen Parteien darauf gedrungen wurde. Troelstra ist seinem Glauben treu gebkeben, trotzdem derselbe sich in den Novembertagen als der Wirklichkeit der hollandischen Verhaltnisse widerspreckend erwies. Auch in einer Artikelserie im „ Soziakstische Gids"1) hat Troelstra seine Uberzeugung vertreten, nicht ohne in derselben Zeitschrrft Widerspruch zu finden, ebenso wie ja auch — wir haben es bereits gesehen — in der Zweiten Kammer und auf dem Kongrefi mehrere seiner Parteigenossen ihm entgegentraten. Unumwunden sprach sich auch Vliegen, einer der altesten und einflufireichsten hollandischen Sozialisten, gegen Troelstra aus, indem er erklarte, die S. D. A. P. steke auf dem Standpunkt, „dafi ra Holland die gesetzgebende Gewalt, die Regierungsgewalt, jenen gehort, die sie durch die gesetzmafiigen Wahlen erhalten haben 2)." Es bedarf kaum der Erwahnung, dafi es sich hier um zwei keines- *) Marz 1919 und folgende Nummern. *) Van As, a. a. O. S. 190. 311 wegs identische Auffassungen handelt. Beide haben bisher in einer Partei Baum gefunden. Auf dem alljahrlich stattfindenden OsterkongreB wurden sie 1919 durch die damals angenommene Einheitsresólution verbunden. Die Zukunft wird lebren müssen, wie sich die Dinge innerhalb der sozialistischen Partei entwickeln werden. Vorlaufig scheint die gegen die Bevolution gerichtete Strömung völbg die Oberhand bekommen zu haben und béhalten zu sollen. Die Eevolutionsgefahr der Novembertage rief eine sehr starke gegenrevolutionare Bewegung wach, die sich bemerkenswerterweise bald in vielerlei Bezeugungen der Liebe und Anhanglichkeit zum angestammten Fürstenhaus Oranien aufierte, eme leicht erklarkche Erscheinung, da die Absichten der Sozialisten, wenn deren Führer das auch nicht offen aussprachen, sich nicht ohne Abschaffung des Königtums verwirklichen hefien. Vom Widerstand gegen die sozialistischen Plane gingen die Gegner der Eevolution zur Aufbietung einer gewaltigen Demonstration für die Erhaltung des Königtums über. Schwarzseher mochten es für bedenklich halten, das Königtum dadurch in den Streit der Parteien hineinzuziehen, aber an diesen Bedenklichkeiten störte sich niemand, und die Kundgebungen des nichtsozialistischen Volksteils nahmen unter Beteibgung der Autoritaten gewaltige Dimensionen an. Am Sonntagabend des 17. November erschien, nachdem an diesem Tage schon an verschiedenen Stellen Zusammenkünfte und Demonstrationen allerlei Art stattgefunden batten, in denen die groBe Anhanglichkeit an das Haus Oranien zum Ausdruck gekommen war, eine Proklamation des Bürgermeisters des Haag, derzufolge am nachsten Tage eine Ergebenheitskundgebung von Verbanden und Vereinigungen, die sich hinter die Regierung geschart, sich vokziehen solle. Die Einwohner wurden aufgefordert zu daggen und die Landesfarben anzulegen. Der Montag wurde dann wirkkch ein groKartiger Festtag. Die Liebe zum Hause Oranien brauste, wie sich ein Journalist ausdrückte, durch die Besidenz. Mittags 1 Uhr fand die erwkhnte Kundgebung auf dem Makeveld statt. Die Pferde des königkchen Wagens wurden unterwegs ausgespanntJ), und unter grofiem Enthusiasmus wurde der Wagen mit seinen fürstkchen Insassen durch die dichtgedrangte Umgebung nach dem Maheveld fortbewegt. Eine unbeschreibliche Begeisterung bemachtigte sich bei diesem Anblick der tausendköpfigen Menge. Man winkte mit Hüten, Handen und Mützen... Es lebe Oranien! Es lebe der Prinz! Es lebe die Prinzessin! donnerte es durch die Luft, und als die königkche Miktarkapeke die Nationalhymne zu spielen begann und diese von Tausenden mitgesungen wurde, als unsere Königin sich solchermafien durch ihr Volk emporgetragen sah, als akes sich immer starker um den königkchen Wagen ») Van As, a. a O. S. 148. 312 T ein^ ^UVV°n dGr KöDiSin oder der P™sin zu emplangen..., da wurde die Königin voin Eindruck übermannt Tl» j denn unsere Fürstin, zu TrSnen gerührt, ™raum X\ Tetter "e schlungen, die mit beiden Handen winkté" locüter ge- Der königliche Wagen wurde, umdrangt von Soldaten und bw^iw von^verschiedenen Ministern, über' das ganze Md^e^^STÏ It TKTO? Unddlchtw°gendenMenschenmassen vorbei. Als slkefihS die Ruckfahrt angetreten und der Wagen, stets von der MengeeeTen zum Palais zurüèkffekehrt wnr far,a a;„V- • • • • . Dg, gezogen, die sie mit kr^ S^rS Worte> Mitta^ïit^uob iUCl\fUi!\fÜr rdVe un7ergeBlichen Shmden' die ^h heute S anfc ï A f ^ ? hJabe,-. Ich 8chatze Eure Treue und Anbangüchkeit aufs hochste und werde diesen Mittag nie vergessen. S ' gessen oieTh h.1Ct der Liebe für ^ Vaterla°d ver- Vaterland dï ^g durfte- Icb bin überzeugt, dafi unser aurcn unsere Eintracht und Treue beschirmt werden wird. TJ^JÏSiïËgl*"*' ^ "* " ™8t™ - den Ruf: der m^JÜLeiü Pnter8«h!'fd! Der Kaiser, der eine Woche zuvor, auf kLZ i- • 8em.Cm.Volke' nach Holland gekommen war, und die Konigm, die sich hier inmitten ihrer Untertanel frei bewegte' Es steÏÏ einem der Gedanke auf, dafi es in Holland wohl möghciTï n werde £ ake und die neue Zeit, die sich mit stürmischen RuL nach Lformen an! kundigt, mitemander zu versöhnen und dabei die Jahrhunderte alteAutoriHaaf JaTa °r^ieK ZUJerhaIten- Tage wie der 18. November im Sn^n ",61*11 darata- In den folgenden Tagen und Wochen Infahl von StSdTenT' vfbunden. nationalen Kundgebungen, Z°SZ Anzahl von Stad en, besonders in Amsterdam und Rotterdam Die Liebe zum Hause Oranien brauste über das ganze Land hin bo war denn die Revolution beschwören, bevor sie noch hatte be granen konnen und ohne dafi es zu Gewalttatigkeite^Tgekomm^n ware ylliï A,m8terdam tatte sich am 13. November abends ein unglückSier ïr^-^8^1,. ft hollandische Hauptstadt war namlich ueS£ rev«luk10Dar-8^abstischen Komitees, in dem die S. D. P. (koinmiSg! ffiXL ^J^?* GTPPren VertreteD ™" DieBes ^LTee war sprLh Fgiir i T^6 jDehr ^ aIs der Zabl 8einer A°^nger entund am Abend ifn g t 68 ^ Dem<™tration ausgeschrieben, una am Abend sokte eih Aufzug stattfinden. Bekannte Vertreter der ÏSHSA^rï?**^ BeWegUDg' Wie Wijnkoop S Roland Holst und der alte Domela Nieuwenhuis, verkündigten bei dieser Gelegenheit ihre Ideale. Der abendkche Umzug ging an dner Kaserne vor- 313 bei, wo es zu einem Kampf zwischen den Demonstranten und Soldaten kam. Von welcher Seite der erste Schuil fiel, war spater, wie meist in solchen Fallen, nicht mehr festzusteken. Bei den Demonstranten gab es eine Anzahl Tote und einige Verwundete. Unter dem Eindruck dieser Geschehnisse erklarte Wijnkoop, der offenbar etwas nervös geworden war, tags darauf werde der Generalstreik beginnen. Er werde dann mit seinen Anbangern von neuem zusammenkommen, um die „Kommune" zu begründen! Seine Ankangerschaft, die sich am 14. November zu diesem Zwecke versammelte, bekef sick auf etwa 20 Personen! Das zeigte, wie gering Wijnkoops Mackt war. Auch von dem „Soldatenrat", als dessen Vertreter er sich damals ausgab, war nichts zu sehen und zu hören. Ebensowenig wurde etwas aus dem Generalstreik, zu dem dieser Führer ohne Heerbann auch spater noch einmal aufrief. Die kommunistischen und anarchistischen Ideale haben in HoUand nur immer bei einem sehr kleinen Kreise Eingang gefunden. Wahrend des Krieges wuchs ihre Anhangerzahl etwas, auch unter den InteUektuellen, zweifellos unter dem Eindruck der schreckUchen Weltgeschehnisse und* infolge der Enttauschung darüber, daB etwas derartiges in der jetzigen Zeit noch mögkck sei. Dreierlei Faktoren sind es gewesen, die der Regierung halfen, das Gespenst der Bevolution schnek zu verscheuchen: rasches Handeln, Verbesserung der Lebensmittelversorgung und die rechtzeitige Erkenntnis, daB die Zeitumstande nach Reformen drangten. Die in dieser Erkenntnis liegenden Versprechungen mufiten nun auch eingelöst werden. Die Proklamation, welche die Königin am 20. November an ihr Volk richtete, ist ein deutkcher Beweis daiür, wie ernst es der Regierung damit war. Sie lautete folgendermafien: . „Es drangt Mich, nach dem, was wir in bangen Kriegsjahren und m den letzten Tagen zusammen erlebt haben, ein Wort an Dich, mein Volk, zu richten. „Der Krieg geht zu Ende. Unsere Unabhangigkeit bkeb bewahrt. Mein herzlicher Dank gilt den Angehörigen von Heer und Marine, die unermüdkch auf Wackt gezogen sind und Zeit und Krafte geopfert haben, nicht minder auch aUen, Mannern wie Frauen, die mit Geduld und Ausdauer die durch den Krieg verursachten Entbehrungen getragen haben. „Die Stimme der Dankbarkeit dafür, dafi wir vor Schkmmerem verschont geblieben sind, ist kurze Zeit verstummt. „Denn unter dem Eindruck der gewaltigen Ersckütterungen bei den Vólkern Europas wurde auch in unserem Vaterlande die staatkcke Ordnung einen Augenbkck bedroht. „Die Antwort, die Ihr in überwaltigender Mehrheit darauf gegeben habt, hat auf Mich einen tiefen Eindruck gemacht. Ich danke Euch dafür aus ganzem Herzen. Getreu der Tradition meiner Ahnen, habe icb nie ») Van As, a. a. O. S. 153. ÉÉli 314 SZZTf relgvWOli f18 mem?m V£ke dienen durch Beschirmung des Rechtes, durch Verstarkung seiner Freiheiten, durch Sicherung der Ansprüche eines jeden auf geistigem und materiellem Gebiete. Getragen durch Eure Liebe und Treue sehe ich Mich in der Verfolgung dieser Zielebesmrkt „.,,"7 verfassungsmafiige Recht des Volkes, auf gesetzmaBigem Wege, SoWlT^ dem,Drucke von Drohungen, seine Wünsche bezüfücb sehfS ïïïï^tszsj^i8t gewahrt worden'und ™A !'M-m W*mch geh*>bin, die begonnenen Reformen durchzusetzen und m emem Tempo zu erweitern, das zu dem Pulsschlag unserer Zeit pafit „Keaktion ist ausgeschlossen, wir müssen vorwarts „Ich wünsche dringend, daB die Not des Volkes in ihrer ganzen Tiefe ergrundet und von der Obrigkeit nach besten Kraften bekSmpft werde! ^u»" a -mfïL W^6'. StetS in en8er Berührung mit dem Volksgeist zu stehen und in übereinstimmung mit der Vertretung des ganzen Volkes zu TG^l G reu. „ a iïS habe erkannt> dafi ftr Mich darin unterstützt und Mir mit Liebe und Vertrauen entgegenkommt. „Mit Liebe und Vertrauen beantworte ich diese Unterstützung „(iott segne und behüte unser teures Vaterland!" Die versprochenen Reformen sind Tatsache geworden *). Das Frauenwahlrecht wurde angenommen und wird bald Wirkkchkeit werden. Eine neue Verfassungs-Revisionskommission ist konstituiert, um die nötigen Anderungen in der Verfassung zu beraten. Der Achtstundentag ist gesetzlich festgelegt, um baldigst eingeführt zu werden. Die in HoUand so knge im 31 ge2 k u^f ^hnng ist nun krüftig in Angriff genommèn ïï^^nd,^l^JTeb,^^Ani^ von Sozialgesetzen mit Alters-, Krankheits- und Invahditatsversicherung in Wirkune treten Das beweist daB man in Holland die Zeichen der Zeit verstandfn hat. ' ÜbTr l i n It?86? ït8ache ,Und über ihre Resultate wird erst ein ÏÏ t ' ZU berichten baben. Unzweifelhaft hat das Sak Ttem?0' ln dem diese Reformen durchgeführt wurden und zu dem , flSt. f eJ.8mmi8terAaIberse besonders beigetragen hat, einen starken EinfluB auf die dauernde Beruhigung der Gemüter gehabt. Nicht weniger war das der Fall durch die Verbesserung der Lebensmittelversorgung die schon von der Regierung in Aussicht gestellt worden war Die Entente hatte nun kein Interesse mehr daran, die Versorgung Hollands zu beemtrachtigen, um so mehr als Holland zu bezahlen in der Lage war. Nicht lange nach dem WaffenstiUstand konnte man denn auch schon diejneisten Bedarfsartikel wieder bekommen. Nur war es eine un- JabrePl^aü.nJeorf-geKnWartigI 8ic>- beim FolS^den, dafi diese Zeilen am Ende des finTerku^ ^ La*e ist -her fortgeschritte. 315 angenehme Überraschung, daB alles so teuer blieb, ja immer noch teurer wurde. Wie ganz andere Erwartungen und Hoffnungen hatte man in dieser Hinsicht gehegt! Die Teuerung begann nun mehr ab je die Frage zu werden. Die Regierung muBte denn auch weiterhin die Hand auf allerlei Artikel halten, besonders Getreide und Korn. Immerhin verringerten sich die Kosten dafür betrachtlich. ^ Dieser ProzeB ist in Holland noch nicht zu Ende, so wenig als anderswo, und man wird erst spater seine Geschichte schreiben können. Das Problem besteht darin, daB man, meist infolge der allgemeinen Geldentwertung und der Kapitalverluste nur im Besitz geringer Einkünfte, sich an Preise gewöhnen muB, die, nachdem sie schon wahrend des letzten Dezenniums vor dem Kriege nicht unansehnlich gestiegen waren, wahrend desselben noch einmal eine Steigerung von ungefahr 100 Prozent erfahren haben. Es scheint eine so einfache Frage zu sein und ist doch wie die meisten einfach aussehenden Dinge so teuflich kompliziert. Nur der Gang des Lebens selbst wird hier einen Ausweg finden. c) Ein Konflikt mit der Entente Der WaffenstiUstand vom 11. November hatte einen kleinen Konflikt Hollands mit den alkier ten und assoziierten Eegierungen zur Folge. Wie bekannt, bestimmten die Waffenstillstandsbedingungen, daB das deutsche Heer binnen 19 Tagen das ganze noch besetzte Gebiet in Nordfrankreick und Belgien geraumt haben und innerhalb weiterer 12 Tage sich über den Rhein zurückgezogen haben müsse. Das war eine schwer erfükbare Aufgabe, der sich die deutsche Heeresleitung mit Einsatz aller Krafte widmete, und man hatte meinen sollen, der Oberbefehl der Ententeheere würde Wert auf das Gelingen dieser Bemühungen legen. Denn dann wurde das besetzte Gebiet schnell befreit und die Ententeheere konnten den ihnen zugewiesenen Teil Westdeutschlands besetzen. Man brauchte auch wahrhaftig keine Angst zu haben, daB das deutsche Heer nach den sehr schweren ihm auferlegten Bedingungen es noch einmal versuchen würde, die Waffen wieder aufzunehmen. Aber die Heeresleitung der Entente scheint ganz andere Wünsche gehegt zu haben als eine glatte ErfüUung der Waffenstülstandsbedingungen. Das beweist der Konflikt mit Holland. Es kandelte sich dabei um folgendes. Ein Teil der vierten deutschen Armee, der dicht massiert in Nordbelgien stand, erbat von der hollandischen Begierung die Erlaubnis, über Hollandisch-Limburg nach Deutschland marschieren zu dürfen. Die Erlaubnis wurde gegeben unter der Bedingung, daB die durchziehenden Truppen beim Betreten des hollandischen Bodens ihre Waffen abgaben. Sie wurde angenommen und unter Aufsicht hollandischer Militars genau erfiült. Es wurde auch darauf gesehen, daB die Truppen keine in Belgien geraubten Gegenstande mit- 316 nahmen. Der Einmarsch wurde, um die Kontrolle so effektiv wie möglich zu machen, an einem Punkte konzentriert, namlich bei Maaseyck. Die Gründe, welche die hokandische Regierung veranlafiten, dem Ersuchen der deutschen Truppen stattzugeben, waren sehr schwerwiegend. Sie hat sie bei mehr als einer Gelegenheit dargelegt Sie stekte sich auf den Standpunkt, der WaffenstiUstand habe die Lage de facto und de jure von Grund aus verandert. Fafit man die Bestimmungen des WaffenstiUstands zusammen, so kann man in ihnen nichts anderes sehen als une capitulation générale de l'Allemagne comme puissance belligérante, k exécuter au cours du prétendu armistice",2). Es handelte sich um eine Konvention die wegen der KompUziertheit und des unversöhnkchen Charakters einer grofien Anzahl ihrer Bestimmungen in keine bestimmte Klasse von Abmachungen eingcordnet werden konnte und deshalb als eine „convention sui generis" betrachtet werden mufite. Sie bildet ein Zwischending zwischen einem Waffenstillstands- und einem Friedensvertrag. „Elle institue une sorte de liquidation méthodique de 1'état de guerre et en même temps elle prépare la paix, avec réserve unilatérale en faveur des Associés de quelques droits de guerre, tout en ne comptant pas sur une reprise des hostiktés." So muBten die Neutralen nach Ansicht der hollandischen Regierung den Vertrag auffassen. „B n'y a plus de guerre dans le vrai sens du mot, et il n'y a pas encore de paix." Von diesem Standpunkte aus hielt sich die hollandische Regierung fiir berechtigt, ja verpflichtet, nach Kraften die eintretende Liquidation des Krieges zu fördern, und handelte den deutschen Truppen gegenüber die um Erlaubnis zum Durchmarsch baten, entsprechend: ,, II est vrai que 1'art. 2, al. 2, de la convention stipule que les troupes allemandes, qui n'auraient pas évacué les territoires prévus dans les défais fixés, seraient faites prisonnières de guerre, mais il ne fait aucun doute que 1'évacuation du territoire einvahi devait dans 1'esprit de la convention être considérée comme étant le but principal, tandis que faire des prisonniers de guerre devait être une^ mesure accessoire k prendre, si le but principal ne pouvait être atteint. L'évacuation par les troupes aUemandes du territoire envahi n'était pas une opération de guerre de leur part dirigée contre les Associés, mais un acte imposé par ceux-ci, devant rendre impossible la reprise de la guerre, et de plus une des conditions les plus importantes de la paix, de sorte que les Pays-Bas pouvaient y aider sans violer leur neutralité." .... *) Y*£ darüber vor allem das hollandische Orangebuch vom April 1918 bis Juni 1919, b. 8tt.; auf b. 17 findet sich eine Zusammenstellung des Waffenmaterials das die Deutschen zuTÜcklieBen. Die Anzahl der Truppen, die durch Limburg zogen betrug laut Mitteilung des Ministers des Aufiern vom 19. Dezember 1918 in der Zwéiten Kammer (siehe die Sitzungsberichte dieses Datums) 70300 Mann. g' ,T ^ Also die Note über den „caractère juridique de la convention conclue le 11 Novembre 1918 entre les Puissances alliees et associées et l'Allemagne", a. a. O. S.12. 317 Natürlich erkannte die hollandische Regierung sich das Recht zu, den Durchmarsch zu verweigern. Bei der damals gerade in Holland hemenenden Aufregung, bei den Schwierigkeiten, die der Abtransport der Flüchtlinge aus Nordfrankreich, welche nach ihrer Heimat zurück mufiten, und die Beförderung vieler aus deutscher Kriegsgefangenscbaft zurückkebrender Ententesoldaten machten, ware zu einer solchen Weigerung sogar reichlick Grund vorhanden gewesen. Aber die Regierung hatte davon Abstand genommen, weil 'sie l) „serait contraire k 1'intérêt de la population du Nord de la Belgique, tant au point de vue de son abmentation, qu'k celui de 1'ordre public. II résultait notamment des rapports recus par les autorités néerlandaises k la frontière que des conflits armés menagaient d'éclater entre les militaires en question et d'autres troupes allemandes, conflits dont les habitants de cette contrée devaient fatalement éprouver le contre-coup". Die hollandische Begierung hatte demnach in der Uberzeugung gehandelt , Belgien selbst einen 'Dienst zu erweisen. LieB sie jedoch die deutschen Truppen einmal hollandisches Gebiet betreten, dann konnte sie sie bei den damaligen Verbaltnissen nicht mehr internieren. Denn es hatte schon keinen Zweck mehr, die bis dahin in Holland Internierten, mochten sie direkt aus dem Kampfgebiet über die Grenze gekommen sein oder sich auf Grund der engbsch-deutschen Übereinkunft vom Juli 1917 in HoUand aufhalten, nun Hoch langer festzuhalten. Die englische Begierung hatte sich auch der hollandischen gegenüber dahin geaufiert, die deutschen Internierten dieser beiden Kategorien batten das Recht, nach ihrem Vaterland zurückzukekren. Nun konnte man doch nicht daran denken, deutsche Soldaten zu internieren im gleichen Augenblick, wo ganz allgemein die Entlassung der Internierten zugestanden wurde 2). Diese Gedankengange sckeinen mir aus praktischen und staatsrechtlichen Gesicbtspunkten vökig stichhaltig. Aber die Ententeregierungen waren zuerst anderer Meinung. Der hollandische Aufienminister teilte den Gesandten der alkierteh und assoziierten Regierungen im Haag am 13. November mündlick mit, was gesckehen würde. Er fragte sie nickt um Rat, wie spater irrtümlicherweise in einer offiziellen Mitteilung der hollandischen Gesandtschaft in Paris gesagt wurde 3). Dafür lag kein Grund vor und *) Das Folgende ist ein Zitat aus dem Brief vom 30. November 1918 an den belgischen Gesandten, a. a. O. S. 9. 2) Vgl. die beiden Briefe des englischen Gesandten vom 12. und 13. November, a. a. O S. 9-10.: \ " _^ 8). Vgl. Nieuwe Botterdamsche Courant vom 25. November 1918, Abendausgabe D. Es traf sich unglücklich, dafi der Minister des Aufiern gerade einen Tag vorher, am 12. November, auf eine Bitte des belgischen Gesandten Fallon vom 4 Oktober um Freilassung der belgischen Internierten eine natürlich abschlSgige Antwort gegeben hatte. Es ware jedoch besser gewesen, die Antwort am 12. November nicht mehr, oder wenigstens nicht in der Form zu versenden, ein Versaumnis, an dem die bureaukratische Langsamkeit des Ministeriums des AuBern die Schuld trug. Vgl. darüber 318 selbst wenn das der Fall gewesen ware, hatte die Zeit dazu nicht ausgereicht. Die Gesandten betonten anlafikch dieser Mitteilung, sie wollten sie baldi£8t,ihren Regierungen vorlegen, und kamen einige Wochen snater schrif thch darauf zurück x). Im Auftrag ihrer Regierungen protestierten sie ausdrücklich gegen die Verletzung der hollandischen Neutraütat, die durch den Durchzug der deutschen Truppen stattgefunden habe. Nur die amerikanische Regierune fugte bei, sie wolle, obgleich sie die Angelegenheit als eine Neutralitat^ verletzung betrachte, unter den gegebenen VerhaMtnissen nicht protestieren sie jedoch nicht als Pr&zedenzfall gelten lassen. In der belgischen und' französischen Note wurde ausdrückkch bonstatiert, diese beiden Regierungen behielten sich das Recht vor, aus der Entscheidung der hollandischen . Regierung über diesen Fak für sich die nötigen Konsequenzen zu ziehen Argumente wurden dabei nicht angeführt oder waren, wie die in der französischen Note vorgebriachteD, wahrhaftig sehr wenig durchschlagend ») Was diese Kundgebungen zu bedeuten hatten, wurde bald klar Die Besetzung eines Teiles von Westdeutschland, die Verproviantierung und der Urlaubsverkehr der dortigen akiierten Heere, sowie aüerlei miktarische Mafiregeln steilten sehr hohe Anforderungen an die Eisenbahnen in Nordfrankreich und Belgien, die über ihre Leistungsfahigkeit weit hinausgingen Es lag deshalb nahe, sich an Holland zu wenden und es zu bitten hier helfend einzugreifen, noch mehr als das schon durch die Unterstützung des Rucktransports der aus Deutschland zurückkehrenden Kriegsgefangenen und der in Holland befindlichen Internierten und Flüchtknge der FaJl war Der normale Weg das zü erreichen, ware eine entsprechende Bitte an die hollandische Regierung gewesen. Ihn verschmahten die Ententeregieruhgen jedoch, forderten viélmehr einfach das Durchzugsrecht, das ja auch den Deutschen zugestanden worden sei. Belgien ging dabei voran, jedenfalls nicht ohne Wissen seiner Bundesgenossen. Die hokandische Regierung hatte im November dem belgischen Gesandten mitgeteilt, es werde an der Wiederherstellung der Betonnung und des Leuchtwesens auf der Schelde gearbeitet. Dem Ausdruck des Dankes für diese Mitteilung fugte Baron Fakon in seiner Antwort fol- gendes bei3): „Je dois ajouter que, dans la pensée du Gouvernement du Roi, les accords qui réglaient, avant la guerre, la navigation, le balisage, 1'éclairage et le püotage dans 1'Escaut et ses embouchures, qui trouvaient leur fonde- u. a. den Xeitartikel des Nieuwe Rotterdamsche Courant rom 17. Dezember 1918 Abendausgabe D. *Tvf £m 27,"—29VNovembe>,> nur die belgische Note datierte schon vom 23. Nov v „ > Ua? E." von einer offiziellen Mitteilung des belgischen Ministeriums des AuBern; vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 16. Dezember 1918, Abendausgabe D ") Orangebuch, a. a. O. S. 16. 319 ment dans 1'article 9 du traité du 19 avril 1839, doivent rester provisoirement en vigueur jusqu'k ce que puissent être conclus les nouveaux arrangements rendus nécessaires par 1'atteinte que les évènements ont portée au systême conventionnel du 19 avril 1839. \ „ Cependant j'ai 1'honneur de faire connaitre k Votre Excellence que, nonobstant le fait que 1'armistice n'a pas mis fin a 1'état de guerre, le Gouvernement du Roi a transféré dès k présent les approvisionnements et le matériel de la base miktaire beige de Calais k Anvers, par la voie de 1'Escaut. Le Gouvernement du Roi se réserve la faculte de transporter par la même voie les approvisionnements et le matériel 'miktaire en général. , Cette décision ne saurait soulever aucune objection de la part du Gouvernement de la Reine, puisque celui-ci a accordé le passage k travers le Limbourg-Hollandais aux troupes et au matériel militaire allemands." Die belgische Regierung hat, wenigstens soweit bekannt, ihre hier ausgesproc'hene Ankündigung nicht in die Wirklichkeit umgesetztx). übrigens keB sich die hollandische Regierung durch diese Angelegenheit keineswegs aus der Fassung bringen. Der Minister des AuBern erwiderte, es könne keine Rede davon sein, daB den deutschen Soldaten die Mitnahme von Kriegsgerat gestattet worden sei; deshalb bestehe auch keine Analogie zu dem was Belgien fordere. Darauf folgte die kluge Bemerkung: Mais il m'est agréable de Vous faire savoir que le Gouvernement de la" Reine n'a pas d'objections k rétablir déjk maintenant le régime normal réglant la navigation sur 1'Escaut, de sorte que les transports envisagés dans Votre note pourront s'effectuer comme auparavant pourvu qu'ils se fassent sous le pavikon de commerce." Eine Diskussion über den Vertrag von 1839 wies der Minister zurück, solange Belgien nicht prazisiere, durch welche Ereignisse der Vertrag von 1839 verletzt worden sei. Zu weiteren Erörterungen darüber sollte sich gar bald Gelegenheit bieten. Belgien lieB diesen Punkt denn auch fallen, legte aber um so energischer den Finger auf den Durchzug durch Limburg. Nachdem derselbe einmal den Deutschen zugestanden worden sei, habe Belgien ebenfaüs ein Becht darauf, daB die Verproviantierung der belgischen Truppen in Deutschland auf den durch Limburg führenden StraBen und durch die Bahn Ahtwerpen-Gladbach erfolgen dürfte, postuberte FaUbn in einem Sendschreiben vom 27. Dezember. Dagegen sei natürlick gar dichts einzuwenden, antwortete Van Karnebeek im Januar. Die hollandische Regierung habe ja auch schon wissen lassen, sie habe gegen die Wiederaufnahme des normalen Verkehrs auf der Sckelde, ebensowenig wie « So konstatierte das Orangebuch, S. 16, Anm. j* Da* man daran gedacht haben ■ solle vpn Holland wegen der angeblichen NeutraUtatsverletzung Schadenersatz zu verlangen, ist wohl nur als eine Tendenznachricht des „Daily Exprefi" zu betrachten. Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 8. Dezember 1918, Morgenausgabe C. 320 rrgendwo anders, irgendetwas einzuwenden. Aber das mit dem deutschen Durchzug durch Limburg in Zusammenhang zu bringen, sei veilig ungerechtfertigt, wiederholte der Minister, und gab noch einmal eine Auseinandersetzung des Falies. Eine ahnliche Antwort bekamen England und Frankreich, als sie sich ebenfalls auf die Limburger Affare beriefen, um gewisse Rechte auf hollandischem Gebiet für sich zu verlangen. England kündigte im Dezember den Transport von Lebensmitteln auf der Schelde und dem Rhein an Frankreich im gleichen Monat dasselbe auf „les voies ferrées et fluviales qui traversent le Royaume des Pays-Bas" Die Berufung auf den Limburger Zwischenfall begann wahrlick schon groteske Formen anzunehmen, und was nun folgte, macht den Eindruck, von seiten der französischen und engbschen Regierung in seiner lragweite nicht allzu gründlich überlegt gewesen zu sein. Man hatte ia auch die Hande gar zu voll mit allerlei Dingen! Sehen wir, was passierte: Anfang Februar wandte der britische Staatssekretar des Aufiern sich telegraphisch an den engkschen Gesandten im Haag mit dem Auftrag die hollandische Regierung zu ersuchen, sie möchte gestatten, dafi der Transport von Truppen von und nach dem besetzten deutschen Gebiet, und zwar in voller Waffenausrüstung, über hollandisches gebiet geleitet werden dürfe, also unter Benutzung der hollandischen tfahnen und Wasserwege. Dieses Ersuchen wurde nicht mit der Limburger Affare irgendwie begründet, sondern von dem engbschen Staatssekretar durch folgende Auseinandersetzung unterstützt2): „Though technically we are stik at war with Germany and Holland remains neutral, no real infraction of any neutral obkgation on the part of Holland is in fact mvolved. The obügation of a neutral, to prevent passage of armed forces of bekigerent across his territory is but the appkcation of pnnciple that neutral must not allow his territory to be used bv one belbgerent in order to further mihtary operations directed against the other In present case the returning troops aré coming home to be demobilised; their passage therefbre, so far from promoting müitary operations against Germany, is in accordance with terms of armistice to which Germany is a party. Germany therefore cannot and does not object to their arriyal m German territory and it cannot affect Germany in any wav whether or not such troops on their way to occupied provinces where there protection is stipulated for, pass through neutral territory. Germany is in no way disadvantaged by Holland permitting the passage „On the other hand Holland is herself interested in easing general transportation difficulties which must be succesfully overcome as a whole ■». ^LkT^k 8tellte tïe S]eiche Forderung, aber ohne sich auf den deutschen Durchaug durch Limburg zu berufen. Orangebuch, a. a. O S 14—15 ') Siehe ebenda S. 19. 21 Japikse, Holland 321 in order that the provisioning of Western Europe with food and necessary supplies is to be assured. A general break-down of essential line of Communications is as little to the Dutch as to the Allied interests." Ich hatte sehen mogen, welches Gesicht Van Karnebeek gemacht hat, als ihm der englische GeschaftstrSger eine Kopie dieses Telegramms aushandigte. Begegneten ihm doch seine eigenen Motive in etwas anderer Form hier wieder. Er versSumte auch nicht, hierauf in seiner Antwort hinzuweisen *): „Dans eet ordre d'idées le renvoi dans leur pays des militaires allemands qui avaient été recus sur le territoire néerlandais lors de 1'évacuation de la Belgique — mesure contre laquelle le Gouvernement Britannique, en la qualifiant de passage de troupes, a protesté comme étant contraire k la neutrakté — était également conforme au traité d'armistice et se trouve donc justifié dans 1'esprit du Gouvernement Britannique lui-même, d'autant plus que ces militaires furent désarmés." An sick hatte die hollandische Regierung nichts dagegen einzuwenden, dafi die aus Deutschland zurückkehrenden demobilisierten Truppen hollandisches Gebiet durchquerten, wohl aber war das mit den nach Deutschland bestimmten Mihtartransporten der Fall. Beides waren völlig verschiedene Dinge, wie der Minister des Aufiern in seinem Schreiben mit Recht hervorhob. Auch hielt sich die hollandische Regierung nicht für berechtigt, die Truppen bewaffhet auf ihr Gebiet zuzulassen. In Anbetracht des Umstandes jedoch, dafi die Zeit nicht mehr ferne sei, wo die Kriegführenden akes bei Internierungen in hollandische Hande gekommene Kriegsmaterial zurückbekamen, erklarte sie sich damit einverstanden, dafi die aus Deutschland zurückkehrenden Truppen ihre Waffen mitnahmen, „ en ce qui concerne 1'Escaut dans la cale des batiments de haute mer oü en ce qui concerne spécialement le voyage sur le Rhin dans des bateaux accompagnant ceux affectés au transport des troupes." • Die engliscke Regierung gab sich damit aber noch nicht zufrieden. Sie lieB durch ihren Gesandten darauf aufmerksam machen, es sei für die Herbeiführung eines baldigen Friedens von höchstem Interesse, dafi die Waffenstillstandsbedingungen so schnell als möglich ausgeführt würden; das werde aber durch „extreme congestion" der Eisenbahnen in Belgien und Nordfrankreich in Gefahr gebracht. Nun, antwortete Holland2), wenn die Sache so steht, dann will ich gerne helfen: „Cette mesure doit donc être considérée comme devant amener plus promptement le retour des relations normales, auxquels le Gouvernement Néerlandais s'efforce de coopérer tant en restant dans la limite de ses droits et de ses devoirs." Natürlich wurde dem noch hinzugefügt, diese Konzession dürfe keinesfalls als Prazedenzfall ausgenutzt werden. "0 a. a. O. S. 19. 2) a. a. O. S. 20. 322 Hiermit war, wenigstens was den diplomatischen Gedankenaustausch angeht, die Frage des Durchmarsches deutscher Truppen durch Limburg erledigt. England hatte selbst Holland einen starken Trumpf in die Hande gespielt, mit dem es alle Angriffe abschlagen konnte, und die anderen Ententemachte kamen auf die Sache mit keinem Ton mehr zurück. Man kann abschliefiend über die ganze Angelegenheit schwerlich anders urteilen als dafi Holland sich dabei durch eine sehr weitherzige, liberale Auffassung hat leiten lassen, die auch staatsreehtlich zu verteidigen war. Besonders hatte die Regierung sich durch den ernsten Wunsch beeinflussen lassen, in den Grenzen ihrer Rechte und Pflichten alles zu tun, wodurch die Herbeiführung des definitiven Friedenszustandes gefördert und' beschleunigt würde. Von seiten der Entente war die Berufung auf die Limburger Affare mchta weiter als ein gesuchtes Manöver. Das gleiche gilt für die Einwande, welche von Frankreich wegen der Internierung einiger aus Antwerpen geflohenen deutschen Marinefahrzeuge und einer Anzahl belgischen und anderen Eigentümern gehöriger Flufischiffe erhoben wurden. Klugerweise hat die hollandische Regierung, trotzdem sie sich dazu nicht direkt verpflichtet fühlte, beschlossen, diese Sehiffe nach Belgien zurückzusenden: Mochte die Entente sich dann mit Deutschland über dieselben einigen1)! Wozu nun aber diese ganze so deutlich zur Schau getragene Unzufriedenheit der Entente mit Holland ? Ist der Ententeoberbefehl wirklich so mifigestimmt darüber gewesen, dafi eine Anzahl deutscher Soldaten, die sonst sehr wahrscheinlich hatten kapitulieren müssen, mit hollandischer Hilfe entkamen? Möglich. Damit ist jedoch noch nicht erklart, warum ein groBer Tèil der Ententepresse, besonders die französische und belgische, ein derartiges Geschrei gegen Holland erhob, wie das tatsachlich geschah. Emige Blatter versaumten nicht, die Entscheidung Hollands von 1918 mit der-aufs netie hervorgezogenen, völlig aus den Fingern gesogenen Mar von der Verletzung der hollandischen Neutralitat durch Deutschland im August 1914 in Zusammenhang zu bringen, z. B. das „XX me Siècle"2). Ernst zu nehmende französische Zeitungen, wie „Temps" und „Journal des Débats", liefien sich in sehr unfreundkchem Ton über Holland aus8). Der „Temps" warf die Frage des von Holland dem Ex-Kaiser verliehenen Asyls in die Debatte und insinuierte aufierdem, Holland habe sich bei Amerika um eine Erleichterung der Waffenstillstandsbedingungen verwandt — eine pure Erfindung natürlich, wie wir zu allem Überflufi konstatieren wollen. Das „Journal" ging noch einen Schritt weiter und bemerkte anlafibch der oben erwahriten aus Antwerpen nach Holland dirigierten Sehiffe: ') a. a. O. S. 5 ff. *) Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 26. Nov. 1918, Abendausgabe D 8) a. a. 0, 25. Dezember 1918, Abendausgabe D. 21* 323 .Der Augenblick ist von Holland wirklich scklecht gewahlt, um die Aufmerksamkeit auf die Nachteile zu lenken, die sich für Belgien aus der Entscheidung der Machte von 1839 ergeben, durch welche Holland die Kontrolle über die Scheldemündung überlassen wurde. Man batte keine zweckmafiigere Methode finden können, um zu beweisen, daB Belgien die freie Ausfahrt aus dem Hafen von Antwerpen haben muB. Wir sagen das, ohne noch von den sicheren Garantien zu reden, welche die Ententemachte fordern müBten, wenn die hollandischen Autoritaten sich der Pflichten einer strikten Neutraktat nicht bewuBt zeigen würden." Wenn man dieBe und ahnliche AuBerungen mit der soeben mitgeteilten bemerkenswerten Auffassung der belgischen Regierung in Zusammenhang bringt, dann kommt man beinahe von selbst zur Schlufifolgerung, dafi das Auftreten der Ententeregierungen und die Hetze der Ententepresse anlaBlich der Limburger Affare, wenn nicht ausschlieBlich, so doch in der Hauptsache als eine Einleitung der gegen Holland gerichteten Aktion angesehen werden mufi, zu der Belgien bald darauf überging, und worüber unser nkchstes Kapitel handeln wird. Man suchte nach einem Stock, um den schon übel genug beleumundeten Hund zu schlagen, ohne darauf zu achten, dafi dieser Stock brüchig war, so dafi es dem Hunde wegen der Schlèige nicht bange zu sein brauchte. d) Die belgisch-hollandischen Reibungen Natürlich freute man sich in HoUand über die Befreiung Belgiens von ganzem Herzen. Das ware im November 1918 sicher mehr zum Ausdruck gekommen, wenn sich nicht in In- und Ausland damals die Ereignisse überstürzt hatten. So blieb keine Zeit, um zur Besinnung zu kommen, und als es so weit war, befand sich die belgische Kampagne gegen Holland in vollem Gange. Nun konnte uns Hollandern der Festesjubel nicht mehr von Herzen kommen, womit natürkch jedoch keineswegs gesagt sein soU, daB irgendein Hollander die WiederhersteUung der belgischen Unabhangigkeit bedauert hatte. Welche Wandlungen die Stimmung gegen Belgien durchmachte, zeigen am besten die Schicksale einer vielköpfigen Kommission, die sich konstituiert hatte, um dem belgischen Königspaar als Ausdruck der Empfindungen des hollandischen Volkes ein Geschenk darzubieten: Sie konnte, trotzdem sie bei ihrem Zusammentritt mit groBer Sympathie begrüfit worden war, ihren Plan nicht in der ursprünglich beabsichtigten Art und Weise durchführen. Es war nicht mehr das alte Belgien, mit dem es HoUand im November 1918 zu tun bekam, auch nicht hinsichtbch seiner internationalen Position. Als König Albert im November im belgischen Parlament zu Brüssel seine glanzende Thronrede hielt, sagte er unter anderem folgendes: „Das stolze Belgien, nicht mehr behindert durch die Neutraktat, die 324 ihm durch Vertrage auferlegt war, deren Grundlagen der Krieg erschüttert hat, wird völlig unabhangig sein. „Die Vertrage, welche seine Lage innerhalb Europas bestimmten, haben es nicht vor dem abscheullchsten Anschlag beschützen können. Sie dïirferi deshalb die Krisis, deren Opfer das Land geworden iet, nicht überdauern. Wiedereingesetzt in alle seine Eechte, wird Belgien seine Angelegenheiten seinen eigenen Bedürfnissen und Absichten entsprechend völlig selbstandig regeln. Die Anderung seiner völkerrechtlichen Stellung wird ihm die Garantien bieten, die es gegen künftige Angriffe beschützen müssen. Es wird nach der bevorstehenden, auf Gerechtigkeit gegründeten Neuregelung der internationalen Verhaltnisse einen Platz einnehmen, der seiner Würde und seiner Bedeutung entspricht." Das kam also darauf hinaus, daB die Vertrage von 1839, durch die Belgiens internationale Position festgelegt war, keine allgemeine Gültigkeit mehr hatten, mit der Folgerung, dafi jene Vertrage revidiert werden mufiten. Das schlofi auch die Bevidierung des belgisch-hollandischen Vertrages vom April 1839 in sich, weil in Artikel 7 desselben die belgische Neutralitat statuiert war, obwohl Holland nicht zu deren Garantiemachten gehorte. Diese Neutralitat, die in den dreifiiger Jahren durch die GroBmachte als europaisches Bedürfnis empfunden wurde, weil sie gegen die französische Eroberungslüst im Norden einen Schutz bot, war tatsachlich eine Anomalie geworden1). So scheint man allgemein empfunden zu haben, denn es erhoben sich von keiner Seite irgendwelche Einwande. Die Schwierigkeiten begannen erst bei der Frage, inwieweit auch noch andere Bestimmungen des Vertrags von 1839 geandert werden müBten. Ob die Absichten der belgischen Regierung in diese Richtung zieken, konnte man vorlaufig nur vermuten. Ebenso wie die Brüsseler Rede des Königs Albert bewegten sich auch die Begrüfiungsrede des Prasidenten Poincaré beim Besuch des belgischen Königs in Paris Anfang Dezember und dessen Antwort in dieser Hinsicht nur in Allgemeinheiten: „Künftig befreit von den Fesseln dieser Neutralitat, die ihm keinen Schutz gewahrten, wird Belgien seine ünabhangigkeit und seine Souveranitat zurückerhalten, wird es die Genugtuung empfangen, auf welche es durch sein langes Martyrium ein Becht hat, und wird es auf die ewige Dankbarkeit Frankreichs rechnen können, an dessen Seite es die Freiheit verteidigt hat." Auf diese Worte Poincarés erwiderte der König: „Entbunden von den internationalen Servituten, die auf ihm. ruhen durch die Vertrage, welche der Krieg erschütterf hat, mufi Belgien mit Hilfe Frankreichs und seiner Bundesgenossen seine wirtschaftliche ') Es bestenen darüber, wie leicht zu verstehen ist, sehr verschiedene Auffassungen Man vergleiche u. a. die Werke von Waxweiler, A. Schulte und bchwertfeger: Der geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralitat. Berlin 1919. 325 Wohlfahrt wiederherstellen und in neuen Verhaltnissen die Elemente der Sicherheit, des Gleichgewichtes und der Stabilitat finden, die ihm erlaubeh werden, seine Bestimmung zu erfüllen Die Bedeutung dieser Worte begreift man erst richtig im Lichte der Kommentare, die einfluBreiche französische Blatter wie „Temps" und „Journal des Débats" ihnen widmeten. Das erstere Blatt brachte gerade damals einen Artikel über Limburg und die Schelde 2) und sagte, man dürfe Poincarés Toast nicht als gewöhnliche GelegenheitsauBerungen betrachten. Besonders Holland müsse ihnen Aufmerksamkeit schenken, denn die Art und Weise, in der Frankreich Belgiens Auffassungen von der Wieder her stellung der vollen Souveranitat unterstützen würde, werde notwendig die Scheldefrage berühren. Das „Journal des Débats" gab gleichzeitig zu verstehen, die belgischen Wünsche, wie sie die „Nation Beige"3) vertrete, und zwar sowohl bezüglich Luxemburgs wie hinsichtlich der Schelde, dürften nicht abgelehnt werden. Diese Wünsche und AuBerungen beweisen in ihrer Gesamtheit, daB in mehr oder minder offiziellen französischen Kreisen Bestrebungen vorhanden waren, um der Revision der Vertrage von 1839 einen weitgehenden Charakter zu verleihen. Die wahrend des Krieges lautgewordenen Wünsche eines Teiles der Belgier, die wir bereits kennen gelernt haben4), deckten sich damit. Diese Belgier begannen sich nun sehr lebhaft zu regen. Schon Anfang Dezember kam es in Belgien zu AuBerungen einer sehr unfreundbchen Stimmung gegenüber Holland, worüber man sich nicht zu wundern braucht nach den vielen Verdachtigungen und unrichtigen Urteilen, denen die Hollander wahrend des Krieges ausgesetzt gewesen waren. Ein Teil der Presse tat nun das ihre, um besonders auf Grund des Durchzuges der deutschen Truppen durch Limburg die Stimmung weiter zu vergiften. Man konnte sogar schon Gerüchte über einen angeblich bestehenden Krieg zwischen den beiden Nachbarlandern hören. Ein Hollander, der in Brüssel auf einer Bank Geld einwechseln wollte, bekam den Zuruf zu hören, ein Gulden habe nicht mehr viel Wert wegen eines bevorstehenden Krieges mit Holland5). Dem gleichen Hollander fiel sehr stark die Anderung in der Haltung der belgischen Bévölkerung auf, wenn dieselbe merkte, daB er und seine Reisegenossen Hollander seien. Besonders nahmen einzelne belgische Soldaten eine drohende Haltung an. Die wahrend des Krieges geführte Pressekampagne trug nun ihre Früchte und wurde zudem in groBem Stile fortgesetzt. >) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 10. Dezember 1918, Abendausgabe D 2) Wahrscheinlich von Jean Herbette, der sich in der hollandischen Wochenzeitschrift „ Haagsche Post" kurz darauf in ganz anderem, namlich viel freundlicherem Sinne gegenüber Holland ausliefi. Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 17. Dezember 1918, Abendausgabe D. s) Fortsetzung des XX« Siècle. *) Siehe oben S. 231 ff. 6) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 5. Dezember 1918, Abendausgabe D. 326 Die Scheldefrage, deren „sofortige kategorische Lösung" gefordert wurde, und die Annexion, besser Desannexion von Hollandisch-Limburg, das ja doch 1839 von HoUand unrechtmaliig annektiert worden sei, bildeten in den belgischen Blattern „the topic of the day". Die „Libre Belgique" die „Indépendance Beige", der „Matin" (von Antwerpen), die „Nation Beige", die „Gazette" und noch verschiedene andere instruierten das belgische Pubkkum auf ihre Weise. Für bedeutungsvoUer als ihr Geschreibe muBte man einen Artikel des bekannten Eechtsgelehrten Professor Nn> in Brussel *) erachten, der sich mit der Schelde und Seelandisch-Flandern beschaftigte: Er beleuchtete auf Grund der Traktate und der historischen Entwicklung die Entstehung der gegenwartigen Situation. Ihm zufolge hatte Holland die Interessen von Seelandisch-Flandern stets nachlassig behandelt, dieses Gebiet eigentbch als Stiefkind angesehen und ausschlieBlich darauf geachtet, den Interessen des ursprünglichen Mutterlandes zu dienen Er fand, daB die Frage der vollstandigen Freimachung der Schelde für Belgien, auBerst wichtig sei, und behauptete, die AbschlieBung des Flusses fur Kriegsschiffe sei für Belgien sehr nachteilig gewesen. Indessen woUte er durchaus keine unangenehmen oder gefahrlichen ZwischenfaUe zwischen den beiden Nachbarlandern, sondern zog eine gütliche Regelung bei weitem vor. Denn wenn die belgischen Argumente richtig seien, dann könne eine derartige Verstandigung nicht schwer fallen. Der Wunsch nach einem gütlichen Ausgleich wurde bald auch sonst ausgesprochen, nicht nur in der flamischen Presse, sondern auch in einem Teil der französisch - belgischen. Ein Blatt wie die „Métropole" in Antwerpen z. B., die in ihren Wünschen lange nicht so weit ging wie die radikalannexionistischen Zeitungen, drang darauf mit der Begründung, Belgien habe Holland einen groBèn Dienst erwiesen, indem es für seine Unabhangigkeit gefochten habe, da es sonst auch um Hollands Freiheit geschehen gewesen ware, und deshalb dürfe HoUand nun auch Belgien entgegenkommen und sich einige Opfer auferlegen. Auch das „ XX8 Siècle " begann bald einen weniger heftigen Ton anzuschlagen und von einer Annaherung, die wünschenswert sei, zu sprechen *). Ebenso die dem belgischen Ministerprasidenten nahestehende „Libre Belgique". Die flamischen Blatter waren fast durchweg antiannexionistisch und traten nicht nur für eine freundschaftliche Regelung schwebender Fragen, sondern auch für eine Annaherung beider. Lander ein. Besonders taten das das „Laatste Nieuws" und der „Standaard", die Blatter von Hoste und Van Cauwelaert, die beide sich veranlafit fühlten auf die Verpflichtungen kinzuweisen, die Belgien gegenüber HoUand habe. Etwas reser- u ^ "dépendance Beige. Vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 11. De¬ zember 1918, Morgenausgabe B. *) Vgl. u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 19. Dezember 1918. Moreenausgabe B. - ' 6 327 vierter hielt sich das „ Antwerpener Handelsblad", das auf keinen Fall etwas von Gewalt wissen wollte, aber doch einzelne Regelungen ins Auge faBte, die Holland territorial nicht unberührt gelassen hatten. Unfreundlicher benahm sich die ebenfalls flamische Antwerpener „Gazette". Aber es hat doch den Anschein, als ob der „Standaard" und das „Laatste Nieuws" die Stimmung der Mehrheit der Flamen, wenigsténs wie sie sich schlieBlich bildete, wiedergegeben hatten. Deshalb möge hier eine Steke aus einem Artikel Van Cauwelaerts Platz finden : „Wir kalten die Erregung der öffentlichen Meinung gegen Holland für sehr bedauernswert und im Widerspruch sowohl mit den Interessen wie mit dem Ansehen unseres Landes. Wir wollen zum Beweis fur die Richtigkeit unserer Auffassung uns nicht darauf berufen, was Hollands Regierung und Bévölkerung wahrend dieses Krieges für uns getan hat. ,Wir haben wahrlich allen Grund zur Dankbarkeit fur die humane Unterstützung und lebendige Sympathie, die wir in unserem Unglück bei unseren nördkchen Nachbarn gefunden haben, und werden diejenigen, welcbe aus Leichtfertigkeit oder politischer Berechnung das Gegenteil zu beweisen wagen, mit Zahlen und Tatsachen abfertigen. Aber man kann sich auf diese Dankespflicht, die wir gerne anerkennen und erfüllen wollen, nicht berufen, um uns zu verhindern, Ansprüche auf dasjenige zu erheben, was unser Land mit Becht für sein eigenes Wohl würde verlangen können. Denn, wenn eine Wohltat die andere wert ist, dann konnten wir ebenfalls darauf hinweisen, was der heldenhafte Widerstand Belgiens gegen die wilde Herrschsucht Deutschlands auch für die unabhangige Weiterexistenz Holland bedeutet hat. . - . '* „Unser Protest gegen die antihollandischen Treibereien hat tiefere Gründe, er beruht auf Erwagungen über unsere Lebensinteressen. Denn Belgien und Holland sind durch ihre geographische Lage für ihre Wohlfahrt, ihre Sicherheit und sogar fur die Erhaltung ihrer Freiheit auf gegenseitige Annaherung und Dienstwilbgkeit angewiesen." Sehr deuflich kommt hier die Verschiedenheit der Auffassung bezüglich der belgischen AuBenpolitik zutage, die zwischen Flamen und Nichtflamen bestand. Vorlaufig behielten allerdings die letzteren die Oberhand. Wahrend und infolge des Krieges war in den Kreisen der belgischen Begierung der zentrakstische Gedanke2) begreifkcherweise sehr gestarkt worden. Ebensowenig kann es wundernehmen, daB sie nun noch starker als früher französisch orientiert war. Die flamische Bewegung ebbte, nicht zuletzt wegen der üblen Beputation, die ihr infolge des Aktivismus anhing, zurück. Auf sie konnte Holland, mochte es auch Mannern wie Van Cauwelaert und Hoste, die sich nicht entmutigen keBen, fiir ihre guten Absichten x) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 17. Oktober 1918, Morgenausgabe B. *) Siehe darüber oben S. 234. 328 dankbar sein1), nicht oder wenig rechnen bei der Abwehr der annexionistischen Strömungen. Mehr Hoffnung konnte man auf die Sozialisten setzen. Erklarte doch einer ihrer vornehmsten Wortfiihrer, Canaille Huysmans, der sich auch wahrend des Krieges schon fortwahrend in beruhigendem Sinne über die annexionistischen Treibereien geaufiert hatte, er halte die Bewegung für wenig bedeutungsvoll2). „ Die neueste Kampagne ist nur eine Neuausgabe der früheren Unternehmung und wird nicht mehr Beifak finden wie jene. Die arbeitende Klasse Belgiens, und besonders die belgische Arbeiterpartei, macht bei einer solchen Hetze nicht mit. Mehr noch! Ein Koalitionsministerium mit sozialistischen Mitgliedern ware bei einer annexionistischen Politik unmöghch." Ein Appell der hollandischen S.D.A.P. an die belgische Schwesterpartei wurde sofort in günstigem Sinne beantwortet. Das einzige, was man von dieser Seite geregelt haben wollte, war die freie Fahrt auf der Schelde und der Maas 3). Sie wurde auch von Van Cauwelaert und seinem Kreis verlangt. In wejchen Kreisen fanden nun aber die annexionistischen Absichten ihren eigentlichen Anhang? Es ist sehr schwer zu sagen, inwieweit innerhalb des belgischen Volkes eine überwiegende Neigung zum Annexionismus bestanden hat. Unter dem direkten EinfluB der falschen Ansichten über Holland, die in manchen Zeitungen noch durch die höchst törichten Berichte ihrer nach Holland entsandten Korrespondenten verstarkt wurden, waren die Gemüter für die annexionistische Propaganda sicher empfanglich. Aber es kommt mir letzten Endes doch vor, als ob die annexionistische Saat nie so recht gut habe aufgehen wollen. Auf die Dauer ist ihre Ernte jedenfalls vökig miBraten. Dafür müssen jedoch hauptsachlich aufierpolitische Faktoren — worüber sofort Naheres — in Rechnung gebracht werden. Es fragt sich jedoch, ob die Annexionisten, wenn jene nicht wirksam gewesen waren, ihre Mühe wohl von Erfolg bekrönt gesehen hatten. Wie schon gesagt, das bezweifle ich, da ich mit Huysmans und Fredericq der Meinung bin, daB der gesunde Menschenverstand beim belgischen Volke die Oberhand behalten und dafi dasselbe es nicht auf einen Kampf mit Holland hatte ankommen lassen. Denn ohne Anwendung von Gewalt hatten die radikal-annexionistischen Forderungen gegenüber Holland keinesfalls durchgesetzt werden können. Das mufi eigentlich jedermann von Anfang an deutlich gewesen sein, und die Vagheit, mit der die Annexionisten oft ihre Wünsche aussprachen, hangt zum grofien Teile wohl *) Ebenso dem bekannten Genter Professor Paul Fredericq, der u. a. schrieb: „Uber meine Leiche wird man hinweggehen müssen, wenn man die Grenze von SeelBndisch-Flandern überschreiten will." Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 25. Dezember 1918, Morgenausgabe C. *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 18. Dezember 1918, Abendausgabe C. ') Gleiche Zeitung vom 29. Dezember 1918, Morgenausgabe B. 329 damit zusammen, dafi sie die Konsequenzen ihrer Auffassung nicht offen zu zeigen wünschten oder wagten. Das offene Eingestandnis weitgehender WünSche kam in erster Linie aus Industrie- und Handelskreisen und, was das politische Glaubensbekenntnis anlangt, offenbar von seiten der Liberalen. Schon am 30. November sprach sich der „Cercle Maritime" zu Brüssel unter anderem für Belgisierung der Westerschelde aus, mit der Konsequenz, dafi.Seelandisch-' Flandern Belgien angegliedert werden' müsse. Dasselbe habe mit dem hollandischen Gebiet zwischen der Maasschleife und dem Gebiet von Maastricht zu geschehen 1). Die Brüsseler Handelskammer beschaftigte sich damals auch bereits mit der Sache, und eines ihrer Mitglieder wollte der Forderungsliste noch beifügen, die seelandischen Insein Zuid-Beveland und Walcheren sollten Holland abgenommen werden, stand also so ziemlich auf dem radikal annexionistischen Standpunkt. Die Handelskammer schlofi sich dem jedoch nicht an, sondern beschrankte sich darauf, einstimmig der Resolution des „ Cercle Maritime" beizutreten 2). Weniger weit ging die Antwerpener Handelskammer, die im Januar wokl die Annexion der Enklave von Maastricht als erwünscht bezeichnete, aber bezüglich der Schelde nur von der endgültigen Regelung der freien Fahrt sprach, über welche Belgien restlos zu verfügen haben müsse, um alle Arbeiten ausführen zu können, die sich auf Erhaltung der Tiefe des Fahrwassers und der Sicherheit für die Schiffahrt bezögens). Wie sie sich die Ausführung dieser Plane dachte, ohne dafi dabei auch die Ufer der Schelde ganz oder teilweise belgisch wurden, sagte sie nicht. Kamen in diesen Entschliefiungen nur gewisse kleine Kreise zu Wort, sö besafi das Ende Dezember 1918 in Brüssel gegründete Comité de Pobtique Nationale eine allgemeinere Bedeutung. Zu den Gründern gehörten z. B. Nothomb, Baie, Des Ombiaux, Davignon, alles uns schon aus der wahrend des Krieges geführten annexionistischen Kampagne bekannte Namen. Mitbeteüigt waren ferner der Direktor des Antwerpener Handelsinstituts, Dubois, und die Leuvener Professoren Dupriez und Nerincx4). Das von diesen Herren veröffentlichte Manifest war einige Monate darauf durch eine grofie Anzahl Belgier von Namen unterzeichnet, darunter Journalisten, Gelehrte, Militars, Advokaten, Bichter, Magistratsbeamte, IndustrieUe und Kaufleute, z. B. Henri Pfrenne, A. Carton de Wiart, Léon Hennebicq, um aus. der ein paar hundert Namen zahlenden Liste der „principaux *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 7. Dezember 1918, Morgenausgabe B. Das Datum des Beschlusses ergibt sich aus derselben Zeitung vom 12. Dezember 1918, Morgenausgabe B 9) Gleiche Zeitung vom 12. Dezember 1918, Morgenausgabe B. s) a. a. O., 20. Januar 1919, Abendausgabe C. Eine ausführliche Adresse dieser Handelskammer findet sich in derselben Zeitung vom 6. August 1919, Abendausgabe C. 4) a. a. 0, 24 Dez. 1918, Morgenausgabe B. 330 membres" nur einige der allerbekanntesten anzuführen r). Wozu sich all diese Manner zusammenschlossen, sagten sie deutlich am Ende ihres Manifestes: „Nous le répétons: la Belgique ne peut prospérer, la Belgique ne peut être en sécurité: 1. Que si elle est maitresse de 1'embouchure de 1'Escaut, en temps de paix et en temps de guerre; 2. Que si elle peut disposer librement de la Meuse bmbourgeoise et se défendre sur la Meuse limburgeoise; 3. Que si Anvers peut communiquer sans entraves avec le Rhin; 4. Que si le Grand-Duché de Luxembourg n'est plus une porte d'entrée grande ouverte pour Pennend; 5. Que si la Prusse ne s'avance plus sur les territoires usurpés jusqu'aux abords de Liège, par dessus notre ancienne frontière de 1'Eifel. „A 1'heure oü certains essayent de donner a nos formules nationales un sens qu'elles n'ont pas, a 1'heure oü les délégués beiges k Paris ont besoin de sentir derrière eux la nation tout entière, k 1'heure qui va décider de notre avenir, k 1'anniversaire émouvant de la protestation déchirante des provinces arrachées en 1839 k la mère-patrie, le devoir de tout citoyen est de marquer sa participation k la volonté unanime de la Belgique d'empêcher le retour des. évènements de 1914." Was es Holland kosten würde, all diese Wünsche befriedigen zu helfen, wurde nicht gesagt. Den Kommentar zu dem Manifest mufi man in der annexionistischen Presse suehen. Die im Februar in derselben herrschende Stimmung wird gut durch einen Artikel der „Indépendance Beige" gekennzeichnet2), von dem wir einen kleinen Teil abdrucken. Der Grundgedanke heiBt noch immer: freundschafüiche Regelung, aber auf Hollands Kosten. „Si nous nous permettons de donner ce conseü k la presse de la Haye et de Rotterdam, ce n'est pas paree que nous avons la naïvité de croire qu'elle va se laisser guillotiner par persuasion, ou qu'elle va, pour nos beaux yeux, tenter de convaincre ses compatriotes qu'ils doivent se dépouiüer k notre profit. Non. Mais cette même presse ne cesse de répéter k tout instant que son vif désir est de voir s'établir des relations d'amitié et de bon voisinage entre la Belgique et la Hollande. Comment voudrait elle arriver k ce résultat si, tenant en main la clef de la prospérité d'Anvers et partant de tout notre pays, disposant des moyens prop'res k éliminer le3 obstacles qui se dressent sur la voie de notre expansion mondiale et sur le terrain destiné par la nature elle-même k la défense de notre territoke, elle refuse catégoriquement, a priori, se boucbant ') Vgl. Le Soir vom 27. Marz 1919. *) Vom 21 Februar. Der Artikel ist überschrieben: „ L'annexionisme neerlandais " 331 les oreilles pour ne pas entendre nos arguments, de faire les sacrifices légers, anodins. qui démontreraient réellement qu'elle apercpit a 1'horizon une ère de collaboration intime entre Beiges et Hollandais." Das ware also die „pensée intime", vorsichtig verschleiert ausgedrückt. Der innere Zusammenhang mit der wahrend des Krieges geführten Kampagne ist ohne Mühe zu entdecken. Aber was dachte nun die belgische Begierung selbst von diesen Dingen ? Ihre Beziehungen zu Holland waren nach ihrer Rückkehr nach Brüssel auBerlich sehr korrekt, wenn auch ohne jede Wkrme. Nur anlafilich der Dankesbezeugungen, deren Gegenstand Van Vokenhoven — wahrend des Krieges Ministerresident in Brüssel und als solcher verschiedentbch sehr verdienstlich in belgjschem Interesse tatig — mancherorts war, kam ein herzbchër Ton an die Oberfkiche. Auch von seiten einiger belgischer Würdentrager, z. B. von Woeste und De Favereau, die sich bei der hollandischen Königin für die so vielen Belgiern erwiesene Gastfreundschaft bedankten wurde die freundschaftliche Seite angeschlagen. Im Januar 1919 entschloB sich Königin Wilhelmina, eine besondere Abordnung nach Belgien zu entsenden, als nach der Rückkehr der königlichen Famibe nach Brüssel der Empfang einer solchen für erwünscht erklart worden war. Sie bestand aus dem auBerordentkchen Staatsrat und Altjustizmmister Jhr. Dr. G. L. M. H. Ruys de Beerenbrouck, der als ihr Führer fungierte, dem auBerordentlichen Kammerherrn Dr. G. J. Th. Graf Schimmelpenninck und dem Adjutanten der Königin, Major J. P. de Josselin de Jongh 2). Die Abordnung war beauftragt, die in einem eigenhandigen Schreiben der Königin niedergelegten Glückwünsche zur Befreiung Belgiens zu überbringen, und wurde in auBerst korrekter Weise empfangen. Das bedeutsamste Moment dabei war die Ansprache, welche König Albert an dem den hollandischen Abgesandten zu Ehren gegebenen Galadiner hielt3). Des Königs Worte kamen, wenn man die üblichen Höflichkeitsbezeigungen abstrich, auf eine Erinnerung an die intellektuellen und wirtschaftlichen Bande hinaus, durch welche die beiden Lander seit ihrer frühesten Geschichte verknüpft seien, und die in der Zukunft noch enger werden sollten. „Die geographische Lage der beiden Lander macht sie so zu sagen sobdarisch. Es ware wohl schwerlich möglich. daB' das eine die Freiheit behielte, wenn das andere geknechtet würde." Irgendwelcke Anspielung auf die Absichten der belgischen Regierung hinsichtlich Hollands kann man darin nicht erblicben, und es ist aus nichts ersichtlich, daB etwas Derartiges anlafikch der Mission zur Sprache gekommen ist. Und doch muB sich die belgische Regierung damals beréits über ihre Absichten im klaren gewesen sein. Freilich schlossen diese den Plan in *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 18. Dezember 1918, Morgenausgabe B 2) a. a. O., 13. Januar 1919, Abendausgabe C und folgende Nummern. 8) a a. O., 15. Januar 1919, Abendausgabe B. 332 sich, die belgisch-hollandischen Streitfragen hinter dem Rücken HoUands vor die Friedenskonferenz zu bringen, um sie womögkch durch jene entscheiden zu lassen. Auf der Versammlung des Obersten Rates zu Versaüles schlug der belgische Minister des Aufiern, Hymans, die Revision der Vertrage von 1839 vor. Er verlangte nicht nur, dafi Belgien von seiner Neutraütatspfkcht entbunden werde, sondern auch dafi es die völliee politische und wirtschaftliche Souveranitat erhalte. Die letztere könne nur für gewahrleistet gelten, wenn Belgien die „souveraineté absolue" über die Westerschelde bis zur See und desgleichen über den Kanal von Gent zur Schelde mit freier Verfügung über den Hafen von Terneuzen bekomme Férner wies Hymans auf die Notwendigkeit einer guten Verbindung zu Wasser zwischen Antwerpen und dem Bhein hin, die über hollandisches Gebiet gehen müsse: „B est indispensable que cette voie fluviale soit soumise k notre souveraineté." HoUand wurden diese Forderungen weder durch Belgien noch durch den Obersten Bat mitgeteÜt. Man mufite sich in Holland vorikufig mit allerlei den Kern der Sache übrigens zuweilen sehr dicht streifenden Gerüchten begnügen, und erst sehr viel spater ist die authentische Form der belgischen Forderungen mehr oder minder zufalhg zur Kenntnis der hollandischen Regierung gelangt % Sie steUten nicht ausdrücklich die Abtretung von Gebiet zur Debatte, implizierten dieselbe jedoch sehr deutkch und stimmten in hohem Grade mit den vom Comité de pobtique nationale propagierten Wünschen überein, so dafi man sich kaum dem Eindruck entziehen kann, dieses Komitee habe auf die Regierung, wenigstens auf den Minister des Auswartigen, einen gewissen Einflufi gehabt. Unerklarlich bleibt dabei jedoch, wie die sozialistischen Minister Van de Velde und Anseele sich mit dieser Politik haben zufneden geben können. Oder sind sie etwa der Meinung gewesen jene Forderungen konnten sich spater ohne Gebietsabtretung von seiten Hollands verwirkbchen lassen? Und haben vielleicht der Minister des Aufiern und das Comité de politique nationale die Forderungen absichtbch so vage gehalten, um die soziakstischen Mitglieder der Regierung zu tauschen? Dann ware also die Form, in welche sie gekleidet waren, als eme Art Kompromifi der soziabstischen Regierungsmitglieder einer- und der annexionistischen und Komiteeangehörigen ande/erseits aufzufassen. Allerdings müfite man dann konstatieren, dafi sich die sozialistischen Minister bei dieser Angelegenheit nicht sehr scharfsinnig gezeigt haben Die durch das Comité de politique nationale betriebene Propaganda hatte sie doch eines Besseren belehren müssen! Diese Propaganda wurde in den ersten Monaten des Jahres 1919 sehr aktiv. In Brüssel wurden Plakate angeklebt, in der Art der oben 2) er- J) Colenbrander im „Gids", September 1919, S. 466«f. *) Siehe oben S. 233. 333 ■wahntert wahrend des Krieges herausgegebenen Karten, aus denen man deutlich ersehen konnte, daB das hollandische Gebiet auf' keinen Fall unangetastet bleiben konnte, wenn die Herren vom Comité de politique nationale ihren Willen bekamen. Zahlreiche Versammlungen wurden ferner ausgeschrieben, in denen die Leiter des Komitees als Wortführer auftraten. Trotzdem ging die Sache nicht so ganz nach Wunsch, denn eine solche Versammlung wurde. in BrüsBel durch Flaminganten gewaltsam gesprengt. Es fiel allgemein auf, daB das Comité de politique nationale für seine Propaganda über reichliche Geldmittel verfügte, was die auch aus anderen Gründen vielfach gehegten Meinung, GroBindustrielle standen hinter der Bewegung, begreiflicherweise verstarkte. Ja, man hat sogar sehr weitgehende Plane vermutet, die durch französische Bergwerksmagnaten von Briey ausgebrütet sein sollten. Nachgewissenermafien *) engagierte der erste dieser Magnaten schon 1916 einen Propagandaagenten, namens Edmond Patris, der früher zur Eedaktion des Brüsseler „Soir" gehort hatte, für seine politischen Interessen. Dieser soll bald darauf Beziehungen mit dem annexionistischen XX« Siècle angeknüpft haben, das damals in Havre erschien, auBerdem mit gleichgestimmten Mitgliedern der belgischen Begierung. Die Kriegsatmosphare erschien kühnen Planen günstig. Besonders soll Hijmans, der als Freimaurer gute Beziehungen nach Briey hatte, mitbeteiligt gewesen sein. Er wurde nicht viel spater Minister des AuBern. Nun reifte ein gewaltiger Plan. Die Stahl- und Eisenkönige von Briey, die bereits die bedeutendsten Eigentümer' der Kohlenbergwerke in den belgischen Kempen waren, entwarfen eine Kanalverbindung derselben mit den ausgedehnten Industriezentren ElsaB-Lothringens. Und was gesckak dann mit dem hollandischen Kohlengebiet in Süd-Limburg, der direkten Fortsetzung der Bergwerke in den Kempen? Maastricht, das für dieses hollandische Gebiet von so groBer Bedeutung ist, wurde, wie wir gleick sehen werden, durch Hijmans klipp und klar für Belgien m Anspruch genommen. Wenn Holland seinen einzigen Kohlendistrikt Süd-Limburg verlor, muBte es um so starker von seinem südlichen Nachbar abbkngig werden, ebenso wie natürkch auch die französische Orientierung Belgiens durch das Gelingen dieses Planes verstarkt werden niuBte. Ich kann die Wahrheit dieser Vorstellung weder bestatigen noch leugnen und möchte darüber nur bemerken, daB sie, im Zusammenhang mit dem allgemeinen Lauf der Dinge gesehen, einige Züge aufweist, welche sie nicht unglaublich erscheinen lassen. Es ist der Mühe wert, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daB derartige Plane dem deutschen GroBkapitaksten Matthias Stinnes, der auf die deutsche Kriegspolitik einen so verderbkchen EinfluB gehabt zu haben scheint, vor Augen gestanden haben können. Er und die *) Zum Folgenden vgl. R. Groeninx van Zoelen: A. Dutchmans Reminder, Rotterdam 1919. 334 Seinen hatten es auf jeden Fall ebenfalls auf die Bergwerke in den Kempen, vielleicht auch auf die von Briey abgesehen. Sind diese Kombinationen richtig, dann würden auch plötzlich die franzosischerseits für die belgischen Plane bezeigten Sympathien eine Erklarung gefunden haben. Wir haben bereits auf die Aufierungen einiger mafigebender französischer Zeitungen hingewiesen. Besonders der Temps" sprang mehr als einmal für-die belgischen Interessen in die Bresche. Es ist auch die Ansicht geauBert worden, Frankreich habe Belgiens Wünsche hinsichtlich Hollands ermuntert, weil es selbst Absichten auf Luxemburg gehabt habe, das auch Belgiens Appetit reizte, wie sich hier und da deutlich zeigte. Holland wurde dann gerne als Entschadigung eine Gebietserweiterung in östkcher Richtung, z. B. an der Ems oder im Klevischen, zugedacht. Aber das alles ist nicht weiter als bis zu Zeitungsartikeln gediehen. Was die französische Regierung darüber gedacht hat, kann keineswegs irgendwie sicher angegeben werden. Über ihre und der anderen alliierten Regierungen Haltung zu den belgischen Forderungen, wie diese nun einmal tormuhert waren, werden wir sofort des Naheren zu sprechen haben *). Wir müssen uns indessen zunachst nach Bfolland selbst wenden und tragen, wie die Aufierungen der belgischen und anderen Auslandpresse hier auigenommen wurden. Ganz sicher waren zahlreiche Hollander über sie höchbchst eretaunt Hatte man doch im allgemeinen nie glauben wollen, dafi die wahrend des Krieges vom XX" Siècle geführte Kampagne wirklické Gefahren in sich berge. Trotzdem behielt man der verfinderten Situation gegenüber völlig seine Ruhe. Das liegt nun den Hollandern einmal so im tflute. Die belgischen Behauptungen und Klagen erfuhren hier und da eme nicht sehr schwierige Widerlegung. Mehr als eine Stimme wurde laut, die darauf drang man soke hollandischerseits MaBigung beobachten, nach Verstandigung und nach Annaherung an Belgien streben *). Starke Protestbewegingen entstanden nur in den Gegenden, die sich bedroht fdhlten, m Seelandisch-Flandern und Limburg. Hunderte Telegramme mit Anhanglichkeitsbezengungen wurden aus diesen "Gegenden an die Königin gerichtet h.t tL^^T'pTm^^ 192°' aL8 5ch dieBes Werk abschloli, schreiben. Seitdem Lr fef v^Mdent d-6r UD»tenL(S- 343) «r*«nnten Commision des Affaires beiges auf der Fnedenskonferenz, einen Artikel in der Illustration geschrieben (31. Juli 1920) aus welchem klar erhellt, daB die französische R,gierung den belgischen Wunscnen mmdestens nicht ,m Wege gestanden, daB die belgischl Begierung zweifellos ver* sucht ha Holland des südlichen Ufers der Schelde "and Limburgs zu berauben, daB AlbeJ* Pe«onlich diese Politik unterstützt und daB die Kommission ëbe EutschheBung festgestellt hat über die Teile Westdeutschlands, welche Deutschlandlm wlrdim W^nSjSF ^ ^ * ^ Entschhi'g ') Vgl. z B. Nieuwe Eottérdamsche Courant vom 20. Dezember 1918, Abendnuafig'm' a^enpohtische Ubersicht Colenbranders im „Gids"'vom Ja- 335 und Hunderte von Versammlungen abgehalten. In Seelandisch-Flandern lieB dabei der Predikant Pattist, in Limburg der Dichter Febx Rutten am kraftiesten die Stimme erschaUen. Die Provinzialstaaten von Seeland sprachen sich in einer besonderen Erklarung für das Verbleiben des bedrohten Gebietes bei Holland aus1). Wirkliche nationale Begeisterung herrschte bei diesen südlichen Bewohnern Hollands, die etwas mehr Temperament besitzen als ihre nördlichen Landsleute. Die einstimmige Bezeugung der Anhanglichkeit an Holland und der Ablehnung Belgiens berührte höchst angenehm. DaB die Ablehnung der belgiscben Bestrebungen wirklich allgemein war, daran kann die Tatsache nichts andern, daB einige wenige Limburger, in erster Linie der Abgeordnete H. van Groenendaal, der im Sommer 1919 sich auch in Brüssel in derartigen AuBerungen erging, die belgischen Annexionsabsichten nicht ohne weiteres ablebnten. Man hatte belgischerseits eher Grund zu Arger darüber gehabt, daB m Limburg, wo 1830 der Wunsch belgisch zu werden, an verschiedenen Orten noch sehr stark gewesen ist, nun die Zuneigung zu Belgien so völlig ausgestorben war 2). Die im Februar zirkulierenden Gerüchte über Belgiens Absichten hatten zur Folge, daB die öffenthcke Meinung in ganz HoUand ungewöhnlich in Aufregung geriet. „Un grand apaisement" scheine die Parole der groBen hollandischon Presse zu sein, schrieb der „Soir" noch im Januar *); im Februar dagegen konstatierte er4): „Nos placides voisms sagitent beaucoup" Diese Beobachtung wurde auch von anderer Seite gemacht, auch durch damals in Holland anwesende Auslander, und schembar wurde von maBgebender Seite darauf hingewiesen, es könne nichts schaden, wenn man seine Meinung mit etwas mehr Stimmaufwand zu verstehen ge be. Die Gefahr war auch tatsachlich groB genug. Es kegt zwar dem hollandischen Volkscharakter nicht, groB zu tun oder sich besonders laut zu auBern Zudem war man auch so sehr überzeugt von seinem guten Recht, daB man leicht auf den Gedanken kommen konnte, überhaupt nichts zu tun Aber nun muBte doch etwas geschehen, und es geschah auch — mit deutlicher Zustimmting der Regierung, wie sich bald herausstellte. JJie von dieser selbst unternommenen Schritte bewiesen, daB sie sich des Ernstes der Situation klar bewuBt war. Sie stand dabei vor groBen Schwierigkeiten, da sie durch Belgien von den durch die belgische üelegation zu Paris begonnenen Besprechungen ferngehalten wurde, andererseits nicht wufite, inwieweit die übrigen alkierten und assozuerten Regierungen sick gegenüber der belgischen Regierung wahrend ihres Au tenthaltes in Havre etwa verpflichtet hatten — ein wichtiger Faktor, über den auch bis heute noch durchaus nichts Sicheres bekannt ist. i-) Nieuwe Kotterdamsche Courant vom 14. Dezember 1918, Abendausgabe D. •) Gleiche Zeitung vom 14. Dezember 1918, Abendausgabe D. ») 18. Januar 1919, Nr. 78 4) 8. Februar 1919, Nr. 39. 336 Den' ersten offiziellen Schritt unternahm der hollandische AuBenminister am 15. Februar, zweifellos unter dem Eindruck der allgemeinen Erregung, welche die aus Paris kommenden Gerüchte hervorriefen. Er antwortete damals auf eine Anfrage eines Mitgkedes der Zweiten Kammer, die Pressenachrichten über die Pariser Vorgange hatten natürlich die Aufmerksamkeit der Regierung erregt. Sie habe auf Grund derselben durch den hollandischen Gesandten in Paris an maBgebücher Steke die Erwartung aussprechen lassen, daB keinerlei HoUand betreffende Fragen oder Gegenstande behandelt werden würden, ohne daB Holland zu den Beratungen zugezogen sei, worauf eine befriedigende Zusage in einem Schreiben des Generalsekretars des Friedenskongresses eingegangen sei. Darauf fuhr der Minister fort: „lm festen Vertrauen darauf, daB keinerlei Beschlüsse gefaBt werden, die den sankfionierten Rechten des Staates Abbruch tun oder den ausdrücklichen AuBerungen von Anhanglichkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl der Bévölkerung irgendeines Teiles des Eeiches zuwiderlaufen, erachtet es die Begierung kaum für nötig zu erklaren, daB sie, trotzdem sie lebhaft beseelt ist von dem Wünsche, gute nachbarliche Beziehungen zu unterhalten, Forderungen gegenüber, die irgendwie auf Gebietsabtretung zielen, sich mit aUem Nachdruck und gröBter Bestimmtheit ablehnend verhalten müBte. Im übrigen verfügt die Regierung noch nicht über entsprechendes Tatsachenmaterial, um das Auftreten der belsriscben Regierung und die dadurch geschaffene Lage genau beurteilen zu können. Unter diesen Urnstanden behalt sich die Regierung in dieser ernsten Sache ihre Stellungnahme gegenüber der belgischen Regierung vor1) " Kurz darauf erschien in der belgischen Presse ein Communiqué der belgischen Regierung, das eine Zusammenfassung der durch Hijmans als Sprecher der belgischen Delegation zu Paris anhangig gernachten Wünsche gab. Über die hinsichtlich HoUands gesteUten Forderungen sagte dieses Communiqué nur, Hijmans habe die NachteUe des gegenwartig für die Schelde und den Kanal Gent—Terneuzen geitenden Systems auseinandergesetzt, desgleichen die Frage der direkten Wasserverbindungen zwischen Antwerpen und der Maas und eventuell dem Rhein über Maastricht und Limburg2). Die ganze belgische Frage werde Unterhandlungen zur Folge haben, an denen die GroBmachte und auch Holland als Unterzeichner des Vertrags von 1839 teilnehmen würden. Das war nicht besonders deutlich. Die hollandische Regierung nahm diese Mitteilung zum Anlafi, um bei der belgischen um nahere Auskunft zu bitten, und sandte einen entsprechenden Auftrag an die Gesandtschaft in Brüssel3). *) Die Rede steht ausführlich im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 15. Februar 1919, Morgenausgabe A. 4) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 17. Februar 1919, Abendausgabe C. 8) Laut Mitteilung. des Ministers des AuBern in der Zweiten Kammer am 18. Februar, vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant dieses Datums, Abendausgabe C. 22 Japilcse, Holland 337 Bald darauf lief die Antwort der belgischen Regierung ein und wurde der Zweiten Kammer mitgeteilt. Sie lautete: „In Beantwortung des Memorandums vom 18. dieses Monats hat das Ministerium des AuBern die Ehre, der hollandischen Gesandtscbaft wissen zu lassen, dafi die belgische Delegation auf der Pariser Konferenz bei den Vertretern der fünf alliierten und assoznerten Machte einen Antrag auf Eröffnung von Unterhandlungen über die Revision gewisser Bestimmungen der Vertrage vom April 1839 eingebracht hat. „Wie das Communiqué, auf das die Gesandtschaft verweist, angibt, hat die belgische Delegation den Wunsch geaufiert, HoUand möchte an diesen Unterhandlungen als Signatar jener Vertrage teilnehmen. „Ist der Antrag Belgiens durch die Konferenz angenommen, dann wird die belgische Delegation in der Lage sein, die hollandische Regierung mit Belgiens Ansichten bezüglich der Fragen bekannt zu machen, die besonders für Holland von Interesse sind." Van Karnebeek bemerkte dazu: „In Anbetracht dieser Antwort sei es mir gestattet zu konstatieren, dafi die belgische Regierung dem Wünsche der hollandischen Regierung nicht nachgekömmen ist und ihr keine Aufklarung hat geben wollen. Die Regierung bedauert das mit Rücksicht auf den Wert, den sie der Aufrechterhaltung gegenseitiger guter Beziehungen beimifit, die im Interesse beider Lander liegen. „Für den FaU, dafi die Angelegenheit infolge der Stellungnahme der belgischen Begierung in eine Phase kommen sollte, die diesen guten Beziehungen weniger förderlick wSre, weist die Regierung aUe Verantwortung dafür ab. Sie hat auch, ohne auf ihre Bitte um Aufklarung nock einmal zurückzukommen, in diesem Sinne der belgischen Begierung Naheres mitgeteilt. „Insoweit übrigens in Belgiens Erwiderung die Verantwortlichkeit für dessen Bestrebungen auf die Vertreter der fünf Grofimachte zu Paris abgewalzt wird, erlaube ich mir, daran zu erinnèrn, daB der hoUandische Standpunkt bezüglich Gebietsabtretung und Verletzung festgelegter Eechte, wie er in meiner Erklarung vom 14. Februar prazisiert worden war, den Regierungen jener Machte wörtkch mitgeteUt worden ist. „Die Regierung beabsichtigt ferner, den Regierungen der GroBmachte von der Erklarung, die ich heute die Ehre hatte abzulegen, Mitteilung zu machen." Die Zweite Kammer aufierte sehr unzweideutig ihre Zustimmung zu dieser Erklarung und ihre Mifibilligung über die belgische Geheimdiplomatie. „Eine befreundete Macht", rief ein Mitglied der Kammer sarkastisch! Die Antwort Belgiens kielt man für argerlich und gegenseitigen guten Beziehungen keineswegs für forderkcb. Soviel stand nun jedenfalls fest, daB Belgien ake direkten Verhandlungen mit Holland ablehnte. Es vertraute seine Sache der Friedenskonferenz an, obgleich HoUand mit derselben nichts 338 zu tun hatte, und obgleich von den auf ihr vertretenen Machten nur Frankreich und England an den Vertragen von 1839 beteiligt waren. Diese Haltung der belgischen Regierung war sehr geeignet, die in Holland herrschende MiBstimmung weiter zu erregen. Dieselbe hatte übrigens deutlich einen ironischen Beigeschmack wegen des grofituerischen Auftretens eines Teiles der Belgier und wegen der Handlungsweise der belgischen Regierung, deren man als „ungeschickt vor lauter Geschicklichkeit" spottete. Mit einem Worte, man faBte im allgemeinen die Sache nicht allzu tragisch auf, protestierte jedoch eifrig und schrieb vielerlei zur Verteidigung seiner guten Rechte. Am 6. Februar fand im Haag in Form einer groBangelegten Zusammenkunft eine nationale Demonstration für die Einheit Hollands statt. Ihr wohnten die Königin, die Königin-Mutter, Prinz Hendrik und Prinzessin Juliana mit zahkeichem Gefolge bei. Die Beteikgung war ungeheuer. Anwesend waren die Minister, die Vorsitzenden beider Kammern und eine Anzahl anderer Autoritaten und Würdentrager. Deputationen aus Limburg und Seelandisch-Flandern trugen ihre Wünsche vor, und ein Gesangverein aus Maastricht lieB seine Kunst hören. Es war ein hervorragend schoner Abend, der aufs neue die warme Anhangkchkeit der Limburger und seelandischen Flamen an Holland und das königliche Haus und andererseits die unzweifelhafte Sympathie des hollandischen Volkes fur seine durck fremde Bedrohung gefahrdeten Gebietsteile bezeugte. Ebenso wie Limburg und Seelandisch-Flandern eindringkch dargetan hatten, daB sie nicht von HoUand getrennt zu werden wünschten, tat hier nun Holland so ausdrückhch als möglich kund, daB es die beiden Landstriche nicht aufgeben woUte. Mr. Fock, der Vorsitzende der Zweiten Kammer, sagte in seiner Eröffhungsansprache mit vollem Rechte: Man nennt unser Volk „flauw" und phlegmatisch, wenn es aber jemand im Innersten zu treffen versuchen würde, so würde bei uns ebensogut Warme und Begeisterung aufflammen wie bei jedem anderen Volke. Bald darauf, am 14. Marz, fand noch eine solche allgemeine Demonstration für die Einheit und UnteUbarkeit HoUands in Utreckt statt, die vom „Allgemeinen niederlandischen Verband" ausging, von Abgesandten aus ganz Holland besucht war und gleich glanzend verkef. Ein Bedner, Professor P. J. Blok, fand groBen BeilaU mit dem Ruf an die Adresse der belgischen Annexionisten: „Wollt ihr etwas von uns, so kommt und holt es!" Derselbe Leidener Professor und zwei seiner Kollegen, J. W. Muüer und W. van der Vlugt, die sich mit einem Protest an das hollandische Volk wandten, empfingen unzahlbare befstknmende Zuschriften." Holland redete hier eme Sprache, die nicht miBzuverstehen war und nach auBen Eindruck machen muBte. Bezeichnend ist dabei das Fehlen aker Herausforderungen an die Adresse Belgiens. Nur Ernst und Ent22* 339 schlossenheit auBerten sich, keine Leidenschaft. Gleichen Charakters waren die zahlreichen Broschüren und Zeitschriftenartikel, die nun erschienen, um Hollands gutes Recht zu verteidigen. Einige kurze zusammenfassende Darlegungen des hollandischen Standpunktes wurden auch im Ausland verbreitet. Zu nennen waren in erster Linie einige Schriften über SeelandischFlandern. Zwei Manner, die selbst dorther stammen und ihre Heimat lieben, wie das ein Seelander nur tun kann, Dr. De Hullux) und Ds. Pattist2), zeigten in kurzen Abhandlungen, daB sowokl Geschichte wie Landescbarakter ihr Heimatgebiet zu etwas anderem gemacht hatten als Belgien. Hatte der wichtigste Teil von Seelandisch-Flandern, das alte Vrije von Brugge, wahrend des achtzigjahrigen Krieges nicht immer, auch nach dem Bruche zwischen Süden und Norden, fiir den Norden Partei ergriffen? War nicht ein anderer bedeutender Teil Seelandisch-Flanderns wahrend dessen Zugehörigkeit zu Holland erst eingedeicht worden? Hatte nicht die Bévölkerung allerlei nichtbelgische Elemente in sich aufgenommen? Von diesem Lande und dieser Bévölkerung konnte man mit aker GewiBheit behaupten, daB sie nicht zu Belgien gehörten, eigentkch nie' dazu gehort hatten und auf keinen Fall zu ihm zurückkehren wollten. Wenn dem Selbstbestimmungsrecht, das doch jedermann im Munde führe, irgendwelche Gültigkeit zuerkannt werde, dann dürfe dies Land nie und nimmer von Holland getrennt werden. Nicht minder überzeugend schrieben A. J. A. Flament, Beichsarchivar in Limburg3), und andere über diese Provinz und ihre Ëinwohnerschaft. Auch sie hat nie zu Belgien gehort. Ist sie doch erst 1830 bei der Trennung von Norden und Süden gebildet worden, und bat doch ihr Gebiet vorher teilweise zur Republik der vereinigten Niederlande und den österreichischen Niederlanden gehort, wahrend ursprünglich ein nicht unbetrachtkches Stück, mit Roermond und Venlo, zu Gelderland gehort hatte. Belgien bestand selbst noch nicht einmal, als die Situation so war. Wer denn auch von der Desannexion von Limburg sprach, wie das in Belgien vielfach geschah, der beging einen gewaltigen historischen Irrtum. Er zog mehr oder weniger bewufit eine Parallele zu ElsaB-Lothringen, vergaB jedoch, daB es sich dabei um zwei ganz verschiedene Dinge handelte. Nein, auch Limburg konnte nicht auf Grund historischer Bechte von Belgien gefordert werden! HoUand besafi es kraft uhbestreitbarer und guter, auf dem Vertrag von 1839 beruhender Rechte *). Zudem hatte sich der WUle *) Zeeuwsch-Vlaanderen, door Historie en Volksaard Noord-Nederlandsch gebied, 's Gravenhage 1919. *) Zeeuwsch-Vlaanderen Nederlandsch. Oostburg 1919. s) De provincie Limburg een Nederlandsch gewest, grootendeels Geldersch. Boosten & Stols, Maastricht 1919. *) Vgl. darüber noch Dr. A. A. Beekman, Nederlandsch of Belgisch? Beknopt 340 der Bévölkerung — einige outsider ausgenommen — hier ebenso deutlich gekulSert wie in Seelandisch-Flandern. », Aber dann die Flüsse? Wurden Belgiens Recht und seine Interessen hier nicht bedroht? Das wurde einmal auf Grund wirtschafthcher Erwagungen behauptet. Belgien habe namkch unter den bestehenden VerhSItnissen nicht die freie Verfügung über seine beiden Hauptströme, da sie auf hollandischem Gebiete mündeten. Dafür wurden auch strategische Gründe geltend gemacht. Die derzeitige Situation würde Belgien namlich nicht vor einer Wiederholung der Ereignisse des August 1914 schützen. Zu diesem Zwecke müsse Antwerpen für jeden Fall auf der Schelde erreichbar sein und im Osten müsse Belgien in der Maas eine natürliche Verteidigungslinie haben. Holland hatte 1914 die Deutschen für den Fall eines Einmarsches in Hollandisch-Limburg nicht aufhalten können, behauptete man einfach und fugte zuweilen hinzu, 1918 habe man ja den Beweis dafür in der umgekehrten Bichtung erhalten. Wie weit man nun eigentlich gehen zu müssen gkwlbte, um strategisch sicher sein zu können? Ja, darüber liefen auch diesmal die Meinungen stark auseinander, wie gewöhnlich wenn die Bede auf miktarische Garantien kommt. Deutschland kann ja darüber ein Wort mitreden, von den Tagen her, als es am Gewinnen war! Man kann gegen derartige belgischer Klagen sehr viel einwenden. Teilweise haben wir das im Laufe unserer Darlegungen schon getan, als wir namkch darauf hinwiesen, daB die SchlieBung der Schelde zu Kriegszeiten auch ihre Vorteile für Belgien und seine Bundesgenossen gehabt hat1), nicht minder als wir an Hand militarischer Erörterungen von hokandischer Seite2) auseinandersetzten, dafi die Zugehörigkeit Limburgs zu HoUand gerade die Schwierigkeiten des deutschen Aufmarsches 1914 vergröBert hat. Die Verteidigung einer langeren Grenze, als die von 1914, würde Belgien vor eine Aufgabe gestekt haben, die weit über seine Krafte ging, da es doch der Verteidigung der damaligen kurzen Grenze bereits nicht gewachsen war. Dem braucht hier nun nichts mehr hinzugefügt zu werden. Dagegen ware noch etwas über die wirtschaftliche Seite der Angelegenheit zu sagen, wobei besonders zwei vorzügliche Artikel von M. P. Vrij') zu erwahnen sind, der mit voUem Eechte darauf hinweist, daB Belgien ohne eigentliche Ursache Larm mache. Haben die Belgier doch bereits seit 1839, besonders aber nach Ablösung des geringen Scheldezolls im Jahre 1863, nicht nur völbge Verkehrsfreiheit, sondern auBerdem das Mitbestimmungsrecht hinsichtkch der Betonnung, Absteckung und Beleuchtung Overzicht van de staatkundige Geschiedenis van de Westerschelde, Zeeuwsch-Vlaanderen en Limburg, 's Gravenhage 1919. l) Siehe oben S. 44. ') Besonders von Generalleutnant Van Terwisga, der gegen den französischen Oberst De Civrieux polemisierte, und Hauptmann Bonduit, oben S. 41. ") In der Zeitscbrift „Onze Eeuw" vom MSrz und Juni 1919. 341 und ferner hinsichtlich des Zustandes der Fahrrinne. Zudem dürfen sie einen Lotsendient unterhalten, der mit dem hollandischen unter einer gemeinsamen Kontrolle steht, und haben "auf der ganzen Schelde die Befugnis zu Fischerei und Fischhandel. Was will man nun eigentbch noch mehr, wo doch die Souveranitatsrechte, wie schon der Vertrag von Fontainebleau 1785 ausdrücklich konstatiert hat, sich in Hollands Handen befinden? In der Tat: Es ist nichts mehr zu regeln, aufier wenn man an Hollands Souveranitatsrechten rütteln will. Aber welche berechtigten Klagen hat Belgien vorgebracht, um dazu übergehen zu dürfen? Die hollandische Regierung hat stets ihr Bestes getan, um den belgischen Wünschen hinsichtlich der Befahrbarkeit der Schelde entgegenzukommen, und jemand, der offenbar in Scheldefragen praktische Erfahrung hatte 1), konnte schreiben, belgische Desiderata seien mehrmals erfüllt worden, selbst wenn ahnbche auf hollandischer Seite vorhandene wegen der hohen Unkosten oder aus sonstigen Gründen abgewiesen worden waren. Es war denn auch kein Körnchen Wahrheit an der öfter ausgesprochenen Behauptung, dafi Holland die Befahrbarkeit der Schelde vernachlassigt habe, weil es auf diese Weise den Konkurrenzkampf zwischen Antwerpen und Rotterdam zugunsten des letzteren beeinflussen konnte. Ebenso tendenziös waren die belgischen Lamentationen über die Behinderung der Schiffahrt auf dem Kanal GentTerneuzen, der, auf Grund einer 1895 abgeschlossenen und 1902 revidierten belgisch- hollandischen Übereinkunft angelegt, in seinem hoUandischen Abschnitt, entsprechend den belgischen Wünschen, stets in bester Verfassung war, so dafi vor dem Kriege nie irgendwelche Klagen darüber laut geworden sind. Auch hier ware Holland sicher allen begründeten Wünschen mit Eifer und gutem Willen nacbgekommen. Die Fragen, um die es sich hier handelt, wie die der in gemeinsamer Beratung festgesetzten Breite einer Schleuse und ahnliches, sind so spezieller Natur, dafi auf sie in diesem Zusammenhang nicht weiter eingegangen werden kann. Ich will nur noch eine Aufierung eines hollandischen Binnenschiffahrtskapitans anführen, der lange in Belgien gefahren hat und mir versicherte, dafi die Befahrbarkeit der von ihm benutzten hollandischen Gewasser stets die der belgischen weit übertroffen habe. Die Schwierigkeiten für die Schiffahrt lagen nach ihm in erster Linie auf belgischem Gebiet. Und dann die Maas! Sie ist tatsachlich einen grofien Teil des Jahres hindurch in Limburg unbefahrbar. Aber wer tragt die Schuld daran? Belgien selbst, das von der Maas bei Lüttich soviel Wasser ableitet. E3 sckadigt damit nicht nur die hollandischen Maasstadte in Limburg sehr, sondern auch Brabant, wo das bei Lüttich der Maas entzogene Wasser, nachdem es zur Wasserzufuhr für die belgischen Kempen gedient hat, von *) „Belgische Onkunde" im Nieuwe Botterdamsche Courant vom 28. Marz 1919, Abendausgabe C, anlaBlich diesbezüglicher sehr tendenziöser Behauptungen von seiten des belgischen sozialistischen Senators Coppieters. 342 belgischer Seite grofienteils freigegeben wird. Überschwemmung, starke Erhöhung des Wasserstandes in den kleinen FluBlaufen Brabants, Unbebaubarkeit von Ackerland und damit groBe Schadigung des Ackerbaus Nordbrabants waren die Folgen, und der Wasserstand in der Zuid-WiUemsvaart, einem Nordbrabant durchschneidenden Kanal, in den ebenfaUs grofie Mengen des bei Lüttich abgeleiteten Wassers gelangten, wurde zeitweilig so hoch, daB der Verkehr auf ihm aufierst beschwerkck wurde. Die hoUandische Regierung hat diesen Zustand mit groBer, nur allzugrofier Langmut ertragen und beim AbschluB verschiedener diesbezügkcher mit Belgien ubgeschlossener Übereinkünfte die hollandischen Interessen nicht genügend gewahrt. Hier kann HoUand mit vollem Rechte eine günstigere Regelung verlangen. Entsprechende Unterhandlungen wurden vor 1914 geführt und dauerten sehr lange. Belgien zeigte dabei sehr viel weniger Neigung zur Berücksichtigung der hoUandischen Interessen als Holland gegenüber den belgischen auf der Schelde und anderwarts. Und es ware doch wirkkch der Mühe wert, Limburg und das Maastal wieder wie in früheren Jahrhunderten zu einem guten westeuropaischen Verkehrsweg zu machen. Es mutet etwas eigenartig an, die Belgier neue Verkehrswege fordern zu sehen, wo doch dieser alte so völlig vernachlassigt wird. Sie wollen auf einmal einen Verbindungskanal zwischen Rhein und Schelde durch Limburg Tind einen solchen von der Maas nach Antwerpen über den Moerdijk, jedes für sich ein kolossales Unternehmen! Es ist gegen sie und besonders gegen den Rhein - Scheldekanal Rotterdams wegen von hollandischem Standpunkt vieles einzuwenden, und irgendwelches Vertragsrecht, auf Grund dessen Holland gezwungen>werden könnte, an der Verwirkkchung dieser Plane mitzuarbeiten, besteht nicht. Aber auch in dieser Angelegenheit wird sich Holland sicher bereit finden lassen, natürlich unter Berücksichtigung seiner eigenen Interessen, Belgien soweit als nur irgend angangig entgegenzukommen. An möglichst entwickelten und freien Verkehrsverhaltnissen hat es selbst auch Interesse und es hat stets dafür Verstandnis gezeigt. Doch genug hiervon! Es wird nun jedermann deutkcb sein, dafi Holland sich Anfang 1919 einer nicht geringen Anzahl nicht deutlich umschriebener belgischer Forderungen gegenüber sah, deren Quintessenz durch einen HoUander in die Worte gefafit wurde: „Belgien fordert zu unserem 'Nachteil das Maximum dessen, was es durch Machtspruch der Machte zu seinen Gunsten hofft bekommen zu können." „Durch Machtspruch der Machte ", denn hinter sie steckte sich Belgien, und sie wiesen seine Berufung nicht ab. Auf Antrag von Hijmans konstituierte der Oberste ïlat der Friedenskonferenz eine „Commission des affaires beiges" (am 26. Februar). Sie erstattete bald Bericht und schlug die Bevision der Vertrage von 1839 „dans Pensemble de leurs clauses" 343 vor. Holland sollte eingeladen werden, sich an dieser Revision zu beteiligen, als deren Ziel galt „de libérér la Belgique de la limitation de souveraineté qui lui a été imposée par les traités de 1839, et de supprimer tant pour elle que pour la paix générale les risques et inconvénients divers résultant des dits traités" 1). Jedoch riet die Kommission auch, die belgischen Forderungen hinsichtlich hollandischen Gebietes nicht anzunehmen, in der Erwagung, daB es auBerhalb ihrer Rechtsbefugnis und Macht liege, über das Territorium eines neutralen Staates zu veringen 2). Der Oberste Rat nahm diesen Vorschlag 3) an, wenigstens seinen ersten Teil (am 8. Marz), was dann in besonderen Sendschreiben unterm 13. Marz durch Pichon und Balfour, die AuBenminister Frankreichs und Englands, als der einzigen der funf Garantiemachte vonx 1839, die in Paris vertreten waren, der* hoUandischen Begierung mitgeteilt wurde mit dem Ersuchen, sie möchte Delegierté anweisen, mit dem Auftrag, ihren Standpunkt hinsichtlick der Revision der Vertrage von 1839 dem „Conseil aUié" zu übermitteln. Über die von Belgien vorgebrachten Wünsche wurde die hollandische Regierung nicht unterrichtet. Ebensowenig ist in dem genannten Sendschreiben von der Nichtantastung des hoUandischen Gebietes die Rede. In Belgien. betrachtete man diese EntschlieBung des Obersten Rates als einen Sieg der eigenen Sache. Hijmans hatte, als er im belgischen Ministerrat die groBen Linien der Aktion Belgiens zu Paris darlegte, schon vor der Entscheidung des Obersten Rates gesagt, „daB sich Belgien und seine Abgeordneten zu Paris in einer Atmosphare des WohlwoUens" belanden 4). Besonders deutlich kam diese vertrauensvolle Stimmung anlaBlich einer MitteUung des belgischen Premiers Delacroix in der Kammer zum Ausdruck, worin er sagte, der Oberste Bat der Alkierten, der dem Ersuchen der belgischen Delegierten Recht widerfahren lasse, sei der Meinung, daB Grund zur Revision der Vertrage vom 19. April 1839 vorhanden sei, und fuhr dann fort5): „Parlament und Volk werden diesen Beschlufi mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Sie werden in ihm die Einleitung zu Entscheidungen sehen, die auf Belgiens Schicksal einen glücklichen und dauernden EinfluB ausüben werden. Am 12. Marz 1839, also genau heute vor 80 Jahren, erklangen in diesem Raume die Abschiedsworte der Deputierten aus den belgischen Gebieten, welche auf Grund des Vertrags der 24 Artikel von *) Colenbrander a. a. O. S. 467. s) Offizielle Reutermeldung von der Friedenskonferenz, vgl. u. a. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 8. Marz 1919, Morgenausgabe B. *) Siehe auch oben S. 335, Anm. 1. Aus dem dort erwahnten Artikel Tardieus darf man schlieCen, daB der Vorschlag im Anfang and»rs war als in der spateren offiziellen Meldung mitgeteilt wurde. England und Amerika haben zweifellos und zwar mit Erfolg den ursprfingiichen Vorschlag abgewiesen. *) Nieuwe Botterdamsche Courant vom 4. Marz 1919, Abendausgabe C. 6) a. a. O., 13. Marz 1919. 344 Belgien getrennt werden sollten. Die Kammer wird bewegten Herzens dieses merkwürdige Zusammentreffen beacbten." Diese Erklarung wurde durch alle Kammermitglieder unter laneem begeisterten BeifaU stehend angehört. War das nun Annexionismus oder nicht? Abgesehen davon, daB die historische Erinnerung Delacroix' keinen Sinn hatte — denn es sind am 12. Marz 1839 keine Abschiedsworte durch Vertreter von Gebieten, die von Belgien getrennt werden sollten, gesprochen worden, und die Beminiszenz diente nur dazu, um eine verkehrte Analogie zu den Elsafö-Lothringern von 1871 zu suggerieren — so kann man aus ihr doch kaum etwas anderes als eine Ankündigung territorialer Erwerbungen durch Belgien herauslesen. Indessen behauptete der belgische Kolonialminister Louis Franck i) neuerdings, weder die belgische Regierung noch die belgischen Delegierten in Paris hatten einen Vinger breit hollandischen Gebietes verlangt, und der flamische Sanger und Dichter Emile Hullebroeck konstatierte bereits, der Annexionismus sei tot2)! Zu solch merkwtirdigen und verwirrenden Widersprüchen kommt man, wenn in einem Lande'die Begierung einen unsicheren Kurs emschlagt. In Holland sah man in dem Beschlufi des Obersten Rates einen Grundzu Beruhigung. Der Minister des AuBern kefi sich bereits am 6. Marz 3) m der Ersten Kammer in diesem Sinne aus: Die Zeitungsmeldungen, denen zuiolge die Friedenskonferenz nicht geneigt sein sokte, Belgiens territoriale Ansprüche zu unterstützen, betonte der Minister, stimmen mit ïnformationen überein, welche im Laufe der letzten Tage von unseren diplomatischen Auslandsvertretern eingegangen sind. Die Reisen, welche die Komgm gerade m diesen Tagen nach Limburg und Seelandisch-Flandern unternommen hat*), und der aufierst begeisterte Empfang, der ihr in beiden Provinzen zuteil wurde, müssen ja auch die letzten, die etwa noch darüber im Zweifel waren, ob man diese Gebiete bei HoUand belassen solle, uberzeugt haben. Die Königin erklarte selbst auf ihren Fahrten unzweideutig, wie stark sie und ganz HoUand mit diesen bedrohten Gebieten mitlebten. Die hoUandische Regierung sah sich durch die Einladung nach Paris vor eme gewichtige Entscheidung géstekt. Mufite sie ihr Folge leisten? Das Sendschreiben vom 13. Marz lautete deutkck genug: „Die Vertrage von 1839 sollen in ihrem voUen ümfang revidiert werden, und zwar auf gemeinsamen Wunsch der Machte, welche diese Revision für nötig erachten5). *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 14. Marz 1919, Morgenausgabe B 2 Feuilleton im Nieuwe Eotterdamsche Courant vom 27. Marz ÏH9, Abendausgabe B: „La comédie est finiel". *) Gleiche Zeitung dieses Datums, Abendausgabe C. t) Beschreibung derselben im Nieuwe Eotterdamsche Courant vom 2., 5., 6. Marz 1919 ) D. h. die zu Paris vertretenen Machte. 345 Holland wird sich an dieser Revision beteiligen müssen. Jene Garantiemachte, welche ihren Verpflichtungen nachgekommen sind, werden dabei gemeinsam auftreten. Die auf der Friedenskonferenz vertretenen GroBmachte mit weitgehenden allgemeinen Interessen werden ebenfalls téilnehmen." Das klang wie ein Befehl, fragt sich nur, mit welchem Rechte er gegeben wurde. 1839 hatten die Machte an der Teilung des Reiches der siebzehn Niederlande mitgewirkt, ganz natürkch, da sie auch bei seiner Begründung beteiligt gewesen waren. Seitdem batten sie staafsrechtlich mit den nördlichen Niederlanden nichts mehr zu tun. Diese Folgerjing ist aus historischen und juristischen Gründen gleich unanfeehtbar. Wegen ihrer grofien Bedeutung geben wir sie aucb mit den Worten wieder, in die sie Staatsrat Struycken am Schlusse einer sehr lesenswerten, auch im Ausland vielbeachteten Abhandlung über diese Materie gekleidet hat *): „Holland ist seit Jahrhunderten ein vollkommen souveraner Staat. Im Jakre 1814 und 1815 sind auf Grund eines durch den König der Niederlande akzeptierten BeschlusseB tier Machte die südkchen Landstricke als erobertes Gebiet an HoUand angeschlossen worden. Das wurde 1839 durch einen Vertrag zwischen Holland und den Machten rückgangig gemacht, bei endgültiger Begelung der Bedingungen der Trennung. Damit erledigte sich jeglicher Grund zur Einmischung der Machte in die auswartigen Beziehungen Hollands, um so mehr als sie die Trennungsmodaktaten Holland ausdrücklich garantiert haben. Aus dieser Garantiepflicht können die Machte kein anderes Recht berleiten als dafi HoUand und Belgien ohne ihre Zustimmung keine Anderung des Traktats vornehmen dürfen, welche gegen die im aUgemeinen europaischen Interesse festgelegte internationale Position Belgiens verstofien würde. Die Beziehungen der beiden Lander untereinander können deshalb gegen ihren WiUen nicht zum Gegenstand einer Untersuchung und Behandlung durch die Machte gemacht werden. Anderungen in den gegenseitigen Beziehungen müssen durch Verhandlungen zwischen Holland und Belgien herbeigeführt werden, und nur, wenn dabei eine Verschiebung der internationalen Position Belgiens in Frage kommt, insoweit dieselbe durch die Vertrage von 1839 geregelt ist, ist die Zustimmung der Machte nötig." <|iml Struycken fügte hinzu, der Politiker müsse das letzte Wort sprechen über die Frage, in welchem Mafie für Holland Gründe vorlagen, unter Vorbehalt seiner souveranen Entscheidung, sein Verhaltnis zu Belgien in die Sphare der Politik der GroBmachte zu rücken; anders ausgedrückt: mochte man aucb rechtens sich weigern können, dem Rufe der Grofimachte Folge zu leisten, die praktische Politik konnte eventuell das Gegenteü *) Nederland, België en de Mogendheden, Arnhem 1919. Vgl. auch F. de Bas, Het Tractaat van 19. April 1839, Schiedam 1919. 346 verlangen wenn auch unter gewissen Garantien und Bedingungen. Tat- V, i!- i.dieüh°llandi8che Eegierung »ei ihrer Entscheidung von praktisch-politischen Erwagungen leiten lassen. Ihre Gründe dafür sind ment bekannt gegeben worden. Sie hat nur folgendes mitgeteilt1): „Nach Empfang dieser Mitteilungen ») mufite die Regierune die Lage erwagen, in welche Holland durch die Aufforderung, vor dem .Consdl allié zu erscheinen, versetzt wurde. Es was klar, dafi die weitere Entwicklung der Frage in hohem Grade von der im jetzigen Stadium einzunehmenden Haltung abhangig sein konnte. Die Bedeutung der gegenwartigen Erklarung erfordert keine ausfuhrlichen Mitteilungen über die historischen junstischen und politischen Erwagungen, die sich bei Fest.legung des Standpunktes der Regierung gekend machten. Nach Besprechung mit den zu Paris wedenden Beratern der Regierung hat der Minister des AuBern am 2. April dem Gesandten in Paris aufgetragen, an die Minister frankreichs und Englands folgendes Schreiben zu richten: „,In Beantwortung ihres Schreibens vom 13. Marz habe ich die Ehre, n£Fel ü iejZ "ijf.^1611' dafi die Regierung der Königin bereit ist, den Ubersten Rat der Alliierten davon in Kenntnis zu setzen, auf welchen Standpunkt sie sich hinsichtlich der Frage der Revision der Vertrage von 1839 stekt. Wahrend die hollandische Regierung also die durch die französische Regierung an sie genchtete Einladung annimmt, setzt sie dabei voraus, daB die Behandlung dieser Frage von seiten Hollands nicht vor der Friedenskonferenz stattfinden soll, auf der es ja nicht vertreten ist, sondern zusammen mit den beteiligten in Ihrem Brief genannten Machten. Ich behalte mir vor Euer Exzellenz des naheren die Namen der Vertreter mitzuteiien welche die hoUandische Regierung zu ernennen beabsichtigt. ,,,lhrer Majestat Regiërung würde es begrüfien, wenigstens acht Tage vor Beginn der Konferenz von deren Datum in Kenntnis gesetzt lu weiden. „Bei dieser Antwort hat sich die Regierung durch den Gedanken leiten lassen, daB eme Abweisung der Einladung nicht ratsam sei. Sie stekte sich gleichzeitig auf den Standpunkt, daB die Regierung an einer Untersuchung der Frage, ob die Traktate von 1839 abgeandert werden sollten, nur bei völliger Freiheit und Gleichstellung mit den übrigen verhandelnden Machten teilnehmen könne, und dafi die Entscheidung darüber nicht m einer Versammlung getroffen werde, in der von allen interessierten Reteihgten nur HoUand ohne bestimmenden EinfluB ware." Von welchen Erwagungen sich die Regierung bei diesem Vorgehen auch hat leiten lassen, ihre Entscheidung kann schwerlich anders als sehr ^ *l Jnihrer E/Narong 111 der Zweiten Kammer vom, 16. Mai, vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant dieses Datums, Abendausgabe C. *) Namlich der in den obengenannten Briefen vom 13 Marz enthaltenen. 347 glücklich genannt werden. Holland erhielt nun von selbst freien und selbstandigen Zutritt zu den Pariser Beratungen, hatte also die Mögkchkeit, seine Meinung und seine Interessen zu vertreten und zu erforschen, was hinsichtlich seiner vorging. Nicht nur wegen der Vertrage von 1839 war es gut, etwas nahere Fühlung mit Paris zu nehmen, auch der projektierte Völkerbund und andere Dinge, die hoUandische Interessen berührtenx), liefien es wünschenswert erscheinen, möglichst gute und zahlreiche Beziehungen zu Paris zu unterhalten. Dabei konnte man auch der Erwagung Kaum gönnen, daB die internationale Position Hollands letzten Endes ein Problem war, das ganz Europa anging. Von diesen Perspektiven aus ist es auch leicht verstandlich, daB der Minister des AuBern persönkck nach Paris ging. Dort war auBer einem. Geschaftstrager — der Gesandte Jhr. De Stuers war kurz vorher gestorben — bereits der AuBenminister des vorherigen Kabinetts, Loudon, anwesend, der in spezieUer Mission bei Prasident Wilson nach Paris delegiert war, also als eine Art zweiter Gesandter bei der amerikanischen Regierung, um für den nötigen Kontakt mit derselben wahrend Wilsons Aufenthalt in Europa zu sorgen. Anwesend waren ferner hollandische Vertreter für die Bearbeitung des Völkerbundsentwurfs, und auBerdem begleiteten den Minister eine groBe Anzahl von Sachverstandigen auf verschiedenen Gebieten. Auch der hoUandische Gesandte in London, Jhr. Marees van Swinderen, hielt sich damals in Paris auf. Mit Recht war eine auserlesene Schar hervorragender Diplomaten, Rechtsgelehrten und Historiker vereinigt, damit der Minister des AuBern, der sick schon vorher ausgiebig hatte informieren lassen, jeden Augenblick die nötigen Aufschlüsse bekommen konnte. HoUand war auf dem Pariser Turnier, wo die ganze Welt in die Schranken trat, würdig vertreten. Das war auch nötig, mochten die. Interessen, die es vertrat, noch so klein erscheinen, verglichen mit den weltumspannenden Problemen, um deren Entscheidung dort gerungen wurde. Dem belgisch- hollandischen Konflikt hatte die Weltpresse bis dahin nicht sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt, ausgenommen die französischen Zeitungen, auf deren AuBerungen bereits hingewiesen worden ist. In der Presse Amerikas und Japans fand er wenig oder keinen WiderhaU 2), und soweit das der Fall war, zeigte sich deutlich, dafi die Redakteure der Zeitungen sich wenig oder gar keine Mühe gegeben hatten, sich einigermafien über die einschlagigen Fragen zu orientieren. Die kistorische Anekdote, der zufolge ein einflufireicher Diplomat, meines Wissens ein Amerikaner, einem Hollander gegenüber geaufiert haben soll, es ware doch erwünscht, dafi Holland den Belgiern wenigstens die freie Schiffahrt auf der Schelde x) Vgl darUber das folgende Eapitel. ') „The Japan weekly Chronicle" sprach sich gegen die belgischen Wünsche aus. Vgl. De Bas, a. a. O. S. 22, Anm. 1. 348 zu Friedenszeiten zugestehe ist ein Beweis, wie gering die Kenntnisse über die belgisch-hollandischen Verhaltnisse in diesen Kreisen waren lUwas ausrührkcher schrieben dagegen die engbschen Zeitungen. Sie zeigten begreifiicherweise Sympathie fur Belgien,%ereinzelt mafhten se sogar gehassige Bemerkungen über HoUand. Aber keine kam Belgien so w£ SSïf? ™A O6 franzÖ8iscbe P™»°- "ekannte Wochenzeitschriften wie Nation" und „Common Sense" i) warnten Belgien wegen seiner übertaebenen Forderungen. Die erstere 'war mit der Art und Weise, in der £tgiei\ Tr^T^? ZUr Sprache brachte' nicht einverstandén. Der bekannte MditarschriftsteUer, Oberst Bepington,'plfidierte für eine MiktEkonvention zwischen HoUand und Belgien und fand, dafi die schwe- ffinthlh ^ "£ ^r^™ Wt*> regelt Wen mufiten^. Hinsichtlich Belgiens Methode, seine Ansprüche in Paris anhangig zu ZÏeD/ be^erkte,die «paUyNews", ganz aUgemein sei man geneif? be reehtigten Wünschen Belgiens, das so sehwer durch den Krieg gatten wï! ^S^kommen. So sei zu erwarten, dafi es nicht schwerfaUen T befriedlfr8 ^T11 DaCh ,der ^eiheit des Verkehrs auf te Schelde Rpl^nf hS Jet°Cï m,Te die Konferenz <üe territorialen Ansprüche Belgiens hinsichtkch des bnken Scheldeufers und Hollandisch-Limburgs set^T. Ein.BLedürf^ ^ den Besitz dieses Gebietes vL seiten Belgiens sei durchaus nicht ersichtlich, und die Bévölkerung wünsche ivf T l m Auber^egender Mehrheit bei HoUand zu bleiben, eine Tatder ï'lov^ p611 Au88cblaguZH geben habe. Eine ahnkche Ansicht vertrat im zïïl J g\DSh?d^i.D^ Chronicle», der nur êinigermafien L^mhZf ^ fJ-°1Iand Di0ht besser Maa8tricht und ein Sttick von {SS.???8 )- ««genanten Jingoblatter besprachen die belgischzÏÏS^i*)?1*8 Wemg' ^ aU UDd Bicb ein ^uhigendes dafi E^Tk l*^*! V°n AufaDg aQ gaM aUgemein die Überzeugung, dafi England Belgiens Ansprüche auf hoMndisches Gebiet nicht unteS fs nTchtrEen/bf8fhr V°\dem H°Uands' gJaubte ma°, dafi K^Z * fnglands Interesse kegen könne, HoUand allzusehr vor den Kopt zu stofien, besonders wo Belgien so stark unter französischen EinfluB Mr?t 81Ch ,aD8cbluckfte- England hatte J'a anch immer ungerne gesehen, dafi Antwerpen Kriegshafen würde, und 1839 denn auch feslsetzen lassen .meSJge!cbeben dürfe. Man erwartete in Holland nicht, dafi es «elgienjm Stiche lassen werde - natürUch nicht! -, aber man fühlte und ïl JSt^iS^^iiS^ * DeZemb6r 1918' ^ausgabe D *) a. a. 0, 28 Dezember 1918, Abendausgabe D. J n- a- °n' 13 Februar 1919. Abendausgabe C. Wgm ausgabe D6 "TlmeS" tat es in sehr gemaBigter Form, a. a. O, 31. Juli 1919, Abend- 349 instinktiv, es werde mehr auf seiten Hollands als Belgiens stehen. Inwieweit diese Meinung richtig gewesen ist, wird erst einmal offenbar werden, wenn man die Haltung der englischen Regierung nach den Akten wird beurteilen können. Immerhin l&Bt sie sich aus dem Verlauf der Pariser Verhandlungen, den wir nun n&her zu beschreiben haben, einigermafien erschliefien. Auf Grund ihrer Erklarung, sich an Verhandlungen zu Paris beteiligen zu wollen, erhielt die hollandische Regierung am 11. Mai von ihrem Geschaftstrager in Paris die telegraphische Nachricht, der französische Minister des AuBern habe mitgeteilt, daB der Oberste Rat beschlossen habe, es sei baldmögkchst eine Konferenz der AuBenminister der zu Paris vertretenen fünf GroBmachte und der Vertreter Hollands und Belgiens einzurufen, um die Frage der Eevision der Vertrage von 1839 zu untersuchen. Der Beginn der Konferenz wurde des naheren auf Montag, den 19. Mai, festgesetzt. Auf den an diesem und dem folgenden Tag im Kabinett Pichons stattfindenden Sitzungen setzte zuerst Hijmans den Standpunkt seiner Begierung auseinander, nachher gab Van Karnebeek seine Erklarung über die Bereitwilligkeit der hollandischen Regierung zur Teilnahme an der Revision der Vertrage ab, mit dem ausdrückkchen Vorbehalt, dafi dabei der territoriale status quo, der auf historischen Rechten basiere und mit dem Volkswiken im Einklang sei, nicht angetastet werde. Er setzte sich auBerdem mit den von Hijmans entwickelten historischen, politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten auseinander und verlangte eine Formulierung der ihm immer noch nicht mitgeteilten belgischen Desiderata, um sie genau zu prüfen *). Diese Formulierung wurde am 20. Mai gegeben. Hijmans beantragte die Untersuchung der folgenden zwei Fragen 2): ï. „Kann die Maaslinie, die erste Verteidigungsknie Belgiens, nackdrücklich verteidigt und gehalten werden bei der territorialerl durck die ïraktate von 1839 geschaffenen Situation, wobei besonders die Stadt Maastricht — Mosae Trajectum! —, seit Jahrhunderten die Einfallspforte der Germanen nach Westeuropa, sich unter hoUandischer Herrschaft befindet? II. „Kann die Scheldebnie, diese von Natur starke und wichtigste Verteidigungsknie Belgiens, genügend verteidigt werden, ohne daB Belgien sich dabei der Schelde, und zwar ihres ganzen Laufes, bedienen kann?" Im Zusammenhang damit stand dann folgende Formuherung der belgischen Forderungen: *) Vgl. die diesbezügliche offlzielle Mitteilung in der Presse des 21 Mai 1919, Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 21. Mai 1919, Abendausgabe C. Vgl. Colenbrander a. a. O *) Vgl. die Erklarung der hollandischen Regierung in der Zweiten Kammer vom 6. Juni, a. a. O. 6. Juni 1919, Abendausgabe D. 350 Fragen1": WesterscheIde der damit zusammenhMngenden A;a oa) Frek. J^^g über'den Ausgang zur See langs der Schelde d h wlT^T'^"8 3 auf d6r WesterscheIde iïïlX^ÏS Ver ■ hl 7°n 8eiten Hollands die Anerkennung der Notwendigkeit fiir R»l gien, bei Verte digung seines Territoriums auf die ^^SS^ti^t d) m Ab»t«Uu„g de, Kkgen der belgM,e» IW» Ton Bo„cb.»te. Hl. Hinsichtkch Hollandisch-Limburgs • IV. Bezügbch Baerle-Hertogs: 351 1'intermédiaire de mon prédéeesseur, le baron Beyens, au moment oü s'ouvrait dans la presse beige une campagne pour le retour k la Belgique de certaines provinces séparées d'elle de force et contre le gré des populations. Le gouvernement beige estime que les voeux qu'il formule aujourd'bui doivent être réalisés sous peine de mettre en péril le sort futur de la Belgique. L'étude que je voudrais voir entreprendre montrera si ces résultats ne peuvent être atteints qu'au prix d'une modification de certaines clauses territoriales, ou s'il existe d'autres solutions promettant de donner satisfaction aux aspirations de la Belgique." Vergleicht man diese Formulierung mit der früheren, so wird man bemerken, daB der Ausdruck „la souveraineté" abgeandert ist in „les attributs de la souveraineté". Was eigentkch der Unterschied zwischen beiden sein soll, ist niemals erlautert worden. Natürlich waren gegen die Einwilligung in die Abtretung der Attribute der Souveranitat die g1«ch.e/1 Einwande zu machen wie gegen die der Souveranitat selbst. Was bleibt von der Souveranitat übrig, wenn man ihre Attribute hergibt? AuBerdem konnte man fragen, ob die vage Formulierung verschiedener „demandes , besonders bezüglich Limburgs, auch nun keine Gebietsabtretung Hollands einschlieBe. Besonders galt das für die Gegend von Maastricht, von dem übrigens ohne jede Berechtigung behauptet wurde, es sei seit tausenden von Jahren die Einfallspforte der „Germanen" nach Westeuropa gewesen. Kein einziger derartiger Einfall von „Germanen" über Maastricht ist bekannt. Aber Hijmans' diesbezügliche Behauptung diente offenbar nur dazu, gewissen angeblichen militarischen Notwendigkeiten etwas Belief zu geben. Überhaupt kam die militarische Basis der belgischen Forderungen nun viel mehr zum Vorschein als früher, wo man vor allem auf ihren wirtschaftlichen Untergrund hingewiesen hatte. Auf Hijmans' Darlegungen vom 20. Mai konnte Van Karnebeek naturlick nicht bis in die Einzelheiten hinein erwidern. Er erbat sich vielmehr Bedenkzeit, verlangte jedoch nachdrücklich, es sollten vertrauliche Besprechungen zwischen Holland und Belgien stattfinden, um sich gegenseitig seinen Standpunkt möglichst deutlich auseinanderzusetzen. Die von der hollandischen Begierung eingeschlagene Politik wies von vornherein m diese Richtung. Zudem war Van Karnebeek der Meinung, auBer der Revision der Vertrage von 1839 bedürften auch die hollandisch-belgischen Beziehungen im allgemeinen einer Besprechung. Vor allem müsse das gegenseitige Vertrauen wiederhergestellt werden. „Ich bin der Ansicht", auBerte Van Karnebeek, „daB dieses wichtigere Interesse über die zu befolgende Methode zu entscheiden habe". AuBerdem bat er um schrifthche Mitteilung der belgischen Wünsche, die Hijmans nur rasch vorgelesen hatte. Gemeinsam mit Hijmans wollte er dann das Programm entwerfen, das nachher der Kommission vorgelegt werden sollte. - Hijmans antwortete zustimmend: „J'accepte trés volontiers cette pro- 352 position" worauf der Vorsitzende Pichon erklarte: „M. Hijmans et M. Van Karnebeek paraissant d'accord je demanderai a'la conférence d'accepter cette proposition." Aber so groB war die Einsgesirmtheit doch nicht, es steilte sich vielmehr ein MiBverstandnis heraus. Hijmans dachte sich seine Besprechung mit semem hoUandischen KoUegen nach Beginn der Tatigkeit der zu bildenden Kommission. Van Karnebeek wollte sie gerade vorher tv ui?..Z"a?™ö°kI™>ft 20. Mai endigte also ohne definitives Resultat i)ie hollkndische Delegation war aber nun in der Lage, die belgischen Forderungen naher zu untersuchen. Van Karnebeek stattete Hijmans einen personhchen Besuch ab, aber dieser ging auch jetzt nicht auf den hoUandischen Vorschlag vertraubcher Besprechungen ein, sondern beharrte auf seiner Ablehnung des Planes einer „conversation privée et isolée" und neu Van Karnebeeks Besuch unerwidert. Am 3. Juni fand die dritte Sitzung statt, auf der Van Karnebeek die btellungnahme der hoUandischen Begierung auseinandersetzte. Sie kam*) nachdem durch sie alles, abgelehnt war, was aus mUitarischen oder wir£ schafflichen Gründen rrgendwelchen Übergang von Souveranitatsrechten von HoUand auf Belgien hatte zur Folge haben können, darauf hinaus, daB die Regierung von der Grundlage der bestehenden Verhaltnisse nicht abgehen woUte, so daB natürkch keine Bede von einer Revision der Vertrage von 1839 in dem Sinn würde sein können, daB die damals voUzogene Trennung der nördUchen und südkchen Niederlande nun von neuem und gar noch nach anderen Grundsatzen voUzogen werden soUte Des weiteren wurde erklart: k-u-i'P^ di? R?gierun& im übrigen hinsichtkch der Punkte, welche die Schiffahrt ™d wirtschaftliche Interessen Belgiens betreffen, im Prinzip zu wohlwoUender Prüfung und Beratung bereit ist, wobei selbstverstandUch von hoUandischer Seite die Aufmerksamkeit auf die Unzutragkchkeiten zu lenkeni ist welche eine Folge der durch die Vertrage von 1839 für die ho landischen Interessen, besonders was die gemeinsame Maaskanaksation Detriöt, geschaffenen Situation sind „DaB schkeBbch èach der Meinung der Regierung die miktarischen fragen im Zusammenhang mit dem Völkerbund erwogen werden müssen" i -x y.an, Ka™ebeek wies ™> SchluB nochmals dringend auf die Wichtigkeit direkter Besprechungen zwischen HoUand und Belgien kin. Die Antwort von Hijmans bewies jedoch von neuem, wie fern maneinander stand *)• _ „En excluant de la révision toutes les clauses territoriales et mUitaires, M. de Karnebeek maintient le régime de 1839 dont nous demandons la révision. Cest au régime que nous avons fait le procés, car il met la Belgique dans un état de dépendance vis-a-vis de la Hollande et nuit tl RaS E°!&ende nach der Kegierunéserklarung vom 6. Juni. ) Das iolgende nach Colenhrander a. a. O., S. 481 ff. 23 Japikse, Holland 353 k ses possibilités de défense. Comme je Pai montré, la Hollande est maitresse de nos Communications vers la mer et vers 1'est et notre défense dépend de ses décisions. M. de Karnebeek n'a pas dit un mot de cette question. Elle ne parait pas 1'avoir frappée! 11 doit se rendre compte que cette question est ceke qui domine notre esprit dans cette affaire. — Le président Wilson a dit que la frontière de la France est celle de la Liberté; la frontière beige en est le prolongementi.. . Nous avions posé deux questions concernant la sécurité et la défense de la Belgique et c'est de 1'avis que 1'on se formera de ces deux questions que dépendra la solution. Pourquoi n'ai-je pas proposé moi-même une solution? C'est paree que je ne cherche pas a en imposer une; et paree que les solutions doivent dépendre de la réponse qui sera faite aux deux questions de sécurité et de défense nationale que j'ai indiquées." Damit legte Hijmans seinen Grundgedanken blofi, der eigentlicb darauf hinaus kam, dafi Belgien, unter Benutzung der anscheinend für sich günstigen Konstellation, den historischen ProzeB des belgisch-hollandischen Verhaltnisses ungeschehen machen wollte, wie wir das früher bereits als das Ziel des belgischen Annexionismus kennen lernten 1). „Warum", so antwortete Van Karnebeek, „sollte man jetzt territoriale Anderungen oder eine Entscheidung über hollandische Rechte beraten, was doch 1839 ausdrücklich vermieden worden sei! Sei Holland denn in einer weniger guten Situation als 1839? Wenn Belgien in diese Richtung drangt, dann wird keine Unterstützung anderer Machte es dieses Ziel erreichen lassen." Er wies dann auf die Gefahren hin, welche eine zu starke Einmischung der GroBmachte in hollandische Angelegenheiten haben könne, wenn er auch nicht jegliches Mltreden derselben ausschlieBen wollte. Nock- \ mals verlangte er in erster Linie Verhandlungen zwischen Holland und Belgien: „C'est la main de la Hollande qui se tend encore une fois vers la Belgique. Est-ce que la Belgique refusera cette main? Est-ce que mon honorable collègue de Belgique prendra la respOnsabikté d'un pareil geste? J'espère que non. „J'ai la conviction que la voie qu'il indique ne nous mènerait pas oü. nous voulons aller. Je veux lui demander de réfléchir encore. C'est au nom de la Hollande que je lui tends la main; il ne faut pas qu'il la refuse.... M. Hijmans se rend-il compte de 1'impression facheuse produite en février dernier par la reponse du gouvernement beige k la demande dü gouvernement bollandais? L'impression produite en Hollande a été déplorable. C'est moi qui indique maintenant k mon honorable collègue le chemin qu'il faut suivre, et je voudrais que nous puissions arriver k une entente et marcher d'accord." ') Siehe oben S. 241. 354 Es bestanden denmach, so konstatierte der Vorsitzende, zwei divergerende Ansich en, und er gab seiner Meinung Ausdruek, diteSiaflïf vertretenen GroBmachte sich daraus die Notwendigkeit ergebe die An gelegenheit unter sich zu besprechen, womit Balfour, Lansing un/sonnTnö - Japan war nicht vertreten - sich einverstanden erklfirten öcbon am 4. Juni wurde folgender BeschluB gefaBt: von ï«ï; Cte' Ael?e At NotweDdigkeit der Revision der Vertrage von 1839 anerkannt haben, betrauen eine Kommission aus Vertretern der Vereinigten Staaten von Nordamerika, des britischen Reiches,^Fran£eict Itabens Japans, Belgiens und Hollands mit der Aufgabe des StX^ deï MaBnahmen, welche sichaus der Revision ergeben müssen, und mTtder mall ni™* Y°ISC^™> die, kei*e» wlehselterritoriderLveranï tat oder Begrundung internationaler Servitute mit sich bringen dürfen Die Kommission soll Belgien und Holland einladen, gemeinsame Formulierungen bezugbck der befahrbaren Wasserwege einzureichen Td sichTbei leken" zu\fe^T"" T°° te Fried-skonfeLz angenommenen Prinzl^en Als der hollandische Minister des AuBern dieses Ergebnis der Zweiten Kammer mitteike ƒ), gab er der Meinung Ausdruck, daB Holland autd eser Basis an dem weiteren Verlauf der internationalen Besprechung teïnehmen ÏZSL*Ward0ch Jed« terrkorialer Rechtsverhaltnifse^ nun aus geschlossen. Karnebeek war mit seiner Auffassung durchgedrungen Aber auch Hymans war zufrieden. Er sagte am 11* Juni in d™ gbelgisthen Kammer: „Es bedarf keiner Betonung, daB das angegebene VerfXefnicht die Untersuchung aller MaBnahmen behindern wird, die unenSkch snd XÏ* Gfhre?.rd Sch^igkeiten zu beseitigen, denen nacTder Ent' scheidung der Machte vom 8. Marz d. J. die Vertragé von 1839 Belgfen und tSj^^M^ Td ^vö^eFreihïtSrXt dÏ^ÏT^Ti^ seiDeFre heitim allgemeinen zu garantieren." mxoht* Ih Tu f6 Poh^ue nationale faBte die Besolution der GroBmachte ebenfalls etwas anders auf als Van Karnebeek und sprach dan uT ZZ^T aTalsHrtaf- Beim Besuch des RiridrnSwaïi zj Brussel uberreichte es demselben eine Adresse, worin es die Forderung auf Einyerleibung Südlimburgs und die Ausdehnung der belgischen S veranitat au den ganzen Lauf der Schelde aufrechterhielt. TfiZdtaE nach einer Unterredung mit Wilson noch obendrein die Forderung Holland eine Volksabstimmung stattfinden könne. Ein Teil der belgischen Presse alerte sich wieder in sehr scharfer, für Holland beleidigeS Weise einem TeüWr^kr-e ^eruhjge°den Anzeiehen für die Stimmung, welche bei einem Ted des belgischen Volkes noch immer herrschte, ebensowenig heflen 23* ^ ^ °beD Ziti6rte ^««ngserklaruiig vom 6. Juni. '. 355 sie eine reibungslose Abwicklung der belgisch-hollandischen Angelegenheit innerhalb der durch die Friedenskonferenz angewiesenen Grenzen erwarten. EinigermaBen beruhigend konnte jedoch wirken, dafi König Albert gerade nun ein Telegramm an Königin Wilhelmina sandte, um Belgiens Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen für die „gastüche Zuflucht, welche seine Kinder auf hollandischem Boden" gefunden hatten, ein Höfhchkeitstelegramm, zu dem man akein bemerken konnte, daB es reichlich spat kam Die Königin erwiderte ebenfalls höfkch, brachte jedoch auch den Wunsch zum Ausdruck, „die Beziehungen zwischen Belgien und Holland mochten sich im Geiste dieser Erinnerung fortsetzen". Durfte man hoffen, daB diese Telegramme L) das Ende des belgisch-hollandischen Konfkkts und den Beginn neuer vertrauensvollerer Beziehungen bedeuteten? Wer bo dachte, sollte bald seinen Irrtum bemerken. Im Grunde war namkch sehr wenig verandert. f*,i . . , , . Die Verhandlungen zu Paris begannen Ende Jub. Belgien delegierte dazu den Generalsekretar im Auswartigen Amt Orts und den Abgeordneten Seghers Holland seinen Londoner Gesandten De Marees van Swinderen und den Staatsrat Struycken. Als Vorsitzender der Kommission fungierte der französische Abgeordnete Laroche; weitere Teünehmer waren ein Franzose, zwei Englander, zwei Italiener, zwei Japaner Und ein Amenkaner. Uber die geführten Unterhandlungen, die sehr lange dauern sollten, ist nack auBen nicht viel bekannt geworden, auch offizielle Mitteilungen sind darüber bisher nicht erschienen. Belgien bezeugte zwar vor Beginn der Besprechungen seine Zustimmung zu dem Beschlufi der Friedenskonferenz vom 4. Juni, und zwar durch ein Schreiben an Pichon, liefi sich dadurch jedoch nicht daran hindern zu versuchen, nun unter dem Ausdruck „maitrise" das zu bekommen, was es zuerst unter dem der „absoluten Souveranitat' zu ergattern gestrebt hatte. ... „ lm August ereignete sich ein sehr peinhcher Zwischentall. Uas flamische Pressebureau in Holland veröffentlichte den Wortlaut eines Gekeimdokumentes, das vom belgischen Ministerium des Auswartigen ausgegangen war und nichts weniger bezweckte als den Betneb von probelgischer politischer Propaganda in Hollandisck-Limburg. Es war an das Hauptquartier der belgischen Armee gerichtet und lautete 2): „La poktique beige k Maastricht et dans le Limbourg fcédé doit ne rien 'négbger, pour combattre l'mfluentee allemande et pour facikter un rapprochement avec la Belgique. „S'il n'est pas indiqué d'empêcher les Limbourgeois qui ont des *J Beide im Nieuwe Eotterdamsche Courant vom 11. Juni 1919, Morgenausgabe B. *) Hier ist der offizielle, erst spïter durch die belgische Begierung der hollandischen mitgeteilte Text gegeben. VgL Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 9. Sept 1919, Morgenausgabe B. 356 intéréts en Allemagne occupée de s'y rendre, il est hautement désirable JSTunfamg^ 8°lent aUtaDt P°SSibIe emPêchés de Pénétrer dans „Par contre tout ce qui peut favoriser les relations cordiales et intimes entre le Limbourg et la Belgique, entre Limbourgeois et Beiges doit desMCZragJ: ff- V°yageS f6 ^bourgeois en Belgique, le dévelo|pement ^d^igT" aVCC ^ Belgi<ÏUe' k difiUSi°n des auxPPbelges „En ce moment tout agent beige dans le Limbourg doit aider dans la mesure de ses forces k préparer le retour de cette province k la Mère i • I7*?G paS n^h8« «ne occasion de montrer aux Limbourgeois que leur intéret est du coté de la Belgique, encourager sans indiscrétion les Limbourgeois qui se montrent nos partisans, ceux qui le sont secrètement, ceux qui pourraient le devenir. ' "?Is dJ°^nt marquer par 1'aide plus empressée qu'Us donneront a ceux-ci Ja différence qu'ds font entre Limbourgeois et Hollandais. Bs doivent témoigner k chaque jour, k chaque occasion utile, leur reconnaissance aux Limbourgeois pour leurs bienfaits envers les réfugiés beiges „Les différents services beiges et en général tous les Beiges qui sont dans le Limbourg doivent travailler dans le même sen8 en confiance et en liaison les uns avec les autres, dans un esprit d'indulgence les uns pour les autres, sans jeter les uns sur les autres des suspicions ou des critiques qui ne peuvent que nuire a notre prestige et k notre action. „Les services de renseignement beiges doivent s'attacher k relever les preuves du système de contrainte employé pour faire croire aux sentiments anti-beiges des Limbourgeois et du système de propagande emplové pour leur donner ces sentiments. v 1 „II faut qu'en ce moment les Beiges du Limbourg donnent 1'impression, d etre trés confiants dans le bon résultat k leur point de vue des négociations entamées avec la Hollande pour la révision des traités de 1839, eest a dire pour le règlement des questions de 1'Escaut et de la Meuse efficadté m0ntr6Dt 8Órs de I>aPPui ^ue nou8 donne 1'entente de son „Naturellement le tact est Je rigueur et le respect du pouvoir établi. lis ne doivent pas faire trop de propagande directe (la laisser faire par des Limbourgeois) quils le laissent entendre que si le Limbourg redevient beige il restera ou reviendra limbourgeois, qu'il ne sera pas joint k une autre province, quon n'y implantera pas la langue francaise, que le catholicisme y sera aussi protégé que sous le régime bollandais. L'anticléricabsme n est pas de nuise dans cette région. Au contraire « • • J;ublikation dieses Dokumentes machte in Holland einen ganz nesigen Eindruck Man hatte im allgemeinen - und zwar ganz mit Kecht — wahrbch keme hohe Vorstekung von der Haltung der belgischen 357 Regierung, besonders nicbt von der des Ministers des Auswartigen. Aber diese gemeine Intrige — nein, dazu hatte man Hijmans doch nicht für fahig gehalten. Die antanglich herrschende Meinung, daB die Geheimnote vom 5. Juli datierte, also spater sei als die Entscheidung der Pariser Konferenz, durch die jede territoriale Anderung ausgeschlossen wurde, steilte sich allerdings als unrichtig heraus. Sie war vom 20. Mai, aber das bedeutete doch keinen groBen Unterschied. Es war wahrhaftig schon arg genug, daB Hijmans, der gerade an diesem Tage zu Paris laut verkündete, Belgien habe niemals hollandisches Gebiet erstrebt, gleichzeitig ein Zirkular in die Welt sandte, dessen einziger Zweck der Raub hoUandischen Gebietes war. . Es kam bei dieser Gelegenheit zu sehr kraftigen AuBerungen in der hollandischen Presse; ein Abbruch oder wenigstens Aufschub der Pariser Üntérhandlung, bis die Sache geklart sein würde, ware von der öffentlichen Meinung sicher gunstig aufgenommen worden. Aber die hollandische Regierung behielt auch diesmal voll und ganz ihre Ruhe und begnügte sich, durch ihren Gesandten in Brüssel um Aufklarung bitten zu lassen. Am 20. August antwortete Hijmans mit der Vorlage der ominösen Note und suchte sich mit deren Datum zu entschuldigen, durch das, wie er sich ausdrückte, der bei der hollandischen Regierung erweckte unangenehme Eindjruck verwischt werden müsse. Die durch die hollandische Gesandtschaft in Brüssel am i. September im Auftrag der Regierung an den belgischen AuBenminister gerichtete Antwort unterlieB dann auch nicht „gegen die bewuBte Note formell Protest einzulegen im Namen der erhabenen Prinzipien, durch welche die Beziehungen zwischen den Staaten beherrscht werden müssen, und deren Grundlagen die Ehrerbietung des Rechtes und das gegenseitige Vertrauen zu sein haben". Dann kamen folgende deutlichen Satze: „Ihrer Majestat Regierung hat mich beauftragt, Euer Exzellenz den höchst peinhchen Eindruck zur Kenntnis zu bringen, den es auf sie machte, als sie dieses authentische Dokument vor Augen bekam, das beweist, daB die belgische Regierung geglaubt hat, sich in Hollandisch-Limburg die Organisierung einer politischen Propaganda erlauben zu dürfen, die das Ziel verfolgte, diese Provinz von Holland loszureiBen und ihre Annexion durch Belgien vorzubereiten. In Anbetracht der Frettndschaft und des guten Einvernehmens, wie sie zwischen den beiden Landern herrschten, hatte es Ihrer Majestat Regierung nicht für möglich erachtet, daB sich die belgische Regierung dazu hergeben würde, im geheimen ein politisches Ziel zu verfolgen, das keineswegs mit diesen Gefühlen im Einklang steht. „ Die Art und Weise, wie Euer ExzeUenz das MiBvergnügen auffassen, das in Holland durch die Veröffentlichung des wichtigsten Teiles der Note erregt worden ist, zeigt übrigens den Unterschied, der besteht zwischen den Grundsatzen, die Euer ExzeUenz offensichtlich als Richtschnur dienen, 358 be^tbS???^ StetS IhrerMaJ^ «egierung bei ihrem Handeln Hijmans antwortete darauf ausführUch *) und berief sich zu seiner Ver- spracterf^ Zum Schlufi Tl £ seine Freude daraber aus, daB die hollandische Regierung über die erhabenen Pnnzipien, welche für die Beziehungen der Steatenuntereinander zu gelten hatten, theoretische AuBerungen getan^ habe Bel^n sei von dieser Theorie bei seinen mtoam&m^BeS^^l^ SselT^I^S^^^ 8ICh HijmaD8 dazU' HoUand offizieI1 absei bevnr li , ?t " lhn VOm 4" SePtember veröffentbcht worden se , bevor er darauf habe antworten können. Er protestierte eeeen ein uïa^ una auBerdem die offentliche Meinung einseitig unterrichte so daB sie nicht^mstande sei sich .ein wirklich begründetes Urteil zu büdên" Deï ^K^bST?" AnUfiem * ^ ™schSmter Herr^ meinte der ^Jelten^Sa,Mft .Coarant" 3) auf Grund dieser Antwort. Das kann . man gelten lassen Ubngens hatte die hoUandische Regierune keine Antwort erbeten und bedurfte deren auch nicht. eg1CT™g ««ne Ant- NachrichL d«£ ^-drUCk 868 diPlomatischen Briefwechsels und der ?i «ff ï u \f- die VOn BelSien zu Paris gesteUten Forderungen kam tal^t^J^T8 ï die S6it J^ 8ich ™der -iemUch be^ SLtef'wld gS 8tar^ m1Be^gQng- lm September fand im Haager liergarten wieder eine nationale Demonstration gegen den beteischen genommX nicht 80 8ehr eraB SdgüS in tL ? tde *? J£W Ze" Jedoch ^t der Annexionismus endgultig m seine abnehmende Phase. Das Comité de politique nationale agierte zwar noch weiter, aber die StoBkraft kam ihm lang a^n abhandT ^L^SStsST'welche die No,te vom 20-Mai sehr 8charf «SS Die WaWen rf^ den. An^ionismus unverdrossen fort. daB Ir influR d^^hen Parlament im November 1919 haben bewiesen, rdsmuvier„ -er Fiamen/n Belg;e° sugenommen hat und der Annexionismus viel von seiner Bedeutung verloren zu haben scheint. Das Comité de KabS am Rude ^V" Èrfolg* buchen. JeitZltaZ worden Ï p Und HijmanB als Minister des Aufie™ bestatigt worden, eine Erscheinung, die man in Holland etwas befremdkch fand, über t d?e lnet^\kmv °?e, Dicht au6erte' weil man sich keine'sweg m_oae_innerpolitischen Verhaltnisse des Nachbarlandes einmischen wollte. ') a!aUW0. E°tterdamsche Courant vom 12. September 1919, Morgenausgabe B. *) 12. September 1919, Abendausgabe B. 359 Die Kampagne der Annexionisten hat Belgien keinen Vorteil gebracht und ihm in den Augen der Welt nur geschadet. Diese Leute wollten übertriebene Forderungen durchsetzen und stiefien sich dabei empfindlick den Kopf an, oder wie Emile Hullebroeck *) es ausdrückte: „ Belgien, das von jeder Seite geehrte und unterstützte Belgien, das die denkbar schönste Boke im Kriege gespielt und seinem Namen die Verehrung der ganzen Welt erzwungen hat, hat von dieser Sympathie jetzt viel verloren. Die französisch gesinnten Brüsseler Zeitungen haben unser gespottet, als wir das vor Monaten voraussagten, und nannten uns ,des Beiges qui sont Hollandais avant tout'. Ja, die Sympathien Hollands galten ihnen nichts, das wuBten wir, aber es steht nun nicht besser um die Sympathien der anderen, gröBeren Machte, und das scheint ihnen akm&bkck die Augen zu öffnen. Die GroBmachte, von denen wir Hilfe erwarten dürften, und die Belgien wieder zum Aufstieg hatten verheken können, lachen uns einfach aus und ziehen ihre Hand von uns. Die Kleinen, die mit uns zusammen-, gehen müBten, lassen sich lieber von den GroBen verschlucken als daB sie uns die Hand reichen. Was der wirtschaftkche AnschluB Luxemburgs bei Frankreick bedeutet, wird man nun erst zu spüren beginnen. Er bedeutet nicht zuletzt einen gewaltigen Nachteil für Antwerpen, das doch' so wie so schon ake Mühe hat, um sich wieder zu erholen. Das bedeutende luxemburgische Erzbecken wird nun nicht über Antwerpen, wie das das natürkckste ware, exportieren, sondern seinen Export durch französisches Gebiet nach Dünkirchen leiten, einem Hafen, der früher neben Antwerpen nichts bedeutete, in Zukunft sich aber als bedeutender Konkurrent unserer Handelsmetropole herausstellen wird. ünd die lauten Schreier, die Ultrapatrioten, die Manner von „souvenez-vous", „n'oublions jamais", „lei n'entrera plus aucun produit allemand", und wie die Phrasen ake heifien, werden gezwungen sein, die so sehr verfluchten Deutschen wieder nach Antwerpen zu holen — es beginnt sogar schon! — wenn sie Antwerpen retten wollen, und schlieBlich werden sie sogar um die Mitarbeit unserer nördlichen Nachbarn betteln müssen. Was Hollands Haltung bei den Verhandlungen angeht, so wird es sich derselben jederzeit ohne Beschamung erinnern können. Es hat sich, im Vertrauen auf sein gutes Recht, zu keinerlei Provokation kinreiBen lassen, sondern ist immer ruhig geblieben und bat die belgischen Angelegenheiten beobachtet, nicht ohne Gutmütigkeit, zuweilen gar mit Ironie, z. B. in den Tagen, wo einige Belgier sich mit dem Plan getragen zu haben scheihen, nach dem Vorbild d'Annunzios in Limburg einzufaUen und es einfach zu besetzen, oder als eine Anzahl belgischer Zeitungen arg viel Wesens von ein paar Zwischenfaken machten, bei denen — u. a. zu Breskens — *) In „Ons Vaderland", vgl. Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 28. November 1919, Abendausgabe C. 360 einige Belgier miBhandelt worden sein sollten, Vorfalle, die in Wirklichkeit yon sehr lokaler Bedeutung waren. Holland konnte denn auch mit Genugtuung konstatieren, daB sein gutes Recht von den GroBmachten ebentalls anerkannt wurde. • i A,ber die Pariser Verhandlungen gingen auch nach dem Juni 1919 nicht besonders flott vonstatten und dauerten lange. Erst im Marz 1920 wurde durch ein Communiqué des hoUandischen AuBenministeriums *) bekannt, dafi die Unterhandlungen sich ihrem Ende naherten. Die wirtschaftbchen Bestimmungen des Vertrags von 1839 zwischen Holland und Belgien waren revidiert, besonders Artikel 9 über die Schelde, für deren Vérwaltung eme hollandisch-belgische Kommission eingesetzt werden sollte Das Lotsenwesen wurde ausführUch geregelt, und eine ahnkche Ordnung des Schiffahrtswesens wie auf der Schelde sollte für das auf dem Kanal Gent-Terneuzen getroffen werden. Belgien wurde der Bau zweier neuer Kanale zugestanden, eines von Antwerpen nach dem Moerdijk und eines von Antwerpen nach Ruhrort. Holland bedang sich das Recht auf Verbesserung der Zuid-WiUemsvaart aus, und gleichzeitig wurde eine neue Regelung der Wasserableitung aus der Maas auf belgischem Gebiet entworfen. AuBerdem sollte Belgien der Verpflichtung zu permanenter Neutralitat enthoben werden und die Bestimmung faUen, daB Antwerpen nur Handelshafen sein dürfe; die beiden letzten Bestimmungen waren natürkch gedacht als in der, Absicht der Vierzehner Kommission liegend, der aucb der Entwurf des Vertrags zwischen Holland und Belgien vorgelegt werden sollte. Der Vertrag sollte keine mUitarischen oder pobtischen Verpflichtungen Hollands in sich schliefien, konstatierte das Communiqué ausdrücklich, und es schloB mit den Worten: „Die alte Streitfrage über die Souveranitat der Wielingen ist zur Sprache gekommen. Es wurde beschlossen, hier den status quo ante aufrechtzuerhalten." Nach diesem Communiqué hatte man denken sollen, dafi die Sache beinahe oder ganz erledigt sei. Im Mai zeigte es sich aber, daB es noch durchaus nicht so weit war. Als die hoUandische Delegation im Mai von der belgischen zu einer Konferenz nach Paris eingeladen wurde, begab sie sich dorthin in der Meinung, es soUe nun die letzte Hand an das Werk der Vertragsrevision gelegt werden. Als sie auf die Konferenz kam, erruhr sie, daB die belgische Regierung sich durch die Trage der Wielingen uber die sie die volle Souveranitat forderte, kabe bestimmen lassen, die Verhandlungen, die, wie die hollandische Delegation richtig bemerkte, eigenthch schon abgeschlossen waren, so lange zu unterbrechen, bis sie in diesem Runkt ihren Willen durchgesetzt habe. AUgemeines Erstaunen! In diesem Stadium befindet sich die Angelegenheit gegenwartig, und es ist noch nicht an der Zeit, mit einiger Sicherheit zu sagen, was Belgien zu dieser Haltung bewogen hat. *) Nieuwe Rotterdamsche Courant rom 15. Marz 1920, Abendausgabe D. 361 § 12. Der Friede Eben80wenig wie am AbschluB des Waffenstillstandes konnte Holland in irgendeiner Weise sick am Zustandekommen des Friedens beteiligen, da es auBerhalb des Kreises der Pariser Unterhandlungen stand. Mochten auch die Staatsoberhaupter der Entente Telegramme an Königin Wilhelmina richten, um ihr ihren Dank für die von HoUand in schwerer Zeit ihren Landsleuten erwiesene Gastfreundschaft zum Ausdruck zu bringen — der König von England und der Prasident von Frankreick taten das bereits im Januar 1919 ^ — und die Königin freundlich darauf antworten, mochte sie ihrerseits den Prasidenten WUson wahrend seines Aufenthalts in Europa) zu einem Besuch in Holland einladen — bekanntlich kam Wilson dieser Einladung nicht nach 2) —, von irgendwelchem EinfluB Hollands auf die Gestaltung des Friedens war damit nicht die Rede. Wie es scheint, kam sogar der Haag als Sitz des Völkerbundes nicht einmal ernsthaft in Frage, trotz der Arbeit, die' Holland für den internationalen Gedanken vor 1914 geleistet hatte, und trotzdem auf seinem Boden der Friedenspalast wohnbereit stand. Zur Wahl standen überhaupt nur Brüssel und Genf, und man einigte sich schlieBlich auf das letztere. Über diese Übergehung war man in Holland zwar wenig erregt, aber um so mehr enttauscht. Was Erregung verursachte. war der allgemeine Gang der Ereignisse in Paris, war die Kluft, die sich zwischen den Versprechungen Wilsons und der tatsSchlich von der Friedenskonferenz geführten Poütik auftat. Natürlich waren auf die Stimmung in Holland auch der Konflikt mit Belgien und die vielerlei in der Presse des Auslandes über Holland gernachten falschen Angaben von EinfluB. Sehr bemerkenswert ist unter diesem Gesichtspunkt ein Artikel von Bocheblave im Journal des Débats *). Rocheblave hatte auch wahrend des Krieges HoUand besucht und fand nun die Stimmung im Oktober 1919 sehr zu ungunsten Frankreichs verandert. Er fuhrte aus: „Wer als Franzose vor einigen Wochen HoUand besuchte, um sich über die Wirkung des ,französischen Friedens' auf jene Kreise zu unterrichten, die Frankreich früher wohlgesinnt waren oder das zu sein schienen, fuhlte sich gleich bei seiner Ankunft zu seiner Untersuchung nicht allzusehr ermutigt. Wenn er trotzdem in der Absicht, sich gründlich zu unterrichten und sich keinerlei Tauschung hinzugeben, seine Beobachtungen anstellte und die Situation zu erfassen suchte, ohne sich durch die beim *) Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 2. Januar 1919, Abendausgabe C; 4. Jan. 1919, Morgenausgabe B, und 5. Jan. 1919, Morgenausgabe B. 2) Der Prasident antwortete aus Washington, er werde die Einladung im Auge behalten. Nieuwe Botterdamsche Courant vom 24. Dezember 1918, Morgenausgabe B. 3) Auszug im Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 27. Okt. 1919, Abendausgabe C. I 362 ersten Eindruck sofort in die Augen springende Anderung abschrecken zu lassen, dann fiel ihm bald zweierlei auf: einmal eine plötzbche AbschwSchung des vorher so starken Mitgefdhls mit den Opfern des Angriffs der Deutschen, und zwar von dem Augenblicke, wo diese Opfer den Sieg errungen hatten, gerade als ob sie nun keine Opfer mehr seien, wabrend doch ihr Wend noch immer um Rache schreit, die ihnen nicht vergönnt ist: zum andern eme Art naiven Erstaunens und schlecht verhehlten Argers über die latsache daB nicht gleich nach AbschluB des Waffenstillstands und erst recht nach Unterzeichnung des Friedens die HandelsgeschSfte — bekanntkch n.mmt der Handel in Holland eine - beherrschende Stellung ein auch in der Seele des Hollanders — wieder ihren geregelten Gang gingen, ebenso zufriedenstellend und gewinnbringend als ob nichts geschehen ware gerade wie wenn daran ausscbliefilich und allein die Sieger die Schuld trugen. So sind überraschende Aufierungen zu verstehen, wie ich sie oft zu horen bekam: ,Ja, Frankreich hat uns enttauscht!' oder eine andere, die getan wurde, wenn man aufhörte für mildtatige Zwecke etwas zu geben: ,Wir haben kein Interesse mehr für eine Nation, die einen so wenig ntterhchen Gebrauch von ihrem Siege macht.' Als die Gefahr endkch vorbei war, erschien Frankreick, dessen Niederlage die Vernichtung Hollands nach sich gezogen haben würde, in den Augen mancher Leute als nichts weiter als der Bankrotteur der auf den Sieg gesetzten Erwartungen, gerade als ob der Einsatz des Weltkrieges ein Gewinn des einen oder anderen, gar noch am Kampfe unbeteiligten Volkes gewesen ware, und nicht viel mehr die Freiheit, die künftig den groBen und kleinen Vólkern der Welt garantiert ist. „Beim Anblick eines Holland, das 1919 so sehr verschieden aussak wie 1917 und besonders 1918, erkannte man sofort zweierlei, erstens, daB Deutschland seit November 1918 alles getan hatte, um eine derartige Anderung zu veranlassen, zweitens, dafi Frankreick nichts getan hatte, um das zu verhindern, mehr noch, dafi es alles getan zu haben scheint, wodurch den Deutschen ihre Arbeit erleichtert werden mufite." « n lch,bl}te nicK um Entschuldigung für dieses lange Zitat, denn es ist aulóerst bedeutsam. Rocheblave nennt eine Anzahl Umstande und Tatsachen, durch die der Stimmungsumschlag in Holland begreifbch wird. Aber die Hauptsache war dabei zweifellos die Enttauschung über die Verletzung oder Nichterfüllung verschiedener, wahrlich nicht allein kommerzieller Ideale infolge der Haltung der Sieger, besonders Clemenceaus. Ubngens blieb dieser Stimmungsumschwung nicht auf Holland beschrankt, wo frankreich sicher noch viele gute Freunde behalten hat. Jedoch ist die Zeit noch nicht angebrochen, um dafür eine ausreichende Erklarung zu geben. ° Der Friede, wie er von Deutschland am 28. Juni 1919 in Paris unterzeichnet wurde und am 10. Januar 1920 in Wirkung getreten ist, 363 brachte für Holland vier Dinge mit sich, die es direkt angingen, den Völkerbund, die Verfolgung des früheren Deutschen Kaisers, die Neuregeking der Rheinschiffahrt und das internationale Arbeitsstatut. Wir wollen jede dieser Fragen kurz besprechen. a) Der Völkerbund Er ist ein Teil des Friedensvertrags und wird den Besiegten von den Siegern auferlegt, sogar ohne daB dieselben in ihm aufgenommen sind. Dieser Völkerbund befestigt die Herrschaft der alliierten und assoziierten Machte, wie sie sich aus dem Kriege ergeben hat, also in erster Linie die der Angloamerikaner und Angelsachsen mit Frankreich als Wachter auf dem Festland. Dieser Charakter des Völkerbunds mufi hier zum voraus festgestellt werden, da èr für seine Beurteilung in Holland mafigebend ist. Zum Unterschied von den Besiegten erhielten die Neutralen Gelegenheit, ihre Stimme über den Völkerbundsentwurf hören zu lassen, als derselbe fertig war. Sie wurden eingeladen, Delegierte nach Paris zu senden, wo mit denselben verhandelt wurde. Wenn sie also auch bei der Feststellung des Entwurfs keinen EinfluB hatten, so konnten sie doch post factum ihre Kritik dazu hören lassen. HoUand hatte einen Entwurf über Völkerbundsprinzipien, der von einer seinerzeit zur Vorbereitung der Friedenskonferenz eingesetzten Kommission ausgearbeitet worden war, bereits früher nach Paris gesandt, um ihn zur Kenntnis Wilsons und des Friedenskohgresses zu bringen Es ist aus nichts ersichtlich, ob er in Paris-beachtet worden ist. Soviel ist aber sicher, dafi die Bemerkungen, welche durch die Vertreter Hollands und anderer neutralen Machte auf der Konferenz in Paris im Laufe des April getan wurden, keine oder so gut wie keine Wirkung hatten. HoUand war dabei aufier durch den hollandischen Gesandten und den früheren Minister. Loudon durch das Mitglied des Hohen Rates Loder und den Leidener Professor für Völkerrecht Van Eysinga vertreten. Der Völkerbundsentwurf wurde nach diesor Konferenz in einigen Detailpunkten revidiert, bkeb aber in seinen Grundlinien unverandert. Das war eigentlich auch nicht anders zu erwarten, da die Assoziierten und AUiierten sich bereits auf den ersten Entwurf geeinigt hatten, und also die Neutralen eine kleine Minderheit darstellten, deren Kritik man wohlwollend anhören konnte, ohne weiter darauf einzugehen. Die hoUandische Kritik am Völkerbundsentwurf kann man aus dem Bericht kennen lemen, den die oben genannte Kommission dem Minister des AuBern erstattete:2) *) Laut offizieller Mitteilung der hollandischen Eegierung im Nieuwe Eotterdamsche Courant vom 28. Januar 1919, Abendausgabe B. 2) Publiziert im Nieuwe Eotterdamsche Courant vom 26. Marz 1918, Morgenausgabe B. 364 i o P!e' KomnuBBion begimit damit, ihre Genugtuung darüber auszusprechen, daB jetzt ein konkreter Versuch gemacht werde,. um durch gegenseitiges Zusammenarbeiten der Staaten zu einem gerechten und friedjichen Zustand der Welt zu gelangen, und daB zu diesem Zwecke ein Bund gegrühdet werde, der Organe für die Behandlung akgemeiner Interessen besitze und uber verscbedene Mittel verfüge, um Kriegen vorzubeugen. Sie halt es fur begreifbch, daB dieser erste Entwurf nur Angaben akgemeiner Art uber die beabsichtigte Orgamsation mache. Auf dieses Lob folgen dann die kntischen Bemerkungen, zunachst über die Art und Weise der Entstehung des Entwurfs: „Die Kommission glaubt nicht verschweigen zu dürfen, daB sie sich nicht emverstanden erklaren kann mit der Methode, welche die Schöpfer des Entwurfes bisher befolgt haben, und bei der eine Anzahl Nationen welche als Mitglieder des Völkerbundes unter einer Weltverfassung werden leben mussen, von allen Beratungen ausgeschlossen sind. Offenbar ist diese Methode als eine Folge des nach ihrer Ansicht wenig glückkchen Gedankens zu betrachten, den zu begründenden Völkerbund mit dem bevor- ' stenenden b nedensvertrag eng zu verknüpfen." ^\Chd?m1 ü**0™™**}™ bemerkt bat,' sie halte es für selbstverstandlich dafi Holland zu den Nationen geboren werde, die zum Beitritt zum Völkerbund emgeladen werden würden, formuliert sie weiter ihre Bedenken hinsichtlich der Prinzipien, welche in dem Entwurf nicht zum Ausdruck kamen, wie folgt: Wip nu ''iFT1 ™rkU?hen Völkerbund müssen alle Staaten beitreten können I Obwohl die Kommission nicht bezweifelt, daB dieses Prinzip auch den bchopfern des Entwurfs vor Augen gestanden hat, ist sie doch der Ansicht, daB das auch in dem Entwurf zum Ausdruck kommen mufi. AuBerdem muB dann festgesetzt werden, daB der Beitritt aller Staaten auf der Grundlage der Bundeskonstitution ohne ake Vorbehalte stattfinden muB « A-'f*T°i TI' P- 155' vom l-J^L^t"**"™8 ^ JelHnek " dM deUt80hen ^«teuzeitung 24* 371 Auslieferungsvertrage von 1896, 1889, 1895, 1898 und 1887. Auf Grund dieser Gesetze und Vertrage kommt Jellinek zu der meiner Ansicht nach unwiderlegbaren Schlufiforderung, Holland könne den Kaiser nicht auskefern und sei auch nicht dazu verpflichtet. • Die beiden folgenden Gründe scheinen mir dabei am wichtigsten: 1 Bei den Handlungen Wilhelms II. ist nicht die Rede von seinem Verhalten als Privatmann sondern als deutsches Staatsoberhaupt Man kann für sie nur den deutscken Staat verantwortlich machen. f2. Die mkriminierten Handlungen haben politischen Charakter, und wegen solcher fandet eine Auskeferung nicht statt, Eine Ausweisung des gewesenen Kaisers ware nur möglich, wenn einwandfrei nachgewiesen ware, dafi derselbe der Mittelpunkt staatsgefahrhcher Verschwörungen sei. Im übngen hat Holland nur das Recht, dem Kaiser einen bestimmten Aufenthaltsort auzuweisen Wenn sich Holland zur Ausweisung gezwungen sahe, so wurde die Frage wohin ein schwieriges Problem aufwerfen; denn die Ausweisung ist eingeschrankt durch die Worte: „Womöglich über die Grenze welche der Ausgewiesene selbst angeben wird.!' Hiermit ware die Moglichkeit einer Ausweisung nach den hoUandischen Koloniën gegeben. Es dauerte lange, bis das Ansinnen auf Auslieferung gestellt wurde. Die einen meinten, es werde kommen, wenn alle Machte den Friedensvertrag ratifiziert haben würden, die andern, wenn der Vertrag m Wirkung getreten sei, also nach Auswechslung der Ratifikation zwischen drei tfrofimachten und Deutschland. Im Grunde wufite niemand etwas Bestimmtes, und man fhoffte oder wünschte zuweilen, die Auslieferung wurde gar nicht verlangt werden. Andere fürchteten, die Entente würde, wenn Holland sich weigere, zur Anwendung von Waffengewalt oder wirtschaftlichen Zwangsmafinahmen übergehen. Ich will gerne bekennen, dafi ich die Entente in Friedenszeiten zu einer solch krassen Rechtsverletzung gegenüber einem neutralen Staat nicht für imstande gehalten habe. Ware im Falie von Drohungen zu erwarten gewesen, dafi Holland um des keben Friedens Willen rechtzeitig seinen Standpunkt abschwachen würde? Man konnte in Holland allerdings hin und wieder einmal sich eine solche Auffassung hervorwagen sehen, sogar von ernst zu nehmender Seite, wobei dann folgendermafien konkludiert wurde: Wenn Holland ausbedingen könne, dafi dem Kaiser bei seinem Prozefi die nötigen Garantieen für eine wirklich unparteüsche Behandlung gegeben und er den «echtsbeistand bekommen würde, den er wünschte, dann würde Hol and vielleicht in die Forderung der Entente einwilligen können. Wilhelm 11. werde dann vieUeicht sogar froh sein, eine Gelegenheit zu haben, um sich öffentkch zu verantworten! Die gesetzgebende Macht Hollands müsse eben dann herangezogen werden, um die Auslieferung möglich zu machen, darin liege keine grofie Schwierigkeit! Glücklicherweise haben solche Stimmen sehr wenig Widerhall gefunden. Die Versuchung, dieser Lösung zuzu- 372 stimmen birgt eme sehr grofie Gefahr in sich. jVor allem kann man namhch bei der gepknten Art des Gerichtshofes sich nicht von dem ETnw3 IfTï' t Ae?rPartei über die andere « Ge« skzt énd Se El FtChkeit et^\*™eiden ««««m? Das ist eine müfiTge *rage. Em Ententegerichtshof könnte auf keinen Fall ein unparteiliches Urteil aussprechen, weil der ganze Vertrag von Versailles auf deAn! erkennung von Deutschlands.Schuld beruht, die fesfsteht oder als Lïtehend 3T°lmRflWird, ^ K/iSer freisFech- Deutschland freisprechen! hiefie die Basis des Friedensvertrags erschüttern. Nur ein ganz unabhangig vom Versailler Vertrag, am besten aus Neutralen Witulrter Gerichtshof wa-re unstande, hier unparteilich zu urteilen. Deutschlandhaï e^was Derart,ges gewünscht, die Entente davon aber nichts wissenTollen Ein Ententegencbtshof für die Schuldfrage ware eine Farce. T konnte allein Bedeutung haben für das Ausmafi der aufzuerlegenden Strafe Aber mochte man da wieder fragen, ist Deutschland selbst wahrlich noch mcht Es&^jz^s&r^Missetaten-So11 " allgemein bekannt, standhaft abgewiesen. Die wichtigsten Stellen aus der Korrespondenz zwischen der Entente und der hollandischen Regierung mögen zwommen ^ ^ ihneD einst eine ^lassische Bedeuteng M^nTorZt'r Aimerten ™;**;'>»™ 1920 und hatte de lWl^S^-^f168 PrëS-nteS a"GouverDemeDt de la Eeine le texte ™1. ♦ l (O,-J0mt ? C°pieT Certlfiëe du Traité de Pa« avec 1'AUemagne, entré en vigueur le 10 Janvier 1920, les Puissances ont 1'honneiir ttt, «^HJ^" to"»P- qu'elles ont décidé de mettre k ex" cution sans délai les dispositions de eet article Pflv«"Sa ^on?^ueDfe' £*. Puissances adressent au Gouvernement des Pays-Bas la demande officielle de mettre entre leurs mains Guillaume de Eohenzollern, ex empereur d'Allemagne, afin qu'il soit jugé alké™ «„lïrT**' r+éSi,aDi eD A1.lemaSne> contre lesquelles les Puissances alkées et associées ont élevé une inculpation devant leur être livrées en vertu de 1'article 228 du Traité de Paix, 1'ex-empereur s'U était resté en fnTKanr ** ^ * ^ P- ^ Goutuï tihle*"™; ^vernemen! néerlandais est au fait des raisons imprescriptibles qui exigent impéneusement que les violations préméditées des traités CWanlS^ 373 internationaux ainsi que la méconnaissance systématique des régies les plus sacrées du droit des gens, recoivent k 1'égard de tous y compris les personalités les plus haut placées, la sanction spéciale prévue par le Congres de la Paix. „Les Puissances rappellent sommairement entre tant de crimes, la cynique violation de la neutralité de la Belgique et du Luxembourg, le barbare et impitoyable système des otages, les déportations en masse, 1'enlèvement des jeunes filles de Lille, arrachées k leur familie et livrées sans défense aux pires promiscuités, la dévastation systématique de territoires entiers sans utilité militaire, la guerre sous-marine sans restriction comprenant 1'abandon inhumain des victimes en pleine mer, les actes innombrables contre les non combattants commis par 1'autorité allemande au mépris des lois de la guerre etc De tous ces actes la responsabibté, au moins morale, remonte jusqu'au Chef suprème qui les a ordonnés ou qui a abusé de ses pleins pouvoirs pour enfreindre ou laisser enfreindre les régies les plus sacrées de la conscience humaine. „Les Puissances ne peuvent s'arrêter k 1'idée, que le Gouvernement des Pays-Bas envisagerait avec moins de réprobation qu'elles mêmes les immenses responsabihtés de 1'ex-Empereur. La Hollande ne rempbrait pas son devoir international si elle refusait de s'associer aux autres nations dans la mesure de ses moyens pour poursuivre ou du moins ne pas entraver le chktiment des crimes commis. : „En adressant leur demande au Gouvernement néerlandais les Puissances croient devoir en faire ressortir le caractère spécial. Elles ont le devoir d'assurer 1'exécution de 1'article 227 sans se laisser arrêter par des argumentations paree qu'il ne s'agit pas dans la circonstance d'une accusation publique ayant le caractère juridique quant au fond, mais d'un acte de haute politique internationale imposée par la conscience umverselle dans lequel les formes du droit ont été prévues uniquement pour assurer k 1'accusé un ensemble de garanties tel que le droit publique n'en a jamais connu. „Les Puissances ont la conviction que la Hollande qui a. toujours témoigné son respect du Droit et son amour de la Justice, et qui, une des premières, a revendiqué sa place dans la société des nations, ne youdra pas couvrir de son autorité morale la violation des principes essentiels de la sobdarité des nations, toutes également intéressées k empêcher le retour d'une semblable catastrophe. „Le peuple néerlandais est hautement intéressé k ne pas se donner 1'apparence d'en protéger 1'auteur principal en le mettant k 1'abri sur son territoire et a facibter la mise en jugement réclamée par la voix de millions de victimes."1). *) Unterzeichnet: G. Clemenceau. 374 unter^LT^L^ ^ ^ J— 1920 ' Le.Gouvle1rneme^ de la Reine a 1'honneur de faire observer tout 1'arS J£ t f ' P°Ur rA1Iem^ —ient pu résulter de larticle 228 du Traité de Paix, ne peuvent valoir pour déterminer les devoirs des Pays-Bas qui ne sont pas partie k ce traité „Le Gouvernement de la Reine, mü de son cÓté par des raisons imprescriptibles, ne peut envisager la question soulevée pü kdenTn Je des Puissances que du point de vue de* ses propres devoirs. „11 a été absolument étranger aux origines de la guerre et il a "ra vi: dT fT dff ^ " T ^ jUS"U'aU b0Ut- B se fa-ouve Li vis a vis des faits de la guerre dans une position différente de celle des Puissances. II repousse avec énergie tout soupcon de vouloir couvrir de "enS rrTZ-f/rr^ m°rale des ™latioD8 -es "Scipes Int ÉT !• i°ïda7té d!8 Nations> mais 11 ne Pen reconnaitre un deÏÏtoSZZ^^f'^ï ^ de hauteP°We internationale des rmssances, si dans lavemr, il serait institué par la Société des Nations ZrTt^T^r^ c°-mpétente de Juger' dans Ie cas