SPINOZ Ap ACOBS LESSING EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR UND PHILOSOPHIE ÏM 18, JAHRHUNDERT. T- C VAN STOCKUM- K0N,NKUJKIIII^ 2289 5343 SPINOZA - JACOBI - LESSING. SPINOZA - JACOBI - LESSING EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR UND PHILOSOPHIE IM 18. JAHRHUNDERT PROEFSCHRIFT TER VERKRIJGING VAN DEN GRAAD VAN DOCTOR IN DE WIJSBEGEERTE AAN DE RIJKSUNIVERSITEIT TE GRONINGEN, OP GEZAG VAN DEN RECTOR-MAGNIFICUS DR. J. VAN WAGENINGEN. HOOGLEERAAR IN DE FACULTEIT DER LETTEREN EN WIJSBEGEERTE, TEGEN DE BEDENKINGEN VAN DE FACULTEIT IN HET OPENBAAR TE VERDEDIGEN OP VRIJDAG 19 MEI 1916, DES NAMIDDAGS TE 4 UUR, DOOR THEODORUS CORNELIS VAN STOCKUM GEBOREN TE DORDRECHT. »»»»#****«**** P. NOORDHOFF. — 1916. — GRONINGEN. AAN MIJN VADER. AAN DE NAGEDACHTENIS MIJNER MOEDER. AAN MIJNE VROUW. Bij het verschijnen van dit proefschrift is het mij een aangename taak, U allen, mijne Heeren Hoogleeraren in de Faculteit der Letteren en Wijsbegeerte mijn hartelijken dank uit te spreken voor het onderwijs, dat ik van U mocht ontvangen. In de allereerste plaats geldt die dank U, Hooggeleerde Heymans, mijn Hooggeachte Promotor, die zoowel door Uw geheele persoonlijkheid als door Uw directe voorlichting mijn jongensachtig en dillettantisch interesse voor wijsgeerige problemen tot een ernstige en duurzame belangstelling voor deze wetenschap hebt weten te maken. In het bizonder ben ik U dankbaar voor de humane wijze, waarop gij mij in de gelegenheid hebt gesteld, mijn dubbele stadierichting voor dit werk vruchtbaar te maken. Niet minder echter is het mij een behoefte, U, Hooggeleerde Sijmons, op deze plaats mijn erkentelijkheid te betuigen, niet allereerst voor Uwe vele nuttige wenken ten behoeve van de redactie van dit boekje, maar vooral voor de zorgzame leiding mijner phüologische studie en voor de groote welwillendheid, die ik, ook na het beëindigen daarvan, steeds van U heb mogen ondervinden. EINLEITUNG. Enthielten Jacobis Schriften nur Mille persönliche Ueberzeugung, so würden wir keinen Grund haben. sie zur Philosophie zu rechnen. Jacobi gehört der Philosophie und ibrer Geschichte an durch seine Polemik. P. Harms. Ueber die Lehre von F. H. Jacobi. S. 2. Die im Jahre 1785 erschienene anonyme Schrift: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn markiert ein wichtiges Datum in der Geschichte des Spinozismus Wenn auch die haufig vorkommende Behauptung, Spinoza sei bis dahin in der philosophischen Welt und speziell in Deutschland fast völlig unbekannt gewesen, jetzt kaum noch einer Widerlegung bedarf 2), so ist doch nicht zu leugnen, dasz die Beschaftigung mit ihm seit dem Erscheinen seiner opera posthuma eine vorwiegend, ja mit einigen Ausnahmen3), eine ausschlieszlich polemische gewesen ist. Die Ursache davon ist einerseits zu suchen in der notwendig feindseligen Haltung der orthodoxen Theologie aller Konfessionen, ander erseits fallt für Deutschland et was andres ins 1) Vgl. Lévy Bruhl: La philosophie de Jacobi 144. Pollock: Spinoza. HiS Üfe and philosophy (1880) 393. Erhardt: die Philosophie des Spinoza im Lichte der Kritik 35 ff. 2) Erhardt: a. a. O. 9 ff. Grunwald: Spinoza in Deutschland 19—83. 3) u. a. Henri de Boulainvilliers in Réfutation des erreurs de Bénoït de Spinosa par M. de Fénelon, archevêque de Cambrai, par le P. Lami et par M. le comte de Boulainvilliers avec la vie de Spinosa écrite par M. Jean Colerus etc. 1713. Der Titel ist irreführend, der Aufsatz von Boulainvilliers ist nur scheinbar eine Bekampfung Spinozas, vgl. Pollock: a. a. O. 388. 1 2 Gewicht. Die deutsche Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts bis etwa 1780 wird in der Hauptsache durch Leibniz beherrscht, allerdings im letzten Teil dieser Periode mehr noch durch dessen Schüler Wolff und seine Anhanger. Und Leibniz, der sich in mancher Hinsicht als Ueberwinder des Spinozismus fühlte 1), hatte sich nicht nur zu wiederholten Malen die Widerlegung des Spinoza angelegen sein lassen, sondern sich auch in seinen öffentlichen Aeuszerungen recht ungünstig über diese Philosophie ausgelassen *). Es kommt noch hinzu, dasz das Werk, das Spinoza noch am meisten Recht widerfahren laszts), die Nouveaux essais sur Tenten' dement humain, obwohl schon 1704 geschrieben, erst im Jahre 1765 erschien und damals anfangs nur geringe Beachtung fand. Die deutsche Aufklarungsphilosophie hatte sich unter diesen Einflüssen daran gewöhnt, den Spinozismus als einen religiös anrüchigen, gefahrlichen, jetzt aber völlig über" wundenen und abgetanen Standpunkt zu betrachten und das gebildete Laienpublikum dachte nicht anders. Wie Lessing es schneidend ausdrückt: die Leute redeten von Spinoza wie von einem toten Hunde4). Das alles wird nun anders nach den Briefen über die Lehre des Spinoza. Damit soll nicht gesagt sein, dasz nicht auch schon etwas früher eine Spinoza-freundliche Strömung sich in Deutschland gekend gemacht hatte — ich brauche nur an Mendelssohn zu erinnern und dessen Philosophische 1) Vgl. L. Stein: Leibniz und Spinoza 232 f. 250. 2) Vgl. die Stellen bei Stein: a. a. O. 231, 233, 251. *) Nouveaux essais, Liv. I, Chap. 1, Liv. IV, Chap. 12 § 13, Liv. IV,. Chap. 16 § 4. >yC 4) F. H. Jacobi: Werke 1812—1825, IV1 68. Eine neue kritische Ausgabe wari s.hr erwünscht, vor allem damit Jacobis Romane wirklich gelesen werden könnten, wahrend man sich jetzt gewöhnlich sein Urteil aus irgend einer Literaturgeschichte bildet. Die- Spinozaschriften sind mit den gegenschriften Mendelssohns neu herausgegeben von F. Mauthner: Jacobis Spinozabüchlein, München, 1912. 3 Gesprache (1755)1), an Herder*), an Goethe8), vor allem auch an Lessing, dessen Spinozastudium sicher bis zum Jahre 1763 zurückreicht —■ allein die Anschauungen dieser Manner blieben entweder im Verborgenen oder wurden doch wenig beachtet und die wissenschaftliche Philosophie hat sich erst nach 1785 des Spinozismus bemachtigt. Ein naheres Eingehen auf diese neue Epoche in der Geschichte der Philosophie des Spinoza würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten: der Hinweis auf Fichte, Schelling, Schleiermacher, Auerbach in Deutschland, Cousin und Saisset in Frankreich möge hier ■genügen. Der Verfasser dieser epochemachenden Briefe, Friedrich Heinrich Jacobi, hatte mit seinem Werk wohl kaum in erster Linie diesen Umkehr in der Beurteilung Spinozas beabsichtigt. Der Zweck des Buches war vielmehr, zu beweisen, dasz Lessing, von dem wahrend seines Lebens wohl niemand dies vermutet hatte, ein Spinozist gewesen sei *), obwohl sich neben diesem Hauptzweck überall deutlich die Absicht zeigt, Front zu machen gegen die Aufklarungsphilosophie 5), und nicht weniger deutlich das Bestreben, die Philosophie des Spinoza zuverlëssig darzustellen und ihr gegenüber Stellung zu nehmen. Die vorliegende Arbeit wird sich nun mit dem Problem beschaftigen, inwiefern Jacobi der Nachweis von Lessings Spinozismus gelungen ist, andererseits aber auch Jacobis ') Vgl. die Rezension derselben in Lessings Werken (Lachmann-Muncker), Bd. 7, 13 f. 2) Werke (Suphan) V 225 f. 3) Dichtung und Wahrheit TH Buch 14 u. 16. In diesem Zusammenhang mag auch Hamann Erwahnung finden, obwohl dieser nicht eben Spinozafreundlich genannt werden kann, vgl. Jac. Werke I 384, IV3 19 u. 359. 4) Jacobi IV1 39. s) Vgl. Schmid: Friedrich Heinrich Jacobi. Eine Darstellung seiner Persönlichkeit und seiner Philosophie als Beitrag zu einer Geschichte des modernen Wertproblems 252. 4 Wiedergabe und Beurteilung der Lehre Spinozas kritisch darzustellen versuchen. Zwar hat es durchaus nicht an Versuchen gefehlt, die Frage nach Lessings Spinozismus zu lösen, und manche dieser Lösungsversuche sind mit erstaunlicher Sachkenntnis und groszem Scharfsinn unternommen worden allein die Resultate haben doch nie völlig befriedigen können. Das mag wohl zum Teil eine Folge des ziemlich dürftigen Materials sein: daraus nun aber den Schlusz zu ziehen, dasz die Frage überhaupt unlösbar ist, scheint mir doch in dieser schroffen Form verfehlt. Eine eingehende und genaue Darstellung von Jacobis Verhaltnis zum Spinozismus hat, soweit mir bekannt, bis jetzt niemand gegeben, obwohl Ansatze dazu in den gröszeren Jacobimonographien natürlich vorhanden sind 8). Zur Orientierung schicke ich ein kurzes Kapitel über Jacobi vor 1780 voran, suche dann sein Verhaltnis zum Spinozismus zu bestimmen, verfolge darauf seine Beziehungen zu Lessing sowie die Gründe seiner Behauptung, dasz dieser ein Spinozist gewesen sei, wahrend das letzte Kapitel klarzulegen versuchen soll, ob und in wiefern, dasjenige, was uns sonst von Lessing bekannt ist, Jacobis Behauptung bestatigt. *) Vor allem von Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, 1910, \T—174. 2) Am besten Levy Bruhl: a. a. O. 139—173. ERSTES KAPITEL. JACOBI VOR DEM GESPRACH MIT LESSING. Es kann hier nicht meine Absicht sein, eine fortlaufende Biographie des jungen Jacobi zu geben, um so weniger, da die Jacobiliteratur sich nirgends einer so schonen Einstimmigkeit erfreut als hier, wohl infolge der Einfachheit und des geringen Umfangs der auf uns gekommenen Nachrichten von seinem Leben. Für das Biographische verweise ich daher ein für allemal auf: E. Zirngiebl: F. H. Jacobis Leben, Dichten und Denken (1867) S. 1—87; Lévy Bruhl: a. a. O. S. 1 — 17; und Schmid: a. a. O. S. 1 —151). Ebensowenig aber werde ich versuchen, die Entwicklung seiner eignen Ansichten in dieser Periode zu analysieren, da eine solche Arbeit für den Zweck dieser Abhandlung doch nur einen sehr geringen Nutzen haben würde. Nur das Notwendigste wird hier also angedeutet werden, indem ich nur das anführe, was das Verstandnis der eigentlichen Untersuchung erleichtern kann. Jacobi wurde 1743 zu Düsseldorf geboren und von seinem Vater für den Handelsstand bestimmt. Zur Ausbildung brachte er die Jahre 1759 bis 1762 in Genf zu, wo er, bei genügender Musze, sich frei seinen philosophischen Neigungen überlassen ') Neben den gröszeren Arbeiten moge hier noch die Dissertation von H. Isenberg: Der Einflusz der Philosophie Charles Bonnets auf F. H. Jacobi. Borna-Leipzig 1906, 1 —11 und 31—50 erwahnt werden. 6 konnte. Von Bedeutung war dieser Aufenthalt für ihn vor allem deshalb, weil er die Wissenschaft hier in Hauptsache unter der Form des Materialismus kennen lernte, wodurch sein spaterer Begriff der Wissenschaft ein für allemal bestimmt wurde l). Bald nach seiner Rückkehr lernte er die gekrönte Preisschrift Mendelssohns: Ueber die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften kennen, die ihn wenig befriedigte. Um so mehr fühlte er sich von Kants Abhandlung: Ueber die Deutlichkeit der Grundsatze der natürlichen Theologie und Moral angezogen, wohl vor allem weil der methodische Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie hier so deutlich ausgesprochen war. Wie er dann von Mendelssohn auf Leibniz, von diesem auf Spinoza und schlieszlich wieder auf Kant kam, hat er uns selbst, schlicht und behaglich, erzahlt8). Aus den Jahren 1763/64 datiert also seine erste Bekanntschaft mit Spinoza, denn, dasz er dessen Principia philosophiae Cartesianae damals schon kannte s), hat natürlich wenig zu sagen. Von dieser Bekanntschaft bis zur ersten literarischen Erwahnung Spinozas verlauft noch eine geraume Zeit, denn Jacobi ist erst spat mit seinen Gedanken in die Oeffentlichkeit getreten. Im Jahre 1773 finden wir in einer Rezension eines kulturgeschichtlichen Werkes 4) die Notiz: „Unstreitig ist Spinoza unter allen Anhangern des Atheismus derjenige, der über falsche Grundsatze am besten raisonniert hat." Diese Aeuzerung ist charakteristisch für Jacobis Verhaltnis zu Spinoza, sowohl der Atheismus als die logische Vollkommenheit. M Ziragiebl: a. a. O. 6 f. und 44. 2) Jac: II 187 ff., vgl. Zirngiebl: a. a. O. 9., Levy Bruhl: a. a. O. 142 f., Isenberg: a. a. O. 32 f. 3) Jac: II 187. *) Briefe über die Recherches philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois par M. de Pauw. Werke VI, 301. 7 Seitdem finden wir in seinen Werken immer wieder Erwahnungen Spinozas, auch wohl versteckte Zitate oder Polemik gegen denselben. Ich hebe nur das Wichtigste und Sicherste heraus, unter Ausschüessung alles Politischen, das ich zusammeühangend behandeln möchte. In einem spatestens 1779 geschriebenen Teil des Woldemar1) finden wir den Satz: „Begierde kann nur durch Begierde. Leidenschaft nur durch Leidenschaft überwunden werden"; der stark erinnert an Ethica IV, prop. 7: „affectus coërceri nee tolli potest, nisi per affectum contrarium et fortiorem affectu coèrcendo". In einem politischen Aufsatz aus dem Jahre 1782 *) weist Jacobi darauf hin, dasz die aus dem Antrieb der Vernunft handelnden Menschen immer einig und einander nützlich sein müssen, hie und da in wörtlicher Uebereinstimmung mit Eth. IV, prop. 34 und 35 8). Solche wörtliche Uebereinstimmungen finden sich auch sonst in dem Aufsatz, so, sehr auffallig. Jacobis Definition der Freiheit*): „frei im allerhöchsten Grade, ware der, der zu seinen Handlungen durch sich selbst allein bestimmt würde"; vgl. Spinoza: Eth. L def. 7: „ea res libera dieëtur, quae ex sola suae naturae necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur". Und ebenso: „auf jene absolute Weise frei ist Gott der Einzige allein" vgl. Eth. I. prop. 17, cor. 2: „solum deum causam esse liberam". Ich führe diese Stellen nur als Beweise für Jacobis Beschaftigung mit Spinoza an, !) Werke V, 170. Jacobi hat zwei Romane geschrieben: Allwills Briefsammlung und Woldemar (ich gebe die Titel der letzten Ausgabe); vgl. darüber: Zirngiebl: a. a. O. 17 ff., Lévy Bruhl: a. a. O. 10 ff.. Schaad: a. a. O. 237 ff., Isenberg: a. a. O. 42 ff., Frank: F. H. Jacobis Lehre vom Glauben, Halle 1910 (Dissertation), 20 ff. 2) Etwas das Lessing gesagt hat, Werke II 345 f. 3) Diese Lehrsatze Spinozas bilden schon den Uebergang zur Politik. Es ist bemerkenswert, wie nahe Jacobi den politischen Auffassungen Spinozas steht, vgl. unten S. 8 ff. *) Werke II 364. 8 nicht für eine, nicht vorhandene, tiefer gehende Uebereinstimmung, denn auch in den Spinozabriefen, wo er doch deutlich genug seinen Gegensatz zu Spinoza ausspricht, definiert er einmal, ganz unberechtigt, sein eignes Erkenntnisprinzip mit den Worten „die unmittelbare Gewiszheit, die einzig und allein die mit dem vorgestellten Dinge übereinstimmende Vorstellung selbst ist," in wörtlicher Anlehnung an Eth. I, ax. 6: „idea vera debet cum suo ideato convenire." Wichtiger sind die Uebereinstimmungen in den politischen Ansichten der beiden Denker. Zwar bekampft Jacobi die Grondlagen von Spinozas Politik, dasz namlich das Naturrecht sich so weit erstreckt als die Naturmacht *), auch hier wieder mit Anerkennung der Konsequenz in der Lehre Spinozas *), aber sein eignes Staatsideal stimmt im Gronde ganz mit dem spinozistischen überein, man beachte nur die Stellen bei Jacobi: „so hat sie (d. h. die Obrigkeit) dagegen auch die Pflicht, die übrigen Menschen bei ihrem Eigen tum zu schützen: darom weil sie uns Schutz und Sich erheit schuldig ist, sind wir ihr Gehorsam und Abgaben schuldig" 4), „Unverletzliches Eigentum der Person und freier Genusz des Seinigen" 5). „die Gesellschaft also in so ferne sie aus auszerÜcher Form beruht und eine Maschine des Zwanges ist, hat zu ihrem Gegenstande einzig und allein Beschirmung"8). J) Werke IV1 210. 2) Tract theolog.-pol. Cap. 16. Opera ed. van Vloten et Land, editio tertia (1913) II 258: jus naturae eo usque se extendere, quo usque ejus potentia se extendit. Tract. pol. Cap. II § 4. Op. II 6: per jus itaque naturae intelligo ipsas naturae leges seu regulas, secundum quas omnia fiunt, hoe est ipsam naturae potentiam. Vgl. Jacobi: VI 434, 439 ff. ») Werke VI, 439. Ueber Recht und Gewalt, 1781. Ueber die Veranlassung dieser gegen Wieland gerichteten Schrift vgl. Zirngiebl: a. a. O. 13 ff., 32 f., Schmid: a. a. O. 7. 4) Werke VI 367 (1779). 6) Werke VI 463 f. (1781). 6) Werke II 346 (1782). 9 „Sicherheit des Eigentums — unverletzliche durchgangige Gerechtigkeit ohne irgend einen Zwang zu irgend einem andern Ende" 1). „Dieses aber kann erzwungen werden unter den Menschen, dasz keiner Gewalt zu leiden habe von den andern; und es ist das Einzige, das gewissen allgemeinen Vorteil bringt"2). „denn hier würde nichts verhindert mit Gewalf, als nur, was das Eigentum verletzte"8). „Tugend und Religion sind die Sachen des Menschen und nicht des Bürgers, sie sind die allgemeinen und ewigen Triebfedern im Reiche der Geister, zu edel und zu erhaben um nur Raderwerk in einer Maschine zu verganglichen Zwecken vorzustellen" *). „Der wahre Gegenstand der Staatsgesetze ist die Vereinigung zu einem Ganzen, und für die Glieder desselben Sicherheit und Freiheit zu bewirken" 6). „Ein gröszerer Unsinn laszt sich nicht erfaseln als die vollkomne Pflicht der Aufopferung von Seiten eines oder mehrerer Teile für das Ganze"8). Daneben die Satze Spinozas: „Verum enim vero, quanto sit hominibus utilius secundum leges et certa nostrae Rationis dictamina vivere, quae, uti diximus non nisi verum hominum utile intendunt, nemo potest dubitare"7). „Nam nemo unquam suam potentiam et consequenter neque suum jus, ita in alium transferre poterit, ut homo esse desinat" 8). „Sed hoe, ut jam in initio Cap. 17. notavimus, fieri nequit, ut scilicet animus alterius furis absolute sit, quippe nemo jus suum naturale, sive facultatem suam libere ratiocinandi et de rebus quibus- !) Werke II 347. J) Werke II 373 f. 3) Werke II 387. *) Werke II 427 (1783). 6) Werke II 434. 8) Werke II 435. 7) Tract. theoL-pol., Cap. 16, Op. II 260. 8) Tract. theol.-pol., Cap. 17, Op. II, 269, vgl. den ganzen Anfang des 17ten Kapitels. 10 cunque judicandi, in alium transferre, neque ad id cogi potcst. Hinc ergo fit, ut illud imperium violentum habeatur, quod in animos est, et ut summa majestas injuriam subditis facere, eorumque jus usurpare videatur, quando unicuique praescribere vult, quid tanquam verum amplecti, et tanquam falsum rejicere et quibus porro opinionibus uniuscujusque animus erga Deum devotione moveri debeat; haec enim uniuscujusque jusis stut, quo nemo, etsi velit, cedere potest" 1). „Ut igitur homines concorditér vivere et sibi auxilio esse possint, necesse est, ut jure suo naturali cedant, et se invicem securos reddant, se nihil acturos, quod possit in alterius damnum cedere" *). „Quantum ad Pöüticam spectat, discrimen inter me et Hobbesium, de quo interrogas, in hoe consistit, quod ego naturale Jus semper sartum tectum conservo" *). „Nee ad imperii securitatem refert, quo animo homines inducantur ad res recte administrandum, modo res recte administrentur; animi enim libertas, seu fortitudo, privata virtus est, at imperii virtus securitas" é). „Homo namque tam in statu naturali quam civili ex legibus suae naturae agit suaeque utihtati consulit" 6). Diese weitgehende Uebereinstimmung kann im vorliegenden Fall doch wohl kaum anders denn als Abhangigkeit Jacobis von Spinoza gedeutet werden6), und das kann auch gar nicht wunder nehmen, denn wir können bei Jacobi immer wieder die Tatsache beobachten, dasz er überall da, wo es sich nicht urn die tiefsten Fragen der Weltanschauung handelt, x) Tract theol.-pol., Cap. 20, Op. II 305, vgl. den ganzen Anfang des 20sten Kapitels. 2) Eth. IV prop. 37, schol. 2. 3) Ep. 50, op. III, 172. 4) Tract. pol. Cap. I, § 6, op. II 5. 8) Tract. pol. Cap. III, § 3, op. ü 14. e) Levy Bruhl: a. a. O. 127. Allerdings ist dies die für das 18te Jahrhundert überhaupt charakteristische Auffassung vom Staat, die in Lessing und Kant, Wilhelm von Humboldt und weiterhin auch in Schopenhauer ihre Vertreter findet. 11 sich der Lehre Spinozas gegenüber sehr nachgiebig zeigt. *) Seine philosophischen Studiën wahrend dieser Zeit beschranken sich freilich nicht auf den einzigen Spinoza, auch die klassische Philosopie tritt in den Kreis seines Interesses und bildet einen Niederschlag in seinen Werken: Pythagoras *), Sokrates s), die Stoa4), Zenon ?), Seneca6), Aristoteles 7), vor allem Platon.8) Von den neueren Philosophen erwahne ich: Hobbes 9), Montaigne10), Fénelon "), Berkeley18), Locke18), Leibniz J4), Hume 16), Ferguson 18) (mit deutlicher Vorliebe), Reid17),Helvetius18), d'Alembert19). Voltaire20), Montesquieu"). Rousseau88), Kant88). Lessing findet in den Werken vor 1782 nur einmal Erwahnung: diese Stelle84) möchte ich aber lieber in anderem Zusammenhang besprechen, wo ich auch die persönliche Bekanntschaft der beiden nachholen will. Natürlich musz man, wie für jeden literarisch interessierten Deut- x) In diesem Zusammenhang mag auch auf das merkwürdig übereinstimmende Urteil der beiden Denker über Macchiavelli hingewiesen werden. Man vergleiche Spinoza: tract. pol., Cap. 3. Op. II 24, mit Jacobi II 375 f, 384 f und der ganz anders gemeinten Würdigung Macchiavellis bei Klinger: Kürschners National-litteratur, Stürmer und Dranger I 260 f. 2) Werke V 115, V Anhang 17. 3) I HO ff. 4) I 185 ff., V 214 ff. ' ») V Anhang 17. «) V 152. 7) V 76, 78, 420 ff, 433 ff, 449 ff., VI 421, 424*, 458*. II 440, 449. 8) I 113, 133, 140 ft, 226, 240, 243, 247 ff., V 116 f., 187* 203, 433, VI 459*, n 370* 381. 9) V 96, II 342, 345 f., 384, 386, 449 ff. 10) I 155 ff., 221 f., 257, V 206, 446 f. ") I 173, V 482. ,2) I 115 ff. »8) I 233 ff. u) VI 436, D 325, 449 ff. ") VI 332, V 74. le) V 68 ff, 77 ft. 167*, II 353 ft, 361 f. i7) V 71. 18) V 71, 177. "») n 447. *») II 388, 419. 21) II 357*, VI 463* II 407, II 432 ft, 436, 444 ff. 22) VI 343, V 71 ff., 167 ff., 127 ft, 206, VI 447. &)x I 116 ft, 188 ft, 252, V 188 ft 24f VI 325. 12 schen der damaligen Zeit, auch für Jacobi eine verhaltnismaszig genaue Kenntnis der Lessingschen Schriften voraussetzen, wogegen das Fehlen von Belegstellen wenig beweist1). Es bliebe also noch übrig, die Gründe darzulegen, die Jacobi dazu bestimmt haben, mit den Resultaten seiner persönlichen Bekanntschaft mit Lessing in die Oeffentlichkèit zu treten2). AUerdings überschreiten wir, wie schon öfter in den Zitaten aus den Werken, die Jahreszahl 1780, gewinnen aber damit einen angemessenen Uebergang zum nachsten Kapitel. Jacobi selbst, der die Dokumente mit lobenswerter Genauigkeit der Vergessenheit entzogen hat, ist dabei unser zuverlassigster Führer. Am 25 Marz 1783 schreibt Elise Reimarus, Lessings und seit Juli 1780 auch Jacobis Freundin8), dem letzteren, Mendelssohn beabsichtige eine Charakteristik Lessings zu schreiben4). Am 21 Juli 1783 deutet Jacobi ihr an. Lessing sei ein Spinozist gewesen und sie moge dies Mendelssohn nach Gutdünken mitteilen oder verschweigen 5). Dabei laszt er es, wohl aus Höflichkeit6), dahingestellt, ob nicht auch Mendelssohn dies schon bekannt sei, obwohl er vom Gegenteil auf gute Gründe hin überzeugt ist 7). Am 1 September 1783 vermittelt Elise Reimarus Mendelssohns Antwort8). Er ') Auch Bonnet, der nachweislich — man sehe die oben zitierte Dissertation von Isenberg — einen groszen Einflusz auf Jacobi ausgeübt hat, wird bis 1784 mit kelner Silbe erwahnt. 2) Man vergleiche zum Folgenden: Zirngiebl: a. a. O. 49 ff., 58 ff., Lévy-Bruhl: a. a. O. 139 ft, Schmid: a. a. O. 11 ff. 3) Jacobi I 341, Lessing 21. 302. 4) Jac. IV1 38*. 6) Jac. IV1 39*. 0) Jac. IV1 43*. 7) Jac. IV1 42. Zirngiebl: a. a. O. 58, laszt Jacobi etwas andres schreiben, als wirklich der Fall ist. 8) Jac. IV1 43 ff., Schmids Charakteristik dieser Antwort: a. a. O. 11 ist völlig verfehlt, von einer notgedrungenen Höflichkeit ist wenig zu bemerken. Man vergleiche auszerdem noch die spatere Antwort Mendelssohns. Jac. IV1, 95 ff. 13 stellt darin einige Fragen über die Art von Lessings Spinozismus, die mit erschreckender Deutlichkeit die eigne Unkenntnis verraten, was hier kurz begründet sein mag. Erstens will er wissen, ob Lessing sich zu Spinozas System im Tractatus theologico-politicus bekannt habe. Er weisz also nicht, dasz die philosophischen Anschauungen dieses Traktats, allerdings in starker Akkommodation an die Sprache und Denkweise der Theologie, durchgangig mit dem in der Ethik und den Briefen vertretenen Standpunkt übereinstimmen. Dies hier eingehend zu begründen, würde zu weit führen, nur einige Parallelen mögen eine Stelle finden. Man vergleiche: tract. theol.-pol. cap. 3 l), mit Eth. II prop. 3, schol, ep. 19, op. III 63 und 67, und ep. 23 *) (Gottes Ratschlüsse = die Naturgesetze); tract. cap. 6 f, mit ep. 73, op. III 225, und Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelfs Welstand, eerste zamenspreeking, op. IV 17, auch ep. 71 (Gott = Natur); op. II 106s), mit op. I 70; op II 136 4), mit Eth. IV prop. 26; 28; op. II 136, mit Eth. I prop. 15; op. II 160 6), mit op. I 70; op. II 258 6), mit Eth, III prop. 6. Auch Jacobi halt die Frage für unzulassig und weist sie energisch zurück 7). An zweiter Stelle fragt Mendelssohn, ob Lessing vielleicht den Spinozismus im Sinne der Principia philosophiae Cartesianae aufgefaszt habe. Es ist fast unglaublich, dasz Mendelssohn so etwas gefragt haben sollte, ich möchte aber doch auch der Elise Reimarus eine solche Ungeheuerlichkeit nicht zuschreiben. Schon die praefatio dieses Werkes, op. IV 107, spricht deutlich aus, dasz wir es hier nicht mit den eigenen Ansichten des Spinoza zu tun haben, und das wird ') Op. II, 123: leges Naturae universales, — nihil esse nisi Dei aeterna decreta. 2) Op. III, 100. 8) Tract theol.-poL, Cap. 1. *) Daselbst, Cap. 4. ' 6) Daselbst, Cap. 6. 6) Daselbst, Cap. 16. *) Jac. IV1, 92. 14 bestatigt durch dié auch von Jacobi *) zitierten ep. 13, op. III 44, und ep. 21, op. III 88. Man fragt sich mit Recht, wie ein Mann mit solcher geringen Sachkenntnis sich in eine derartige Streitfrage gewagt hat. Sogar das Motiv der Freundschaft für Lessing und die Eifersucht auf Jacobis vertraulichen Umgang mit demselben reicht nicht zur Erklarung aus. Aber die geringe Spinozakenntnis Mendelssohns ist nicht so schlimm, als diese Fragen vermuten lassen, wie das deutlich aus seinen weiteren Aeuszerungen hervorgeht, nur ist das Detail furchtbar vernachlassigt. Er beherrscht Spinoza nicht mehr, wenn er das je getan hat, seine Werke, die der krankliche Mann in letzter Zeit wohl nicht Gelegenheit gehabt hat von neuem zu studieren, fangen an aus seinem Gedachtnis zu schwinden, der Gesamteindruck aber haftet und ist im groszen und ganzen gar nicht so unrichtig *). Jacobi aber hat ihn übérrumpelt und im ersten Eifer gibt er sich diese üble Blösze. Auch die Art und Weise wie er von den opera posthuma redet, obzwar ungenau, verdient kaum Jacobis scharfe Rüge s). Und gar nicht so dumm ist die vierte Frage, ob Lessing vielleicht die, allerdings falsche, Auffassung Spinozas geteilt habe, wie sie von Bayle vertreten worden sei4), wenn auch Jacobi sie ziemlich schroff zurückweist °). Die Frage selbst geht uns hier nicht an, interessant ist aber die Tatsache, dasz Lessing allerdings nach Kloses sehr zuverlassigem Bericht 6) Bayles Auffassung des Spinoza verworfen hat. Dasz Mendelssohn aber nicht der Mann ist von dem wir uns eine Lessingdarstellung wünschen mochten, beweist die *) Jac. IV1, 91*. 2) Lévy-Bruhl: a. a. O. 169. 3) Werke IV1 92. 4) Werke IV1 44. ) Werke IV1 92 f. 6) G. E. Lessings Leben nebst seinem noch Qbrigen literarischen Nachlasz von K. G. Lessing 1793/95, Band I, 246. 15 Rede, die er ihm in den Mund legtund die Jacobi trocken genug abweist2). Den Plan zu dieser Charakteristik halt er aber mit bemerkenswerten Gründen fest3). Am 4 November 1783 gibt Jacobi ihm den verlang ten Aufschlusz, an dessen guter Aufnahme er nicht ohne Gr und zweifeit 4). Er teilt ihm seine Unterredungen mit Lessing mit6) und beantwortet seine Fragen in etwas berber, wenn auch nicht direkt unfreundlicher Weise. Mendelssohn halt auch nach dieser Aufklarung an seinem Plan fest, Kranklichkeit aber verhindert ihn vorlaufig an jeder Arbeit. Bereitwilligst gesteht er ein, dasz er Jacobi unterschatzt habeEine direkte Antwort bleibt vorlaufig aus; auch Jacobi, von schwerem hauslichem Unheil betroffen 7), schweigt, bis ihm am 5 Juli 1784 Elise Reimarus meldet, dasz Mendelssohn seinen Plan geandert habe und eine Schrift gegen den Spinozismus vorbereite8). Das bestatigt ihm ein Brief Mendelssohns vom 1 August 1784 9), der auszerdem dessen Bedenken gegen Jacobis Darstellung enthalt. Soweit der Inhalt sich auf Lessing oder Spinoza bezieht, wird er an anderer Stelle zur Sprache kommen, obwohl ich schon hier bemerken möchte, dasz sein polemischer Wert sehr gering ist. Sonst ist am merkwürdigsten das ganz naiv ausgesprochene Credo der *) Jac. IV1 44: „Lieber Bruder! der sosehr verschrieene Spinoza mag wohl in manchen Stücken weiter gesehen haben, als alle die Schreier, die an ihm zu Helden geworden sind; in seiner Ethik insbesondere sind vortreffliche Sachen enthalten, vielleicht bessere Sachen, als in mancher orthodoxen Moral, oder in manchem Compendio der Weltweisheit; sein System ist so ungereimt nicht, als man glaubt". 2) Jac. IV1 93: „Die Anrede: „Lieber Bruder, der so sehr verschrieene Spinoza mag wohl, u. s. w." ist von Lessing nicht an mich gehalten worden". s) Jac. IV1 45. *) Jac. IV1 47. 5) Jac. IV1 47-90. 6) Jac. IV1 95 ff. 7) Er verlor 1784 seine Frau und einen elfjahrigen Sohn. 8) Jac. IV1 99*. 9) Jac. IV1 101-119. 16 Aufklarung '): „Was ich als wahr nicht denken kann, macht mich als Zweifel nicht unruhig", das vor allem deshalb wichtig ist, weil an diese Stelle Kants kleine Abhandlung: Was heiszt sich im Denken orientieren? angeknüpft hat. Nicht ganz ehrlich ist der Jacobi gemachte Vorwurf *), er habe sich unter die Fahne des Christentums geflüchtet, erklarlich freilich aus der falschen Auffassung des Terminus „Glauben" bei Jacobi, der allerdings irreführend ist8). Jacobis Antwort erfolgt am 5 September 17844). Vorlaufig schickt er Mendelssohn eine Abschrift' eines Briefes an Hemsterhuis und verspricht nach genauerer Lektüre seiner Bedenken eine weitere schriftliche Auseinandersetzung. Der Ton des Begleitschreibens ist noch höflich, laszt aber, vor allem gegen das Ende hin, eine gewisse Gereiztheit nicht verkennen. Der französisch geschriebene Brief an Hemsterhuis enthalt eine mehr oder weniger konfuse Darstellung der Lehre Spinozas, die unten in Betracht gezogen werden soll. Damit ruht die Sache bis zum Februar 1785, wo Jacobi wiederum durch VermitÜung der Elise Reimarus einen Brief von Mendelssohn an sie erhalt, worin er bittet von Jacobis Briefen an ihn für seine Schrift gegen den Spinozismus Gebrauch machen zu dürfen °). Dieser gibt ihm dazu die Erlaubnis und erfüllt am 26 April 1785 sein Versprechen, indem er ausführlich auf Mendelssohns Bedenken antwortet6). Er rückt diesem gleich Anfangs seine geringen Spinozakenntnisse vor, und gibt, da speziell der Inhalt des Spinozismus in ihrer Kontrover se fraglich zu sein scheint, eine Darstellung desselben in 44 Paragraphen7), der er eine Erlauterung einer strittigen Stelle hinzufügt. Im letzten Teil ») Jac. IV1 109 f. 2) Jac. IV 115 f. 8) Jac. IV1 81. Ueber die Bedeutung des Wortes „Glaube" bei Jacobi, vergleiche die oben zitierte Dissertation von Frank. 4) Jac. IV1 120-162. 5) Jac IV' 163 ff. 6) Jac. IV1 166—214. 7) Jac. IV1 172—205. 17 der Schrift beantwortet er Mendelssohns hamische Bemerkung über seinen Rückzug unter die Fahne des Glaubens mit einer kurzen Darlegung seines allerpersönlichsten Glaubensbekenntnisses J). Am 26 Mai 1785 erfahrt er, dasz Mendelssohn beabsichtige den ersten Teü seiner Schrift drucken zu lassen *). Der Entschlusz, selbst zur Publikation überzugehen, kündigt sich leise 1 an l). Dazu stellt er noch einmal seine Gedanken über Spinoza zusammen4). Dieses fortwahrende Hinundherwenden desselben Stoffes berührt etwas peinlich und erweckt kein sehr günstiges Vorurteil für die gedankliche Klarheit des Philosophen. Schon am 2 Juni 1785 hatte ihm Hamann den Namen von Mendelssohns Schrift mitgeteilt 6). Am 29. desselben Monats meldet ihm dieser, dasz der erste Teil der „MorgenVstunden" die Presse schon verlassen habe6). Bald (21 Juü 1785) folgt die teilweise Bestatigung von seiten Mendelssohns: die Schrift wird nachste Messe erscheinen und er hofft dadurch den „statum controversiae" 7) ein für allemal festzusetzen. Merkwürdig genug geht dem unmittelbar die Aeuszerung voran, er verstehe nicht blosz Jacobi, sondern auch Spinoza, an vielen Stellen nicht 8)r- Da reiszt Jacobi die Geduld, er kann es nicht dulden, dermaszen in die Defensive gedrangt zu werden und entschlieszt sich zur Publikation *). Er fügt noch eine letzte Darstellung seiner eignen Ueberzeugung hinzu 10) und .— 4 September 1785 sind die Briefe über die Lehre des Spinoza gedruckt u). >) Jac. IV1 210 ff., vgl. dazu Lévy-Bruhl: a. a. O. 104 f.: Frank: a. O. 58 ff.; Schmid: a. a. O. 148 ff. *) Jac. IV1 215. ») Jac. IV1 216. *) Jac. IV1 216—224. 6) 'Jac. IV3 53 f. 6) Jac. TV3 63. '*) Jac. IV» 225. *) Daselbst 9) Jac. IV1 226 f. °) Jac. VI' 228 f. ") Jac. IV3 76 f. 18 Bald darauf erscheinen auch Mendelssohns Morgenstonden 1), und im Jahre 1786 als Antwort auf Jacobis Spinozabriefe, schon nach Mendelssohns Tod, die Schrift: An die Freunde Lessings. Noch im selben Jahre antwortet Jacobi, wahrend schon mehrere sich in den Streit gemischt haben, mit der Abhandlung: Wider Mendelssohns Beschuldigungen in dessen Schreiben an die Freunde Lessings *), die hauptsachlich eine Rechtfertigung des vorigen Schrift enthalt, sachlich aber recht wenig Neues bietet. Die schon in den Spinozabriefen hervorgetretene Neigung, sich Kant zum Bundesgenossen zu machen, kommt hier deutlich zum Ausdruck8); allerdings hat Jacobi damit nicht den erwünschten Erfolg erzielt, denn Kants kleine Abhandlung: Was heiszt sich im Denken orientieren? kann kaum als ein solcher betrachtet werden. „Wie aus groszer Ferne und Höhe spricht Kants ernste und feste Stimme beschwichtigend ein — er fürchtet Gefahren für das kostbarste der Güter, die Freiheit des Denkens" *). ') Jac IV3 86. Unbegreiflich bleibt mir Schmids Aeuszerung: a. a. O. 12: „Mendelssohn veröffenüiche in der Rolle des Anklagers einen Teil seiner Korrespondenz mit Jacobi", u. s. w. Auf die Morgenstonden paszt diese Charakteristik gar nicht, ebensowenig aber auf die posthume Schrift: Aii die Freunde Lessings (1786); vgl. auch Zirngiebl: a. a. O. 64, der Jacobi genau denselben Vorwurf macht. 2) Jac. IV2 171 ff. ") Jac IV2 255 f. 4) Kühnemann, Herder2 (1912), 440- ZWEITES KAPITEL. JACOBI UND SPINOZA. Nachdem wir im Vorhergehenden gesehen haben, was Jacobi veranlaszt hat, mit seinen Ansichten über Spinoza öffentlich hervorzutreten, wird dieses Kapitel der Frage gewidmet sein, was für ihn der Begriff Spinozismus bedeutet und welche Kritik er an diesem philosophischen System geübt hat. Seine eigenen positiven Ausführungen zur Darlegung seiner philosophischen Lieberzeugung will ich dabei so viel wie möglich unberücksichtigt lassen, hie und da freilich wird ein naheres Eingehen darauf unumganglich sein. Jacobi selbst hat uns durch die Art der Darstellung eine Rekonstruktion seiner Ansichten nicht leicht gemacht, sie liegen in verschiedenen Schichten von ungleichem Umfang und noch ungleicherem Wert vor. Die erst in zweiter Auflage hinzugekommenen Satze unter dem Titel: Der Mensch hat keine Freiheit1), sind sehr blasz und unbedeutend und scheiden für unsern Zweck aus. Dann folgt im Gesprach mit Lessing eine natürlich mehr oder weniger fragmentarische Wiedergabe des Systems2), unsre nachste Quelle ist die „Copie d'une lettre a Mr. Hemsterhuys a la Haye" s), die verhaltnismaszig klarste und ergiebigste Darstellung bilden die 44 Paragraphen, die Jacobi am 26 April 1785 Mendelssohn schickt 4). Wenig Neues bieten dem gegenüber die wenigen l) Jac. IV1 17-24 (1789). ■) Jac. IV' 123—162. *) Jac. IV1 54-94. 4) Jac. IV1 172-205. 20 zur Selbstverstandigung niedergeschriebenen Satze IV1 216— 223, wahrend von den Beilagen aus dem Jahre 1789 eigentlich nur die siebente *) in Betracht kommt. Bei diesem Zustand des Materials scheint es mir Empfehlung zu verdienen, nicht die verschiedenen Gedankenkomplexe gesondert zu analysieren, sondern zu versuchen, die Hauptgedanken aus dem vielen Beiwerk gleichsam herauszuschalen und in systematischer Form vorzuführen. Jacobi hat in seiner Darstellung seine Satze bisweilen aus Spinozas Werken belegt, allerdings ohne systematische Befolgung dieses Prinzips; hier ist überall versucht worden, die entsprechenden Spinozastellen anzuführen, wobei ich aber nicht überall andeute, ob die Parallele schon bei Jacobi vorhanden ist oder mir gehort *). In der Anordnung der einzelnen Momente der Lehre weiche ich natürlich von Jacobis zum Teil dialogischem Vortrag vielfach ab. Der Grund alles Seienden bei Spinoza, die Substanz, hat zwei Attribute (= Eigenschaften, sieh unten), die absolute Ausdehnung und das absolute Denken (absoluta cogitatio) *). Sie hat nur diese beiden Attribute4). Aber diese Substanz oder Gott ist kein Einzelding 6) und ihr kommt keine besondere Ausdehnung und kein besonderes Denken zu 6). Daher ») Jac. IV2 97 ff. namentlich 114 f. 2) Die Zitate aus: 'Korte Verhandeling etc. rühren natürlich nicht von Jacobi her, da diese Abhandlung erst im 19ten Jahrhundert aufgefunden worden ist. Vgl. dafür Pollock: a. a. O. 89 ff.; Kuno Fischer: Geschichte der neueren Philosophie 8, II, 221 ff. *) Jac. IV1 127, 183, 203 f., 191 f.; Spin. Eth. I. prop. 21, dem. Anfang; I prop. 31, dem. Anfang. Zur Erlauterung der absoluta cogitatio beruft Jacobi sich auf Kant Kruik der reinen Vernunft (ed. Kehrbach) 121, (transzendentale Apperzeption, das „Bewusztsein überhaupt" der neueren Erkentnistheorie.) 4) Jac. TV' 188*, für die Begründung dieses Satzes sieh weiter unten. B) Jac. IV1 181, 203 f.; Spin. Cog. met VI, op IV, 199; ep. 50, op IH, 173; ep. 6, op. III, 25; Eth- I, def. 6; prop. 10, schol. «) Jac IV1 182; Spin. Eth. I, prop. 17, schol, op I, 53; I, prop. 31. 21 musz ihr auch Wille und Verstand abgesprochen werden l) und infolgedessen ist es nicht erlaubt uns von ihr eine Vorstellung zu machen, als handle sie wie wir Menschen nach Absichten'), sondern sie ist in ihrem Dasein völlig causal determiniert. Ebensowenig aber kann man sagen, dasz sie unter dem Gesichtspunkte des Guten handle8). Sie ist die immanente nicht transzendente Ursache des Weltalls *), hat auszer den Einzeldingen kein besonderes Dasein; andererseits ist sie doch ein Ganzes, dessen Teile nur in und nach ihm gedacht werden können 6). Neben den zwei schon genannten Attributen, schreibt Spinoza seiner Substanz noch unendlich viele andre zu (inflnita attributa Eth. I def. 6); diese verhalten sich aber alle in derselben Weise zum Denken als die Ausdehnung, d. h. sie stehen zum Denken im Verhaltnis des Körpers zum Geiste6). Es ist aber sehr fraglich, ob nicht Spinoza blosz aus logischem Zwange diese infinita attributa aufgestellt hat. Halt man aber an denselben fest, so enthalt jedes Einzelding auch alle andern Attribute7). »J Jac. rVl 57, 137 ff.; Spin. Eth. I, prop. 17, schol; prop. 31. 2) Jac. IV1 58, 146; Spin. Eth. I, prop. 33, schol. 2; I, app.; II, prop. 3, schol; ep. 23, op. III, 99 f. hollandisch 103; ep. 56, op. III. 190. ») Jac. IV1 66, 146; Spin. Eth. I, prop. 33, schol. 2; UI, prop. 9, schol; IV, praef. *) Jac. IV1 56; Spin. ep. 73; Eth. I, prop. 14, 15, 18; Korte Verh, Zamenspr. I, op. IV, 17; Cog. Met II, 10, op. IV, 221. ') Jac. IV1 62, 176, zur Erlauterung beruft Jacobi sich auf Kants Lehre von Raum und Zeit: Kritik d. r. Vernunft (Kehrbach), 52, 59. Vgl. auch Windelbands hübsche mathematische Illustration (nicht Erklarung!) a. a. O. I, 217, f. 6) Jac. IV1 188*; Spin. Eth. II, prop. 12, 13, gebraucht für.dieses Verhaltnis das Wort objectum. 7) Jac. IV1 189*. Jacobi deutet an, Spinoza habe sich über diese Frage nicht auszern wollen. Aus welchem Motive wohl? Vgl. Eth. D, prop. 45, 46, 47; Briefwechsel mit Tschirnhaus, c.q., Schuller: ep. 63—66. Ep. 63 war in den opera posthuma sehr verstümmelt abgedruckt, daher spricht Jacobi von einem „scharfsinnigen Mann in London (leider für uns ein Unbekannter)", wahrend jetzt op. III, 24, der Name Tschirnhaus steht 22 Das Verhaltnis der Einzeldinge zur Substanz, das man sich durchaus nicht als zeitlichen Akt vorstellen darf1), ist nach Spinoza folgendes: die beiden Attribute, die unendliche Ausdehnung und das unendliche Denken, gehören unmittelbar zur Substanz als natura naturans2); daraus gehen unmittelbar hervors) die infiniti modi, auf dem Gebiete der Ausdehnung Bewegung und Ruhe4), auf dem des Denkens Verstand und Wille 6), daraus wieder die finiti modi (Einzeldinge). Letztere bilden zusammen die natura naturata. Die Einzeldinge werden also nicht unmittelbar durch Gott hervorgebracht, sondern sind Glieder eines unendlichen Causalzusammenhangs 6); jedes derselben aber faszt das unendliche Wesen Gottes in sich 7). Sie sind gleichsam Beschrankungen Gottes 8). Die beiden Attribute und die dazu gehörigen Einzeldinge stehen zu einander in keinem Causalverhaltnis, es flndet aber ein durchgangiger Parallelismus statt 9). Denn der Geist (mens) hat als einziges Objekt (objectum, sieh oben) den Körper; alles was im Körper vorgeht, perzipiert er, wenn er auch durchaus keine adaquate Erkenntnis desselben besitzt. Das Selbstbewusztsein verhalt sich zum Geist, wie dieser >) Jac. IV1 58, 173; Spin. Eth. I, prop. 17, schol.; ep. 12, op. III, 42. *) Für den ganzen Absatz, Jac. IV1, 184 ff.; natura naturans et naturata. Spin. Eth. I, prop. 29, schol.; prop. 31. *) „Sequitur" (Eth. I, prop. 17, schol.) 4) Spin. ep. 64, 81, 83 (olim 72); bei Jacobi steht irrtümlicherweise ep. 73 (jetzt 67), dies ist der berühmte Brief von Albert Burgh, der nichts derartiges enthalt; der Fehler ist ruhig in Mauthners Spinozabüchlein übergegangen, vgl. auszerdem Eth. I, prop. 21, 22, 23. 5) Spin. Eth. I, prop. 17, schol; prop. 32, cor. 2. 6) Jac. IV1 157 f., 199 ff; Spin. Eth. I, prop. 28, u. Korte Verh. I, 3, no. 8, Eth. n, prop. 8, 9; ep. 4, op. Hl, 11; Eth. I, prop. 12, 13, 15, schol.; ep. 12, 32, 34, 35, 36. 7) Eth. I, prop. 30, 31; II, prop. 3, 4, 45, 46, 47. 8) Jac. IV1 182 f., Spin. ep. 50, op. III, 173; tract de intel. em. op. I. 24. ») Jac. IV1 183 f.; Spin. Eth, I, prop. 10; II, prop. 1, 2. 23 zum Körperl). Die Vortrefflichkeit des Geistes hangt eng mit der des Körpers zusammen *). Der Wille ist der Vorstellungstatigkeit gegenüber sekundar 8). Auch gibt es keinen Willen in abstracto neben den einzelnen Willenserscheinungen 4). Das ganze Wëltgeschehen, auch das geistige, ist durchaus causal bestimmt und die Vorstellung der Freiheit entsteht nur, indem die Menschen sich wohl ihrer Entschlüsse, nicht aber der Ursachen derselben bewuszt sind 6). Allerdings gibt es auch eine echte Freiheit, indem der Mensch seinem tiefsten Sein gemasz handelt 9). Nach dem Vorigen liegt nun freilich der Schlusz recht nahe, dasz bei dieser völligen Determiniertheit alles Geschehens, Gott, die Substanz, die Ursache sowohl des Guten als des Bösen in der Welt sein müsse. Demgegenüber sind aber nach Spinoza die Begriffe „gut" und „böse" durchaus relativer Art. das Böse ist ausserdem als reine Privation. nicht als etwas Positives aufzufassen 7). i) Jac. IV1 188, 192 ff.; Spin. Eth. II, prop. 12, 13, 16, cor. 2; 17, 19, 21, u. schol.; 33; Hl prop. 32. Vgl. auch Kuno Fischer: a. a. O. II, 490 ff; Windelband: a. a. O. I, 228; Erhardt: a. a. O. 320; Pollock: a. a. O. 132 f. *) Jac. IV1 196 f.; Spin. Eth. II, prop. 13, schol.; III, prop. 11, 28; Explic. Def. gen. Affect, op. I. 180 f.; Eth. V, prop. 31: vor allem. III, prop. 2, schol. 3) Jac. IV1 129, 149; Spin. Eth. m, prop. 2; II, prop. 49; Cog. Met. II 12, op. IV, 228 f.; Windelband: a. a. O. I, 229 f. *) Jac. IV1 143 f.; Spin. Eth. II, prop. 48, schol. 6) Jac. IV1 66, 145; Spin. ep. 58 (der fliegende Stein). op. III, 195 f.; Eth. I. app. op. I, 67; II, prop. 35, schol.; Hl, prop. 2, schol. op. I, 125; IV: praef. op. I, 183. Vgl. Erhardt: a. a. O. 397 ff, dagegen Shopenhauer (Grisebach) I, 182 f. 6) Jac. IV1 150 f.: Spin: Eth. I, def. 7; prop. 17. ') Jac. IV1 148; Spin. Eth. III, prop. 9, schol, (schon. Korte Verh. I, 10); Cog. Met. Q, 7, op. IV, 214; ep. 19. op. ffl. 62 f.; ep. 23, op. III, 99; Eth. I. app, op. I, 72. 24 Die Seele (mens) ist nur insofern unsterblich, als sie sich, überpersönlich, auf das Ganze bezieht1). Jedes Wesen strebt danach sein Sein zu erhalten 2). Dies ware in der Hauptsache die Lehre Spinozas, wie Jacobi sie verstanden hat. Im Groszen und Ganzen gewisz eine für die damalige Zeit recht anerkennenswerte Leistung, denn es laszt sich nicht leugnen, dasz die Grundgedanken des Systems darin richtig, wenn auch nicht immer in angemessener Form, wiedergegeben sind. Zwar könnte es zuerst auffallig scheinen, dasz der Ethik in engerem Sinne mit keiner Silbe gedacht wird, man darf aber nicht aus den Augen verlieren, dasz es nicht Jacobis Absicht war, einen vollstandigen Abrisz der Lehre Spinozas zu geben, sondern den Nachweis zu führen, Lessing sei Spinozist gewesen, wozu natürlich Spinozas metaphysische Ansichten das Vergleichsmaterial hefern muszten. Und wenn er auch im Verlauf des Streits immer mehr diese ursprüngliche Absicht beiseite geschoben und sich der persönlichen Auseinandersetzung mit Spinoza zugewandt hat, so lagen auch auf diesem Gebiete die Differenzen nicht im Ethischen, sondern im Metaphysischen, oder wenn man will auf dem Terrain der Erkenntnistheorie. Sonst glaube ich nicht, dasz man in seiner Darstellung eine wesentliche Lücke nachweisen kann. Damit soll aber nicht gesagt sein, das? dieselbe auch in jeder Einzelheit befriedigt. Schon die Bezeichnung der Attribute als Eigenschaften (qualités) der Substanz ist nicht ohne Bedenken gegenüber dem Wortlaut von Eth. I, def. 6; ep. 2; ep. 4; Eth. I, prop. 4, dem; prop. 19 (substantia constans inflnitis attributis; substantia sive earum attributa), dem stehen aber andere Stellen *) Jac IV1 62; Spin. Eth. V, prop. 21—23 (anders noch Korte Verh. II, 23.) 2) Jac. IV1 147, Spin. Eth. lil, prop. 6, 7; IV. prop. 52, schol. Vgl. die Ausführung bei Pollock: a. a. O. 116 f. und die dort angeführten Stellen: Princ. Phil. Cart II prop. 14; Cog. Met. I, 6, op. IV, 201; Korte Verh. I, 5. 25 gegenüber, die Jacobis Deutung eher zulassen: Eth. I, def. 4; ep. 9, op. III, 33. Auch andre Bezeichnungen (Grundkrafte der Substanz: Kuno Fischer; aspects of the substance: Pollock) tragen nicht allen bezüglichen Stellen bei Spinoza Rechnung *). Wir haben hier das erste Beispiel für die charakteristische Erscheinung, dasz wo Jacobi ganz zuversichtlich *) den Spinoza nach seinem Sinne deutet, die spatere Spinozaforschung auf Schwierigkeiten und Probleme jeder Art gestoszen ist, die vielfach auch heute noch nicht als gelost betrachtet werden können. So beispielsweise seine Betrachtungen über die infinita attributa. Einerseits scheint er deren Realitat mit Ausnahme der Ausdehnung und des Denkens zu leugnen und befindet sich dabei grösztenteils in Uebereinstimmung mit Windelband 8) und Erhardt *), andererseits deutet er die Consequenzen an, die das Festhalten an ihrer Realitat mit sich führt, wie die eigentümliche Stellung des Denkens den andern Attributen gegenüber, die auch von andern akzeptiert worden ist6), und die Notwendigkeit, dasz in jedem Ding alle Attribute enthalten sind, wobei es ihm nicht entgangen ist, dasz Spinoza die Bedenken Tschirnhausens durchaus nicht in jeder Hinsicht entkraftet hat6). Dann aber auch, indem er, überall gestützt auf Spinoza, Gott oder der Substanz das absolute Denken zuspricht, Verstand und Willen in demselben aber leugnet. Man hat in 1) Vgl. Ueberweg: Geschichte der Philosophie III, 135, Kuno Fischer: a. a. O. II, 377 ff.; Erhardt: a. a. O. 92 ff.: Pollock: a, a. O. 162 ff. Die Deutung von ep. 9 bei Fischer (a. a. O. 396 f.) scheint mir mehr oder weniger gezwungen. 2) Bezeichnend für diese Zuversicht sind die Stellen: Jac. IV1 55, 69. 8) a, a. O. I 220 f. 4J a. a. O. 152 f.: anders Pollock. a. a. O. 167 ff. . 6) Vgl. Pollock: a. a. O. 162 ff.; Spin. ep. 66; dagegen Windelband: a. a. O. I 228; Erhardt: a. a. O. 320; Pollock: a. a. O. 133 f.; Spin. Eth. II, prop. 20, 21. 6) Pollock: a, a. O. 171. 26 neuerer Zeit hierin vielfach einen Wïderspruch sehen wollen1), dabei aber nicht genügend den zu Spinozas Zeit sehr weiten Umfang des Begriffs cogitatio, wofür das deutsche „Denken" keine sehr glückliche Uebersetzung ist, berücksichtigt. Aber auch wenn man diesen Ausdruck im Sinne von Bewusztsein auffaszt, ist schwer einzusehen, wie die ewige und unendliche Substanz sich selbst lieben könne; es sei denn, dasz man zu der Erklarung seine Zuflucht nimmt,- sie liebe sich nur in den Bewusztseinen der Einzelindividuen, die ja in ihr sind und durch sie begriffen werden. Auch den folgenden zweifelhaften Punkten in der Wiedergabe Jacobis liegen hauptsachlich Interpretationsschwierigkeiten zu Grunde. Er deutet IV1 62 an, dasz die Substanz auszer den Einzeldingen kein besonderes Dasein habe, m. a. W. dasz der Inbegriff der Einzeldinge die Substanz ausmache, ein Standpunkt den schon Mendelssohn bekampft hat*). Wie mir scheint, ist aber nur Jacobis Wortwahl unglücklich zu nennen, denn, wie die Stelle IV1 176 beweist, ist seine Meinung vielmehr nur die schon oben S. 20 ausgesprochene, dasz n.1. die Substanz selbst kein Einzelding sei. Ueber die Erklarung des Verhaltnisses zwischen der natura naturans und der natura naturata, eines des strittigsten Punkte der Spinozaforschung, hat Jacobi sich klüglich nicht ausgelassen, sondern sich damit begnügt, die Ausdrücke in ahnlicher Weise, wie Spinoza zu verwenden s). ') So vor allem der hyperkritische Erhardt: a. a. O. 212 ff., man vergleiche allerdings mit den oben S. 21, *) angeführten Stellen Eth. II, prop. 1; V prop. 33-37. 2) Jac. IV1 111 f., 117 ff., vgl. Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie6, 343; Ueberweg: a. a. O. III 139. Sehr zweifelhaft scheint mir die Behauptung Grunwalds: Spinoza in Deutschland 95 oben. *) Man sehe über diesen schwierigen Punkt: Spin. Korte Verh. I 8; Kuno Fischer: a. a. O. II 420; Ueberweg: a. a. O. Dl 139; Windelband: Lehrbuch etc. 343. 27 Eine Frage bleibt noch übrig, die nach den unendlichen Modi, die gleichsam den Uebergang von der Substanz zu den Einzeldingen bilden sollen 1). Hier bietet die Ethik nur Andeutungen, die der Erganzung dringend bedürfen, welche zum Glück in ep. 63 und 64 wirklich vorhanden ist: danach sind Ruhe und Bewegung auf dem Gebiete der Ausdehnung und der intellectus absolute infinitus, dasz heiszt doch wohl die Summe der überhaupt vorhandenen endlichen Bewusztseine, auf dem Gebiete des Denkens die unmittelbaren unendlichen Modi. Diese Auffassung wird noch bestatigt durch die Korte Verhandeling etc. I, 9, op. IV, 34: „Wat dan nu aangaat de algemene Natura Naturata of die wijzen of schepzelen, die onmiddellijk van God afhangen ofte geschapen zijn, dezer en kennen wij niet meer als twee, namelijk de beweginge in de stoffe 2) ende het verstaan in de denkende zaak. Deze dan zeggen wij, dat en van alle eeuwigheid zijn geweest en in alle eeuwigheid onveranderlijk zullen blijven" s). Soweit befindet sich also Jacobi mit seiner Auffassung durchaus in Uebereinstimmung mit dem Original. Ob aber der Hinweis auf den Anfang von Eth. I, prop. 32, cor. 2 4) genügt, um Willen und Verstand völlig zu Bewegung und Ruhe in Parallele zu bringen, scheint mir zum mindesten zweifelhaft. Alles in allem scheint mir der Ausdruck Pollocks (a. a. O. 178): „Jacobi, who only half understood Spinoza", in jeder Hinsicht ungerecht; das Wesentliche des Systems hat er *) Sieh oben S. 22, Spin. Eth. I, prop. 21—23; 28 schol, ep. 63; ep. 64; Pollock: a. a. O. 108, 152, 165, 167; Kuno Fischer: a. a. O. II 405; Erhardt: a. a. O. 260 ff. *) Man vergleiche die merkwürdige Fusznote: Spin. op. IV 34. 3) Was nun die allgemeine natura naturata anbetrifft oder die Modi oder Geschöpfe, die unmittelbar von Gott abhangen, oder geschaffen sind, so kennen wir deren nur zwei, namlich die Bewegung im Stoff und den Verstand im denkenden Ding. Von diesen behaupten wir, dasz sie von aller Ewigkeit gewesen sind und in aller Ewigkeit unverandert bleiben werden. *) Jac. IV1 185. Anm. 12. 28 gewisz recht gut verstanden und wo er fehlte, liegen in der Tat Schwierigkeiten vor, die auch jetzt noch als solche anerkannt werden und zu deren Lösung Jacobi ein weit geringeres Material zur Verfügung stand als der heutigen Spinozaforschung. Eine andere Frage ist es freilich, ob er dasjenige, was er von Spinoza verstanden hatte, auch überall in einer solchen Form wiedergegeben hat, dasz es auch dem nicht genau mit dem Spinozismus bekannten Leser einleuchten muszte. Dasz die Beantwortung dieser Frage nicht von meiner obigen, stark retuschierten Zusammenstellung abhangig gemacht werden darf, brauche ich wohl nicht erst zu bemerken. Ich wende mich zum zweiten Teü der Aufgabe. Jacobi hat seine Wiedergabe des Spinozismus mit kritischen und andern Bemerkungen begleitet, um uns seine Stellung zu diesem System deutlich zu machen. Er halt die Lehre des Spinoza für logisch unüberwindÜch 1), allerdings nicht wegen ihrer geometrischen Rüstung, die ihm wenig empfehlenswert scheint *), obwohl er sie durchaus nicht für ein wesentliches Moment in der Entstehungsgeschichte des Systems halt3). Die Entstehung bringt er vielmehr in Zusammenhang mit der Kabbala 4). Dasz man den Spinozismus nicht als Materialismus deuten darf, ist ihm in dieser Zeit noch ganz sicher 6). Wohl aber habe man das Recht von Atheismus zu sprechen 6), obwohl man vielleicht ebensogut sagen könne, dasz x) Jac. IV1 55, 161. =0 Jac. IV1 124 f. 8) Vgl. Windelband: Praludien8, 122; Kant: Von der Deudichkeit der Grundsatze etc. (1763), Kritik d. r. Vernunft (Kehrbach) 548 ff.; Pollock: a. a. O. 157 f. *) Jac. IV1 56, 217. ") Jac. IV1 151; vgl. auch Pollock: a. a. O. 169 und Spin. Eth. m, prop, 2; H, prop. 7, schol. ") Jac. IV1 XXXVI; XXXIV 4.; 216 mit Fusznote, auch IV2 238 f. 29 nach Spinoza nur Gott cxistiert und den Einzeldingen die besondere Existenz abgehtl). Das Hervorgehen der Einzeldinge aus der Substanz findet nach Jacobi bei Spinoza keine genügende Erklarung *). Sein wichtigstes Bedenken gilt Spinozas scharf ausgesprochenem Determinismus 8) oder, was für ihn gleichbedeutend ist, Fatalismus *): „Wenn es lauter wirkende und keine Endursachen gibt, so hat das denkende Vermogen in der ganzen Natur blosz das Zusehen; sein einziges Geschaft ist, den Mechanismus der wirkenden Krafte zu begleiten. Die Unterredung, die wir gegenwartig mit einander haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber; und der ganze Inhalt dieser Unterredung, in seine Elemente aufgelöst: Ausdehnung, Bewegung, Grade der Geschwindigkeit nebst den Begriffen davon und den Begriffen von diesen Begriffen. Der Erfinder der Uhr erf and sie im Grunde nicht; er sah nur ihr er Entstehung aus blindlings sich entwickelnden Kraften zu. Ebenso Raphael, da er die Schule von Athen entwarf; und Lessing, da er seinen Nathan dichtete. — Wir glauben nur, dasz wir aus Zorn, Liebe, Groszmut, oder aus vernünftigem Entschlusse handeln. Lauter Wahn! In allen diesen Fallen ist im Grunde das, was uns bewegt ein Etwas, das von allem dem nichts weisz und das insofern von Empfindung und Gedanke schlechterdings entblöszt ist." „Ce que vous adoptez du fatalisme me suffix, car il n'en faut pas davantage pour établir que le temple de St. Pierre a Rome s est construit lui-même; que les découvertes de Newton ont été faites par son corps; et qu'en tout cela, 1'ame n'est occupée qu'a regarder faire." !) Vgl. über diese Frage Kuno Fischer: a. a. O. II 417 f.; Erhardt: a. a. O. 269 ff. 2) Jac. IV2 101 f., 135 ff. ») Jac. IV1 59, 152 f. 4) Jac. IV1 55, 65. 30 Jacobi meint, dasz auch Spinoza die Konsequenzen dieser Lehre nur mühsam hat auf recht erhalten können *). Die Behauptung, man kann bei Jacobi auch sagen der Vorwurf*) des Atheismus in der Lehre Spinozas ist nicht neu. Schon vor dem Erscheinen des Tractatus theologicopoliticus scheinen solche Vorwürfe laut geworden zu sein, man lese nur die Stelle in zweiten Kapitel: „Et, proh dolor! res eo jam pervenit, ut qui aperte fatentur, se Dei ideam non habere et Deum non nisi per res creatas (quarum causas ignorant) cognoscere, non erubescant Philosophos Atheismi accusare" s). Auch wurde eben dieser Traktat die Veranlassung zu einer Wiederholung dieser Anklage seitens des Mediziners van Velthuijsen, der am Ende seiner Kritik des tractatus seine Ansicht in die Worte zusammenfaszt: „Arbitror itaque me non magnopere a vero aberasse, neque Auctori a me injuriam fieri, si denunciem eum tectis et fucatis argumentis merum Atheismum docere" *). Spinozas Beantwortung dieser Kritik ist sehr charakteristisch: er sei kein Atheist, „solent enim Athei honores et divitias supra modum quaerere, quas ego semper contempsi, ut omnes, qui me norunt, sciunt" % Seitdem gehort das Wort Atheismus zum gebrauchlichen Material der Spinozabeurteilung, vor allem von seiten der Theologie. Jacobi aber will mit seiner Behauptung offenbar zweierlei sagen. Erstens leugnet er zwar nicht, dasz der Gottesbegriff im System des Spinoza eine sehr wichtige Stelle einnimmt, allein, weil dieser Begriff durchaus nicht mit seiner eigenen, *) Jac. IV1 71. 2) Vgl. Lévy-Bruhl: a. a. O. 163 ff. 3) Spin. op. O 108. 4) Spin. ep. 42, op. ffl 158. - ") Spin. ep. 43, op. IQ, 159. Im weiteren Verlauf des Briefes weist er die causale Determiniertheit alles Geschehens als Argument für seinen Atheismus zurück. 31 der kJrchlichen Religiositat zwar nicht entnommen, inhaltüch aber mit dieser übereinstimmenden, Vorstellung, zusammenstimmen will, scheint es ihm durchaus berechtigt, zu sagen, der Gort des Spinoza sei kein Gott1). Schlieszlich also, wenn man will, eine reine Wortfrage 8). Daneben aber deutet er an, dasz mit dem richtig verstandenen Spinozismus sich keinerlei Religiositat vertrage3), eine Behauptung, die so deutlich mit dem Geiste des Spinozismus streitet 4), dasz wir sie auch dann nicht zu widerlegen brauchten, wenn nicht Jacobi selbst sie an anderer Stelle 6) zurückgenommen hatte. Eine eigentliche Widerlegung des Atheismus darf man bei Jacobi nicht suchen, für ihn ist ja der Spinozismus mit den WafFen des Verstandes nicht zu überwinden (oben S. 28). Diese für uns so auffallige Aeuszerung hat bei ihm allerdings einen andern Sinn, als wir unwillkürlich hineinzulegen geneigt sind. Für ihn ist diese Lehre die Vertreterin jeder wissenschaftlichen Weltbetrachtung und eine solche, die die Wirklichkeit nur mit Hilfe des Verstandes analysiert und zurechtlegt, tut ihr damit eo ipso Gewalt an, ist aber mit ihren eigenen Waffen nicht zu widerlegen6). Wir können J) Jac. I 251: „Der Glaube an einen Gott ist dem Menschen natürlich; und am natürlichsten der Glaube an einen lebendigen Gott". IV1 59: „Ich glaube eine verstandige persönliche Ursache der Welt". D 475*: „Nach meiner Ansicht ist es nicht (bei Jacobi steht „leicht", offenbar ein Druckfehler) gut, den Namen Gottes auch einem nicht lebendigen oder nicht persönlichen Gotte, der nur ist, der da ist, ohne zu sich selbst sagen zu können, Ich bin der Ich bin, einem armeren Wesen, als das armste unter den Lebendigen, beizulegen." Man vergleiche auch die Kantzitate an dieser Stelle und Jac. IV XXIV; IV2 76*. 2) Heymans: Einführung in die Metaphysik 2, § 42. Anfang 356; vgl. auch die Ausführungen Erhardts: a. a. O. 276 ff. *) Jac. IV1 216*. 4) Ueberweg: a. a. O. Dl 123; Windelband: Geschichte d. n. Philosophie I 214. 8) Jac. IV2 238 f. *) Vgl. das vorzügliche vierte Kapitel bei Lévy-Bruhl: a. a. O. 76—101. 32 diese Ansicht Jacobis dahingestellt sein lassen, seine Aeuszerung über den Spinozismus aber verüert für dieses spezielle System dadurch viel von ihrer AufFalligkeit, Auch über den behaupteten Zusammenhang der Lehre Spinozas mit der Kabbala brauchen wir nicht viele Worte zu verlieren. Bei der geringen Sympathie, womit Spinoza diese Lehre erwahnt, auch sonst von alteren jüdischen Denkern spricht1), ist ein solcher Zusammenhang schon an und für sich wenig wahrscheirdich und er wird dies urn so weniger, wenn man bedenkt, dasz die Kabbala zwar auch einen Pantheismus lehrt, aber überall im Sinne der Emanation, eine Ansicht, die Spinoza ganz fern liegt2). Die Behauptung, dasz Spinoza das Hervorgehen der Einzeldinge aus der Substanz nicht deutlich zu machen gewuszt hat, wird man, wie mir scheint, ohne Diskussion gelten lassen müssen 8). Bleibt das Bedenken gegen den Determinismus. Damit hat nun allerdings Jacobi einen wunden Punkt im System des Spinoza berührt, auf den hinzuweisen auch die neuere Metaphysik nicht müde geworden ist. Wesentlich in Uebereinstimmung mit ihm sagt auch Sigwart *): „Das Bewusztsein, dasz wir durch unser Wollen irgend eine Macht ausüben, ist danach reine Tauschung; wir können höchstens Zuschauer der Causalzusammenhange sein, die sich ohne unser Zutun abspielen, insbesondere nur Zuschauer all der Bewegungen, die sich aus den jeweiligen Dispositionen des Gehirns ergeben." Ebenso Busse6): „alles Wollen, Fühlen, Denken, ]) Spin. tract theol.-pol. Cap. 9, op. II. 208; ep. 73, op. ül 225; Eth. II. prop. 7 schol; cog. met II, cap. 6, § 3, op. IV 213. *) Pollock: a. a. O. 99; Kuno Fischer: o. a. O. II 273 f.; Windelband: a. a. O. I 207. ") Windelband: a. a. O. I 219—224; Erhardt: a. a. O. 248 ff. 4) Logik3 II 549 ff. E) Geist und Körper, Seele und Leib 1903, 248 ff. 33 Handeln, alle Absichten, Plane, Ueberlegungen, Enttauschungen, alles Suchen, Finden und Irren, alle Erkenntnisse und wissenschaftlichen Entdeckungen, die sich jemals in menschhchen Köpfen abgespielt haben, waren als eine ohnmachtige Begleiterscheinung, als ein so nebenherlaufendes Accidens dieser nach materiellen Naturgesetzen mit strenger Notwendigkeit aufeinanderfolgenden Gehirnzustande anzusehen; sie hatten wegen ihrer absoluten Unselbstandigkeit nicht den geringsten Einflusz auf den Lauf des Geschehens"]). Und Héymans"): „Auch ohne Ueberlegungen und Willensentschlüsse würden die menschlichen Handlungen genau so und genau zu denjenigen Zeiten eintreten oder sich vollziehen, wie wir sie jetzt wahrnehmen." Trotz weitgehendster Uebereinstimmung trennt aber ein prinzipieller Unterschied diese Ausführungen von denen Jacobis. Letzterer namlich führt sie an als Argumente, die den Determinismus c.q. Fatalismus ad absurdum fiihren sollen, wahrend jene damit den psychophysischen Parallelismus (in spinozistischér Form, füge ich hinzu) zu treffen meinen. Wie mir scheint, ganz mit Recht. Denn in der Leugnung jeder Teleologie, in der Behauptung, dasz alles in der Welt nach festen Gesetzen statt finde (ordo totius naturae sive causarum connexio: Spin. Eth. II, prop. 7, schol.), liegt an und für sich gar nicht die These eingeschlossen, das geistige Geschehen sei in diesem Causalzusammenhang von geringerer Bedeutung als das materielle; das Verhaltnis -des Bewusztseins zur materiellen Welt wird eben durch diese Ansicht noch gar nicht berührt. Zwar innerhalb des geistigen Geschehens selbst können manche Aeuszerungen Spinozas nur so gedeutet werden, dasz hier der Zusammenhang ein rein mechanischer ') Zitat nach Liebmann: Gedanken und Tatsachen, Straszburg 1899, 285. s) a. a. O. 158. 3 34 sei1), damit ist aber noch nicht die von Jacobi geltend gemachte Konsequenz gegeben. Vielmehr folgt diese erst, wenn wir den vón Spinoza gelehrten Parallelismus der Attribute in Betracht ziehen, die Leugnung jeder Wechselwirkung zwischen Denken und Ausdehnung; und auch dann nur, indem wir uns die eigentümliche Stellung vergegenwartigen, die der Geist dem Körper gegenüber einnimmt und die ihn gleichsam zu einer Nebenerscheinung desselben macht. Dies scheint auch Jacobi eingesehen zu haben *). Allerdings musz ich gestehen, dasz mir auch in dieser Form das Argument bei Jacobi, wie auch bei den obengenannten Denkern, nicht ganz zwingend vorkommt. Denn vom Standpunkt Spinozas scheint es mir keineswegs festzustehen8), dasz das Fortfallen der Bewusztseinsvorgange (des Attributes der cogitatio), sogar wenn es denkbar ware, was ich auch bezweifeln möchte, durchaus keine Veranderungen in der materiellen Welt (dem Attribute der extensio) zufolge haben würde. Dieses Fortfallen würde eben nur möglich sein durch eine anders modifizierte Substanz, womit doch wohl auch eine Aenderung in dem Attribut der Ausdehnung verbunden sein müszte *). Die ganze Argumentation hat nur dann ihren richtigen Sinn, wenn man die Attribute auffaszt als Erscheinungsarten der Substanz; es würde aber zu weit führen, hier auf dieses Problem einzugehen. ') Spin. ep. 58,_ op. III, 195: „sic infans se lac appetere credit etc., auch Eth. UI, prop. 2, schol., vgl. oben S. 29, MItte. Allerdings stehen dem auch wieder Stellen gegenüber, die eine ganz andere Deutung zulassen: ep. 56, op. III, 189: „quod homo vult vivere, amare etc. non est coactum opus sed tarnen necessarium"; ep. 58, op. III, 196: „si per hominem coactum intelligit eum, qui invitus agit, concedo nos quibusdam in rebus nullatenus cogi, hocque respectu habere liberum arbitrium". Für den Unterschied coactus-necessarius, vgl. Heymans: Binführung in die Ethik 92. 2) Vgl. oben S. 29, Mitte, er denkt dabei wohl an Eth. II, prop. 13,20, 23. ') Heymans: Einführung in die Metaphysik2, 158 oben. 4) Vgl. auch Rickert in: Philosophische Abhandlungen Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstag gewidmet 1900, 66 f. 35 Hiermit ware die Aufgabe dieses Kapitels erledigt und, wie ich hoffe, die Behauptung, Jacobi habe Spinoza nicht richtig verstanden, in die gehörigen Grenzen zurückgewiesen. Das nachste Kapitel wird sich mit dem Verhaltnis zu Lessing und mit dessen angeblichem Spinozismus beschaftigen. DRITTES KAPITEL. JACOBI UND LESSING. Jacobis persönliche Bekanntschaft mit Lessing datiert erst aus dessen letztem Lebensjahr. Vor dieser Zeit finden wir nur einmal ein als solches angeführtes Zitat aus seinen Werken'1), das auf den ersten Bliek den Schein er weckt, als ware es aus dem Gedachtnis niedergeschrieben und, wenn das wirklich der Fall ware, eine in der Tat auffallend genaue Kenntnis auch eines weniger bekannten Werkes Lessings bekunden würde. Für den, der Jacobis auch sonst nachlassige Art des Zitierens kennt, verliert aber dieses Argument jede Bedeutung. Dasz er trotzdem Lessings literarische Laufbahn mit Interesse verfolgt hat, ihn vor allem als Kritiker hochschatzte, beweist die Zusendung der Woldemarfragmente im Jahre 1779, die Lessing mit einem Exemplar des Nathan und einem kurzen Begleitschreiben am 18 Mai desselben Jahres beantwortete *). Jacobi war damals gerade nach seinem politischen Echec in München *) nach Pempelfort zurückgekehrt und dieses unerwartete Geschenk des verehrten Mannes beglückte ihn. Schon am 20 August kündigt er ihm einen Besuch auf das nachste Frühjahr an und deutet etwas .J) Jac. IV 325, (1773); vgl. oben S. 11 und Lessing, Werke (LachmannMuncker) 11, 470. 2) Lessing 18, 319. 3) Vgl. dazu Schmid: a. a. O. 9 f.; Zirngiebl: a. a. O. 31; LevyBruhl: a. a. O. 9 f. 37 verschleiert an, was er dabei von Lessing erhofft 1). Wir wissen jetzt, dasz er in ihm einen Bundesgenossen gegen Spinoza gesucht hat 8). Die Erziehung des Menschengeschlechts hat er sofort nach dem Erscheinen gelesen (Ostern 1780), sein Besuch verzögert sich noch bis Anfang Juli dieses Jahres 8). Am 5 Juli 1780 flndet die Begegnung in Wolfenbüttel statt, das Spinozagesprach am sechsten und siebenten desselben Monats 4). Dann reist Jacobi weiter zu Klopstock und Mathias Claudius 6), zu einem förmlichen Abschied scheint es nicht gekommen zu sein *), auch sollte Jacobi noch nach Wolfenbüttel zurückkehren. In Hamburg lernt er dann auch Lessings Freunde, die Familie Reimarus kennen 7). Vermutlich noch im Monat Juli kehrt er nach Wolfenbüttel zurück; Lessing kommt ihm nach Braunschweig entgegen8). Zwei Tage spater gehen sie zusammen nach Halberstadt zum alten Gleim, den sie durch ihre philosophischen Gesprache weidlich geargert haben mögen, wo Lessing sein èv y.ai kocv auf Gleims Gartenhaus schrieb 8). Wahrend dieses zweiten Beisammenseins scheint Lessing Jacobi auch in seine persönliche schriftstellerische Lage eingeweiht zu haben 10), Jacobi seinerseits zeigt das höchste Vertrauen in ihn, indem er ihn nach seiner Abreise wiederholt hinsichtlich seiner literarischen *) Lessing 21, 266 f. *) Jac. IV1 55. *) Lessing 21, 297 f.; 18, 342. 4) Jac. IV1 51, 55; I 338. 5) Jac. I, 338 ff. 6) Lessing 18, 344; anders Jac. I 338; ich ziehe Lessings Zeugnis vor, weil die Erzahlung Jacobis erst aus dem Oktober stammt, wo ein Gedachtnisfehler leicht möglich war. t) Lessing 21, 302; Jac. I 341. 8) Jac. I 341 ff. 9) Jac. 1344; IV1 79, 89; Erich Schmidt: Lessing II604,637; Lessing 22» IX. 10) Jac I 343 f. 38 Angelegenheiten und der Münchener Verhaltnisse um Rat angeht1). Diesen Rat hat er dann aber nicht in jeder Hinsicht befolgt. Der Einladung nach Pempelfort2) hat Lessing nicht mehr Folge leisten können. Am 15 Februar 1781 starb er. Die Jahre zwischen 1781 und 1783 verraten in Jacobis Werken deutlich Lessings • Efnflusz, vor allem auf dem Gebiete der Politik8). Psychologisch hat die Bekanntschaft mit ihin Jacobi jedenfalls seine eigentümliche Paradoxie klargemacht, was für die Interpretation des Gesprachs wichtig sein dürfte 4). Ich komme nun zum Inhalt dieser vielbesprochenen Unterhaltung. Schon am 5 Juli scheinen die beiden sich über Philosophisches unterhalten zu haben, das Nahere darüber ist nicht bekannt5), es ist aber mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dasz von Spinoza noch nicht die Rede gewesen ist. Am nachsten Morgen findet die Fortsetzung start, indem Jacobi Lessing Goethes Prometheusode8) zur Prüfung vorlegt. Dieser knüpft daran sein pantheistisches Bekenntnis. Jacobi nennt den Namen Spinoza, Lessing bekennt sich recht hypothetisch zu ihm und wir sind gespannt auf den weiteren Fortgang, ■— das Gesprach wird aber unterbrochen 7). Am Morgen des 7 Juli fangt Lessing selbst wieder von dem Gegenstande an, spricht jetzt unumwunden seinen Spinozismus aus, auch Jacobis Wort vom Fatalismus erschreckt ») Lessing 21, 304; 18, 357 f.; 21, 312 f. s) Lessing 21, 315 ff. 3) Vgl. Etwas das Lessing gesagt hat (1782), Jac. II 325 ff. *) Jac. II 404 f. B) Jac. IV1 51. 6) Und zwar in der altesten uns bekannten Fassung; vgl. der junge Goethe 1912, Bd. VI 349. Ueber Jacobis Verhaltnis zu Goethe vergleiche man Zirngiebl: a. a. O. 16 ff.; Lévy-Bruhl: 10, Schmid: a. a. O. 7 f. 7) Jac. IV1 51-55. 39 ihn nicht1), und dessen nicht sehr scharfe Formulierung des Systems flndet seinen Beifall2). Als Jacobi dann mit seiner eignen Ansicht hervorrückt, diese Lehre sei zwar unwiderleglich, aber ihrer Konsequenzen wegen unannehmbar und unsre einzige Zuflucht sei, uns durch einen „Salto mortale" s) daraus zu retten, und sein Hauptbedenken gegen den Spinozismus ausspricht (vgl. oben S. 29 ff.), bemerkt Lessing, ihm liege an der Willensfreiheit nichts und die Verwerfung der Teleologie sei ihm gerade recht *). Im Verlauf des Gesprachs kommt auch die Rede auf Leibniz, den Lessing kühn zum Spinozisten macht6), eine Behauptung, die er in dieser schroffen Form aber bald wieder zurücknimmt. Aber auch Jacobi bringt die beiden mit einander in Zusammenhang, geht jedoch, wie Lessing, dann etwas allzuweit6), was er, wie sich aus einer spateren besonneneren Würdigung dieses Verhaltnisses ^ ergibt, selbst eingesehen hat. Nochmals setzt er dann seine Bedenken gegen den Determinismus auseinander, Lessing halt aber an seiner Meinung fest, deutet auf die Gefahren von Jacobis Standpunkt hin 8) und lehnt den ihm vorgeschlagenen Salto mortale fein ironisch ab 9). Soweit das Gesprach. Es erhebt sich die Frage, ob dadurch ') Jac. IV1 55 f. 2) Jac. IV' 58. 3) Vgl. auch Jac. IV' XL und Frank: a. a. O. 16 mit den dort angeführten Stellen: Jac. II 43 f. und III 43. «) Jac. IV1 59-62. 5) Jac. IV1 63 f. 6) Jac. IV' 65—68. 7) Jac. IV2 97 ff. Zur ganzen Frage vergleiche man L. Stein: Leibniz und Spinoza 1890, dessen Resultate mir freilich etwas zweifelhaft vorkommen, was ich hier nicht naher begründen kann. 8) Vgl. auch Kants Aufsatz: Was heiszt sich im Denken orientieren? (1786), gegen Ende. f) Jac. IV1 70—74. 40 nun Lessings Spinozismus in der Tat einwandfrei und sicher erwiesen sei. In erster Linie hat man vielfach die Wiedergabe der Unterredung selbst beanstandet und die Vermutung laut werden lassen, Jacobi habe seinem Partner hie und da die eigne Ansicht untergeschoben, ihn auch haufig sich entschiedener ausdrücken lassen, als es seine Art war. Im Groszen und Ganzen, wie mir scheint, mit Unrecht. Denn erstens hat ja Jacobi selbst wiederholt ausdrücklich die Authentizitat seiner Darstellung behauptet x) und nur die Möglichkeit von Gedachtnisfehlern offengelassen, und es gibt wohl kaum Gründe an seiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Dann aber haben sich auch Freunde Lessings unmiszverstandlich dahin geauszert, man erkenne aus dem Gesprach direkt den Ton desselben: so die Geschwister Reimarus *) und Herders). Auszerdem ist die innere Evidenz für denjenigen, der sich auch nur einigermaszen eingehend mit Lessing beschaftigt hat, so überzeugend, dasz sie kaum einen Zweifel aufkommen laszt. Wir werden unsre Frage also dahin prazisieren müssen, was das Gesprach, so wie es von Jacobi dargestellt ist, eventuell unter Zuhilfenahme der zerstreuten Notizen über Aeuszerungen Lessings in den Banden IV1 und IV2 von Jacobis Werken, beweist. Es wird dazu notwendig sein, auf einige dunkle Stellen, die durch die lückenhafte Wiedergabe entstanden sind, naher einzugehen, urn so dem Verstandnis des Ganzen den Weg zu ebnen. Schon die Anknüpfung des Gesprachs ist mehr oder weniger ratselhaft. Lessing bemerkt nach der Lektüre des Prometheus4): x) ]ac. IV1 56* 74, 89 f. J) |ac. IV2 188, 220. 8) Herder: Gott; viertes Gesprach. 4) Jac. IV1 53 f. 41 „ich habe kein Aergernis genommen, ich habe das schon lange aus der ersten Hand. ~ Der Gesichtspunkt, aus welchem das Gedicht genommen ist, das ist mein eigner Gesichtspunkt. — Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich, ich kann sie nicht genieszen. 'Ev jwk 7i«v! Ich weisz nicht anders. Dahin geht auch dieses Gedicht und ich musz bekennen, es gefallt mir sehr" 1). In diesen Worten ist also der pantheistische Charakter der Ode klar und bestimmt ausgesprochen. Diesen Zug vermag ich nun aber in keiner Stelle des Gedichts zu erkennen. Zwar scheint auch mir der Kern desselben die Auflehnung gegen die Transzendenz *), damit ist aber der Pantheismus noch nicht direkt gegeben, es ware denn, dasz man einen solchen aus den Zeilen: «Hat nicht mich zum Manne geschmiedet die al 1 machtige Zeit und das ewige Schicksal, meine Herrn und deine?" herauslesen wollte 8). Von deutlich spinozistischen Zügen ist das Gedicht ganz frei4). Eine ahnliche Schwierigkeit bietet die Antwort auf Jacobis Bekenntnis: „Ich glaube eine verstandige persönliche Ursache der Welt." „O, desto besser! Da musz ich etwas ganz neues zu hören bekommen" 6). Eine solche Beweisführung konnte doch dem Theologen Lessing kaum neu sein. Auch Herders !) Für die Wertschatzung des Gedichts vgl. auch Jac. IV2 215. s) Dilthey: gesammelte Schriften, Bd. II (1915), 396 und Liepe: das Religionsproblem im neueren Drama von Lessing bis zur Romantik, Halle 1914. 23 f. 3) Vgl. Erich Schnudt: a. a. O. II 503. 4) Auch Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe (1910), 64, halt Lessings Auffassung der Ode für unrichtig; Zirngiebl: a. a. O. 49 f. scheint zu zweifeln, er sagt nur, dasz Jacobi darin Pantheismus gefunden habe; von Lessing spricht er nicht. 5) Jac. IV1 59, 42 Deutung der Stelle J), Lessing glaube zwar auch eine verstandige (intelligente) Weltursache, nur das „persönliche" sei ihm neu gewesen, scheint mir nicht zulassig. Die einzige Lösungsmöglichkeit -Ist wohl die etwas wohlfeile Annahme, Lessing habe „neu" hier in ironischem Sinne verwendet. Die Unskherheit, worauf man IV1 68 das Wort Parallelismus zu beziehen habe, hat Jacobi durch eine Beilage s) gehoben. Welche Argumente hat er nun für den Spinozismus seines Gastgebers angeführt *)? Zunachst kommen dabei einige Aeuzerungen Lessings über Spinoza in Betracht. „Ich. Da waren Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden. Lessing. Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weisz ich keinen andern. Ich. Spinoza ist mir gut genug: aber doch ein schlechtes Heil, das wir in seinem Namen finden. Lessing. Ja! wenn Sie wollen! — Und doch — Wissen Sie etwas besseres? —" 4). „Lessing. Also kennen Sie ihn (Spinoza) doch? Ich. Ich glaube ihn zu kennen, wie nur sehr wenige ihn gekannt haben mögen. Lessing. Dann ist Ihnen nicht zu helfen. Werden Sie lieber ganz sein Freund. Es giebt keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza" 5). In zweiter Linie Lessings Gottesbegriff. Schon zu Anfang hat er seinen Gegensatz zur Orthodoxie und seine Neigung *) Jac. IV- 74 ff. ") Jac. IVJ 97 ff. (1789). *) Zu -diesem und dem folgenden Kapitel vergleiche man: Hettner: Lireraturgeschichte des 18ten Jahrhunderts 5 III, 2, 535 ff.; E. Schmidt: Lessing II, 500 ff.; Schrempf: Lessing als Philosoph; Dilthey: das Erlebnis und die Dichtung 17 ff.; Lorentz: Lessings Philosophie, Einleitung; Kühnemann: Herder2 438 ff; Erhardt: a. a. O. 37 '); Pollock: a. a. O. 390 ff.; Grunwald: a. a. O. 84 ff.; Zirngiebl: a. a. O. 49 ff; Lévy-Bruhl: a. a. O. 139 ff. «) Jac. IV1 54. ») Jac. IV' 55. 43 zum Pantheismus ausgesprochen 1). Spater spricht er diesen Gedanken mehr positiv aus und scheint damit eine Ansicht anzudeuten, die mit Spinozas Lehre der substantia constans infinitis attributis deutliche Verwandtschaft zeigt'). Auch seine Aeuzerung über den Begriff der Weltseele s) laszt sich mit Spinoza in Zusammenhang bringen *). Interessant sind auch ein paar hübsche frivole Bemerkungen Lessings 6): vielleicht sei „er selbst das höchste Wesen und gegenwartig in dem Zustande der auszersten Contraction", worauf Jacobi ihn um seine Existenz bittet; und spater bei Gleim, als es wahrend des Mittagessens zu regnen anfangt; „Jacobi, Sie wissen, das tue ich vielleicht," welche letzte Aeuzerung Jacobi offenbar miszverstanden hat6). Für die Frage nach Lessings Gottesbegriff scheinen diese Scherzworte mir aber nicht von groszer Bedeutung. Jacobis Hinweis auf § 73 der Erziehung des Menschengeschlechts7) kommt an anderer Stelle zur Besprechung. I Dann der Determinismus. Als Jacobi ihm die Konsequenzen ' der Verwerfung aller und jeder Teleologie schildert, beantwortet Lessing diese Ausführung mit der für ihn so charakteristischen Aeuzerung: „Ich begehre keinen freien Willen" 8) 1) Vgl. mit Lessings wörtlicher Aeuszerung Spin. ep. 73, op. ITI 225. 2) Jac. IV1 61, zu beanstanden ware höchstens der Ausdruck: „Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offenbar in einer höheren Kraft gegründet", weil ja Bewegung kein Attribut der Substanz ist. Wie Zirngiebl (a. a. O. 51, 54) hierin einen Versuch zur „Belebung" des Spinozismus sehen kann, ist mir unverstandlich. 8) Jac. IV1 75 f. 4) Spin. Eth. II, Lemma 7 schol: „lotam Naturam unum esse Individuum, cujus partes, hoe est omnia corpora, infinitis modis variant, absque ulla totius Individui mutatione"; anders Ueberweg: a. a O. III 304. 5) Jac. IV1 74 f., 79 f. 6) Man sehe die Fusznote zü Jac. IV' 79; allerdings hat auch Mauthner (Spinozabüchlein 84, Anm.) diese Stelle nicht richtig aufgefaszt. 7) Jac. IV1 87. «) Jac. IV1 61. 44 und laszt über die Teleologie eine auszerst geringschatzige Bemerkung fallen 1). Nach einem nochmaligen Angriff Jacobis halt er ihm mit f einem Scherz Luthers Betragen auf dem Reichstag zu Augsburg entgegen; und er halt auch in einem kurz nach dem Gesprach geschriebenen Brief an Jacobi seinen Standpunkt in seiner humorvollen Weise fest ~). Das ware also das Material. Man könnte etwa noch hinzurechnen Lessings zustimmende Bemerkung, nachdem Jacobi ihm seine Auffassung des Spinozismus vorgetragen hat: „Ueber unser Credo also werden wir uns nicht entzweien" 8). Bevor ich zur Prüfung dieser freilich etwas dürftigen Daten schreite, ware es vielleicht nicht unerwünscht, uns zuerst einmal mit der Frage zu beschaftigen, was Mendelssohn, der Lessing ja intim kannte, obwohl ihr Freundschaftsbund in den letzten Jahren bedeutend gelockert war, da Lessing nach einem verfehlten Versuch darauf verzichtet hatte, Mendelssohn von seiner philosophischen Entwicklung auf dem laufenden zu halten *), gegen Jacobis Darstellung einzuwenden hat. Schon in den Jacobi zugeschickten „Erinnerungen" zeigt sich die Neigung, alles was Lessing in dem Gesprach geauszert hat, auf seine paradoxe Laune zurückzuführen6). Zum Teil mag Mendelssohn darin ganz recht haben, für die wichtigsten Punkte jedoch wird man diese Erklarung nicht gelten lassen können, vor allem, weil die darin von Lessing ausgesprochen Ansichten auch sonst, wie wir im letzten Kapitel sehen werden, belegt sind. In den ») Jac. IV1 62; vgl. Spin. Eth'. I app. 2) Lessing 18, 344. Ich setze die auszerordentlich charakteristische und in diesem Zusammenhang wohl noch nicht benutzte Bemerkung hierher: „Mündlich habe ich von Ihnen nicht Abschied nehmen sollen. Schriftlich will ich es nicht tun. Oder welches einerlei ist, und mir die kindische Antithese erspart, soll ich es auch nicht". *) Jac. IV1 58. 4) Jac. IV1 42. B) Jac. IV' 114 f. 45 „Morgenstunden" tritt dieselbe Neigung, nur mit wesentlich tieferer Begründung, hervor, indem Mendelssohn auf Lessings Vorliebe für „Rettungen" hinweist, auf seine Neigung, den Schwacheren, Angegriffenen zu verteidigen, auch wenn dessen Sache nicht die seine ist'). Damit hat er allerdings einen tief in Lessings Wesen begründeten Zug, die „intellektuelle Redlichkeit" s), angedeutet, die Anwendung auf den vorliegenden Fall bleibt aber aus dem obengenannten Grunde recht zweifelhaft, umsomehr, da Lessing doch in keiner seiner Rettungen so weit gegangen ist, Ansichten auszusprechen, welche durchaus nicht ihm selbst gehörten, und seine Paradoxie sich meistens auf den haufig sehr pointierten Ausdruck beschrankt8). In der Schrift „An die Freunde Lessings"' hat Mendelssohn sich sogar zu der Behauptung verstiegen, Lessing auszere in dem ganzen Gesprach keinen gesunden Gedanken *); seine ganze Haltung Jacobi gegenüber sei nur Spiel gewesen, daher habe er bei seinem Besuch bei Gleim, diesem gegenüber beharrlich geschwiegen 6). In dieser Form ist das Argument nicht langer diskutabel. Auch die übrigen Einwande Mendelssohns sind wenig stichhaltig. Nathan (eine Art Anti-Candidel) 6) und die Herausgabe der Wolfenbütder Fragmente bewiesen Lessings Zugehörigkeit zur Vernunftreligion vor allem ersterer gereiche . dem Christentum zur Ehre8). Wie schwach diese ') Mauthner: Spinozabüchlein 45 f.; der leichten Zuganglichkeit wegen zitiere ich Mendelssohn hier stets nach dieser bequemen Sammlung. 2) Schrempf: a. a. O. 120 ff. 3) Lessing 5, 319, (Rettung des Cardanus); 11, 62 f. (Berengarius Turonensis); 12, 219 (Adam Neuser). *) Spinozabüchlein 208, (vgl. die merkwürdige Beurteilung des Prometheus daselbst). 5) Daselbst 213. 6) Daselbst 42. 7) Daselbst 36; vgl. Jac. IV2 232 ff. *) Spinozabüchlein 44, 46 Gründe sind, hoffe ich im nachsten Kapitel zu zeigen. Seine Berufung auf einen Aufsatz Lessings aus dem Jahre 1753, „das Christentum der Vernunft" I), hat schon aus chronologischen Gründen, ganz abgesehen vom Inhalt, wenig Bedeutung; wahrend der an und für sich nicht sehr klare Gedanke von einem gelauterten Spinozismus, der allerdings Mendelssohn sehr heb ist und den er gern auf Lessing anwenden möchte, jeden Sinn verhert neben der erstaunlichen Behauptung, auch Spinoza hatte ganz gut ein orthodoxer Jude bleiben können2). Von dieser Seite hat also Jacobis These wenig zu befürchten. t Wenn wir seine Argumente nun aber naher ins Auge fassen, fallt eines sofort auf: ihre auszerordentliche Dürftigkeit. Nicht alsob das seine Schuld ware, denn er kann ja nur referieren was Lessing gesagt hat. Dasz er aber bei so geringem Material so zuversichtlich mit seiner Behauptung hervorgetreten ist, Lessing sei ein Spinozist gewesen, ist doch recht eigentümlich. Denn was hat Lessing nun eigentlich gesagt? Sein freiwilliges Bekenntnis zum Spinozismus lautet doch recht hypothetisch und verklausuliert: man hat schon hier die Empfindung, dasz der Mann, der so spricht, überhaupt kein Anhanger irgend eines metaphysischen Systems ist, sondern sich zwischen den Meinungen der Philosophen seinen eignen Weg sucht. Auszerdem konnte Jacobi auch nicht wissen, wie Lessing Spinoza aufgefaszt hatte, wodurch das Bekenntnis erst den richtigen Sinn bèkommen hatte. Aber, könnte man einwenden, Lessing erkenne doch Jacobis Darstellung des Spinozismus als richtig an (oben S. 44 f.) und damit ware die Sache entschieden. Allerdings, wenn man nur überzeugt ware, dasz Lessing genau auf die Worte seines Partners acht gibt und nichts durchschlüpfen laszt, 1) Daselbst 47 ff. 2) Daselbst 203. 47 was ihm nicht richtig scheint; das ist aber keineswegs immer der Fall. Ich greife das eklatanteste Beispiel vom Gegenteil heraus. Als Jacobi seinerseits die enge Verwandtschaft zwischen Leibniz und Spinoza darzutun sucht, führt er dafür unter andern Argumenten auch dieses an: „Mendelssohn hat öffentlich gezeigt, dasz die Harmonia praestabilita im Spinoza steht." ]) Er bezieht sich dabei offenbar auf Mendelssohns im Jahre 1755 erschienene „Philosophische Gesprache", worin diese Meinung verkündigt wird. Lessing beanstandet diese Behauptung mit keinem Worte, obwohl er diese einst mit Mendelssohn geteilte Ansicht2) jetzt langst aufgegeben hatte s). Die Beweiskraft seiner Zustimmung wird dadurch bedeutend geringer. Es bleiben noch sein mit Spinoza übereinstimmender Gottesbegriff und seine Anerkennung des Determinismus. Damit hat nun' freilich Jacobi gewonnenes Spiel insofern, als es keine Gründe gibt, diese Aeuszerungen ernsüich in Zweifel zu ziehen. Aber, ob indertat Lessings Gottesbegriff trotz weitgehender Uebereinstimmung sich ganz mit Spinoza deckt, scheint mir doch noch mehr oder weniger fraglich. Denn die Aeuszerung über Gott als Weltseele (oben S. 43) klingt jedenfalls doch wenig spinozistisch und ist es auch nicht, insoweit für diesen nicht das Attribut der cogitatio, sondern nur die Gesammtheit aller Attribute Gott ist, obwohl andererseits nicht zu leugnen -ist, dasz der Gedanke, das Geistige verhalte sich zum materiellen Weltall, wie der individuelle Geist zum- Körper, ganz im Sinne des Spinozismus ist. Auch Lessings positive Formulierung des Gottesbegriffs (oben S. 43, und Fusznote 2) stimmt nicht genau mit Spinoza überein. ') Jac IV1 65. 2) Lessing 7, 13 f. ') Lessing 14, 294 ff. und der Brief an Mendelssohn vom 17 April 1793: Werke 17. 196 ff.; vgl. Erich Schmidt: a. a. O. II 504 und Dilthey: a. a. O. 165. 48 Und der Determinismus? Hier ist allerdings ein Zweifel nicht möglich. Lessing anerkennt diesen Gedanken mit allen Konsequenzen, scheint'auch gegen Spinozas angeblichen Fatalismus wenig einzuwenden zu haben, und auch wenn wir \ J seine Meinung nicht anderswoher kennten, so würde doch / die oben (S. 44) angeführte Briefstelle deutlich beweisen, dasz er sich nicht in der Hitze des Gesprachs zu unbegründeten Aeuszerungen hat hinreiszen lassen. Das ware also das Resultat. Lessing ist ein ausgesprochener Determinist, er hat den orthodoxen Gottesbegriff verlassen und bekennt sich start dessen zu einer mehr oder weniger pantheistischen Auffassung Gottes, er halt die Lehre Spinozas für die beste c.q. die einzig gute ihm bekannte Philosophie. Und also ist er Spinozist? Jacobis Schluszfolgerung befremdet. Man hat zur Erklarung angeführt, er habe selbst keinen sehr klaren Begriff von der Lehre Spinozas gehabt und deshalb unkritisch Lessing auf einige halbverstandene Aeuszerungen hin zum Anhanger dieser Philosophie gemacht. Nach den Ausführungen des zweiten Kapitels glaube ich nicht, dasz diese Meinung aufrecht erhalten werden kann. Jacobi kannte seinen Spinoza zu gut, als dasz er so verfahren sein könnte. Eher noch möchte man glauben, Lessing habe mit der ihm in metaphysicis eigenen Nonchalance Spinoza genannt, was nicht genau Spinoza war. Damit ware etwas erklart, aber noch nicht alles. Auch Jacobi gebraucht das Wort Spinozismus in einem viel weiteren Sinne als die heutige Geschichte der Philosophie, aber nicht-aus Unkenntnis dieses Systems. Wir haben ja früher gesehen, (oben S. 31 f.) dasz die Lehre des Spinoza für ihn der Representant jeder wissenschaftlichen Weltanschauung war. In Lessing nun, dem die causale Determiniertheit alles Geschehens fest stand, findet er eine solche: daher hat er ihn in seinem Sinne einen Spinozisten genannt und in diesem Sinne sind 49 anch wohl Lessings eigene Aeuszerungen im Verlauf des > Gesprachs aufzufassen. Nach Jacobis Ansicht ist er also ein Anhanger des Spinoza, und wir werden uns im nachsten Kapitel zu fragen haben, soweit uns das sonst von Lessing Bekannte darüber Aufschlusz gibt, ob auch in unserm Sinne. 4 VIERTES KAPITEL. SPINOZA UND LESSING. Verhaltnismaszig spat erst finden wir in Lessings Werk die Spuren einer, zuerst noch zienüich oberflachlichen, konventionell gefarbten Beschaftigung mit Spinoza. Der Jüngling erscheint, wie die meisten seiner Zeit- und Bildungsgenossen, im Banne einer Denkrichtung, die sich an den Namen Christian Wolff knüpft und eine recht wenig eigenartige rationalistische Weiterbildung der Lehre des Leibniz darstellt. Immerhin ist es bemerkenswert, dasz schon sein erster, vermuthch noch nicht ganz selbstandiger philosophischer Aufsatz, die „Glückwünschungsrede bey dem Eintritt des 1743sten Jahres, von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern" eine merkwürdige Freiheit der Bewegung innerhalb der überkommenen Formen zeigt, worin die Frühreife des damals kaum vierzehnjahrigen Meiszner Fürstenschülers deutlich zu Tage tritt. Diese Unbefangenheit und Freiheit gegenüber den dogmatischen Grundlagen irgend eines philosophischen Systems hat Lessing auch als Mann immer behalten und sie hangt wohl im tiefsten Grunde zusammen mit seiner philosophischen Leichtglaubigkeit und Unglaubigkeit, die ein Lïeberzeugungsgefühl nur mühsam oder auch gar nicht aufkommen liesz. ») Werke 14, 135 ff. 51 Gerade diese Eigenschaft verieiht auch den unbedeutendsten seiner Aufzeichnungen diese herbe Frische, die uns auch aus seinen Meisterwerken entgegenweht, andererseits allerdings ist sie die Ursache der peinlichen Radosigkeit, worin wir uns so hëufig seinen philosophischen Aeuszerungen gegenüber befinden, wo er offenbar den herkömmlichen Sinn der von ihm gebrauchten Ausdrücke abgestreift hat, der neue Inhalt der alten Gefasze aber uns Uneingeweihten nicht sofort klar und faszlich ist, Denn Lessing zeigt eine weitgehende Toleranz gegen alle philosophischen Systeme, die in seinen Gesichtskreis treten, er bedient sich gern ihrer Terminologie, hat eine ausgesprochene Neigung, ihre Satze, wenn sie von irgend einem überlegenen Gegner angegriffen werden, zu verteidigen, sie vor allem gegen jede Beschuldigung der moralischen Minderwertigkeit in Schutz zu nehmen; und dennoch kann man nie auch nur mit annahernder Sicherheit behaupten, dasz er ein Anhanger dieser so verteidigten Ansichten sei. Die Lust am Kampf als solchem liegt ihm eben im Blut, der Drang dem Schwacheren zu Hilfe zu kommen ist ihm eine primare Leidenschaft, die gar nicht erst der Ueberzeugung bedarf, dieser Schwachere sei nun auch ganz im Recht, um zur Aeuszerung zu gelangen. Nicht auf die Prüfung der Pramissen kommt es ihm vor allem an, sondern auf die Sauberkeit des logischen Verfahrens richtet er sein Augenmerk und deckt da unbarmherzig jeden Fehler des Gegners auf, wahrend ihm die Endresultate haufig alles weniger als Lebensfragen sind. Beweise für diese Beschaffenheit des Lessingschen Denkens anzuführen, würde nicht schwer sein, sie zeigt sich eben, sei es auch mit sehr verschiedener Deutlichkeit. überall; immer wieder drMngt sich uns dieses weitgehende Geltenlassen fremder Gedanken, diese eigentümliche Ueberzeugungslosigkeit, diese rein logische Leidenschaft als der Kern seines Wesens auf. Besonders klar wird uns das in seinen jugend- 52 lichen „Rettungen", namentlich in der des Cardanus 1), in einem Lustspiel wie dem „Freygeist" *), am deutlichsten vielleicht in der Herausgabe der sogenannten Wolfenbütder Fragmente und in der sich daran anschlieszenden Polemik. Für unsre Frage bedeutet diese Wesenseigentümlichkeit Lessings eine doppelte Schwierigkeit. Denn erstens wird durch die vielfache Anlehnung an fremde Terminologie und Ausdrucksweise das Erfassen der Bedeutung an und für sich schon erschwert; andererseits musz nun noch, nachdem wir den Sinn irgend einer Aeuszerung klar herausbekommen haben, die Frage beantwortet werden, ob hier in der Tat seine eigentliche Ueberzeugung vorliegt, ob er, wie er es selbst einmal recht charakteristisch ausgedrückt hat, hier oovfMSTixMS oder yvtivourztxov; zu verstenen ist. Nur eine emgehende Analyse der fraglichen Aeuszerungen und das Zurateziehen eines möghchst ausgedehnten Materials können hier zum Erfolg führen und dieser Mittel werde ich mich im Folgenden gleichmaszig zu bedienen suchen. 1. In Lessings erster philosophischer Periode, die ich vom Jahre 1743 bis 1760, genauer bis zum Breslauer Aufenthalt, ansetzen möchte, kann yon einem Spinozismus schon deshalb nicht die Rede sein, weil er in diesem Zeitraum Spinoza noch nicht kennt. Zwar taucht der Name um das Jahr 1755 1) Werke 5, 310 ff. 2) Werke 2, 51 ff.; vgl. auch das Personenverzeichnis zum Entwurf des Stückes, Werke 3, 262: „Adrast, ohne Religion, aber voller tugendhaften Gesinnungen", eine merkwürdig unbefangene Aeuszerung für einen Pfarrerssohn seiner Zeit; sieh auch Nieten: Lessings religionsphilosophische Ansichten bis zum Jahre 1770 in ihrem historischen Zusammenhang und in ihren historischen Beziehungen (Bonner Dissertation 18%), 13 und Lessing: Werke 8, 127 ff. (49ster Literaturbrief) und 8, 239 ff. (106ter Literaturbrief). 53 herum in seinen Werken einige Male auf, von einem ernsten Studium Spinozas kann aber, wie wir sehen werden, gewisz noch nicht gesprochen werden und eine dieser Aeuszerungen hat er sogar spater (1763) ausdrücklich zurückgenommen. Sein Denken bewegt sich vielmehr wahrend dieser ganzen Periode auf der Linie Wolff-Leibniz, über welchen letzteren der junge Lessing allerdings hie und da recht merkwürdig hinausgeht. Schon seine ersten selbstandigen Schritte auf den Pfaden der Philosophie tragen den Charakter jener eigenartigen Freiheit und intellektuell bedingten Rücksichtslosigkeit, von der ich oben sprach, und zwar schon jetzt auf dem Gebiete der Religionsphilosophie, wie Lessing ja sein ganzes Leben hindurch, wie überhaupt die deutsche Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, niemals zu einer sauberen Trennung von Philosophie und Theologie gekommen ist. Sein Denken ist, wie bei den meisten seiner Zeitgenossen, zunachst theologisch und religiös orientiert, und wenn auf diesem Gebiete bei ihm von einer Entwicklung gesprochen werden soll, so ist sie, wie mir scheint, nur in einer Art Atrophie des so wie so schon niemals recht kraftigen religiösen Moments zu suchen. Das Anfangsstadium zeigen die poetischen Fragmente in Alexandrinern aus dem Jahre 17491). Er straubt sich hier energisch gegen Materialismus und Determinismus, die auch bei ihm in der bekannten unorganischen Verbindung auftreten: so legt er einem materialistischen Denker (vermutlich ist wohl Lamettrie gemeint) die Worte in den Mund *): „Die Freyheit ist ein Traums die Seele wird ein Ton, Und meint man nicht das Hirn, versteht man nichts da von" und «) Werke 1, 234 ff. 2) Werke 1, 238. 54 „Wer thut was ihm gefallt, thut das, was er thun sollte: Nur unser Stolz erfand das leere Wort: ich wollte", wahrend er selbst dem Materialismus gegenüber recht einleuchtend bemerkt'): „Doch sprich, du kluger Tor, wenn es die Körper zeugen, Versteht man es dann eh, als wenn es Geistern eigen? Du machest Schwierigkeit durch Schwierigkeiten klar, r Vertreibst die Dammerung und bringst die Nacht uns dar." Daneben hebt er mit groszem Nachdruck den Wert des Zweifels her vor 2): „Der Menge Beyfall ist zwar nie der Wahrheit Grund Und oft liegt ihre Lehr in eines Weisen Mund, Der alles selbst zu sehn, in sich zurückgegangen, Des Zweifels Gegengift durch Zweifeln zu erlangen", ein Moment, das auch in den Briefen dieser Zeit eine grosze Rolle spielt, so vor allem in dem Brief an den Vater vom 30 Mai 1749 s): „Die Zeit soll lehr en ob der ein beszrer Christ ist, der die Grundsatze der christlichen Lehre im Gedachtnisze und oft, ohne sie zu verstenen, im Munde hat, in die Kirche geht, und alle Gebrauche mitmacht, weil sie gewöhnlich sind; oder der, der einmal klüglich gezweifFelt hat, und durch den Weg der Untersuchung zur Ueberzeugung gelangt ist, oder sich wenigstens noch darzu zu gelangen bestrebet. Die christliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Aeltern auf Treue und Glaube annehmen soll." Auch in der „Rettung des Cardanus" findet diese Ansicht beredten Ausdruck *): „Was ist nöthiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen, und was ist unmögUcher als Ueberzeugung, ohne vorhergegangene Prüfung? — Der musz ein schwaches ') Werke 1, 240. 2) Werke l, 238. 8) Werke 17, 17 f.; anders faszt Nieten: a. a. O. 11 diese Briefstelle auf, indem er darin ernste Religiositat sehen will. 4) Werke 5, 319 (1754 erschienen). 55 Vertrauen auf die ewigen Wahrheïten des Heilandes setzen, der sich fürchtet, sie mit Lügen gegen einander zu halten." Die Wichtigkeit dieses Moments des Zweifels tritt deutlich hervor in der Tatsache, dasz gerade das tiefste dieser Alexandrinerdichtungen, „die Religion" % Fragment geblieben ist, indem die Lösung der Zweifel, von denen Lessing in der Vorerinnerung sagt, dasz sie „in den folgenden Gesangen widerlegt werden" sollen, gerade fehlt, offenbar, weil er über Positives nach dieser Richtung nicht mehr, oder, in seinem Sinne, noch nicht verfügte. Auch Gottes Existenz, die in einem Fragment, nach Cartesianischer Ansicht, noch ganz gesichert zu sein scheint2): „Gnug, wer Gott leugnen kann, musz sich auch leugnen können. Bin ich, so ist auch Gott. Er ist von mir zu trennen, Ich aber nicht von ihm. Er war, war ich auch nicht; Und ich fühl was in mir, das für sein Daseyn spricht" unterliegt jetzt diesem Zweifel, wenn man aus der hypothetischen Aeuszerung: „Dich höret, ist ein Gott, nur Gott und ich allein" Schlüsse ziehen darf8). Am meisten macht Lessing die Theodizee4) zu schaffen: auch hierin ein Sohn seiner Zeit. Er weisz Gottes Allgüte und Allweisheit nicht mit der Machtlosigkeit der Stimme des Gewissens den Trieben gegenüber zu reimen, überhaupt nicht die Frage zu lösen, wie Gott dasjenige, was er selbst in uns hervorgerufen hat, uns als unsre freie Tat anzurechnen vermag. Schon hier ist in den Zeilen 5): „Solch einen heissen Wunschi solch marternd Unvermögen, ') Werke 1, 255 ff. l) Werke 1, 239. Anders Nieten: a. a. O. 16, der diese Zeilen pantheïstisch auffaszt, wozu ich keine Möglichkeit sehe. 3) Werke i, 263; vgl. Erich Schmidt: a. a. O. I, 106. *) Werke 1, 261. 6) Werke 1, 261. 56 Die kann ein Gott zugleich in eine Seele legen? Ein machtig weiser Gott! Ein Wesen ganz die Huid! Und richtet Zwang als Wahl und Ohnmacht gleich der Schuld? Und straft die Las terbrut, die es mir aufgedrungen. Die ich nicht müde rang, und die mich lahm gerungen. O, Mensch, elend Geschöpf! Mensch! Vorwurf seiner Wuth! Und doch sind, was er schuf, du und die Welt sind gut?" die eigentümliche Verschlingung des Bedürfnisses nach einer / Theodizee mit dem Determinismus, die Lessings ganze spatere Philosophie durchklingt, im Keim vorhanden. Eine eigentliche Lösung findet dieses Problem nicht, Ansatze dazu sind allerdings vorhanden, so in einigen Fabeln; alle gravitieren dahin, dasz unsre Einsicht nicht ausreicht zu einer gründlichen Beurteilung des Weltalls und noch weniger zu einer essentiellen Verbesserung desselben Dasz ein solches Fallenlassen der eigentlichen Frage einen Menschen von Lessings inteüektueller Struktur auf die Dauer nicht befriedigen konnte, leuchtet von vornherein ein: das Problem der Theodizee hat ihn nicht mehr losgelassen. 'r"oeine hohe Bewertung des Moments des Zweifels zeigt sich auch deutlich in den fragmentarischen „Gedanken über die Herrnhuter" 8), wo schon seine spatere weitsichtige Vor» liebe für alles Ketzerische vorspukts). Dem christlichen Dogma steht er hier schon fast so fern wie spater, so wenn er den theologischen Streit zwischen Luther und Zwingli, der doch J) Vgl. Schrempf: a. a. O. 38, und die Fabel vom Maulwurf: Werke 1, 239 f. 2) Werke 14, 154 ff. Der Aufsatz stammt wohl aus dem Jahre 1750 (nach Danzel 1755). 8) So z. B. auf philosophischem Gebiet die ziemlich jeatschiedene Ablehnung des Platon und Aristoteles: Werke 14, 156 (auch Spinoza denkt über sie wenig günstig: „Non multum apud me Authoritas Platonis, Aristotelis, ac Socratis valet": ep. 56, op. Hl, 192); auf religiösem Gebiet der Hinweis auf Husz: daselbst 159. 57 gewisz nicht etwas Nebensachliches betraf *), mit den kühlen Worten berührt*): „Welch feindseliges Schicksal muszte zwey Marmer über Worte, über ein Nichts uneinig werden lassen, welche am geschicktesten gewesen warén, die Religion in ihrem eigenthümlichen Glanze wieder herzustellen, wenn sie mit vereinigten Kraften gearbeitet hatten?" Und noch rücksichtsloser, wo er, freilich mit Ablehnung jeder Konsequenz, Christus rein menschlich aufgefaszt haben will, nur als „einen von Gott erleuchteten Lehrer" 8), wobei er sich völlig unbewuszt, aber aus verwandtem Geist heraus mit Spinoza berührt, der reifer und entschiedener, seine Meinung im Tractatus theologico-politicus niedergelegt hat: „Verum monere hic necesse est, me de iis, quae quaedam Ecclesiae de Christo statuunt, prorsus non loqui, neque ea negare; nam libenter fateor, me ea non capere" 4). Befindet er sich schon hier langst auszerhalb der Bahnen des konzilianten Leibniz, so ist das, freilich in ganz anderer Weise, nicht weniger der Fall in dem von Mendelssohn nicht eben sehr geschickt als Waffe im Kampf geschwungenen Fragment aus dem Jahre 1753, „das Christentum der Vernunft" 6). Zwar die Grundtendenz, die Rationalisierung des christlichen Dogmas, laszt sich sicher auf Leibniz zurückführen, die Art und Weise aber, wie Lessing die Kluft zwischen Gott und Welt zu überbrücken sucht, indem er kühn die Einzeldinge zu Inhaken des göttlichen Bewusztseins macht8): „Gott dachte seine Vollkommenheiten zertheilt, das l) Vgl. Schrempf: a. a. O. 56. !) Werke 14, 159. 3) Werke 14, 157 f.; vgl. auch Nieten: a. a. O. 19. 4) Op. II, 99; und in genauer Uebereinstimmung in einem Brief an Oldenburg: ep. 73, op. Dl, 226. 5) Werke 14, 175 ff.; für Mendelssohns Benutzung des Fragments vgl. oben S. 46; für die Deutung des Aufsatzes Nieten: a. a. O. 26 ff. 6) Werke 14, 176 f. (§ 13 f.). 58 ist, er schafte Wesen, wovon jedes etwas von seinen Vollkommenhei ten hat; denn, um es nochmals zu wiederholen, jeder Gedanke ist bey Gott eine Schöpfung. Alle diese Wesen zusammen, heissen die Welt" lag gewisz nicht in der Absicht desselben. ebensowenig als die hyperindividualistische ethische Schluszwendung J): „handle deinen individualischen Vollkommenheiten gemasz". Die Annaherung an den Pantheismus s) ist unverkennbar und wird neuerdings mit Giordano Bruno in Verbindung gebracht");. von Spinoza, mit dem er in seiner Deutung des Begriffs vom Sohne Gottes4) übereinstimmt, trennt ihn noch das Festhalten an der Einzel- und Sonderexistenz Gottes, weshalb man seinen damaligen Standpunkt gewöhnlich mit dem Namen Pajientheismus andeutet. Die rationalistische Deutung und Unterbauung des Dogmas weist schon auf die verwandten Paragraphen der „Erziehung des Menschengeschlechts" hin. Kein Wort hat bis jetzt auch nur die oberflachlichste Bekanntschaft mit dem Spinozismus bekundet: im Jahre 1753 1) Werke 14, 178 (§ 26). 2) Allerdings auch nur eine Annaherung, vgl. Walzel: a. a. O. 17, Fusznote. s) Erich Schmidt: a. a. O. II, 512; vor allem Nieten: a. a. O. 33 ff. 4) Man vergleiche Lessing: Werke 14, 175 f.: „Gott dachle sich von Ewigkeit her in aller seiner Vollkommenheit; das ist, Gott schuf sich von Ewigkeit her ein Wesen, welchem keine Vollkommenheit mangelte, die er selbst besasz. Dieses Wesen nennt die Schrift den Sohn Gottes, oder welches noch bessèr seyn würde, den Sohn Gott. Einen Gott, weil ihm keine von den Eigenschaften fehlt, die Gott zukommen. Einen 'Sohn, weil unserm Begriffe nach dasjenige, was sich etwas vorstellt, vor der Vorstellung eine gewisse Prioritat zu haben scheint", mit Spinoza: Korte Verhandeling I, Cap. 9, wo er Bewegung und Denken „een Zone, Maaksel of Uytwerksel (an anderer Stelle „onmiddelijk Schepzèl") van God" nennt und mit ep. 73, op. UI, 226: „Denique, ut de tertio etiam capite mentem meam clarius aperiam, dico, ad salutem non esse omnino necesse, Christum secundum carnem noscere; sed de aeterno Ulo filio Dei, hoe est, Dei aeterna sapientia — longe aliter sentiendum." 59 taucht der Name Spinoza zum ersten Mal aufJ), bis dann die gemeinsam mit Mendelssohn verfaszte, philosophisch aber wohl hauptsachlich auf Lessing zurückgehende 2) Abhandlung 8) „Pope ein Metaphysikerl" die ersten recht vagen Andeutungen bringt. Der Name Spinoza tritt zuerst in merkwürdiger Verbindung mit ThaleS, Platon, Chrysippus und Leibniz auf, als Vertreter der optimistischen Lebensanschauung, „es sey alles gut"*). Wie Spinoza in diese Gesellschaft gekommen ist, ist nicht ganz klar, auch inhaltlich ist Lessings Behauptung kaum zu rechtfertigen, da eben die Kategorien des Optimismus und Pessimismus auf das System Spinozas nicht von Anwendung sind. Der auf dem Willen Gottes begründete Optimismus ist nun freilich auch Lessings Sache nicht und in der Bekampfung dieser Ansicht trifft er, recht auffallig, wieder mit Spinoza zusammen, dessen „confugere ad Dei voluntatem, hoe est ignorantiae asylum" 6) hier seine Parallele findet: „Was ist fauler, als sich bey einer jeden Naturbegebenheit auf den Willen Gottes zu berufen, ohne zu überlegen, ob der vorhabende Fall auch ein Gegenstand des göttlichen Willens habe seyn können" 4). Dasz wir hier, statt an Verwandtschaft, an eine direkte Beeinflussung zu denken hatten, glaube ich nicht. In anderem Zusammenhang ist in der namlichen Abhand- *) Werke 5, 181 (Rezension). Aus dem Jahre f754 stammt die merkwürdige Brief stelle über Mendelssohn: „Seine Redlichkeit und sein philosophischer Geist laszt mich ihn im voraus als einen zweyten Spinoza betrachten, dem xur völligen Gleichheit mit dem ersten nichts, als seine Irrthümer, fehlen werden." Werke 17, 40. 2) Vgl. Erich Schmidt: a. a. O. I, 259. 3) Werke 6, 411 ff. (1755). *) Werke 6, 412. 5) Eth. I, app. op. I, 70; vgl. auch tract theol.-pol. cap. 6, op. II, 160: „li igitur plane nugantur, qui ubi rem ignorant, ad Dei voluntatem recurrunt; ridiculus sane modus ignorantiam profitendi." 0) Werke 6, 412. 60 lung noch einmal von Spinoza die Rede In den Zeilen Popes: „AU are but parts of one stupendous whole, Whose body Nature is, and God the soul" hat ein Kritiker desselben (Crousaz) einen Einflusz von seiten dieses Philosophen gewittert. Lessing nimmt sich energisch des Dichters an, indem er ausführt, dasz eine solche Trennung von Gott und Natur durchaus dem Geiste des Spinozismus zuwiderlaufe. Diese Auffassung sei wohl bei „andern irrigen Weltweisen" zu finden, die „vom Spinosismo eben so weit abstehen, als von der Wahrheit". Diese letzte Aeuszerung ist recht zweideutig; diejenigen aber, die darin etwa eine An~ erkennung dieser Lehre sehen mochten, sollte doch der erste Teil des Satzes eines Bessern belehren, und wenn auch noch die vorausgehende Bezeichnung derselben als „des Spinosa irrigem Lehrgebaude" auf Rechnung Crousaz' kommen könnte2), völlig entscheidend sind Lessings eigene Worte, welche die ganze Befangenheit seiner Zeitgenossen teilen: „Wer hat sonst die Ausdehnung der Natur für eine Eigenschaft Gottes gehalten als dieser beruffene Irrglaubige?" *), sofern man nicht in letzterem Ausdruck, mit etwas willkürlicher Verdrehung des Zusammenhangs, eine Kritik der landlaufigen SpinozaaufFassung sehen will. Dasz Lessing allerdings schon jetzt ein gewisses Interesse für den Spinozismus gehabt haben musz und die Anfange seines Studiums desselben schon in diese Zeit zurückreichen, beweist seine Rezension von Mendelssohns „Philosophische Gesprache" (1755) 4). Dieser hatte u. a. darin nachzuweisen gesucht, dasz die harmonia praestabilita eigentlich nicht Leibniz' Eigentum sei, sondern von Spinoza herrühre, dessen ») Werke 6, 437. 2) Werke 6, 437. *) Daselbst; vgl. auch Nieten: a. a. O. 50. 4) Werke 7, 13 f. 61 Leugnung jeder Wechselwirkung zwischen Geist und Körper und Anerkennung eines durchgangigen Parallelismus zwischen geistigem und körperlichem Geschehen vollkommen mit jener Harmonie bei Leibniz übereinstimmen sollten. Diese Auseinandersetzung hat Lessings völlige Zustimmung: „Was fehlt diesen Satzen (n.1. des Spinoza), die vorherbestimmte Harmonie zu seyn, mehr als der Name?" *) Wie wenig tief er dabei aber in die Lehre Spinozas eingedrungen ist, beweist die Fortsetzung der Rezension: „Hierauf wird ein sehr kühner, aber wie es uns scheint, auch sehr glücklicher Gedanke vorgetragen, welcher den Gesichtspunkt betrift, aus welchem man Spinosens Lehrgebaude betrachten musz, wenn es mit der Vernünft und Religion bestehen solle. Der Verfasser meint nehmlich, man müsse es alsdann nicht auf die ausser uns sichtbare, sondern auf diejenige Welt anwenden, welche, mit Leibnizen zu reden, vor dem Ratschlusse Gottes, als ein möglicher Zusammenhang verschiedner Dinge in dem göttlichen Verstande existirt hat" 8). Ganz abgesehen von dem etwas unerquicklich aufklarerischen Ton dieser Satze: ein Bliek in die Ethica hatte Lessing eines Bessern belehren können. Seine Auffassung der harmonia praestabilita sah er sich bald genötigt zu widerrufen. 2. Das gründliche Studium des Spinoza in Breslau war dazu die Veranlassung. Noch immer bewegt er sich innerhalb der Haupdinien der Leibnizschen Anschauungen, aber mit immer gröszerer Freiheit und Kühnheit; und unter dem Einflusz des hollandischen Denkers, dessen Studium auch auszerlich gut J) Werke 7, 14. *) Werke 7, 14; vgl. Nieten: a. a. O. 52. 62 belegt ist1), werden die Transgressionen immer haufiger. Von groszer Wiehtigkeit für seine Auffassung des Philosophen ist die zuerst von Dilthey s) benutzte Notiz, er habe Spinoza aufgefaszt wie Dippel ihn verstanden hatte. Der Hauptnachdruck liegt bei diesem eigentümlichen Gegner Spinozas auf dem Determinismus desselben, indem seiner Ansicht nach Gott dadurch-zür Lïrsache der ganzen Welt, also auch alles Uebels darin, gemacht werde, damit aber auch eine radikale Aenderung des Gottesbegriffs bedingt sei, indem er, die Ursache des ganzen Weltgeschehens, logischer Weise einerseits gute und schlechte Qualitaten, andererseits die beiden Eigenschaften der „Dencking" und „Ausbreitung" in sich vereinigen müsse 3). Aehnliche Konsequenzen des Determinismus waren auch Lessing, wie wir oben (S. 55 f.) sahen, nicht fremd und es ist also sehr begreiflich, dasz er sich dem System des Spinoza von dieser Seite her genahert hat. Dasz er nach derselben durchaus zuverlassigen Quelle die Polemik Bayles, die den Spinozismus von der Seite der Substanzlehre anzugreifen gesucht hatte, miszbilligte und demselben vorwarf, er habe Spinoza miszverstanden, laszt die oben (S. 14) berührte, dahin deutende Frage Mendelssohns uns nachtraglich weit weniger absurd erscheinen, als sie Jacobi vorkam. Wir haben aber nicht blosz diese auszeren Zeugnisse für Lessings Beschaftigung mit Spinoza, auch die Werke aus den Jahren 1763 und 1764 zeigen deutlich die Spuren derselben. Zum Teil bewegen sie sich auf dem Gebiete der Religionsgeschichte: so das Fragment „Ueber die Entstehung der ge- ') Durch den Bericht seines Preundes Klose, sieh oben S. 14 und Fusznote 6. 2) Dilthey: a. a. O. 161 f. 8) Vgl. auszer der Stelle bei Dilthey auch Grunwald: a. a. O. 67 ff. und Nieten: a. a. O. 72 ff. 63 offenbarten Religion" 1), das „Ueber die Elpistiker" *) und die etwas gröszere unvollendete Abhandlung „Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion" 8). Die christliche Dogmatik ist seit dem Jahre 1750 noch bedeutend verflüchtigt, alle positiven Religionen scheinen Lessing jetzt gleich wahr und — gleich falsch *), und die Offenbarung wenig anders als eine Art frommer Betrug: „Diese positive Religion erhielt ihre Sanktion durch das Ansehen ihres Stifters, welcher vorgab, dasz das Conventionelle derselben ebenso gewisz von Gott komme, nur mittelbar durch ihn, als das Wesentliche derselben unmittel» bar durch eines jeden Vernunft"6), eine unhistorische Ansicht, die in ihrer extremen FormuUerung weit, fiber Spinoza s) hinausgeht und welche ihr Urheber spater auch wieder hat fallen lassen. In Religionssachen huldigt er jetzt der unbefangensten wissenschaftlichen Kritik: „Und dieser Untersuchung, sage ich zu mir selbst, unterziehe dich als ein ehrlicher Mann. Sieh überall mit deinen eigenen Augen. ') Werke 14, 312 f.; die Datierung ist unsicher. Erich Schmidt meint 1755,66, Muncker, wie mir scheint richtiger, 1763/64. 2) Werke 14, 297 ff. ") Werke 14, 314 ff. 4) Werke 14, 313. 6) Daselbst. 6) Vgl. die ganz anders klingende Würdigung des positiven Christentums bei Spinoza: tract. theol.-pol. cap. 15, op. II, 257 f.: „Jam antequam ad alia pergam hic expresse monere volo (tametsi jam dictum sit) circa utilitatem et necessitatem Sacrae Scripturae sive Revelationis, quod ipsam permagnam statuo. Nam, quandoquidem non possumus Lumine Naturali percipere, quod simplex obedientia via ad salutem sit, sed sola Revelatio doceat, id ex singulari Dei gratia, quam Ratione assequi non possumus, fleri; hinc sequitur, Scripturam magnum admodum solamen mortalibus attulisse. Quippe omnes absolute obedire possunt et non nisi paucissimi sunt, si cum toto humano genere comparentur, qui virtutis habitum ex solo Rationis ductu acquirunt; adeoque nisi hoe Scripturae testimonium haberemus, de omnium fere salute dubitaremus." 64 Verunstalte niches: beschönige nichts. Wie die Folgerungen flieszen, so lasz sie flieszen. Hemme ihren Strom nicht; lenke ihn nicht" *); worin er wieder mit Spinoza sachlich zusammentrifft, wahrend es sich aber nicht leugnen laszt, dasz das Stimmungsmoment bei ihm ein ganz andres ist. Ich glaube nicht, hier in Lessing etwas hineininterpretieren zu wollen, wenn ich die Vermutung ausspreche, dasz schon diese Stelle wesensverwandt ist mit der spateren negativ-kritischen Aeuszerung der intellektüellen Leidenschaft in dem Aufsatz „Bibliolatrie" (1779): „Denn ich hatte es langst für meine Pflicht gehalten, mit eigenen Augen zu prüfen, quid liquidum sit in causa Christianorum" s). Rein zufallig dagegen scheint mir die übereinstimmende Würdigung der Mathematik bei beiden Denkern s). Auf direkten Einflusz Spinozas sind zwei andere Fragmente aus der namlichen Zeit zurückzuführen. Zunachst der wohl an Mendelssohn gerichtete Aufsatz aus dem Jahre 1763: „Ueber die Wirkhchkeit der Dinge auszer Gott"4). Eine solche Wirklichkeit ist Lessing nicht denkbar, sie ^scheint ihm eine durchaus unnötige, ja unsinnige Verdoppelung der Inhalte des götdichen Bewusztseins, denen eine auszergöttliche Wirklichkeit doch nicht mehr Realitat geben könnte, als sie in dem Bewusztsein Gottes harten. Der Standpunkt des Panentheismus befestigt sich. Hierin allerdings, wie Hettner 6) will, eine Leugnung der Persönlichkeit Gottes zu sehen, scheint mir ganz verfehlt, wie man ja auch dem Standpunkt der subjektiven Bewusztseinsimmanenz, dem Solipsismus, nicht , vorwerfen kann, er hebe das individuelle menschliche Bewusztsein auf. ') Werke 14, 315. 2) Werke 16, 473. 3) Lessing 14, 316; Spinoza: Eth. I, app. op. I, 69. *) Werke 14, 292 f. s) a. a. O. III, 2, 541. 65 Wichtiger ist eine andere kleine Abhandlung *), die, wie sich aus dem fast wördich übereinstimmenden Brief vom 17 April 1763 *) ergibt, ebenfalls an Mendelssohn gerichtet war und den Nachweis zu führen sucht, „Leibniz sei durch Spinoza nur auf die Spur der vorherbestimmten Harmonie gekommen." Wie wir oben (S. 60 f.) sahen, war Mendelssohn und mit ihm Lessing 1755 anderer Meinung. Jetzt hat diesen das erst kürzlich 8) aufgenommene tiefere Studium des Philosophen auf andere Gedanken gebracht. Zunachst hat sich ihm die durchaus monistische Tendenz des Spinozismus als trennendes Moment aufgedrangt: „Nach ihm (d. h. Spinoza) stimmet die Folge und Verbindung der Begriffe in der Seele, blosz deswegen mit der Folge und Verbindung der Veranderungen des Körpers überein, weil der Körper der Gegenstand der Seele ist; weil die Seele nichts als der sich denkende Körper, und der Körper nichts als die sich ausdehnende Seele ist" *). Man sieht: ihm ist das Verstandnis aufgegangen für die eigentümliche Stellung der Seele dem Körper gegenüber, die das System Spinozas lehrt, indem letzterer als das Objekt der Seele dargestellt wird; und ganz mit Recht hebt er hervor, dasz der Parallelismus Spinozas eigentlich einen solchen zwischen den einzelnen Erkenntnisvorstellungen im Bewusztsein und ihren Objekten andeute: alles Einsichten, die eine recht gründliche Lektüre Spinozas unabweislich voraussetzen. Zu der sachlichen Frage ware zu bemerken, dasz indertat von einer Herübernahme der harmonia praestabilita aus dem Spinozismus historisch kaum die Rede sein kann, da Leibniz erst verhaltnismaszig spat') ( 2ur Formulierung dieses Begriffs gekommen ist, jedenfalls zu !) Werke 14, 294 ff. 2) Werke 17, 196 ff. 3) Werke 14, 294. *) Werke 14, 295. 6) Erst nach dem Jahre 1695. 5 66 einer Zeit, da er Spinoza schon mehr oder weniger feindlich gegenüberstand; diese Hypothese aber auch nicht (wie Lessing meint) *) direkt zur Ueberbrückung des Dualismus dienen soll, sondern vielmehr eine notwendige Erganzung der individuellen Abgeschlossenheit der Monaden bildet, obwohl diese „Pensterlosigkeit" derselben wieder eine Folge der dualistischen Weltanschauung ist, worauf ich hier jedoch nicht naher eingehen kann. Mendelssohns lange und etwas konfuse Antwort8) kann ich um so eher übergehen, als Lessing selbst nicht darauf geantwortet hat. Sonst sind uns aus dieser Zeit, bis zur Uebersiedelung nach Wolfenbüttel (1770), nur ganz sparliche Aeuszerungen über Spinoza und über Philosophisches überhaupt erhalten; andere Interessen nehmen Lessing in Anspruch: die Minna von Barnhelm, der Laokoon, das Hamburger Theater und die in Anschlusz daran entstandenen dramaturgischen Blatter, schlieszüch die Fehde mit Klotz. Nur einige zerstreute Briefstellen hebe ich hervor. So finden wir schon 1760 in einem Brief an den Berliner Genossen Ramler die Stelle: „die Reue, die unnützeste von allen unangenehmen Empflndungen" 8), die doch in ihrer offenbaren Verwandtschaft mit Ethica IV, prop. 54 wohl auf einen Einflusz von Spinozas Affektenlehre hindeutet, wahrend ich die Aeuszerung in einem spateren Brief an denselben: „alle Veranderungen unsers Temperaments, glaube ich. sind mit Handlungen unserer animalischen Oekonomie verbunden" *) nur zweifelnd mit dem universellen Parallelismus in Verbindung zu bringen wage und die Uebereinstimmung der Briefstelle an Nicolai über den Despotismus 6) mit Spinozas politischen Ansichten für rein zufallig halte. ») Werke 14, 295 oben. 2) Lessing 19, 178 ff. 3) Werke 17, 179. 4) Werke 17, 211. B) Werke 17, 298. 67 Die Abwendung seines Interesses von den philosophischen c, q. theologischen Streitigkeiten spricht ein Brief an Ebert aus dem Jahre 1768 deutlich genug aus: „Ich will ihm (d. h. Ebert) gern jede Uebersetzung als ein eignes Werk anrechnen: aber nur von der Religion müszte es nicht handeln. Das pro und das contra über diesen Punkt habe ich eines so satt, wie das andere" J). 3. Eine in dieser, wie in jeder Hinsicht neue Epoche bedeutet seit dem Jahre 1770 der Aufenthalt in Wolfenbüttel. Ein erneutes Interesse an Leibniz, dessen „Nouveaux essais sur 1'entendement humain", die 1765 erst ppsthum herausgegeben worden waren, im Oktober 1772 aber noch nicht auf der Wolfenbüttler Bibliothek vorhanden sind *) und Lessing bis dahin wohl unbekannt geblieben sein mogen*), ihn lebhaft anzogen, so dasz er sogar eine Uebersetzung derselben plante4), bildet das Leitmotiv. Diese Strömung freilich wird vielfach durch andere Momente durchkreuzt, die alle um denselben Mittelpunkt gravitieren: die Herausgabe der Fragmente aus Reimarus' „Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes", von der eine der beiden Handschriften , sich seit den Hamburger Tagen in Lessings Besitz befand. Die Bedeutung dieses Hauptangriffs des Rationalismus auf das orthodoxe Christentum musz ich hier als bekannt voraus~ ') Werke 17, 265. *) Brief an Eschenburg: Werke 18, 54. s) Anders Kettner: Lessings Dramen im Lichte ihrer und unserer Zeit, 220 f.; und Erich Schmidt: a. a. O. II 13, die die psychologische Technik in der Emilia Galotti mit den Nouveaux essais in Verbindung bringen. 4) Werke 15, 512 ff. 68 setzen*), auch auf den Inhak der einzelnen von Lessing publizierten Fragmente werde ich in meiner Darstellung nur dann eingehen, wenn dadurch die Charakteristik desselben direkt gefördert wird; hier aber möchte ich nur dar auf hinweisen, dasz die Vorbereitungen zur Herausgabe, diese selbst, und die sich daran anschlieszende Polemik fast diese ganze letzte Periode in Lessings Leben ausfüllen. Mehr als je ist er in diesen Jahren Theologe: mit Ausnahme des einzigen Dramas, der Emilia Galotti, dessen Anfange aber weit zurückliegen, bewegt er sich fast ausschheszhch auf dem Gebiete der Religions- und Kirchengeschichte und der Religionsphilosophie. Zunachst allerdings scheinbar in ganz orthodoxen Bahnen: der „Berengarius Turonensis" (1770) 2) liefert einen vermutÜch nicht' unwillkommenen Beitrag zur lutherischen Abendmahlslehre, der ihm auch als solcher von orthodoxer Seite hoch angerechnet wurde: „Sie glauben nicht, in was für einen heblichen Geruch von Rechtglaubigkeit ich mich dagegen bey unsern lutherischen Theologen gesetzt habe. Machen Sie sich nur gefaszt, mich für nichts geringeres, als für eine Stütze unserer Kirche ausgeschrieen zu horen. Ob mich das aber so recht kleiden möchte, und ob ich das gute Lob nicht bald wieder verlieren dürfte, das wird die Zeit lehren" • schreibt er an Eva König 8). Man hat aus dieser Briefstelle schlieszen wollen *), der Berengar sei eine Art Schachzug gewesen, um sich des Vertrauens der Orthodoxie zu bemachtigen. Der Ton der Aeuszerung macht das recht be- *) Man vergleiche Hettners vorzügliche Charakteristik der Schutzschrift: a. a. O. UI, 2, 44 ff.; und D. F. Strausz: Herm. Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, gesammelte Schriften V, 229—409 (Bonn 1877). 2) Werke 11, 57 ff. *) Am 25 Oktober 1770, Werke 17, 343. 4) So wohl Schrempf: a. a. O. 133. 69 greiflich. Dennoch stehen, wie mir scheint, dieser Auffassung gewichtige Bedenken entgegen. Denn gerade diese Abhandlung enthalt wieder eine allerdings etwas versteckte Verteidigung des religiösen Zweifels, wenn es von einem Durchschnittstheologen heiszt: „Er war einer von den ganz gemeinén Leuren, die mit halb offnen Augen, wie im Traume, ihr en Weg so fortschlendern. Entweder weil sie nicht selbst denken können, oder aus Kleinmuth nicht selbst denken zu dürfen vermeinen, oder aus Gemachlichkeit nicht wollen, halten sie fest an dem, was sie in ihrer Kind heit gelernt haben: und glücklich genug, wenn sie nur von andern nicht verlangen, mit Gutem und Bösem verlangen, dasz sie ihrem Beyspiele hierinn folgen sollen" 1). Dann aber spricht Lessing hier zum ersten Male rückhaltlos seine Meinung über den Begriff der Ketzerei aus: „Das Ding, was man Keizer nennt, hat eine sehr gute Seite. Es ist • ein Mensch, der* mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen. Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst' sehen wollen. Ja in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die gröszte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können" ~). Sollte auch das achtzehnte Jahrhundert vielleicht ein solches sein? Dasz hier von einem vorlutherischen Ketzer die Rede ist, nimmt der Aeuszerung in ihrer Allgemeinheit nicht ihre Spitze. Nach einer klug überlegten Annaherung an die Orthodoxie aber sehen doch diese und ahnliche3) Stellen wenig aus. Lessing aber ganz auf die andere Seite drangen zu wollen, verbieten uns in der oben zitierten Briefstelle die Wbrte „unserer Kirche", die auch in der Abhandlung selbst wiederkehren: „hat er seine Waffen einzig l) Werke 11, 62. *j Werke 11, 62 f. ■) Vgl. noch Werke 11, 79 f. 70 und allein gegen eine Lehre gerichter, welche auch von unserer Kirche bestritten wird" Auf den ersten Bliek vielleicht etwas befremdend, drücken diese Worte einen auch sonst von Lessing festgehaltenen Gedanken aus: trotz aller Freisinnigkeit und kritischen Neigung empfindet er sich als zur lutherischen Kirche gehorig, ja als mit ihrem Stifter wesensverwandt. Ob wir diese seine Ansicht teilen können, ist eine andre Frage, die spater zur Sprache kommen soll. Die Schluszworte der Briefstelle könnten sehr gut einen Hinweis auf die künftige Herausgabe der Fragmente enthalten, umsomehr als auch im Berengar selbst Hindeutungen auf Reimarus nicht fehlen: so die schon von Schrempf2) auf ihn bezogene Stelle: „Ich weisz nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit aufzuopferh; wenigstens sind Muth und Entschlossenheit, welche dazu gehören, keine Gaben, ' die wir uns selbst geben können. Aber das, weisz ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz, oder gar nicht, zu lehren; sie klar und rund, ohne Rathsel, ohne Zurückhaltung, ohne Misztrauen in ihre Kraft und Nützlichkeit zu lehren: und die Gaben, welche dazu erfordert werden, stehen in unserer Gewalt" 3), und diese andere: „Der Mann, der, bey drohenden Gefahren, der Wahrheit untreu wird, kann die Wahrheit doch sehr lieben, und die Wahrheit vergiebt ihm seine Untreue, um seiner Liebe willen" 4). Auch sonst beschaftigt ihn offenbar die Schrift des Reimarus sehr, wie das aus einem Brief an Mendelssohn vom 9 Januar 1771 hervorgeht'5). Dieser überlegene Angriff auf Bibel und Christentum hat ihn von den rationalistischen Extremen der sechziger Jahre, wie es scheint, geheilt: „Doch ich besorge ») Werke 11, 67. 2) a. a. O. 128. *) Werke 11, 69 f. 4) Werke 11, 70. s) Werke 17, 364 ff. 71 es nicht erst seit gestern, dasz, indem ich gewisse Vorurtheile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen" 1). Ich denke hier in erster Linie an die unhistorische Auffassung der positiven Religion (oben S. 63). Die nachsten Jahre bringen dann den Höhepunkt seiner Beschaftigung mit Leibniz: die beiden in den „Beitragen zur Geschichte und Litteratur" erschienenen Aufsatze: „Leibnitz von den ewigen Strafen" ') und „Des Andreas Wissowatius Einwürfe gegen die Dreyeinigkeit" 8); beide aus dem Jahre 1773. Der Hauptnachdruck in den zwei Abhandlungen, deren sachlicher Inhalt für unsere Untersuchung von geringer Bedeutung ist, liegt auf Leibniz' Neigung, überall das Entgegengesetzte zu versöhnen, und auf der wertvollen Unterscheidung zwischen esoterischem und exoterischem Vortrag seiner Ueberzeugung, womit er offenbar Lessings volle Sympathie hat. Ich stelle die betreffenden Aeuszerungen zusammen: „Leibnitz nahm, bey seiner Untersuchung der Wahrheit, nie Rücksicht auf angenommene Meynungen; aber in der festen Ueberzeugung, dasz keine Meynung angenommen seyn könne, die nicht von einer gewissen Seite, in einem gewissen Verstande wahr sey, hatte er wohl oft die Gefölligkeit, diese Meynung so lange zu wenden und zu drehen, bis es ihm gelang, diese gewisse Seite sichtbar, diesen gewissen Verstand begreiflich zu machen. — Er that damit nichts mehr und nichts weniger, als was alle alte Philosophen in ihrem exoterischen Vortrage zu thun pflegten. — Er setzte willig sein System bey Seite; und suchte einen jeden auf demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen, auf welchem er ihn fand" 4). 1) Werke 17, 365. 2) Werke 11. 461 ff. 8) Werke 12, 71 ff. 4) Werke 11, 470. 72 „Ich gcbe es zu, dasz Leibnitz die Lehre von der ewigen Verdammung sehr exoterisch behandelt hat; und dasz er sich esoterisch ganz anders darüber ausgedrückt haben würde. — Vielmehr bin ich überzeugt, und glaube es erweisen zu können, dasz sich Leibnitz nur darum die gemeine Lehre von der Verdammung, nach allen ihren exoterischen Grimden, gefallen lassen; ja gar sie lieber noch mit neuen bestarkt hatte: weil er erkannte, dasz sie mit einer grossen Wahrheit seiner esoterischen Philosophie mehr übereinstimme, als die gegenseitige Lehre" 1). „Glauben! selbst nichts glaubte! — Es sey einen Augenbliek. Leibnitz hat nichts geglaubt: aber war es ihm darum weniger vergönnt, die verschiednen Meynungen von Christo, als so viel verschiedene Hypothesen zu betrachten, nach welchen die von ihm redenden Stellen der Schrift auf eine übereinstimmende Art zu erklaren?" i). Die Sympathie mit Leibniz ist überall in diesen Worten unverkennbar. Und das braucht uns nicht zu wundern. Denn in der ganzen Art dieses Philosophen fand Lessing eben das wieder, was auch den Kern seines eignen Wesens ausmachte: diesen logisch bedingten Enthusiasmus, der immer mehr sein Führer wird auf allen Untersuchungsgebieten und der ihm . bis zuletzt treu geblieben ist. Es ware eben durchaus falsch zu meinen, er sei erst durch Leibniz in diese Richtung hineingeraten; vielmehr beruht seine Vorliebe für denselben hauptsachlich auf dieser inneren Verwandtschaft8) und im günstigsten Falie ware hier von der Bestarkung in einer langst vorhandenen Tendenz zu sprechen. Auf anderem Gebiete allerdings scheint Leibniz jetzt seine Zweifel auch inhaldich befriedigt zu haben; wenigstens kann ich mir die >) Werke 11, 473. 2) Werke 12, 93. ») Vgl. Nieten: a. a. O. 56. 73 Wortc: „Schlimm genug, dasz man die Lehre von der besten Welt noch immer seine Lehre nennt: warum sollen nun auch die einzigen wahren Begriffe von der Gerechtigkeit Gottes, seine Begriffe heissen?" x) kaum anders denn als eine Anerkennung der Leibnizschen Theodizee zurechtlegen. Wir werden sehen, dasz dieser Standpunkt ihm auf die Dauer nicht genügt. Den Einflusz der Lektüre der Nouveaux essais beweist eine spatere Stelle (1777), wo die petites perceptions eine Rolle spielen bei der rationalistischen Umdeutung des Dogmas vom Sündenfall: „Mit einem Worte; die Macht unsrer sinnlichen Begierden, unsrer dunkeln Vorstellungen über alle noch so deutliche Erkenntnisz ist es, welche zur kraftigsten Anschauung darinn gebracht wird" s). — Ich kehre zurück zum Jahre 1774. Nach vielem Schwanken hat Lessing sich zur Herausgabe einiger Fragmente aus dem Werk des Reimarus entschlossen und noch einmal, bevor das erste derselben: „Von Duldung der Deisten" 8) erscheint, bricht im „Adam Neuser" *) sich die Vorliebe für die Ketzer Bahn: „Apostat und Mameluke so vielmal, als man will!" 6j, allerdings mit der klugen, wohl auf die eigne Lage zu beziehenden Warnung: „Denn ein anderes ist, der Vertraute irriger Lehrsatze seyn; und ein anderes solche Lehrsatze selbst hagen" 9). Dann laszt er die Winde aus dem Sack. Das erste verhaltnismaszig unbedeutende Fragment macht wenig Eindruck \ Dann folgen im Jahre 1777 fünf weitere Stücke und schon mitten im Kampf 1778 das letzte. Wir werden uns zunachst die Frage vorzulegen haben, was Lessing ») Werke 11. 471 f. 2) Werke 12, 433. 3) Werke 12, 254 ff. *) Werke 12, 202 ff. 6) Werke 12, 219. 6) Werke 12, 251. 7) Vgl. Erich Schmldt: a. a. O. D, 225 ff. 74 mit dieser Herausgabe beabsichtigte. Selbst hat er sich darüber wiederholt, allein nicht ohne Widérsprüche ausgesprochen. Das Erscheinen der fünf Fragmente fiihrt er auf den Wunsch eines Lesers zurück, der ihn beschworen habe, „dem Publico ja mit nachstem ein Mehreres, und, wo möglich, das Dreisteste und Starkste, daraus mitzutheilen, um bey Kleinglaubigen den Verdacht nicht zu erwecken, was für unbeantwortliche Dinge so geheim gehalten würden" 1). Anders klingt es in der Duplik (1778): „Ich glaubte allerdings, dasz auch inden einzeln Materiën, in welche die gelieferten Fragmente schlagen, noch nicht besseres und gründlichers geschrieben worden, als eben diese Fragmente" 8). Wieder anders in einem nicht herausgegebenen Aufsatz gegen Mascho: „Ich musz es nur bekennen, dasz ich mir gleich anfangs vorgenommen, nicht das geringste gegen die Fragmente schreiben oder auch gelegendich erinnern zu lassen, ohne sofort meine Augen selbst dabey zu haben. — Ich habe ihn darum in die Welt gezogen, weil ich mit ihm nicht langer allein unter einem Dache wohnen wollte. Er lag mir unaufhörlich in den Ohren; und ich bekenne, dasz ich seinen Zuraunungen nicht immer so viel entgegen zu setzen wuszte, als ich gewünscht batte. Uns, dachte ich, musz ein dritter entweder naher zusammen oder weiter auseinander bringen: und dieser dritte kann niemand als das Publikum seyn" 8). Goeze gegenüber beruft er-sich auf sein Amt als Bibliothekar: als solch er publiziere er alles, was ihm in die Hande komme, ohne sich um die Folgen zu kümmern 4). Spater im Kampf gegen diesen fallen die Worte: „denn eben darum zog ich ihn an das Licht, damit ihn recht viele prüfen, recht viele widerlegen könnten. ») Werke 12, 303. *) Werke 13, 24. 8) Werke 16, 406. 4) Werke 13, 96 f. (1778). 75 Weil ich das Gift, das im Finstern schleichet, dem Gesundheits:athe anzeige, soll ich die Pest in das Land gebracht haben?"1). Und übereinstimmend: „O impudentiam singularem! Accusant nedicum, quod venena prodiderit. — So wünschte ich wenigitens alle und jede ausgesetzte Geburthen des Geistes, mit iins in das grosze für sie bestimmte Findelhaus der Druckerey aringen zu können" !). Dagegen an die Aeuszerung gegen Vlascho anklingend: „Ich möchte nehmlich gar zu gern, selbst loch etwas von der Widerlegung mit aus der Welt nehmen. Ich bedarf ihrer. Denn, dasz ich als Bibliothekar die Fragnente meines Ungenannten las, war nicht mehr als billig; and dasz sie mich an mehrern Stellen verlegen und unruhig nachten, war ganz natürlich" s). Die ungedruckte Aeuszerung ius der Schrift gegen Mascho kehrt dann im elften Antioroeze wieder *). Schlieszlich bringt die Vorrede des letzten Fragmentes die Begründung: ich habe nicht geschwiegen, ,weil dem Feuer musz Luft gemacht werden, wann es geöscht werden soll" 6). Ich habe diese für unsre Frage doch nicht so besonders svichtigen Zitate hier in solcher Breite gegeben als Probe Ier Schwierigkeiten, die Lessings schillernde, sich jedem Segner anpassende, durchaus exoterische Ausdrucksweise bisweüen darbietet. Man kann in all diesen Aussprüchen :weierlei Tendenzen deutlich unterscheiden: Lessing will ïinerseits die Fragmente herausgegeben haben, — damit sie widerlegt werden konnten; andererseits deutet er an, er habe iie ans Licht gebracht, unbekümmert um jede Folge, mit ïinem nur intellektuellen Interesse für ihre weiteren Schicksale. Die Behauptung, er habe sie auf die Bitte eines Dritten ]) Werke 13, 142 (erster Anti-Goeze). *) Werke 13, 175 f. (sechster Anti-Goeze). 8) Werke 13, 184 (siebenter Anti-Goeze). *) Werke 13, 208. 5) Werke 13, 219. 76 publiziert, scheidet direkt aus durch sein eignes Gestandnis: „Ich will gerade zu bekennen, dasz ich auch ohne alle Auffoderung würde gethan haben, was ich gethan habe"1). Ebenso auch die Berufung auf sein Amt als Bibliothekar, denn Reimarus' Manuskript gehorte gar nicht zur Wblfenbütder Bibliothek. Ob aber auch das erste Motiv, das Bedürfnis, die Fragmente widerlegt zu sehen, hier ganz aufrichtig gemeint ist, scheint mir doch auszerst zweifelhaft. Wir haben schon gesehen, wie negativ-kritisch Lessing in den sechziger Jahren dem Christentum und jeder positiven Religion gegenüberstand 2j, und wie sehr doch, wenn er auch seinen damaligen extremen Standpunkt jetzt aufgegeben hatte, er darauf aus war, dieses Christentum etwas mehr als blosz unbefangen zu prüfen3). Ich neige daher zu der Ansicht, dasz auch bei der Herausgabe dieser Fragmente die intellektuelle Leidenschaft, das Bedürfnis nach logischer Aufregung, v der kritische Affekt die Haupttriebfeder ist. Zwar bin ich mir bewuszt, dasz dieser Auffassung bedeutende Schwierigkeiten entgegenstehen, hege aber die Zuversicht, dasz diese bei naherer Betrachtung sich als doch nicht so erbeblich herausstellen werden. Dazu wird es aber notwendig sein, den ganzen Zeitraum etwa vom Jahre 1774 bis 1779 ins Auge zu f assen. Da treten uns denn in erster Linie eine Reihe von Zeugnissen entgegen, worin Lessing deutlich einen Platz innerhalb des Christentums, ja innerhalb der lutherischen Kirche für sich in Anspruch nimmt, und wovon einige schon oben (S. 69 f.) Erwahnung fanden. So am wuchtigsten in dem „Absagungsschreiben" an Goeze: „Ich will schlechterdings *) Werke 13, 176 (sechster Anti-Goeze). 2) Oben S. 63. 3) Daselbst; vgl. vor allem auch den Aufsatz „Bibliolatrie": Werke 16. 470 ff. 77 /on Ihnen nicht als der Mann verschrïeen werden, der es nit der Lutherischen Kirche weniger gut meynet als Sie. Denn ich bin mir bewuszt, dasz ich es weit besser mit ihr neyne, als der, welcher uns jede zördiche Empflndung für sein eintragliches Pastorat, oder dergleichen, lieber für heiligen Eifer um die Sache Gottes einschwatzen möchte. >— O sancta iimplicitas! — Aber noch bin ich nicht da, Herr Pastor, wo ier gute Mann, der dieses ausrief, nur noch dieses ausrufen Itonnte. — Erst soll uns hören, erst soll über uns urtheilen, wer hören und urtheilen kann und will! O, dasz Er es könnte, Er, den ich am liebsten zu meinem Richter haben möchte! — Luther, du! — Grosser verkannter Mann! Und vön niemanden mehr verkannt, als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg, schreyend aber gleichgültig daher schlendern! — Du bast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unertraglichern Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde! Wer — —*) Und als Goeze doch dabei bleibt, dasz Lessing kein lutherischer Christ sei, lautet es in den „Axiomata": „Nur eines musz ich mir dabey ausbedingen. Er musz nicht thun, alsob der, welcher gewisse Beweise einer Sache bezweifelt, die Sache selbst bezweifle. Der geringste Fingerzeig dahin ausgestreckt, ist Meuchelmord" 2). Und ebenso im dritten Anti-Goeze: „Er sagt mir so gar hier und da recht artige Dinge, — nur damit es mich nicht allzusehr schmerze, dasz er mich aus dem Hause meines Vaters wirft" 8). J) Werke 13, 101 f. s) Werke 13, 109. s) Werke 13, 155: auszerdem ware noch anzuführen der Brief an Herzog Karl von Braunschweig vom 11 Juli 1778, worin der Satz vorkommt: „dasz ich mich bey aller Gelegenheit als den orthodoxesten Verteidiger der Lutherschen Lehre erwiesen habe", Werke 18, 271. Die extreme Formulierung erklart sich deutlich genug aus dem Zweck des Briefes. 78 Man sollte meinen, diese Aeuszerungen klangen doch sehr positiv und überzeugend. Aber was besagen sie eigentlich? Zunachst doch nur, dasz Lessing nicht aus der Kirche — gedrangt zu werden wünscht; wer aber bürgt uns dafür, dasz er bei lang er em Leben nicht frei willig gegangen ware? Oder wenn er, was bei seiner Nonchalance nicht undenkbar ist, geblieben ware, musz er uns deshalb als ein glaubiger Christ erscheinen? Und die Berufung auf Luther? Hat er sich damit nicht ausschlieszlich an das Revolutionare in dem groszen Reformator gewandt und das Beengende und Dogmatische des alteren Luther vollstandig übersehen? Ist nicht überhaupt seine ganze Haltung eine Kampf haltung, fast hatte ich gesagt eine Fechtpose? Das obenzitierte Wort yu/avasorocM; *) fallt schwer in die Erinnerung. Und es steht nicht allein. Schon 1774 heiszt es in einem Briefe an Mendelssohn: „Denn es ist unstreitig besser, eine unphilosophische Sache sehr philosophisch vertheidigen, als unphilosophisch verwerfen und reformiren wollen"2). Und ganz entscheidend an Elise Reimarus8): „Es freuet mich, dasz Sie die Taktik meines letzten Bogens so gut verstehen. Ich will ihm Evolutiones vormachen, deren er sich gewisz nicht versieht. Denn da er (d. h. Goeze) sich nun einmal verredet hat, und wissen will, nicht was ich von der christlichen Religion glaube, sondern was ich unter der christlichen Religion verstehe: so habe ich gewonnen, und die eine Half te der Christen 4) musz mich immer gegen die andere in meinem Boll werke schützen". Ich glaube nicht, dasz man es, bei unbefangener Betrachtung, 1) Vgl. oben S. 52 und den Brief an Karl Lessing vom 16 Marz 1778: Werke 18, 266. 2) Werke 18, 110. 3) Brief vom 9 August 1778: Werke 18, 284. *) Lessing meint hier Lutheraner und Katholiken, welchen letzteren er durch seine hohe Bewertung der Tradition (regula fidei) naher getreten war. 79 psychologisch plausibel machen könnte, dasz der Schreiber dieser Zeilen ein Christ, ja auch nur ein religiöser Mensch war; und alle Versuche, sein Wesen und seine Werke nach dieser Richtung hin zu interpretieren, werden immer an einer auf die Dauer unleidlichen Schiefheit kranken. Es scheint, als hatten wir Spinoza ganz und gar aus den Augen verloren. Allerdings wird der Name wahrend dieser ganzen Zeit in Lessings Werken und Briefen auch nicht einmal genannt und indertat scheint die tiefere Beschaftigung mit Leibniz das Interesse an Spinoza teilweise verdrangt zu haben. Aber doch nur auf kurze Zeit und niemals ganz. Dasz aber in meinen Betrachtungen über Lessings theologischen Kampf bis jetzt von ihm gar nicht die Rede war, hat einen andern Grund. Wir haben uns ja zunachst nur mit dem Formellen und Persönlichen dieses Streits beschaftigt, und gewisz ist nicht dort der Einflusz des hollandischen Philosophen zu suchen. Sobald wir uns aber den sachlichen Momenten und stoffiichen Fragen dieser groszartigen Polemik zuwenden, wird die Sache eine ganz andere, denn hier begegnen wir auf Schritt und Tritt bei Lessing Ansichten, die er mit Spinoza teilt, und die ihm dieser zum Teil gewisz vermittelt hat, wenn auch andere Einflüsse dabei durchaus nicht ausgeschlossen sind. Schon im Jahre 1776, in den auch sonst wichtigen Zusatzen des Herausgebers zu den „Philosophischen Aufsatzen von Karl Wilhelm Jerusalem", finden wir einen Gedankengang angedeutet, der für Lessings reügionsphilosophische Ansichten von entscheidender Bedeutung werden sollte: ich meine den ïiner götdichen Erziehung des Menschengeschlechts. Es heiszt bier in der Besprechung des ersten Aufsatzes 1), über den Ursprung der Sprache: „Zugegeben, dasz die Menschen die Sprache selbst erfinden können; wenn gleich wol auf die J) Lessing 12, 297. 80 Erflndüng derselben, wie sich vermuthen laszt, eine so geraume Zeit, vielleicht so viele, viele Jahrhunderte vergehen mussen: so war es ja wol der Güte des Schöpfers gemasser, zum Besten derer, welche in diesen sprachlosen Zeiten ein so kümmerliches, kaum Leben zu nennendes Leben gelebt hatten, dem Dinge seinen langsamen ganz natürüchen Lauf nicht zu lassen, sondern den Weg jenes Unterrichts zu wahlen". Der Gedanke einer göttlichen Erziehung wird hier also in Gegensatz gebracht zur natürlichen Entwicklung, ein Standpunkt, der auch in der „Duphk" wiederkehrt und auszerlich in der „Erziehung des Menschengeschlechts" *) festgehalten wird. Nur deuten in letzterem Aufsatz, der wo nicht den Abschlusz. so doch den höchsten Gipfel von Lessings religionsphilosophischer Entwicklung bedeutet, viele Anzeichen darauf hin, dasz wir es hier mit einer durchaus exoterischen Form zu tun haben, und dasz in der Tat die göttliche Erziehung und die natürhche Entwicklung als identisch zu betrachten sind. Und dies nicht in dem Sinne, dasz Gott seine Erziehung, seine Plane mittelst der natürlichen Entwicklung verwirkliche, denn das liesze sich mit dem schroffen Gegensatz zwischen göttlichem Eingreifen und ruhigem Entwicklungsgang bei Lessing nicht vereinigen; sondern in dem andern, dasz die Bedeutung des - Eingreifens Gottes fast zu einer leeren Formel wird. Schon der Vorbericht weist auf eine solche Auffassung hin: „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können und noch weiter entwickeln soll"8). Von einem Gegensatz zu der natürhchen Entwicklung oder auch nur von einem Eingreifen in dieselbe kann da doch kaum ») Werke 13, 88 f. 2) Werke, 13. 415 ff. ») Werke 13, 415. 81 mehr die Rede sein. Und ebensowenig kann derjenige im Ernst die Bibel als ein Erziehungsmittel Gottes betrachten, der schreibt: „Sie (die neutestamentlichen Schriften) haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand memals alle andere Bücher beschaftiget; mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch nur das Licht seyn, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug." *) Und vollends unhaltbar wird diese Auffassung eines göttlichen Erziehungsplans, wenn wir den Ausspruch finden: „Darauf (d. h. auf die uneigennützige Pflichterfüllung) zwecke die menschliche Erziehung ab: und die göttliche reiche dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Lasterung! Lasterungl" *) Der Erziehungsgedanke ist Lessing offenbar unter den Handen zu einem Entwicklungsgedanken geworden und er ist darin vermutlich nicht unabhangig von Spinoza, bei dem diese Erziehung und die Adaptation Gottes an die Fassungskraft seiner Geschöpfe doch nur recht exoterisch gefarbte Konzessionen an die Theologie seiner Zeit sind, und der sich auf diesem Gebiete als keinen schlechteren Padagogen erwiesen hat als der Gott der Hebraer; wahrend die sonstigen Quellen, woraus Lessing diese Idee zugeflossen sein könnte, damit unerbitdich Ernst machten 8). Die Stellen bei Spinoza finden sich durch den ganzen Tractatus theologico-politicus zerstreut, ich hebe nur die wichtigsten und prinzipiellsten hervor: „Atque hoe (d. h. den unbedingten Gehorsam Gott gegenüber) ostendo, in Scriptura doceri secundum captum et opiniones eorum, quibus Prophetae et Apostoli hoe Verbum x) Werke 13, 429 (§ 65). 2) Werke 13, 433 (§ 84). *) So vor allem Paulus im Galaterbrief 3, 24: amt ó vófui; iraiSseyuyi; iipSv yéyovtv i'ic XpitrTÓv; für die patristische Literatur vgl. Erich Schmidt: a. a. O. II, 471 f. 6 82 Dei praedicare solebant; quod ideo fecerunt, ut id homines sine ulla repugnantia, atque integro animo amplecterentur" *). Ex his itaque satis superque constat id, quod ostendere proponebamus; nempe, Deum revelationes captui et opinionibus prophetarum accommodavisse"*). „Nam si mihi enumeranda essent omnia Scripturae loca, quae tantum ad hominem sive ad captum alicujus scripta sunt, - a brevitate, cui studeo, longe discederem" 8). „Adeoque ejus (i. e. Euangelii) ne doo trinae novitas eorum aures multum laederet, eam, quoad fieri poterat, hominum sui temporis ingenio accommodaverunt" (scil. Apostoli) 4). „Primis Judaeis Religio tanquam lex scripto tradita est, nimirum quia tum temporis veluti infantes habebantur" 6). „Ad veram Fidei cognitionem apprime necessarium esse. scire, quod Scriptura accommodata sit non tantum captui Prophetarum, sed etiam varii et inconstantis Judaeorum vulgi, nemo, qui vel leviter attendit, ignorare potest" 6). Auch die Briefe drücken sich übereinstimmend aus: „Doch, om op het eerste te aantwoorde, so seg ik, dat de schriftuur, om datse voor 't gemeen volk voornaamlijk dient, geduurigh menschelijker wijs spreekt, want het volk is niet bekuaam om hooge dingen te verstaan"7). „Neque hic necesse esse puto monere, quod Scriptura. quando ait, Deum in peccatores irasci. eumque judicem esse. qui de hominum actionibus cognoscit. statuit, et judicat, more humano et secundum receptas vulgi opiniones loquatur" 8). ») Op. II, 90 (praefatio). 2) Op. n, 120 (Cap. 2). 3) Op. D. 121 (Cap. 2). «) Op. II, 229 (Cap. 11). *) Op. n, 230 (Cap. 12). «) Op. 0, 243 (Cap. 14). ') Op m, 68, ep. 19: der lateinische Text: op. Dl, 64, lautet: „Ad prlmum ut réspondeam dico, Scripturam, quia plebi praeclpue convemt et inservit, continuo humano more loqui: plebs etenim rebus subllmlbus percipiendis inepta est." 8) Op. III, 237, ep. 78. 83 Aber nicht nur der Grundgedanke der „Erziehung des Menschengeschlechts" weist auf Spinoza zurück, auch in Einzelheiten lassen sich vielfach Parallelen anführen, die deutlich seinen Einflusz verraten. Wen erinnert nicht der Satz im Vorbericht: „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht Ueber weiter nichts, als den Gang erbUcken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soU; als über eine derselben entweder lacheln, oder zürnen?" *) an Spinozas groszartigen Intellektualismus: „Sedulo curavi, humanas actiones non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelügere" 2)? Wenn § 4 ausführt, dasz die Offenbarung nichts anderes lehrt, als wozu auch die Vernunft führen würde, so meint auch Spinoza: „Sed cum in üs, quae Scriptura expresse docet, nihil reperissem, quod cum Inteüectu non conveniret, nee quod eidem repugnaret —" s). Die Auffassung der Judeh in den Paragraphen 8 bis 19 stimmt deutlich überein mit den beiden oben (S. 82) zitierten Stellen aus dem Tractatus theologico-politicus, aber auch sonst finden sich Anknüpfungspunkte: „et praecipue ab Heb ra eis, qui se supra omnes esse jactabant, imo qui omnes, et consequenter sdentiam omnibus communem, contemnere solebant" 4). „Adeoque Hebraea natio non ratione intellectus, neque animi tranquillitatis, a Deo prae caeteris electa fuit, sed ratione societatis, et fortunae" 6). Wenn Lessing § 14 den Begriff des einigen Gottes mit dessen UnendUchkeit in Zusammenhang bringt, so heiszt es auch in der Et hik: „Hinc clarissime sequitur, Deum esse unicum, hoe est in rerum natura non nisi unam substantiam dari, eamque ») Werke 13, 415. *) Op. II, 4 (tract. pol. I § 4). 3) Op. II, 90 (tract. theol.-pol. praef.). 4) Op. II, 106 (tract theol.-pol. cap. 1). 6) Op. II, 124 (tract. theol.-pol. cap. 3). 84 absolute infirütam esse" *). Dasz „unmittelbare sinnliche Straten und Belohnungen" nur für eine niedere Kulturstufe Motivkraft haben *). dieser Ansicht ist auch Spinoza: „Nee reticere possum, me id summopere mirari, quod dicis: si Deus deüctum non puniret (hoe est, tanquam judex tali poena, quam ipsum delictum non inferret; id enim solum nostra est quaestio) quaenam ratio impedit, quo minus quaevis scelera a /ide perpetrem?" *) „A malis igitur actionibus, ut servus. üivitus et fluctuante animo abstinet, et divina mandata exequitur, et pro hoe servitio muneribus,. ipso divino amore longe suavioribus. a Deo honorari exspectat" *). Der von Lessing gepriesene heroische Gehorsam gegen Gott5) bildet die Gründlage der im Traktat gelehrten praktischen Religion, der das ganze vierzehnte Kapitel gewidmet ist; man vergleiche nur die Stelle: „Ut itaque rem totam ordine ostendam, a Fidei deflnitione incipiam, quae ex hoe dato fundamento sic definiri debet, nempe quod nihil aliud sit. quam de Deo talia sentire, quibus ignoratis toUitur erga Deum obedientia, et (quae), hac obedientia posita, necessario ponuntur"6). Auch die Auffassung Christi als eines „bessern Padagogen" ist Spinoza nicht fremd: „Nee aliter de Christi rationibus, quibus_ Pharisaeos contumaciae et ignorantiae convincit discipulosque ad veram vitam hortatur, statuendum; quod nempe suas rationes opinionibus et principiis uniuscujusque accommodavit" 8). „Christus non tam Propheta quam os Dei fuit. Deus enim per mentem Christi, sicuti ante per Angelos, nempe per vocem creatam, *) Eth. I, prop. 14, cor. 1. *) Lessing 13, 418 (§ 16). ») Op. IQ, 90, ep. 21. *) Op. Dl. 160, ep. 43, *) Werke 13, 423 (§ 32, 33). «) Op. H, 245. 7) Werke 13, 427 (§ 53). *) Op. II, 120 (tract. theol-pol. cap. 2). visiones, etc. quaedam humano generi revelavit" *). Die rationalistische Umdeutung des Dreieinigkeitsdogmas findet jetzt bei Lessing ihre klassische Stelle: „Z. E. die Lehre von der Dreyeinigkeit. — Wie, wenn diese Lehre den menschlichen Verstand, nach unendlichen Verirrungen rechts und links, nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, dasz Gott in dem Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins seyn könne; dasz auch seine Einheit eine transcendentale Einheit seyn müsse, welche eine Art von Mehrheit nicht ausschlieszt? — Musz Gott wenigstens nicht die vollstandigste Vorstellung von sich selbst haben? d. i. eine Vorstellung, in der sich alles befindet, was in ihm selbst ist. Würde sich aber alles in ihr finden, was in ihm selbst ist, wenn auch von seiner nothwendigen 'Wirklichkeit, so wie von seinen übrigen Eigenschaften, sich blos eine Vorstellung, sich blos eine Möglichkeit fande? Diese Möglichkeit erschöpft das Wesen seiner übrigen Eigenschaften: aber auch seiner nothwendigen Wirklichkeit? Mich dünkt nicht. — Folglich kann entweder Gott gar keine vollstandige Vorstellung von sich selbst haben: oder diese vollstandige Vorstellung ist eben so nothwendig wirklich, als er es selbst ist etc. ■— Freylich ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vorstellung von mir, weil es nur das von mir hat, wovon Lichtstrahlen auf seine Flache fallen. Aber wenn denn nun dieses Bild alles, alles ohne Ausnahme hatte, was ich selbst habe: würde es sodann auch noch eine leere Vorstellung, oder nicht vielmehr eine wahre Verdopplung meines Selbst seyn? — Wenn ich eine ahnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube: so irre ich mich vielleicht nicht so wohl, als dasz die Sprache meinen Begriffen unterliegt; und so viel bleibt doch immer unwidersprechlich, dasz diejenigen, welche die Idee davon popular machen wollen, sich schwerlich fasz- ») Op. O, 140 (daselbst cap. 4). 86 licher und schicklicher hatten ausdrücken können, als durch die Benennung eines Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt" x). Es wurde schon früher nachgewiesen 8), dasz diese Auffassung. die auch im „Christentum des Vernunft" schon im Keim vorhanden war, ihre Parallele bei Spinoza findet, obwohl natürlich diese Ueberemstimmüng, schon der Chronologie wegen, keine Abhangigkeit beweisen kann. Lessing glaubt nicht an die Gefahrlichkeit der religionsphilosophischen Spekulationen: „Est ist nicht wahr, dasz Speculationen über diese Dinge jemals Upheil gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden. — Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyranney, diesen Speculationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen"s), ebensowenig als Spinoza: „Et quod ad seditiones attinet, quae specie religionis concitantur, eae profecto inde tantum oriuntur, quod leges de rebus speculativis conduntur, et quod opiniones tanquam scelera pro crimine habentur et damnantur; quarum defensores et asseclae non publicae saluti, sed odio ac saevitiae adversariorüm tantum immolantur. Quod si ex jure imperii non nisi facta arguerentur et dicta impune essent, nulla juris specie similes seditiones ornari pössent, nee controversiae in seditiones verterentur" 4). Und an letzter Stelle, wenn Lessing mit kühnem Bliek in die Zukunft ausruft: „Nein; sie wird kommen, sie wird gewisz kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu !) Werke 13, 430 f. i§ 73); s. ferner Schelling: Methode des akademischen Studiums (1803), achte Vorlesung, am Ende. 2) Oben. S. 58. 3) Werke 13, 432 (§ 78). 4) Op. O, 87 (tract. theol.-pol. praef.); vgl. das ganze zwanzigste Kapitel dieses Traktats: op. II, 304 ff. 87 seinen Handlungen zu erborgen, nicht nö^big haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Bliek ehedem blosz heften und starken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen" x), so erinnert uns das an Spinozas kühlere, tiefere Worte, denen der Ausblick in die Zukunft fehlt: „Quamvis nesciremus, Mentem nostram aeternam esse, Pietatem et Rehgionem, et absolute omnia, quae ad Animositatem et Generositatem referri ostendimus in quarta Parte, prima haberemus, — Beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus" *); eine Meinung, die er offenbar schon langst gehegt hat, denn die „Korte Verhandeling etc." bringt die Ausführung: „Dit dan zodanig zijnde, zo konnen wij 't met reden voor een groote ongerijmdheid achten, 't geene veele, en die men anders voor groote god-geleerde acht, zeggen; namelijk, bijaldien op de liefde Gods geen eeuwig leven en kwam te volgen, zij als dan haar zelfs best zouden zoeken: even als of zij iets dat beter was, als God, zouden uijtvinden. Dit is alzo onnozel als of een vis woude zeggen (voor welke doch buijten het water geen leven is): bij aldien mij op dit leven in het water geen eeuwig leven en zoude komen te volgen, zo wil ik uijt het water na het land toe; ja maar wat konnen ons die God niet en kennen dog anders zeggen" 8). l) Werke 13, 433 (§ 85); dasz Lessing für sich selbst schon jetzt derselben Meinung war, beweist ein Satz aus einem nicht vollendeten Aufsatz: Werke 16, 400: „Wenn es auch wahr ware, dasz es eine Religion gabe, die uns von jenem Leben ganz ungezweifelt unterrichtete, so sollten wir lieber dieser Religion kein Gehör geben." *) Eth. V, prop. 41, 42. ») Korte Verhandeling II, cap. 26, op. IV, 89; „Wenn sich also diess so verhalt, so können wir es mit Recht für eine grosse Ungereimtheit erklaren, was Viele, die man sonst für grosse Theologen erachtet, sagen, dass man namlich, wenn aus der Liebe zu Gott kein ewiges Leben folgte, alsdann sein persönliches Beste suchen solle, als ob man dadurch etwas 88 Diese Uebereinstimmungen sind zu zahlreich, zum Teil auch zu genau, um nicht einen durchgangigen, sei es auch hier und da vielleicht nicht ganz unmittelbaren Einflusz des alteren Denkers anzunehmen. Auch sind sie durchaus nicht auf diese eine Schrift Lessings beschrankt: manche seiner Waffen im theologischen Kampf stammen aus dem Arsenal Spinozas. So seine Auffassung des Wunders, dem die Schrift: „Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft" gewidmet ist, worin er den Nachweis zu führen sucht, dasz „zufallige Geschichtswahrheiten nie der Beweis von nothwendigen Vernunftswahrheiten werden können" 1). Ein paar Satze mögen Lessings Absicht illustrieren: „Wenn ich folglich historisch nichts darwider einzuwenden habe, dasz Christus einen Todten erweckt: musz ich darum für wahr halten, dasz Gott einen Sohn habe, der mit ihm gleiches Wesens sey? — Wenn ich historisch nichts darwider einzuwenden habe, dasz dieser Christus selbst von dem Tode auferstanden: musz ich darum für wahr halten, dasz eben dieser auferstandene Christus der Sohn Gottes gewesen sey?" *). Dieselbe Auffassung kehrt in der „Duplik" wieder, wo das Wunder zum „Geruste", nicht aber zum eigentlichen „Bau" der Religion gerechnet wird s). Dasz Lessing, sich hierin eines Sophismus schuldig gemacht hat, indem sein eigentliches Motiv für den Mangel an Beweiskraft des Wunders, die Unzuverlassigkeit der historischen Ueberlieferung, allmahlich in den Hintergrund gedrangt wurde, wahrend seine Argu- Besseres, als Gott ist, finden könnte. Diess ware ebenso thöricht, als wenn ein Fisch [für den es doch ausser dem Wasser kein Leben giebt] sagen wollte, wenn für mich auf dieses Leben im Wasser kein ewiges Leben folgt, will ich aus dem Wasser aufs Land. Was können aber die, welche Gott nicht kennen, uns doch Anderes sagen?" Auerbachs Uebersetzung von Spinozas Werken (1871) II, 559 f. *) Werke 13, 5 (aus dem Jahre 1777). 2) Werke 13, 6 f. 8) Werke 13, 31. 89 mentation, dasz der Wunderglaube keine Konsequenzen für die Auffassung der Person Christi mit sich führe, wenig stichhaltig ist, ist langst überzeugend nachgewiesen '). Auch im Nathan hat er über das Wunder nicht viel anders geurteilt, indem er das, was im spezifisch rehgiösen Sinne so genannt wird, in die Kinderstube verweist: „Der Wunder höchstes ist, Dasz uns die wahren, echten Wunder so Alltaglich werden können, werden sollen. Ohn' dieses allgemeine Wunder, hatte Ein Denkender wohl schwerlich Wunder je Genannt, was Kindern blosz so heiszen müszte, Die gaffend nur das Ungewöhnlichste, Das Neuste nur verfolgen" *). Dieser Ansicht ist aber auch Spinoza: „Nee fides historiarum, quantumvis certa, Dei cognitionem, et consequenter nee etiam Dei amorem nobis dare potest; amor enim Dei ab ejus cognitione oritur; ejus autem cognitio ex communibus notionibus per se certis et notis hauriri debet; quare longe abest, ut fides historiarum requisitum sit necessarium, ut ad summum nostrum bonum perveniamus" 8), und das sechste Kapitel des Tractatus theologico-politicus ist zum Teil dem Nachweis gewidmet, „nos ex miraculis nee essentiam nee existentiam, et consequenter nee providentiam Dei posse cognoscere, sed haec omnia longe melius percipi ex flxo et immutabili Naturae ordine" 4). Die Art der Beweisführung möge folgende Stelle er lauter n: „Quare ex miraculo, sive opere, quod nostrum captum superat, nee Dei essentiam, nee existentiam, nee absolute aliquid de Deo et Natura intelligere possumus; sed contra, cum omnia a Deo determinata et sancita scimus esse, }) Schrempf: a. a. O. 166; Erich Schmidt: a. a. O. II, 456 ff. 2) Nathan I, 2; Werke 3, 12. s) Op. II, 138 (tract. theol.-pol. cap. 4). 4) Op. n, 157. 90 et operationes Naturae ex Dei essentia consequi, Naturae vero leges Dei aeterna decreta et volitiones esse, absolute concludendum, nos eo melius Deum Deique voluntatem cognoscere, quo melius res naturales cognoscimus, et clarius intelligimus, quomodo a prima sua causa dependent, et quomodo secundum aeternas Naturae leges operantur" Eine andere wichtige Uebereinstimmung findet sich zwischen der Behandlung der biblischen Geschichte nach Analogie der Profangeschichte, die Lessing wiederholt fordert *), und Spinozas Satz: „Eam autem, ut hic paucis complectar, dico methodum interpretandi Scripturam haud differre a methodo interpretandi Naturam, sed cum ea prorsus convenire. Nam sicuti methodus interpretandi Naturam. in hoe potissimum consistit, in concinnanda scilicet historia Naturae, ex qua, utpote ex certis datis, rerum naturalium definitiones concludimus; sic etiam ad Scripturam interpretandam necesse est ejus sinceram historiam adornare, et ex ea tanquam ex certis datis et principiis mentem authorum Scripturae legitimis consequentiis concludere"3). Die Verbalinspiration der Bibelbücher findet bei beiden Bekampfung: bei Lessing in dem dritten Paragraphen seiner „Theses aus der Kirchengeschichte": „Was die Evangelisten von Christo wuszten, das wuszten sie, weil sie es wuszten und zum Theil mit angesehen natten, nicht weil es ihnen der heilige Geist eingegeben hatte" *), wahrend Spinoza denselben Gedanken etwas anders ausspricht „Atque hinc facile percipimus, qua ratione Deus author Bi- j) Op. n, 160. 2) Werke 13, 25 u. 61 f.; vgl. auszerdem den recht bezeichnenden Tite eines theologisch sehr merkwürdigen Aufsatzes: „Neue Hypothese über di< Evangelisten als blos menschliche Geschichtsschreiber betrachtet". Werk 16, 370 ff. 8) Op. II, 172; man vergleiche das ganze siebente Kapitel des trad theol.-pol. op. D. 171 ff. 4) Werke 16, 304; vgl. auch Werke 13, 27 f. 91 bliorum sit intelligendus; nempe propter veram Religionem, quae in iis docetur: at non quod voluerit certum numerum librorum hominibus communicare" Vor allem die „Axiomata"2) enthalten manche Stellen, die inhaldich auf Spinoza zurückgehen dürften. So das erste Axiom: „die Bibel enthalt mehr als zur Religion gehöret" s), auch mit den Einzelheiten der Begründung. auf die Stelle: „Ego saltem mihi non possum persuadere, quod homines illi, qui nobis Scripturam, prout eam habemus. reliquerunt, tanto ingenio abundaverint, ut talem demonstrationem investigare potuerint, et multo minus, quod doctrina Scripturae non posset intelligi, nisi auditis litibus Isaaci, Architophelis consilhs Absalomo datis, et bello civih Judaeorum et Israëlitarum, et aliis. ad hunc modum Chronicis" 4). Das fünfte Axiom: „Auch war die Religion. ehe eine Bibel war"6) wird von Spinoza folgendermaszen bewiesen: „At horum conciliorum [d. h. die den Bibelkanon bestimmt haben] (tam Pharisaeorum quam Christianorum) membra non constabant ex Prophetis, sed tantum ex Doctoribus et peritis; et tarnen fatendum necessario est, eos in hac electione verbum Dei pro nor ma habuisse; adeoque antequam omnes libros probaverant, debuerunt necessario notitiam Verbi Dei habere" ); wahrend das siebente Axiom: „Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhangen: so kann doch unmöglich die ganze Wahrheit der christlichen Religion auf ihnen beruhen" 7) hindeutet auf Spinozas: „Quamvis itaque pauciores libros, tam Veteris quam Novi Testamenti, haberemus, non >) Op. II, 234 (tract. theol.-pol. cap. 12). 2) Werke 13, 107 ff. (1778). ») Werke 13, 111. *) Op. II, 153 (tract. theol.-pol. cap. 5). *) Werke 13, 116 f. 6) Op. II, 235 (tract. theol.-pol. cap. 12). 7) Werke 13, 118. 92 tarnen Dei Verbo, (per quod proprie, ut jam diximus vera Religio intelligitur) destitueremur" Nicht weniger deutlich zeigen die andern Schriften dieser Periode die Spuren des Spinozastudiums. Im „Testament Johannis" *) werden dogmatische Spekulation und praktisches Christentum zu einander in Gegensatz gebracht und letzteres durch die Worte: „Kinderchen liebt euch" (filioli diligite alterutrum) charakterisiert, was auch Spinozas Meinung trifft: „Denique non dubium est, quin ex hoe, quod scilicet Apostoli diversis fundamentis Religionem superaedifleaverint, ortae sint multae contentiones et schismata, quibus Ecclesia jam inde ab Apostolorum temporibus indesinenter vexata fuit, et pro/ fecto in aeternum vexabitur, donec tandem aliquando Religio ,' a speculationibus philosophicis separetur, et ad paucissima et simplicissima dogmata, quae Christus suos docuit, redigatur" 8). „Deinde, quia obedientia erga Deum in solo amore proximi consistit — "*). Lessings Kampf gegen die Evangeliënharmonie, die alle Widersprüche vertuschen will, tritt vor allem in der „Duplik" und in den „Axiomata" hervor; Spinoza aber hat darüber kaum anders geurteilt: „Denique, quia quatuor habentur in Novo Testamento Euangelistae; et quis credet, quod Deus quater Historiam Christi narrare voluerit et scripto hominibus communicare? Et quamvis quaedam in uno contineantur, quae in alio non habentur, et quod unus ad alium intélligendum saepe juvat, inde tarnen non concludendum est, omnia, quae in hisce quatuor narrantur, cognitu necessaria fuisse, et Deum eos elegisse ad scribendum, ut Christi historia melius intelligeretur; nam unusquisque suum Evangehum diverso loco praedicavit, et unusquisque id, quod praedicaverat, scripsit, idque simpliciter, ut historiam Christi :) Op. II, 234 (tract. theol.-pol. cap. 12). 2) Werke 13, 9 ff. (1777). ") Op. II, 229 (tract. theol.-pol. cap. 11). 4) Op. II, 239 (tract. theol.-pol. cap. 13). . 93 dilucide narraret, et non ad reliquos explicandum. Si jam ex eorum mutua collatione facilius et melius quandoque intelliguntur, id casu contingit et paucis tantum in locis, quae quamvis ignorarentur, historia tarnen aeque persgicua esset, et homines non minus beati" 1). Und die Trennung der Religion Christi von der christlichen Religion, die Lessing in einem Aufsatz aus dem Jahre 1780s) durchzuführen sucht, und wobei er die Göttlichkeit Christi mehr oder weniger deutüch leugnet: „Diese, die christliche Religion, ist diejenige Religion, die es für wahr annimmt, dasz er mehr als Mensch gewesen, und ihn selbst als solchen, zu einem Gegenstande ihrer Verehrung macht. Die Religion Christi ist mit den klarsten und deutlichsten Worten darm (d. h. in den Evangelisten) enthalten; die Christliche hingegen so ungewisz und vieldeutig, dasz es schwerlich eine einzige Stelle giebt, mit welcher zwey Menschen, so lange als die Welt steht, den nemlichen Gedanken verbunden haben" ist ganz im Sinne Spinozas, der einmal schreiben konnte: „Caeterum, quod quaedam Ecclesiae his addunt, quod Deus naturam humanam assumpserit, monui expresse, me quid dicant nescire; imo, ut verum fatear, non minus absurde mihi loqui videntur, quam si quis mihi diceret, quod circulus naturam quadrati induerit" s). Auch der „Nathan", der so haufig, wie mir scheint nicht mit Recht, als der Höhepunkt dieser Periode aufgefaszt wird, indem der erste Platz, wenigstens auf dem Gebiete der Rehgionsphilosophie, doch der bedeutend tiëferen „Erziehung des Menschengeschlechts" zukommt, berührt sich hier und da mit Spinoza. Auf die Auffassung des Wunders wurde schon hingewiesen. Die hohe Bewertung des gut en Handelns den religiösen Spekulationen gegenüber, die in den Zeilen gipfelt: ') Op. II, 235 (tract theol.-pol. cap. 12). *) Werke 16, 518 f. („die Religion Christi"). 8) Ep. 73, op. III, 226. 94 „Begreifst du aber, Wie viel andachtig schwarmen leichter als Gut handeln ist?" l) teilt Lessing mit Spinoza: „Adeoque minime credendum, opiniones absolute consideratas, absque respectu ad opera, aliquid pietatis aut impietatis habere sed ea tandum de causa hominem aliquid pie aut impie credere dicendum, quatenus ex suis opinionibus ad obedientiam movetur, vel ex iisdem licentiam ad peccandum aut rebellandum sumit; ita ut, si quis vera credendo flat contumax, is revera impiam et si contra falsa credendo obediens, piam habet fldem" *). Ebenso ein andrer Gedanke, der von der Gleichheit der verschiedenen Religionen, welcher vor allen in Saladin lebendig ist, von dem Al-Hafl sagt: „Jud' und Christ Und Muselmann und Parsi, alles ist Ihm eins" 8), und der spater selbst, als er den Tempelherrn bei sich behalten will, die Worte spricht: „Als Christ, als Muselmann: gleich viel! Im weiszen Mantel, oder Jamerlonk; lm Tulban, oder deinem Filze: wie Du willst! Gleich viel! Ich habe nie verlangt, Dasz allen Baumen Eine Rinde wachse" 4). So urteilt auch Spinoza, bald mehr negativ: „Jam dudum enim res eo pervenit, ut neminem fere quisnam sit, num scilicet Christianus, Turca, Jüdaeus, vel Ethnicus, noscere possis, nisi ex corporis externo habitu et cultu, vel quod hanc aut illam Ecclesiam frequentat, vel denique quod >) Nathan I, 2: Werke 3, 18. 2) Op. D, 243 (tract. theol.-pol. cap. 13). 8) Nathan II, 2: Werke 3, 52. 4) Nathan IV, 4: Werke 3, 123. 95 huic aut illi opinioni addictus est, et in verba alicujus magistri jurare solet" *); bald in positiverer Formulierung: „Quod autem ad ipsos Turcas et reliquas Gentes attinet, si Deum cultu justitiae et charitate erga proximum adorent, eosdem Spiritum Christi habere credo et salvos esse, quicquid de Mahoineto et oraculis ex ignorantia persuasum habeant" *). Hier wird auch schon die Nachstenliebe betont, die der Prüfstein für jede Religion sein soll, ein Gedanke, der den religionsphilosophischen Hauptteil des Nathan, die Ringparabel, ganz beherrscht, bei Spinoza aber auch sonst nachweisbar ist: man vergleiche das Zitat auf Seite 92: „Deinde, quia obedientia erga Deum in solo amore proximi consistit.' Auf dem Gebiete der Politik huldigt Lessing derselben Auffassung vom Staat, die wir auch bei Jacobi nachgewiesen haben*), und die ihr Vorbild bei Spinoza findet, wie oben dargetan wurde. Lessings Ansicht findet sich im zweiten Gesprach für Freimaurer: „Die Staaten vereinigen die Menschen, damit i durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch f seinen Theil von Glückseligkeit desto besser und sichrer geniessen könne. — Das Totale der einzeln Glückseligkeiten aller Glieder, ist die Glückseligkeit des Staats. Ausser dieser giebt es gar keine. Jede andere Glückseligkeit des Staats, bey welcher auch noch so wenig einzelne Güeder leiden, und leiden müssen, ist Bemantelung der Tyranney. Anders nichts!" 4) Es ist nicht unmöglich,. dasz Jacobis Staatsauffassung unmittelbar durch Lessing beeinfluszt ist, da seine samtlichen Aeuszerungen auf diesem Gebiet jünger sind als dessen beide ersten' Freimaurergesprache 5). M Op. II, 88 (tract. theol.-pol. praef.). ») Ep. 63, op. III, 162. s) Oben S. 8 ff. *) Werke 13, 352 („Ernst und Falk", erster Teil, 1778). 6) Vgl. oben S. 8 ff. 96 Das Ergebnis der im Vorigen versuchten Zusammenstellung kann kaum zweifelhaft sein. Die Werke des reifen Lessing, die sich mit theologischen, beziehungsweise religionsgeschichthchen oder religionsphilosophischen Fragen beschaftigen, weisen eine so durchgangige, auch in Ejnzelheiten nachweisbare Uebereinstimmung mit den Ansichten Spinozas, namentlich im theologisch-politischen Traktat, auf, dasz weder geistige Verwandtschaft, also relativ zufalliges Zusammentreffen, noch die Annahme einer Vermittlung durch die englischen Deisten zur Erklarung ausreichen. Natürlich laszt sich nicht leugnen, dasz manches aus Spinozas theologischer Schrift Gemeingut der Aufklarung geworden war; wir finden aber doch bei keinem andern Denker der damaligen Zeit so viele und so deudiche Anklange an denselben, an eine zufallige Uebereinstimmung zu denken, hatte daher bei einem Material von dieser Ausdehnung etwas sehr Unwahrscheinliches und Gezwungenes. Da nun auszerdem das Studium Spinozas für den Breslauer Aufenthalt feststeht und eine jedenfalls recht gründliche Kenntnis seiner Philosophie durch Jacobis Mitteilungen für Lessings letzte Lebenjahre überzeugend erwiesen ist, drangt sich uns unausweichlich die Hypothese auf, dasz wenigstens -s der Theolog Lessing in recht hohem Grade von Spinoza beeinfluszt worden ist. Dieses Resultat hat nun zunachst etwas Ueberraschendes. Nach dem, was wir aus Jacobis Spinozabriefen wissen, hatten wir eine Uebereinstimmung der beiden Denker weit eher auf dem Gebiete der Metaphysik vermutet. Und davon ist bis jetzt doch nur verschwindend selten die Rede gewesen. Lessing ist eben durchaus nicht in erster Linie Metaphysiker, als solchen zeigt er sich nur gelegentlich, wahrend sein Hauptinteresse den mehr theologischen Fragen zugewendet ist. Dennoch ist auch jenes Gebiet, obzwar klein, nicht ganzlich bedeutungslos. Wir haben im dritten Kapitel als die Hauptargumente Jacobis für Lessings Spinozismus den Determinismus 97 und die Abwendung vom orthodoxen Gottesbegriff gefunden 1). Es fragt sich, ob nicht auch Lessings Werke uns über diese beiden Probleme naheren Aufschlusz geben können. Für den Determinismus ist das gewisz der Fall. Schon früh, lange vor der Bekanntschaft mit Spinoza, hat er die Gefahrlichkeit des „Fatalismus" für Religion und Moral in einer Rezension entschieden zurückgewiesen: „Nichts ist gewöhnhcher, als dasz man bey dem Namen eines Fatalisten sich einen Menschen vorstellet, dessen Grundsatze alle Sitten und Religion über den Hauffen werffen, und es scheint, als ob man die Freyheit nur deszwegen als eine ausgemachte Wahrheit annehme, weil man glaubt, dasz nur sie das, was unter den Menschen das Heiligste ist, auf recht er hal te" 2). Letzteres scheint ihm nun aber durchaus nicht richtig und der Determinismus ist gerettet, wenn man dartun kann, „dasz in dem System der Nothwendigkeit das Daseyn des Bösen sich keinesweges auf die moralischen Eigenschaften des höchsten Wesens erstreckt" s). Also auch hier musz eine Theodizee als Rückendeckung auftreten *). Deterministische Gedanken, die etwas an Spinoza erinnern, bringt dann auch die Schrift „Pope ein Metaphysiker!" (1755). Es ist da die Rede von dem Vermogen Gottes, „unter zwey gleich ahnlichen und guten Dingen, eines dem andern vorzuziehen"; und Lessing tut die Frage kurz ab mit dem Satze: „Ich will hier nicht beweisen, was man schon unzahligmal bewiesen hat, dasz dieses Vermogen einè leere Grille sey" 6). Auch die Hamburgische Dramaturgie (1767—69) bietet ein paar hübsche Belegstellen: „Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch gethan ') Oben S. 47. 2) Werke 5, 161 f. (1753). 8) Werke 5, 162. 4) Vgl. oben S. 56. 5) Werke 6, 439. 7 98 hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umstanden thun _ werde" 1). „Das Genie können nur Begebenheiten beschaftigen, die ineinander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurück zu führen, jene gegen diese abzuwagen, überall das Ungefehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, dasz es nicht anders geschehen können: das, das ist seine Sache" *). „[Zweytens weil] das Lehrreiche nicht in den bloszen Factis, sondern in der Erkenntnisz bestehet, dasz diese Charaktere unter diesen Umstanden solche Facta hervor zu bringen pflegen, und hervor bringen müssen" s). Die klassische Stelle bringen dann die Zusatze des Herausgebers zu den „Philosophischen Aufsatzen von K. W. Jerusalem" (1776); dort heiszt es vom Determinismus: „Der dritte Aufsatz zeiget, wie wohl der Verfasser ein System gefaszt hatte, das wegen seiner gefahrlichen Folgerungen so verschrieen ist, und gewisz weit allgemeiner seyn würde, wenn man sich so leicht gewöhnen könnte, diese Folgerungen selbst in dem Lichte zu betrachten, in welchem sie hier erscheinen. Tugend und Laster so erklart: Belohnung und Strafe hierauf eingeschrankt: was verlieren Wir, wenn man uns die Freyheit abspricht? Etwas —» wenn es Etwas ist s— was wir nicht brauchen; was wir weder zu unserer Thatigkeit hier, noch zu unserer Glückseligkeit dort brauchen. Etwas, dessen Besitz weit unruhiger und besorgter machen müszte, als das Gefühl seines Gegentheüs nimmermehr machen kann. ■— Zwang und Nothwendigkeit, nach welchen die Vorstellung des Besten wirket, wie viel willkommner sind sie mir, als kahle Vermögenheit, unter den nehmlichen Umstanden bald so, bald anders handeln >) Werke 9. 261 (19. Stück). 2) Werke 9, 308 (30. Stück). s) Werke 9, 323 (33. Stück). 99 zu können! Ich danke dem Schöpfer, dasz ich musz; das Beste musz. Wenn ich in diesen Schranken selbst so viel Fehltritte noch thue: was würde geschehen, wenn ich mir ganz allein überlassen ware? einer blinden Kraft überlassen ware, die sich nach keinen Gesetzen richtet, und mich darum nicht minder dem Zufalle unterwirft, weil dieser Zufall sein Spiel in mir selbst hat? i— Also, von der Seite der Moral ist dieses System geborgen. Ob aber die Speculation nicht noch ganz andere Einwendungen dagegen machen könne? Und solche Einwendungen, die sich nur durch ein zweytes, gemeinen Augen eben so befremdendes System heben liessen? Das war es, was unser Gesprach so oft verlangerte, und mit wenigen hier nicht zu fassen stehet" 1). An dieser Stelle ist mehreres bemerkenswert. Erstens die merkwürdige Uebereinstimmung im Ton mit der Aeuszerung gegen Jacobi: „Ich begehre keinen freyen Willen" 2). Sodann die Befriedigung, die Lessing offenbar darin findet, f „das Beste zu müssen", in geradem Gegensatz zu Spinoza, für den die Notwendigkeit, „sub ratione boni", wenigstens in Beziehung auf Gott etwas geradezu Erniedrigendes hatte 8). Schlieszlich die etwas dunkle Schluszwendung, die doch wohl kaum anders interpretiert werden kann, als dasz Lessing nur dann den Determinismus für gesichert halt, wenn eine Theodizee ihm die religionsgefahrliche Spitze abgebrochen hat, ein Gedanke, der uns schon im Jahre 1753 begegnet 4) und den die Lektüre Dippels in ihm verstarkt haben dürfte 5). Alles in Allem sieht dieser entschiedene Determinist nicht danach aus, alsob er aus der Schule Spinozas sei. Auf die