D1FFERENZIERUNGSERSCHEINUNGEN IN EINIGEN AFRIKANISCHEN GRUPPEN Ein Beitrag zur Frage der primitiven Individualitat VON SJOERD HOFSTRA AMSTERDAM SCHELTEMA & HOLKEMA'S BOEKHANDEL N.V. 1933 DIFFERENZILRUNGSERSCHEINUNGEN IN EINIGEN AFRIKANISCHEN GRUPPEN D1FFERENZIERUNGSERSCHEINUNGEN IN EINIGEN AFRIKANISCHEN GRUPPEN Ein Beitrag zur Frage der primitiven Individualitat ACADEMISCH PROEFSCHRIFT TER VERKRIJGING VAN DEN GRAAD VAN DOCTOR IN DE LETTEREN EN WIJSBEGEERTE AAN DE UNIVERSITEIT VAN AMSTERDAM, OP GEZAG VAN DEN RECTORMAGNIFICUS MR. I. H. HIJMANS, HOOGLEERAAR IN DE FACULTEIT DER RECHTSGELEERDHEID, IN HET OPENBAAR TE VERDEDIGEN IN DE AULA DER UNIVERSITEIT, OP VRIJDAG 7 JULI 1933, DES NAMIDDAGS TE 3 UUR DOOR SJOERD HOFSTRA GEBOREN TE IDSEGAHUIZUM AMSTERDAM SCHELTEMA & HOLKEMA'S BOEKHANDEL N.V. 1933 AAN MIJN PLEEGMOEDER De beëindiging van mijne academische studie biedt mij eene welkome gelegenheid U, Hoogleeraren der Vereenigde Faculteiten der Wis- en Natuurkunde en der Letteren en Wijsbegeerte, mijne dankbaarheid te uiten voor de wetenschappelijke vorming, die ik van U mocht ontvangen. Het is mij vooral een behoefte U, Hooggeleerde Steinmetz, Hooggeachte Leermeester en Promotor, mijn diepgemeenden dank te zeggen voor het zeer vele, wat Gij gedurende mijn studietijd en daarna voor mij zijt geweest. Door Uw onderricht en Uwe methode, maar niet minder door Uwe persoonlijkheid, hebt Gij aan mijn drang naar wetenschap en aan mijn leven een richting gegeven, die mij diepe bevrediging schenkt. Voor Uwe leiding zal ik U steeds in hooge mate erkentelijk blijven. Gij waart nog zooveel meer dan een Leermeester, Gij hebt ons, Uw leerlingen, van Uwe warme menschelijkheid en begrijpen geschonken. Ik hoop door mijn verdere arbeid Uw voorbeeld waardig te zullen zijn. Ik weet, dat dit voor U de schoonste uiting van dank zal beteekenen. Hooggeleerde Pos, sta mij toe ook U hier hartelijk dank te zeggen voor het zeer vele, dat Gij tot verdieping van mijn wetenschappelijk inzicht hebt bijgedragen. De vele gesprekken, die ik met U mocht hebben over psychologische en wijsgeerige onderwerpen en Uwe vriendschap hebben voor mijn ontwikkeling en mijn leven diepe en blijvende beteekenis. Ook U, Hooggeleerde Becker, dank ik zeer voor hetgeen Gij tot vermeerdering van mijn kennis hebt bijgedragen en voor Uwe steeds warme belangstelling voor mijn werk. Herrn Professor Dr. B. Malinowski von der Universitat London und den Herren Professoren Dr. A. Vierkandt und Dr. D. Westermann von der Universitat Berlin, danke ich sehr für dasjenige was sie zu meiner weiteren Ausbildung beigetragen haben und gleichfalls für die Förderung meiner wissenschaftlichen Arbeit. Schliesslich sage ich meinem Freunde Dr. H. J. Melzian herzlichsten Dank, für die grosse Mühe die er sich gegeben hat das Manuskript einer Prüfung im Bezug auf das Deutsche zu unterziehen. INHALTSVERZEICHNIS. I. KAPITEL. EINFÜHRUNG. DAS PROBLEM 1 1. Zweck der Untersuchung 1 2. Die gegenwartige Sachlage 2 3. Begriffliche Erörterungen 11 ci. Individuum-Gruppe 11 b. Individualismus-Kollektivismus 16 c. Individualitat 23 d. Persönlichkeitsbewusstsein 31 e. Primitiv 35 4. Nahere Bestimmung unserer positiven Untersuchung .... 36 a. Begrenzung der Aufgabe 36 b. Material 39 II. KAPITEL. SOZIALES LEBEN 4] 1. Vorbemerkung über die individuelle Differenzierung .... 41 a. Allgemeine Differenzierungstatsachen 41 b. Höhepunkte der Differenzierung: hervorragende Persönlichkeiten 44 2. Differenzierungserscheinungen in zwei Institutionen: Hauptlingschaft und Ehe 46 a. Hauptlingschaft 46 1. Die Hauptlingswahl 43 2. Die Bedingungen der Hauptlingsautóritat 55 b. Die Ehe 60 1. Motive zur Eheschliessung 61 2. Persönliche Neigungen innerhalb der Ehe 76 3. Die differenzierende Seite einiger Brauche 80 III. KAPITEL. RELIGION, ZAUBEREI, MEDIZIN 95 1. Allgemeine Bemerkungen 95 2. Berufliche Differenzierung 97 a. Priester 97 b. Zauberer 103 c. Medizinmanner 109 d. Propheten 12Q 3. Die differenzierende Wirkung der Magie 126 4. Differenziertes und kritisches Verhalten der Zauberei gegenüber 141 a. Unterschiede im Zauberglauben 141 b. Kritisches Verhalten 150 5. Über die differenzielle Seite des religiösen Lebens 161 a. Anmerkung über die Unklarheit der primitiven Glaubensvorstellungen 161 b. Individuelier und kollektiver Glaube 163 c. Differenzierungserscheinungen in der Ahnenverehrung . . 169 1. Unterschiede zwischen den Geistern und differenziertes Verhaltnis zu den Ahnen beim Opfer .... 169 2. Das Gebet 173 IV. KAPITEL. DICHTUNG 178 1. Marchen 178 a. Personen: die Erzahler 179 b. Inhalt und Funktion der Marchen 185 2. Lieder 192 a. Personen: die Dichter und Sanger 192 b. Inhalt der Lieder 195 3. Sprichwörter 201 SCHLUSSBEMERKUNGEN 207 LITERATURVERZEICHNIS 210 i. kapitel. EINFÜHRUNG. DAS PROBLEM. 1. zweck der untersuchung. Die vorliegende Untersuchung wird sich mit der Frage des Einzelwesens bei den Naturvölkern beschaftigen. Es besteht in der Ethnologie sowie in der Psychologie und Soziologie, insoweit diese Wissenschaften in ethnologische Probleme übergreifen, die weitverbreitete Ansicht, dass das Individuum bei den Naturvölkern keine oder so gut wie gar keine Rolle spiele. Das Individuum geht nach dieser Auffassung ganz in der Gruppe auf und führt kein selbstandiges Leben. Das Verhaltnis des Einzelnen zur Gemeinschaft in der primitiven Kultur und die psychische Struktur des Individuums werden als ganz verschieden von unserem Verhaltnis zur Gruppe und unserer Individualitat aufgefasst. Auf verschiedene Weise und für verschiedene Gebiete des psychischen und sozialen Lebens der Primitiven ist diese Ansicht vertreten worden. Darauf werden wir in diesem Kapitel noch naher eingehen. Besonders in der Lehre LévyBruhls über das primitive Denken hat die Theorie von der engen Verbindung zwischen Einzelwesen und Gruppe und von dem wenig ausgepragten Grade der Individualisierung bei den Primitiven, in der letzten Zeit eine scharfere Formulierung gefunden und sich in wissenschaftlichen Kreisen verbreitet. Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung führten mich zu der vorliegenden Arbeit, die als ein Beitrag zu einer Psychologie des primitiven Menschen betrachtet werden will. Ich bin mir allerdings dessen bewusst, dass diese Frage ausserordentlich kompliziert ist. Unsere Ansichten können daher nur einen vorlaufigen Charakter tragen und Bescheidenheit seinem Gegenstande gegenüber muss besonders eine Pflicht des Untersuchers sein, der sich mit diesen Problemen beschaftigt. Ich steilte mir bei meiner Arbeit ein zweifaches Ziel: 1. Einen kritischen Überblick der vorherrschenden Ansichten über das Einzelwesen in der primitiven Gruppe und der in diesen Ansichten verwendeten Begriffe zu geben. 2. Durch eine Analyse des ethnographischen Materials über einige afrikanische Stamme die Lösung unserer Frage in concreto zu fördern. Wir werden uns dabei hauptsachlich auf die Differenzierungserscheinungen beschranken. 2. die gegenwartige sachlage. Es ist nicht meine Absicht, hier eine historische oder systematische Einführung in die Probleme der primitiven Individualitat und ihres Verhaltnisses zur Gemeinschaft zu geben. Zum besseren Verstandnis unserer Frage werden wir j edoch einige Auffassungen wiedergeben. So ist Rivers der Meinung, dass die Primitiven, besonders die Melanesier, von einem starken Gruppengeist beherrscht werden und dass es bei ihnen einen weitgehenden Kommunismus gibt: „Among such a people as the Melanesians there is a group sentiment which makes unnecessary any definite social machinery for the exertion of authority, in just the same manner as it makes possible the harmonious working of communal ownership, and ensures the peaceful character of a communistic system of sexual relations" '). Ein anderer Ethnograph schreibt hinsichtlich französisch West Afrika: „L'individu, quel qu'il soit et quelle que soit sa situation, ne vaut qu'en tant que membre d'une communauté; c'est elle qui existe et vit, lui n'existe et ne vit que par elle, et en grande partie pour elle "2). 1) w. H. R. Rivers, Social Organisation, London, 1922, S. 169. 2) C. Monteil, Les Bambara du Ségou et du Kaarba, S. 220. Delafosse spricht von einer „situation tout a fait annihilée de 1'individu dans la société" 1), und Aldrich von „the dead level of sa vage socialism". — „The more primitive a group the more sternly does it repress individuality" 2). In dem Artikel „Individualism" in der „Encyclopaedia of Religion and Ethics" finden wir die Behauptung: „Primitive races present the spectacle of the absorption of the individual in the clan or the tribe" 3). Und: „Primitive religions regarded the individual merely as the member of a clan, tribe or race" 4). Sydney Hartland, z.B. sagt: „That the life of a savage is a life of freedom has repeatedly been shown to be a mistake. In truth there is no life more closely bound in fetters which hamper or absolutely preclude movement in any direction. He must do what his fathers have been accustomed to do, and nothing else. Law and precedent bind him hand and foot" 5). Und an einer anderen Stelle schreibt er: „There is no individual thought, his emotions are collective, and — as collective emotions always are — are emphasized until they become an obsession" 6). Besonders Durkheim und seine Schule haben versucht zu zeigen, dass das primitive Leben einen stark integrierend kollektivistischen Charakter tragt und dass der Einzelne sich eigentlich nur in institutionalisierten Prozessen bestatigt. Individualisiertes Leben kame also in der Gruppe nicht zum Ausdruck. Durkheim z.B. schreibt: „Le moindre développement des individualités, 1'étendue plus faible du groupe, 1'homogénéité des circonstances extérieures, tout contribue a réduire les différences et les variations au minimum. Le groupe réalise, d'une manière regulière, une uniformité intellectuelle et morale dont nous ne trouvons que de rares exemples dans les sociétés plus avancées. Tout est commun *) M. Delafosse, Les Nègres, Paris, 1927, S. 42. s) C. R. Aldrich, The primitive Mind and Modern Civilization, London 1931, S. 231. 3) Band VII, S. 221. 4) a. a. O., S. 218. s) E. Sydney Hartland, Primitive Law, London, 1924 S. 78 •) a. a. O.., S. 79. a tous. Les mouvements sont stéréotypés; tout le monde exécute les mêmes dans les mêmes circonstances et ce conformisme de la conduite ne fait que traduire celui de la pensee. Toutes les consciences étant entrainées dans les mêmes remous, le type individuel se confond presque avec le type générique" 1). Lévy-Bruhl kommt in seiner Untersuchung über das Verhaltnis vom Individuum zur Gruppe bei den Primitiven zu dem Ergebnis: „Compter au nombre des humains ne peut signifier, pour la mentalité primitive, qu'être membre du groupe sociale 2)". Werner, obwohl nicht so weit gehend als die französische Schule Durkheims, ist doch der Ansicht, „dass die Art der Ich-Existenz des Primitiven viel weniger von der Du-Welt und der Welt der übergeordneten Stammesgenossenschaft abgesetzt, insofern komplexer, erscheint, als in unseren Spharen der individuell scharf ausgepragten Persönlichkeit"3). In seiner Einleitung zu der deutschen Ubersetzung von Lévy-Bruhls: „Les Fonctions mentales", schreibt W. Jerusalem: „Lévy-Bruhl hat deutlich erkannt, dass uns der primitive Mensch überall auf der Erde als ein sozial gebundenes Herdentier entgegentritt. Die Seele des Einzelnen ist ganz ausgefüllt von „Kollektiworstellungen", in denen die emotionalen und motorischen Elemente integrierende Bestandteile bilden, hint er denen die objektiven Merkmale der Dinge stark zurücktreten. Der Einzelne hat auf dieser primitiven Entwicklungsstufe keinen Anlass, keine Neigung und vor allem nicht die Fahigkeit, sich gegen diese mystischen und pralogischen Kollektiworstellungen und gegen die darin enthaltenen Forderungen, die ihm mit zwingender Autoritat auferlegt werden, irgendwie aufzulehnen oder sie nur einer Kritik zu unterziehen. Jeder fühlt sich eben bloss als ein Teil, als ein Glied der Gruppe und noch nicht als selbst- ') E. Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris, 1925, s. 7, 8. ■) L'ame primitive, Paris, 1927, s. 263. ') Heinz Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie, Leipzig, 1926, s. 299. bewusste, eigenkraftige, von der Gruppe unterschiedene oder gar unabhangige Persönlichkeit" *). J. Winthuis schreibt: „Alle Angehörigen eines Stammes haben dieselbe Weltanschauung" 2). Und: „Der einzelne Primitive ist kein Individual —, sondern ein Kollektivmensch, keine auf sich gestellte Persönlichkeit, die ihre eigene, durch eigenes Ratiozinium,durch eigene Erlebnisse und Erfahrungen erworbene Weltanschauung besitzt, sondern ein Gemeinschaftsmensch" 3). Kollektivismus bei den Primitiven, Individualismus bei den Kulturvölkern, ist auch die Ansicht Frazers : „Reducedto its most general terms, the line of cleavage is between collectivism and individualism: savagery stands on the side of collectivism, civilization stands on the side of individualism" 4). Wir wollen es bei diesen Beispielen lassen. Sie mogen genügend gezeigt haben, dass die Auffassung von der Gruppengebundenheit des Einzelwesens in der primitiven Gemeinschaft und von der schwach entwickelten primitiven Individualitat viele Anhanger hat. Jedoch gibt es auch andere, oft entgegengesetzte Auffassungen, die dem primitiven Einzelwesen mehr Selbstandigkeit der Gruppe gegenüber und mehr Eigenleben zuschreiben. P. W. Schmidt war einer der ersten, der auf die Bedeutung des Einzelwesens bei den Naturvölkern hinwies und stark die Notwendigkeit einer ethnographischen „Individualforschung" betonte5). Er steilte mit Recht fest, dass „die Wissenschaft kein Recht hat, das Vorhandensein der Individualitat bei den Naturvölkern in Abrede zu stellen und zwar einfach aus dem Grunde nicht, weil niemand bisher bei diesen Vólkern diesbezügliche Forschungen aneestellt hat" 6). •) Das Denken der Naturvölker, Wien und Leipzig, 1926, S. XIII, XIV. 2) Einführung in die Vorstellungswelt der primitiven Völker, Leipzig, 1931, S. 13. 3) a.a.O., S. 15. ') Frazer, Folklore in the Old Testament, Bd II, S. 227. 5) Anthropos, Bd I, 1906. Auch P. W. Koppers hebt die Bedeutung dieser Forschung hervor (P. W. Schmidt Festschrift, S. 349—365). ') a.a.O., S. 638. Ebenso in: „Völker und Kuituren", Regensburg, 1924, S. 38—40. Vierkandt, der in einer früheren Arbeit der Meinung war, dass der Einzelne bei den Primitiven nur ein Herdengeschöpf sei1), hat spater der Individualitatsfrage, insbesondere den Problemen der individuellen Differenzierung bei den Naturvölkern, ein weitgehendes Verstandnis entgegengebracht. Wir brauchen nur auf seinen Aufsatz: „Führende Individuen bei den Naturvölkern",worin er einige Persönlichkeitsausserungen, insbesondere bei den nordamerikanischen Indianern untersucht, hinzuweisen2). Hinsichtlich der individuellen Differenzierung, z.B. bemerkt Vierkandt: „Persönliche Ungleichheiten bestehen bei den Naturvölkern ebenso allgemein wie bei uns. Verschleiert werden sie nur für die meisten Beobachter durch den gemeinsamen Gegensatz zur europaischen Kultur, der allen Individuen eigen ist, und den Mangel differentieller Beobachtungen. Insbesondere begegnen uns auch auf allen Lebensgebieten hervorragende und speziell führende Individuen" 3). In seinem Versuch zur Widerlegung der Lévy-Bruhlsche Theorie, bemerkt Leroy ebenso, dass nur ungenaue Beobachtung von seiten der Ethnographen uns so wenig vom individuellen Leben der Primitiven sehen lasst, wodurch wir den Eindruck bekommen, das Individuelle sei ganz in dem Kollektiven aufgelöst4). *) A. Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker, Berlin, 1896, S. 171. 2) Zeitschrift für Sozialwissenschaft, XI Jahrgang, 1908. s) Vierkandt, Die Genossenschaftliche Gesellschaftsform der Naturvölker, in Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 1931, S. 199. •) „L'individu, même dans les civilisations les plus humbles, n'est pas touiours noyé dans la masse. S'il n'y parait guère dans les relations des explorateurs, c'est que les réalités individuelles sont moins manifestes que les réalités sociales. Elles ne se révèlent qu'a une observation trés attentive et supérieurement informée. Les ,gens du commun, dit Pascal, ne trouvent pas de différence entre les hommes'. Les ethnographes, je le crains, se sont souvent conduits comme des gens du commun. Ils ont vu les choses d une manière un peu grossière, et les sociologues qui élèvent a leur tour sur ces schémas leur généralisations décharnées achèvent le divorce avec la vie." (O. Leroy, La raison primitive, Paris, 1927, S. 56). Derselbe Autor hat sich in einer anderen Arbeit sowohl gegen die Theorie Büchers als gegen die Theorie Durkheims gewendet (O. Leroy, Essai d'introduction critique a 1'étude de 1'économie primitive, Paris, 1925, S. 36). Die Auffassung eines primitiven Kommunismus auf wirtschaftlichem Gebiete wird auch bestritten von Max Schmidt, „Grundriss der ethnologischen Volkswirtschaftslehre", Stuttgart, 1920. Vgl. auch, Richard Turnwald, Economics in Primitive Communities, Oxford, 1932, und B. Malinowski, Crime and Custom in Savage Society, London, 1926. Marett ist der Meinung, dass „No man or woman lacks individuality altogether, even if it cannot be regarded in a particular case as a high individuality. No one is a mere item" *). Einige Ethnologen mit ethnographischer Erfahrung — eine sehr wertvolle Tatsache für unsere Frage — haben nachdrücklich die Bedeutung des Individuellen in der primitiven Gemeinschaft betont. Besonders amerikanische Soziologen zeigten sich als Gegner der Durkheim-Lévy-Bruhlsche Auffassung. So sagt Lowie in einem Kapitel über individuelle Variabilitat innerhalb der primitiven Religion: „The individual is not merged completely in his social milieu, — he reacts to it as an individual, that is, differently from every other group member. The cultural tradition of his people dominates him, but it is reflected in a distinctive fashion by each psyche" 2). Boas ist der Meinung, dass die Individualitat nicht weniger bei den allereinfachsten Vólkern ausgebildet ist, als bei uns. „Sobald man durch die Decke der gesellschaftlichen Form, die überall die Individualitat verbirgt, hindurchdringt, zeigt sich überall eine gleichartige Variabilitat in den Geistes- und Charakteranlagen der Individuen" 3). ^ Sehr stark hat sich Radin gegen die Auffassung einer Gruppenhomogenietat und einer Abwesenheit individueller Ausserungen ausgesprochen. Seiner Meinung nach ist gerade dem Primitiven eine sehr freie Selbstausserung erlaubt. „Individualism, what might, in fact, be called „personalism", everywhere, runs riot. Whether it be in the South Seas, in aboriginal Asia, Australia, Africa and the two Americas, the l) R. R. Marett, Anthropology, London, 1927, S. 243: Vgl. ebenso von ihm: „The Beginnings of Morals and Culture: an introduction to Social Anthropology , in: „An Outline of Modern Knowledge", herausgegeben von W. Rose, London, 1931, S. 423, 424. ') R. H. Lowie, Primitive Religion, London, 1925, S. 221. Auf die Tatsachender sozialen und psychischen Differenzierung weist derselbe Autorhin in seinem Buche: „Primitive Society", London, 1929, S. 324—342. Vgl. auch seinen Aufsatz: „Individual Differences and Primitive Cultur", in „Festschrift P. W. Schmidt", Wien, 1928. s) F. Boas, Kultur und Rasse, Berlin, 1922, S. 123. atmosphere that pervades each community is always the same — a ceaseless pitting of man against man, endless bickerings, jealousies, en vies, hatreds, a delight in the discomfiture of others." — „There is a positive side, too, expressed in romantic and devoted friendships, in love, reverential family affection, in kindness, generosity, and pity, in the highest of all virtues, respect for individuality" x). Malinowski aussert sich in ahnlicher Weise. Er kehrt sich gegen die Annahme Rivers eines „Kommunismus" bei den Melanesiern. Die Melanesier zeigen gerade einen starken Drang, ihre Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. nothing has a greater sway over the Melanesian's mind than ambition and vanity associated with a display of food and wealth. In the giving of gifts, in the distribution of their surplus, they feel a manifestation of power, and an enhancement of personality" 2). Ein Aufgehen des Primitiven in die Gruppe wird ebenfalls verneint von Driberg: „The individual is not merged in the group. There are savage thinkers and philosophers, seers, leaders, and inventors" 3), und McDougall, obwohl er bei den Primitiven eine starkere psychische Gruppenzugehörigkeit als bei Kulturvölkern annimmt, gibt zu: „Many facts of savage behaviour forbid us to accept the extreme views that denies them individual self-consciousness"4). Wie schon gesagt, kann es sich für uns nicht darum handeln, einen vollstandigen Überblick über die verschiedenen Meinungen von der primitiven Individualitat zu geben. Für unseren Zweck ist das auch nicht nötig. Zumal die Prüfung dieser Ausserungen nur wenig neue Gesichtspunkte ergeben würde. Auf zwei Publikationen aus den letzten Jahren, die das Problem der psychischen Stellung des Individuums in der ') Paul Radin, Primitive Man as Philosopher, New York and London, 1927, S. 38. a) B. Malinowski, Crime and Custom in Savage Society, London, 1926, S. 29. „ ») j. H. Driberg, The Savage as he really is, London, 1929, S. 10. Vgl. ebenso sein: At Home with the Savage, London, 1932, S. 43. ') The Group Mind, Cambridge, 1921, S. 72. primitiven Gruppe wieder in den Vordergrund gerückt haben, wollen wir noch hinweisen. Die erste ist eine Studie von W. Beck über: „Das Individuum bei den Australiern" *). Beck untersucht hierin, auf welche Weise der Australiër seine Verschiedenheit von seinen Gruppengenossen erlebt wobei er besonders die emotionelle Seite der Differenzieruné betont. 6 Die zweite Publikation, die wir meinen, ist ein Aufsatz von Steinmetz: „Anleitung zu einer systematischen Ermittelung des Individuums bei den Naturvölkern" 2). Steinmetz zahlt hier eine Reihe von Erscheinungen auf, „deren Vorkommen mit Sicherheit persönliches, individuelles Leben von der Kollektivitat und Uniformitat sich abhebend, verrat" 3). Z.B. Persönlichkeitsunterschiede auf Grund sozialer Differenzierung: Hauptlinge, Priester, u.s.w., Unterschiede in sozialer Stellung, Reichtum, Ehewahl, Askese, Ausschmückung, Verbrechen, Selbstmord, Begabungsunterschiede, moralische Unterschiede, Absonderung in Einsamkeit, Wettkampfe, Heldenerzahlungen, u.s.w. So tragt Steinmetz in 24 vielen Naturvölkern entnommenen „tests , auf systematische Weise, aus seiner reichen ethnologischen Kenntnis, eine Anzahl interessanter Ausserungen und Situationen, die das Individuelle zum Ausdruck bringen, zusammen. Sein wertvoller, mit soviel Verstandnis für das Menschliche und seine Differenzierungen geschriebener Aufsatz, zeigt deutlich, dass die allzu verallgemeinerenden Ausserungen über Homogenitat und Gleichheit innerhalb der Gruppe durch sehr viele Tatsachen wiederlegt werden. „Die allesverschlingende Gemeinschaft ist weiter nichts als eine hypostaserende Fiktion, eine unnütze und unrichtige Konstruktion", schliesst Steinmetz. Hatten viele Ethnologen und besonders Ethnographen diese Einsicht gehabt, dann waren wir über die Frage der Stellung des Einzelnen'in der primitiven Gruppe gewiss schon viel weniger im Unklaren. Qbwohl es also Ethnologen gibt, die gegen die Auffassung *) Leipzig, 1924. 2) Ethnologische Studiën, Leipzig, 1929, S. 1 16 s) a.a.O., S. 6. vom Fehlen der Individualisierungsausserungen bei den Primitiven Stellung genommen haben, darf diese Auffassung, explicite oder implicite doch noch wohl sehr einflussreich genannt werden. Daher schien es mir wünschenswert, die von Steinmetz angeregte Fragestellung durch eine Untersuchung für ein begrenztes ethnographisches Gebiet, namlich für einige afrikanische Stamme, weiter herauszuarbeiten. Es scheint mir um so notwendiger zu sein, dass Ethnologen sich über diese Fragen Rechenschaft geben, als ihre Ergebnisse oft von Psychologen und Soziologen verwertet werden. Auch lasst die kritiklose Weise in der oft ethnologisches Material benutzt wird, es wünschenswert erscheinen, dass sich die Ethnologen selbst in psychologische und soziologische und damit verbundene methodologische Fragen vertiefen. Unser Gegenstand gehort nicht zu denen, die sich einer besonderen Aufmerksamkeit von Seite der Fachleute erfreuen, wie das z.B. bei den Theorien über Animismus, Monotheismus, Mutterrecht, Kulturkreise, u.s.w. der Fall ist. Das mag befremdend erscheinen, weil doch die Individualitatsfrage von fundamentaler Bedeutung ist. Ursachen für diese ungenügende Behandlung mogen sein: 1° Die Ethnographen haben bisher fast nur auf die allgemeinen Erscheinungen geachtet, auf allgemeine Glaubensvorstellungen, auf Sitten und Gebrauche, Riten, kurz auf die soziale Struktur, abgesehen von Zeit —, Zusammenhangs —, psychischen Faktoren. Dieses Verfahren hat den Eindruck hervorgerufen, als ob in der primitiven Gesellschaft die sozialen Prozesse von institutionellem Charakter fast die einzig wirksamen seien, und dass daneben nicht viel anderes Raum habe. Andererseits aber haben die Ethnologen insofern wenig erzieherisch auf die Ethnographen eingewirkt. 2° Die für die Ethnologie am meisten in Betracht kommenden Hilfswissenschaften, Psychologie und Soziologie, sind beide noch jung und haben daher noch nicht in weitem Masse anregend wirken können. Besonders die differenzielle und soziale Psychologie, die hier in Betracht kamen, sind noch jung. Wenn man bedenkt, wie wenig positive, psychologisch vertiefte Studiën wir für die moderne Kultur haben, dann darf man sich wohl nicht darüber wundern, dass nur wenige sich bisher an die Behandlung des Gegenstandes für die primitive Kultur gewagt haben. 3° Infolge der Betonung des Gegensatzes zwischen primitiv und zivilisiert, Naturvölkern und Kulturvölkern, werden oft die Erscheinungen der primitiven und der modernen Kultur ohne vorherige methodologisch-kritische und empirische Prüfung als einander entgegengesetzt betrachtet. Zum mindesten gilt das für unseren Gegenstand. 4° Werturteile spielen oft bewusst oder unbewusst eine Rolle, wenn die Untersucher mit vorgefassten sozial-philosophischen, politischen und religiösen Ansichten an die Probleme herantreten. Objektive Einstellung und objektive Kriterien sind hier schwer zu erreichen. 3. begriffliche erörterungen. Einige Begriffe spielen in der Literatur über unsere Frage eine wichtige Rolle, z.B. Individuum, Gruppe, Individualitat, Kollektivismus, Selbstbewusstsein, u.s.w. Diese Begriffe werden nun aber oft in nachlassiger Weise angewendet, und ihre Bedeutung ist in der ethnologischen Literatur meistens sehr wenig umgrenzt. Hartnackige Miss verst andnisse sind die Folge dieser Variationen der Begriffe. Deshalb erschien der Versuch wünschenswert, einiges zur Klarung dieser Begriffe, insoweit sie sich auf unseren Gegenstand beziehen, beizutragen. Missverstandnisse infolge falsch aufgefasster Ausdrücke mochten wir soviel wie möglich beseitigen, bevor wir zur Analyse des Materials übergehen. Wir werden in unseren kritischen Bemerkungen besonders auf die Ungenauigkeiten des antithetischen Denkens hinweisen. Dieses Denken neigt dazu, voreilig von den Tatsachen zu abstrahieren und ist zu oft auf nicht rein wissenschaftlichem Wege gewonnen. Es ist daher, neben der Unbestimmtheit der Begriffe, oft eine Quelle falscher Vorstellungen. Dass wir uns bei den folgenden Erörterungen besonders mit Lévy-Bruhls Ansichten auseinander setzen müssen, hat seinen Grund in deren ausgepragtem Charakter und in dem grossen Einfluss, den sie gewonnen haben. a. Individuum-Gruppe. Der Gegensatz Individuum-Gruppe spielt in der diesbezüglichen Literatur eine wichtige Rolle. Es hat den Anschein, also ob viele Ethnologen (und auch Soziologen) das soziale Leben als hauptsachlich aus zwei Faktoren bestehend sehen, namlich dem „Individuum" und der „Gruppe", die in einer Art Kampf mit einander leben, wobei in einer Kulturperiode oder in einem individuellen Falie der eine Faktor, in einer anderen Zeit oder einem anderen Falie der andere Faktor den Sieg davontragt. So einfach ist der Sachverhalt indessen nicht. Von soziologischer Seite ist schon öfters darauf hingewiesen worden, dass von einer derartigen Antithese nicht die Rede sein kann. Dazu sind die sozialen Verhaltnisse zu kompliziert. Leider steht die Ethnologie noch immer viel zu wenig in Verkehr mit den anderen sozialen Wissenschaften. Dadurch wird zwar der Schein einer Selbstandigkeit und Einzigartigkeit hinsichtlich ihres Gegenstandes und ihrer Begriffe aufrechterhalten, andererseits hat aber die Isolierung den Nachteil, dass neuere Ansichten der Nachbarwissenschaften nur langsam in ethnologischen Kreisen durchdringen und dass sie umgekehrt oft dem Eindringen von Spekulationen von Seiten dieser Nachbarwissenschaften wehrlos gegenüber stehen. Schon 1907 hat Berthold Thorsch auf das Verwirrende und Falsche der Fragestellung in der Form eines einfaches Gegensatzes hingewiesen 1). Es sei mir gestattet, aus seiner interessanten Schrift die wichtigsten darauf bezugnehmenden Stellen zu zitieren, weil sie meiner Meinung nach zu einem grossen Teile den Sach ver halt richtig wiedergeben. „Die verwirrende Mannigfaltigkeit von Bewertungsproblemen, die eine Mehrheit von Menschen darbietet, wird immer wieder auf das Problem des Verhaltnisses von Individuum und Gemeinschaft zurückgeführt; man stellt den Gegensatz Individuum-Gemeinschaft hin und entrinnt so den Verschiedenheiten, deren es überwaltigend viele, .unzahlige' gibt, indem man sie auf jene zwei Elemente des Gegensatzes reduziert" 2). — Und: „Es gibt aber kein ,Einzelnes' an sich ') Der Einzelne und die Gesellschaft, eine soziologische und erkenntniskritische Untersuchung, Dresden, 1907. ») s. 2. und es gibt keine ,Vergemeinschaftung' an sich. Jedes Einzelne ist ein solches nur im Vergleich mit Anderem, das als zusammengesetzt erscheint, ist Einzelnes nur mit Bezug auf jene Beziehungsgruppen, gegenüber welchen jenes Andere als zusammengesetzt erscheint; jede Gemeinschaft ist Gemeinschaft nur mit Bezug auf bestimmte Elemente, niemals Gemeinschaft an sich. Schon dem Wesen und Inhalt dieser Begriffe nach bietet also Alles, was uns gegenübertritt, in allen möglichen Abstufungen und Formen Gemeinschaftswesen und Einzelwesen zugleich dar. Diese scheinbar letzten Kategorien, die so eindeutig erscheinen, sind also von überaus fliessendem und unsicherem Inhalt. Dies gilt für Menschenwesen ebenso, wie für alle anderen Naturelemente. Sind doch in dem Problem des Verhaltnisses von Individuum zu Gemeinschaft im Grunde alle Bewertungsprobleme eingeschlossen, die es überhaupt gibt. Denn es ist ja nichts anderes, als das Problem des Verhaltnisses des Teils zum Ganzen, von Eins zu Mehr — in der Erscheinungsform, die es innerhalb des Menschlichen annimmt. Es so schwierig aufzufassen, wie es ist — indem man es allen Verknüpfungsproblemen anschliesst — bedeutet dann aber auch, es nicht als ein einziges .absolutes' aufzufassen und sich nicht an seine metaphysische Unauflösbarkeit zu verlieren" 1). Nach Thorsch sind Soziologen wie Von Wiese 2), Geiger 3) Cooley4), u.a. zu ahnlichen Ansichten gekommen. Wir können hier die Frage beiseite lassen ob z.B. Von Wiese's Soziologie das soziale Leben vielleicht nicht zu sehr relativiert. Für Von Wiese lösen die Substantiva Individuum und Gesellschaft sich auf in die Verba individualisieren und vergesellschaften 5). Es ist fraglich ob damit das soziale Leben umfasst werden kann, jedenfalls nicht, nach meiner Ansicht das sozial-psychische Leben. Abgesehen davon indessen, ') s. 13 ff. 2) L. von Wiese, Allgemeine Soziologie, Teil I, München, 1924, S. 22—24. 3) Theodor Geiger, Die Gestalten der Gesellung, Karlsruhe, 1928. S. 2—4. 4) C. H. Cooley, Human Nature and the Social Order, New York 1912 S. 1—2. 5) Allgemeine Soziologie, Teil I, S. 23. sind wir mit Von Wiese ganz einverstanden, dass es der wissenschaftlichen Analyse im Wege steht, von vornherein eine Antithese anzunehmen. Die Ethnologen sind hier wahrscheinlich auf einen Irrweg geführt worden durch die sozialphilosophischen und weltanschaulichen Ansichten, über den Charakter unserer eigenen Gesellschaft. Diese Ansichten haben die moderne Gesellschaft als ein Zusammen- oder Nebeneinanderleben von stets selbstandiger, abgegrenzten Individuen aufgefasst, innerhalb dessen die Gebundenheit an die Gruppe fortwahrend abnimmt. Mogen solche Meinungen auch für den neuzeitigen Soziologen und Psychologen etwas naiv erscheinen und selber von einer Gebundenheit an Gruppenvorstellungen zeugen, so haben sie doch einen sehr starken Einfluss ausgeübt und herrschen noch jetzt in weiten, auch wissenschaftlichen Kreisen. Kein Wunder daher. dass Ethnographen und Ethnologen, die vom primitiven Leben besonders die Aussenseite, das institutionelle Leben sahen, einen ausgepragten Gegensatz, zwischen gruppengebundenen Primitiven einerseits und individualistischen Kulturvölkern andererseits, konstruierten. Bei der Aufstellung dieses Gegensatzes ist aber übersehen worden, dass der Mensch nicht ein abgeschlossenes, isoliertes Etwas darstellt, sondern dass er ein soziales Wesen ist. Alle Individuen sind eben soziale Wesen, die in unzahligen Verbindungen mit anderen Individuen leben, in Gruppen und nicht gegenüber Gruppen. Es handelt sich also nicht einfach um Gebundenheit oder Selbstandigkeit, sondern die mit diesen Worten bezeichneten Zustande existieren gleichzeitig und nebeneinander innerhalb ein und derselben Gesellschaft. Sie sind ausserdem schwerlich geeignet das ganze gesellschaftliche Leben oder das Verhaltnis des Individuums zur Gesellschaft nach allen seinen Seiten zu charakterisieren. Auch bei uns existieren Gruppenbindungen neben Beziehungen, die mehr Raum lassen für Selbstandigkeit. Noch viel schwieriger und komplizierter wird die Sachlage, wenn man von den sozialen auf die psychische Prozesse übergeht. Isoliertheit, relative Abgeschlossenheit und Gebundenheit sind hier ausserst schwierig zu unterscheiden. Ausserdem genügt eine for- male Unterscheidung nicht, denn sie sagt über die Art dieser Beziehungen nur sehr wenig aus. Ein Gefühl der Verbundenheit mit der Gemeinschaft, der bewussten Verantwortlichkeit z.B., kann ja gerade Kennzeichen einer starken, einheitlichen Persönlichkeit sein1). Es ist unmöglich, hier von einfachen Gegensatzen auszugehen. Damit ist indessen nicht etwa gemeint, dass es unmöglich ist, einen entwicklungsgeschichtlichen Tendenz in der einen oder anderen Richtung zu entdecken. Eine Untersuchung solcher Tendenzen müsste jedoch mit viel feineren Begriffen und scharferen Kriterien vorgehen, als es bisher geschehen ist. Die einfache Antithese Individuum-Gruppe ist noch aus einem weiteren Grunde unzureichend. Es gibt namlich nicht nur eine soziale Gegebenheit „Gruppe", sondern mehrere Gruppen, innerhalb deren das Individuum in verschiedenen Beziehungen lebt. Deshalb ist es unrichtig, von Gebundenheit an die Gruppe zu reden. Das trifft auch für die primitive Gesellschaft zu. Der Einzelne lebt hier nicht bloss in einer einzelnen, undifferenzierten Gruppe, sondern in verschiedenen Gruppen verschiedener Art, wie Stamm, Sippe, Ehe, Geheimbund, Priester- oder Zauberbund. Dazu kommen noch mannigfache andere Beziehungen bindender Art, wie Tabu, Sitten, Zeremonien, u.s.w. 2). Eine *) Wie wenig die Verwickeltheit der menschlichen Beziehungen oft von Ethnologen beachtet wird, geht z.B. hervor aus dem Buche von Winthuis, „Einführung in die Vorstellungswelt primitiver Völker". Auch für ihn werden die Kulturvölker immer differenzierter, individueller, persönlicher. (Obwohl differenziert und individuell einerseits und persönlich anderseits gar keine gleichen Entwicklungsrichtungen und gleichen Werte auszudrücken brauchen). Er schreibt z.B., dass wir noch immer „einen Rest undifferenzierten Gemeinschaftsgefühles" beibehalten (S. 8). Winthuis macht hier denselben Fehler, dem man haufig begegnet, namlich, dem Gemeinschaftsgefühl —• übrigens auch ein vieldeutiges Wort — Differenzierung und Persönlichkeit gegenüberzustellen. ") Daher macht Aldrich sich auch einer unrichtigen Vereinfachung und Schematisierung schuldig, wenn er schreibt: „Among primitives the supreme mystic participations are those that exist between the individual and his group, and the participation between the group and all its members with the totem, the symbol of the group. Among moderns these are paralleled by a person's participation with the various groups to which he belongs — his family, his trade or profession, his club or secret society, his church, and his nation — and by his mystic relation to God". („Primitive Mind and Modern Civilization , London, 1931, S. 88.) Es gibt eben nicht nur eine primitive Gruppe, sondern wie bei uns, aber in weniger komplizierter Form, mehrere, funktionell verschiedene Gruppen. Die Zahl und Kompliziertheit der primitiven Gruppen hangt mit der Entwicklungstufe zusammen, sodass auch das Wort „primitiv" hier zu wenig und zu viel besagt. Untersuchung, die den wirklichen Verhaltnissen gerecht werden will, muss alle diese Bindungen und ausserdem die freiere Beziehungen berücksichtigen. Lévy-Bruhl hat bekanntlich die Art der Verbundenheit des Einzelwesens mit der Gruppe als eine „mystische Partizipation" („participation mystique") aufgefasst1). Eine Solidaritat mystischer Art verbindet, nach ihm, die Gruppenglieder, die dadurch eine geringe Abgeschlossenheit gegeneinander, einen Mangel an Individuation zeigen. Gegen Lévy-Bruhls Anschauung ware einzuwenden: 1°. Dass er hauptsachlich Prozesse religiösen oder magischen Charakters untersucht hat. Auch abgesehen von der Frage, in wieweit bei diesen Prozessen wirklich eine mystische Solidaritat besteht, muss Lévy-Bruhl der Vorwurf gemacht werden, dass diese Art der Untersuchung einseitig ist, denn die „participation mystique" braucht ja nicht charakteristisch für die „primitive Mentalitat" überhaupt zu sein, wie er annimmt. Ausserdem umfasst auch das primitive Leben mehr als Magie, Religion, Tabus, u.s.w. 2°. Dass auch bei Kulturvölkern in verschiedenen Beziehungen eine Solidaritat besteht, sodass sie nicht als eine besonders primitive Erscheinung angesehen werden kann. Der Unterschied darf daher, meiner Meinung nach, nicht in dem Gegensatz von Solidaritat (Gebundenheit), und Nicht-Solidaritat, gesucht werden, sondern in der Starke und besonders der Art der bindenden Beziehungen2). Sonst wird das komplizierte Leben einem Schematismus geopfert. b. Individualismus — Kollektivismus (Kommunismus). Wir >) Besonders in seinem Buche „L'ame primitive" dargestellt. !) Fein unterscheidende Bemerkungen über die Fragen von Differenzierung und Einheit findet man bei Vierkandt, Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Stuttgart, 1928, z.B. S. 420—431. Sein Buch ist überaus wertvoll für die ganze Frage der psychischen Stellung des Einzelwesens in der Gruppe. Sehr wertvolle Gedanken gibt auch Alfred Weber in einem Geleitwort zu Hans Staudingers : Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins, Jena, 1913. Die folgende Bemerkung trifft ganz auf unsere Frage zu: „Wie viel ist über Individuum und Gemeinschaft geschrieben worden, wie geistvolle und scheinbar unentrinnbare Entwickiungslinien sind gezogen, wie glanzend ist die Formalbeziehung erlautert und zur Unterlage ganzer Soziologien gemacht worden! Aber wie wenig ist doch der konkrete Boden durchgearbeitet, auf dem sich die Entwicklung wirklich abspielt (S I). haben hier ein Korrelat zu obigem Gegensatz und in der Hauptsache müssen wir dieselben Einwande wie oben gelten lassen. Das Begriffspaar Individualismus-Kollektivismus hat ebenso verwirrend gewirkt und hat ausserdem den Nachteil, stark mit politischen und sozialphilosophischen Ansichten verbunden zu sein. Durch seine subjektive Belastung ist es sehr ungeeignet, der sozialen Wirklichkeit gerecht zu werden. Für unseren Zweck brauchen wir uns nicht in die vielen Definitionen des Begriffes Individualismus zu vertiefen. Es moge genügen, auf die Tatsache hinzuweisen, dass das Wort in verschiedenen Bedeutungen und für verschiedene Lebens- und Wissensgebiete verwendet wird x). Der sozial-philosophische Individualismus, die Lehre, welche in den menschlichen Individuen die Substanz des Sozialen erblickt, kann hier unbesprochen bleiben. Das Begriffspaar Individualismus-Kollektivismus wird dann wesentlich für unsere Frage, wenn versucht wird, empirische Verhaltnisse mit seiner Hilfe zu charakterisieren. Unter Individualismus wird dann im allgemeinen eine relative Selbstandigkeit des Einzelwesens in psychischer und besonders in sozialer Hinsicht, eine Atomisierung der Gesellschaft, ein Losgelöstsein des Individuums vom Gruppenverband, verstanden. Kollektivismus bedeutet umgekehrt ein weitgehendes Zurücktreten der persönlichen Selbstandigkeit, ein starkes Eingebettet-Sein im Gruppenleben, *) Diese Vieldeutigkeit wird z.B. deutlich von Georg E. Burckhardt in einem Büchlein: „Was ist Individualismus?" (Leipzig, 1913) gezeigt, worin er einen kritischen Uberblick über die möglichen Auffassungen von Individualismus gibt. Er aussert sich über die grosse Unklarheit und Gedankenlosigkeit im Gebrauch des Wortes „Individualismus". „Bei naherem Zusehen tut sich ein wahrer Hexenkessel von Vieldeutigkeit auf, aus dem kobold „Individuum" in irgendeiner Form jedesmal herausspringt". (o. 5). Und Herman Schmalenbach z.B. sagt in einem Aufsatz: „Individualitat und Individualismus (Kant-Studien, XXIV, 1920): „Der einfach schlichte binn namlich, den diese Worte meinen, ist angesichts der Haufigkeit ihrer Anwendung von so völlig differenzierungsloser, nuancenloser Ungeklartheit, dass dem Schicksal aller Erörterungen gegenüber, in denen sie gebraucht werden, die ausserste Besorgnis am Platze sein muss". (S. 365) In ahnlichen Sinne schreibt K. Jaspers: „Die verschiedenen Gegenüberstellungen von Einzelnen und Allgemeinen oder Ganzen lassen erkennen wie vieldeutig der Ausdruck Individualismus ist, wenn er so schlechthin gebraucht wird. Was in dem einen Gegensatzpaar individualistisch ist, kann unter dem Gesichtspunkt eines anderen das Gegenteil sein und umgekehrt " (Psychologie der Weltanschauung Berlin, 1922, S. 410 ff.) einen festgeregelte Ablauf der sozialen Prozesse ohne individuelle Variation. In diesem Sinne werden denn auch die Zustande bei den Kulturvölkern denen bei den Naturvólkern entgegengestellt. Wir dürfen hier an die im Anfang dieses Kapitels gegebenen Beispiele von Ansichten über „Kollektivismus" bei den Primitiven erinnern. Trafe aber der Gegensatz zu, so müsste doch zum mindesten Übereinstimmung hinsichtlich des eindeutig individualistischen Charakters der modernen Verhaltnisse bestehen. Das ist aber keineswegs der Fall. Es ist sehr zweifelhaft, ob diese generelle Charakterisierung auch nur auf eine moderne Gesellschaft in allen Gebieten ihres sozialen und geistigen Lebens zutrifft1). Schon eine geringe Kenntnis unserer eigenen Gesellschaft macht es klar, dass z.B. neben grosser Freiheit in der wirtschaftlichen 1) Eine interessante Parallele zu unserer Frage finden wir in den verschiedenen Ansichten über die Individualiteit des mittelalterlichen und des Renaissancemenschen. Die Lehre von der besonderen Individualitat des Letzteren ist zuerst von Jakob Burkhardt ausführlich dargelegt worden (Kultur der Renaissance, X. Aufl., S. 143 ff.) und ist bei vielen Historikern zu einer festen Überzeugung geworden. Dagegen haben andere Histonker die Rolle der Einzelpersönlichkeit im Mittelalter betont. So sagt Dietr. bchafer, dass alle, die die Auffassung von der Renaissance als der Geburtsstunde der Individualitat vertreten, nur nach dem urteilen, was das Mittelalter schriftlich und bildlich über seine Menschen zu sagen wusste, nicht aber nach dem, was diese taten. „Wenn es irgend eine Zeit gegeben hat, m der die tinzelpersönlichkeit entwickelt war, so war es das Mittelalter, und gerade von der Renaissance kann man sagen, dass sie einen starken Anstoss gab, der Individualitat der Tat Schranken zu ziehen. Nur dem oberflachlichen Bliek, der Zeit und Ort nicht scheidet, erscheinen Ritter und Mönch, Burger und Bauer, Kaufmann und Zunftgenosse des Mittelalters als feste, unveranderliche Tvpen Wer naher hinsieht, erkennt alsbald die unendliche Mannigtaltigkeit der Hergange und Verhaltnisse und die Fülle starker Personlichkeiten die ihre Umgebung zu formen vermochten." Schafer kehrt sich gegen dem Gebrauch des Schlagwortes „mittelalterliche Zustande": „Denn wenn es irgend eine Zeit gegeben hat, die reich war an Neubildungen auf f ast allen Gebieten, in Staat und Kirche, in Recht und Wirtschaft, in standischer Gliederung und geistigem Leben, so war es das Mittelalter und zwar an Neubildungen, die auf lange hinaus bestimmend wurden fur den Gang der Geschichte". (Weltgeschichte der Neuzelt, Berlin, 1907,, I, S. 13ff.) Ebenso. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Stuttgart, 1925 12, ff. Auch Ernst Cassirer aussert Bedenken gegen die Auffassung Burkhardts in: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, L(Diese' Diskussion zeigt, ebenso wie der Streit der Meinungen in unserer Frage wie stark Begriffe und Tatsachen einander durchdrmgen in dem Bilde, das dér Untersucher von einer Epoche entwirft, und wie vorsichtig in der Verwendung seiner Begriffe, wie vielseitig in dem Eingehen auf die sachen er sein muss. Tatigkeit geistige Unselbstandigkeit und Bindung an Gruppengefühle auf anderen Lebensgebieten bestehen kann. Und wie wenig eindeutig ist auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens der Begriff der „Freiheit des Handeln". Die heutige wirtschaftliche Krise lasst über die Kompliziertheit der Verhaltnisse und die Unzulanglichkeit grob schematisierender Begriffe wenig Zweifel. Ein ander es Beispiel: Die Ethnologen, die einen star ken Unterschied zwischen den Eigentums verhaltnissen der Naturvölkern und denen der Kulturvölkern machen, setzen voraus, dass bei den letzteren Privateigentum die Regel ist. Was besagt aber dieses Wort? Zunachst nur, dass Privateigentum gesetzmassig erlaubt ist. Damit wissen wir aber noch sehr wenig über die tatsachlichen Verhaltnisse. Man braucht nur an die Verteilung der Produktionsmittel zu denken, um zu sehen wie weit formelle Möglichkeit des Besitzes und tatsachlicher Besitz getrennt sein können. Auch bei uns ist doch das Privateigentum z.B. eng mit der Familie verbunden. Wie weit das der Fall ist, ware Gegenstand einer soziologischen Untersuchung. Unmöglich erscheint es aber, mit einer formellen Antithese die wirklichen verwickelten Verhaltnisse erf assen zu wollen 1). Mit Recht bemerkt Steinmetz auch, dass „die Individuen jetzt ebenso oder vielleicht mehr gefesselt (sind) als manche in früheren Zeiten und ausserhalb unserer Gesellschaft. Diese Fesseln sind die Erziehung und die Bedürfnisse, beide so unendlich kompliziert und gebieterisch auch bei den Emanzipiertesten. Waren der Raubritter auf seinem Turm und spater der Pelzjager in Nordamerika oder in Sibirien, der einsame Landstreicher, der arme Sonderling nicht viel mehr vereinzelt, viel mehr Einzelpersonen als alle anderen in höherer Kultur? Ob ein Edelmann oder ein Fürst zur Zeit der Renaissance sich in jeder Richtung nicht mehr ausleben konnte als jetzt irgend ein Mensch in unserer Gesellschaft? Höhere Kultur und höhere Staaten scheinen eigentlich den Einzelnen noch mehr zu fesseln als ') Das gleichzeitige Wirken von sozialisierenden und individualisierenden Kraften, von Bindungen und Lösungen innerhalb derselben Kultur zeigt Dewey am Beispiel des sozialen Lebens in den Vereinigten Staaten. Sein Buch: „Individualism Old and New", (London, 1931) ist zwar nicht eine im engeren Sinne empirische Untersuchung, gibt aber viele gute Beispiele. zu befreien" 1). Es ware leicht, aus der soziologischen und sozial-kritischen Literatur eine ganze Reihe von Beispielen von der Verschiedenheit der Ansichten über den „individualistischen" Charakter unserer Gesellschaft und über die Atomisierung oder Sozialisierung des Einzelwesens anzuführen 2). Kehren wir zur primitiven Gesellschaft zurück. Wir sahen schon, dass die Annahme eines primitiven Kollektivismus nicht unumstritten ist 3). Auch hier liegt die Sache komplizierter, als mit ein paar Worten angedeutet werden kann. Malinowski ist der Meinung, dass man auch einen Begriff wie „Kommunismus" am besten vermeidet. Gegen die von Rivers gehegte Vorstellung eines weitgehenden „Sozialismus" oder „Kommunismus" bei den Melanesiern führt er an: „Nothing could be more mistaken than such generalizations. There is a strict distinction and definition in the rights of every one and this makes ownership anything but communistic. We have in Melanesia a compound and complex system of holding property, which in no way partakes of the nature of „socialism" or „communism". A modern joint-stock company might just as well be called a „communistic enterprise". As a matter of fact, any descriptions of a savage institution in *) Ethnologische Studiën, 1929, S. 1. 2) Die Soziologen haben sich fortwahrend mit dieser Frage beschaftigt. Wir brauchen nur auf die folgende Werke hinzuweisen: H. Spencer, The Man versus the State, London, 1884; G. Simmel, Soziologie, Leipzig, 1908; W. Thorsch, der Einzelne und die Gesellschaft; A. W. Small, General Sociology, Chicago, 1905; L. Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, Wien, 1885; Th. Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen. Berlin, 1899; F. Oppenheimer, System der Soziologie, I, Jena, 1922; K. Breysig, Persönlichkeit und Entwicklung Stuttgart, 1925; E. Durkheim, De la division du travail social, 4. Aufl., Paris, 1922; L. T. Hobhouse, Social Development, London, 1924; W. MacDougall, Group Mind, 2. Aufl., Cambridge, 1921; Th. Litt, Individuum und Gemeinschaft, 3. Aufl., Leipzig, 1926; A. Vierkandt, Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Stuttgart, 1928; L. von Wiese, Allgemeine Soziologie, I, Leipzig, 1924; John Dewey, Individualism, Old and New, London, 1931; K. Dunkmann, Lehrbuch der Soziologie und Sozialphilosophie, Berlin, 1931. Vgl. auch: H. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion, Paris, 1932. Der ganze Meinungsstreit zeigt deutlich die Verwickeltheit der Frage und enthüllt oft eine metaphysische oder politische Voraussetzung, die der Stellungnahme des Verfassers zugrunde liegt. s) Schon 1905 hat Steinmetz gegen diese Theorie Stellunggenommen in: Kritiek op Mevr. H. Roland Holst: De Proletarische Moraal, Amsterdam, 1905. terms such as „communism", „capitalism" or „joint-stock company", borrowed from present-day economie conditions or political controversy, cannot but be misleading" x). Und er fahrt fort: „Ownership can be defined neither by such words as „communism" nor „individualism", nor by reference to „joint-stock company" system or „personal enterprise", but by the concrete facts and conditions of use" 2). Wir wollen hier die Frage beiseite lassen, inwieweit vergleichende Völkerkunde schliesslich doch generalisierende Begriffe braucht. Jedenfalls weist Malinowski unserer Meinung nach mit Recht auf das Verwirrende des Begriffes „Kommunismus" hin, der ebensowenig aussagt über die wirklichen Verhaltnisse wie der Begriff „Individualismus". Radin nimmt gegen die kollektivistische Theorie sehr entschieden Stellung. Er ist der Ansicht, dass bei den Primitiven gerade ein starker „Individualismus" herrsche. Weil er eine sehr radikale Auffassung vertritt, sei es mir gestattet, einige Stellen aus seinem Buche: „Primitive Man as Philosopher" zu zitieren. „Taking the magical religious trappings with which everyday life is invested at their face value, taking literally even the actual statements of many native informants and the descriptions given by the generality of ethnologists, there is ample ground for the above view (der Gruppenherrschaft, Verf.). Granted our predominating intellectualistic outlook — leaving on one side mere prejudice and ignorance —what we know of primitive life would superficially imply such an interpretation. But this is true only superficially and many ethnologists, particularly in America, have long known this, though for some inexplicable reason have never embodied it in their monographs. Wherein does the error lie? It lies in this: in our unjustifiably equating the primitive group with the group as we know it among ourselves, and in our refusing first to examine what constitutes social reality for primitive man. Social reality is to him something unique and definitely distinct from the individual and no more emanates from him than does the ex- *) B. Malinowski, Crime and Custom in Savage Society S., 19. ') a.a.O., S. 20. ternal world. It is coexistent with the individual, both constraining and in its turn being constrained by him. As soon as we realize this, and that much of the religious and magical background is secondary, at times even being an inert accretion that but represents the external dress of a will-to-action, then the true interaction of the group and the individual becomes apparent at once. Far from cramping and fettering him — be it on the chase, on the warpath, at ceremonial enactments, etc. — this background then serves as a means of doubling the concentration of mind and body, of increasing a tenseness of nerve and muscle, of evoking a sense of personal power and well-being. It gives him what he most desires in life, prestige and a heightened sense of existence. All that we know of primitive man when we come to know him at all intimately and are able to look below the surf ace, bears this out. Individualism, what might, in fact, be called „personalism", everywhere runs riot" 1). Es ist möglich, dass Radin die Existenz eines „Individualismus" bei den Primitiven zu stark betont, und dass er zu schnell verallgemeinert. Abgesehen indessen davon, dürften seine Ansichten, die aus eigenen Beobachtungen hervorgingen, trotzdem ein weiterer Beweis für die Unrichtigkeit eines durchgangigen „Kollektivismus" liefern. Die ganze Frage kann auch deshalb nicht einfach antithetisch betrachtet werden, weil den verschiedenen Stufen und Typen der primitiven Gesellschaften verschiedene Aspekte der Individualisierung entsprechen. Von den Viehzüchtern, z.B. wird mehrfach berichtet, dass sie sehr „individualistisch" seien, oder zum mindesten „individualistischer" als die Ackerbauer2). Die Ackerbau treibenden Neger gelten als sehr kollektivistisch. ») s. 36—38. , . , So sagt Thurnwald : „Individualism is more accentuated among herdsmen, especially cattle people and horsemen, and is intensified because they excel as leaders and rulers of other tribes, especially agnculturists. lhe pastoral man is an organizer and thinker, a man of imagination and enterprise, aggressive and active, sometimes violent, sometimes cunning. 1 ne agriculturist sticks more to collective principles, is meditative, more passive, has an inclination to luxury, revels in feasts, is a builder and painter, enjoys life". (Economics in Primitive Commumties, Oxford, 193^, b. ) „Die Ausbildung starker Einzelpersönlichkeiten wird begunstigt , Kurz zusammenfassend, mochten wir folgende Einwande gegen die Anwendung der gegensatzlichen Begriffe Individuum-Gruppe und Individualismus-Kollektivismus erheben: 1 ° Die Begriffe sind vieldeutig und beziehen sich auf komplizierte Verhaltnisse, die nicht mit einem Wort charakterisiert werden können. 2° Die Gegebenheiten des primitiven sozialen und psychischen Lebens zeigen nicht nur einen GruppenCharakter und sind in weit grösserem Masse als vielfach angenommen wird, individueller Art, worauf schón die Arbeiten von Steinmetz, Beck, Radin, Malinowski, Lowie schliessen lassen. 3° Ebenso wie der Gruppencharakter des primitiven Lebens zu formal, zu einfach und schematisch gesehen worden ist, hat man den „individualistischen" Charakter unserer Gesellschaft stark überschatzt und die vielen Arten von Bindungen bei uns übersehen. Die ganze Klassifizierung in kollektivistischen und individualistischen Gemeinschaften bezieht sich zu sehr auf aussere Merkmale statischer Art. 4° Die Frage ist mit sozialphilosophischen Veraussetzungen belastet und noch zu wenig objektiv untersucht worden, sodass Verallgemeinerungen notwendigerweise voreilig sind. c. Individualiteit. Dieser Begriff umfasst das ganze Problem des Einzelwesens und seines Verhaltnisses zur Gemeinschaft. Die Individualitatsfrage ist so weittragend und zugleich so sehr mit philosophischen Problemen verknüpft, dass von einer allseitigen Behandlung der Frage der primitiven Individualitat abgesehen werden musste. Eine Lösung, wenn sie überhaupt möglich ist, wird mit der Inangriffnahme von Teilproblemen anfangen müssen. Eine, wenn auch kurze, begriffliche Erörterung erscheint indessen angesichts der vielfachen Anwendung des Wortes Individualitat in der ethnologischen Literatur wünschenswert. Hauptsachlich werden wir uns gegen eine, unserer Meinung nach auch in diesen schreit* Meinhof in Bezug auf die afrikanische Hirten (Die Religionen der Ainkaner in ïhrem Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben, Oslo, 1926, o. 83.) Driberg nennt die Lango, die eine Mischkultur von Hirtentum und Ackerbau darstellen, ebenso individualistisch. (The Lango, Oxford, 1923, S. 82.) ' ' Theorien vielfach vorherrschende falsche oder jedenfalls einseitige Antithese zwischen Natur- und Kulturvölkern wenden. Besonders die französische Soziologenschule und die deutsche Entwicklungspsychologie haben sich zu der F rage der primitiven Individualitat geaussert. So widmete LévyBruhl ihr eine seiner Untersuchungen („Lame primitive"), in der er sich besonders mit dem Wesen und den Grenzen der primitiven Individualitat befasste. Was das Wesen dieser Individualitat betrifft, so weist Lévy-Bruhl auf die verschiedenen Seelenvorstellungen bei den Primitiven hin. Diese Vorstellungen enthalten, kurz zusammengefasst, den Glauben an eine Seele, die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist, oder aus mehreren Seelen besteht, von denen jede eine eigene Funktion hat und mehr oder weniger materieller Substanz sind. Aus dem letzten Grunde gibt es auch keine scharfe Grenze zwischen Körper und Seele. Diesen Seelenvorstellungen stellt Lévy-Bruhl unseren Glauben an eine einheitliche immaterielle Seele gegenüber. Was die Grenzen der Individualitat betrifft, so sind sie nach Lévy-Bruhl, soweit die primitive Mentalitat in Frage kommt, sehr variabel und wenig feststehend. Zu der primitiven Individualitat gehören viele Dinge, von Lévy-Bruhl „appartenances" genannt, die wir nicht als Bestandteil unserer Individualitat ansehen, wie z.B. jemands Schatten, sein persönliches Eigentum, seine Exkremente, Fussstapten, Gegenstande, die er angefertigt hat oder die er hantiert, u.s.w. Eine mystische Partizipation („participation mystique ) verbindet den Primitiven mit genannten Dingen und dieselbe Beziehung besteht zwischen ihm und seiner Gruppe. Wenn Lévy-Bruhl sich nun auf eine Analyse der primitiven Erscheinungen beschrankt hatte, würde man einen festen Boden unter den Füssen haben. Eine Schwierigkeit entsteht aber wieder dadurch, dass er unsere Auffassungen über Individualitat zum Vergleich heranzieht und dabei die Existenz klarer, allgemeingültiger Vorstellungen bei uns voraussetzt. Da diese Voraussetzung aber unrichtig ist, ist sein Vergleichskriterium, so wie er es anwendet, untauglich. Lévy-Bruhl ist der Meinung, dass wir, im Gegensatz zu den Primitiven, eine klar umrissene Vorstellung unserer Individualitat haben: „Chacun de nous croit savoir exactement de quoi se compose son individualité personelle, et oü il en place la limite. Mes sentiments, mes pensees, mes souvenirs, c'est moi. Ma tête, mes bras, mes jambes, mes organes internes, etc., c'est encore moi. Tout le reste de ce que je pergois nest pas moi. Mon individualité est ainsi saisie par ma conscience et circonscrite par la surface de mon corps, et je crois que celle de mon voisin 1'est précisément comme la mienne" x). Und: „L'opposition entre la matière et 1'esprit, qui nous est si familière, au point de nous sembler presque naturelle, n'existe pas pour la mentalité primitive" 2). Lévy-Bruhl geht offenbar von alteren psychologischen Anschauungen und von der kartesianischen Philosophie aus. Für die neuere Psychologie und Soziologie ist der Sachverhalt j edoch weniger einfach. 1° Ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass unsere Individualitat, unser Selbst weniger einheitlich ist, als früher angenommen wurde. Besonders die medizinische Psychologie hat dies deutlich gemacht durch die Untersuchung der Spaltungs-Phanomene 3). Noch ein anderer Einwand darf hier erhoben werden. Lévy-Bruhl und mit ihm viele andere, obwohl in oft naiverer Weise, setzten bei den Kulturmenschen eine geschlossene Persönlichkeit voraus. Das ist ihr Recht. Es bleibt aber nicht destoweniger eine Voraussetzung, die der Kritik umsomehr unterworfen ist, als sie ohne weitere Begründung als eine Selbstverstandlichkeit ausgesprochen wird. Die Sache liegt aber auch beim Kulturmenschen weniger einfach, als es den Anschein haben könnte. Ebenso wie für die Soziologie *) L'ame primitive, S. 132—133. ') a.a.O., S. 131. ) Vgl. zu dieser, für die Kenntnis der Psychologie der Primitiven sehr wichtigen Frage, K. Oesterreich, Die Phanomenologie des Ich in ihren Grondproblemen, Leipzig, 1910, S. 342—509 über die Spaltung des IchTh. Ribot, Les maladies de la Personnalité, Paris, 1909; R. G. Gordon,' Personality, London, 1928; P. Janet, Les obsessions et la psychasténiej Paris, 1903; A. Storch: Das archaisch-primitive Erleben und Denken der Schizophrenen, 1922, W. Brown, Science and Personality, Oxford, 1929, der Mensch nicht einfach isoliert seinen Mitmenschen gegenüber steht, sondern in mannigfachen Verbindungen mit ihnen lebt, so steht auch sein Ich, seine Individualitat, für die soziologische und psychologische Analyse nicht „individuell", abgegrenzt und einheitlich seiner Mitwelt gegenüber. Wir müssen uns hier damit begnügen, auf die Ansichten bedeutender Soziologen hinzuweisen, die dieser Frage ihre Aufmerksamkeit widmeten, und die eine Differenzierung jedes Individuums in ein gemeinschaftliches und ein im engeren Sinne individuelies Selbst, in eine Individual- und eine Sozial- oder Gesamtperson angenommen haben 1). Wie weit die verschiedenen Spharen dieser beiden Erscheinungsweisen des Ich reichen, ist eine weitere Frage, auf die in unserem Zusammenhange nicht eingegangen werden kann. Es ist möglich, dass bei den Primitiven das soziale Ich eine grössere Bedeutung hat, dass sein Verhalten starker von anderen her bestimmt ist, als das bei Kulturmenschen der Fall ist; aber auch für uns muss ein Umkreis des Ich, ein soziales Ich angenommen werden, das veranderlich, unstetig und unselbstandig ist. Und ebensowenig wie die Individualitat nur als ein in der Gemeinschaft existierendes Wesen, als Gemeinschaftsselbst angesehen werden darf, wie die Soziologie das oft getan hat, darf sie als ein geschlossenes Ichzentrum angesehen werden. Die Lösung liegt wohl in der Mitte. Ohne hier weiter auf die schwierige Frage des Ich, die zu einem grossen Teil eine metaphysische Frage ist, eingehen zu können, sahen wir uns aus soziologischen Gründen veranlasst, gegen die Vorstellung einer geschlossenen Persönlichkeit Stellung zu nehmen, eben weil auch sie ein falscher Gegensatz zwischen der primitiven Individualitat und der des *) Diese Differenzierung wird vorgenommen von W. James, Psychologie, Leipzig, 1909, S. 174—192; R. Müller—Freienfels, Philosophie der Individualitat, Leipzig, 1921, S. 9—33; A. Vierkandt; Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Stuttgart, 1928, S. 143; L. von Wiese, Allgemeine Beziehungslehre, München, 1929, II, S. 72—76; Gerda Walther, Ein Beitrag zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften, Halle a.d. S., 1923, S. 80—90; G. F. Stout, A Manual of Psychology, London 1929, S. 583—588; Th. Litt, Individuum und Gemeinschaft, Leipzig, 1926, S. 213—216; E. Spranger, Lebensformen, 4. Aufl., Halle, 1924, S. 85—105. C. J. J. Webb, Group theories of religion and the individual, London, 1916, S. 132. Kulturmenschen schafft. Freilich wollen wir damit das Bestehen eines Unterschiedes keineswegs leugnen. 2. Auch die Grenzen unserer Individualitat sind viel weniger scharf umrissen, als Lévy-Bruhl annimmt. Auch unser Selbst steht in „Partizipation" mit ausser uns befindlichen Gegenstanden; welcher Art diese Partizipation ist und wie sie quantitativ funktioniert, ist eine weitere Frage. Als Beispiele neuerer psychologischer Auffassungen über die wenig scharfe Umgrenzung unserer Individualitat möchte ich zwei Psychologen anführen. Müller-Freienfels sagt z.B.: „Ganz unmöglich ist es, dem geistigen Besitzstand eine Grenze zu ziehen. Schon das „Blickfeld" des Momentanbewusstseins ist auf seine Inhalte nicht zu umgrenzen. Gewiss, im „Brennpunkt" des Bewusstseins sind immer nur einer oder doch wenige Inhalte, um diese aber gruppieren sich zahllose „Fransen": das Bewusstsein der raumlich-zeitlichen Umgebung, naherer und fernerer Zusammenhange, so dass ich, wenn ich den Baum vor meinem Fenster anschaue, zugleich mein Zimmer, die Strasse und den Himmel dahinter mitsehe. Aber geistig besitzen heisst nicht nur, im Bewusstsein haben. Der gesamte Inhalt meines Gedachtnisses auch im Zustand der Latenz ist geistiger Besitz, gehort zu meiner Individualitat. Wo aber ist eine Grenze? Heute fallt mir eine Erinnerung nicht ein, die mir morgen wieder gegenwartig ist. Je nach Stimmung und Konstellation verfüge ich über ganz verschiedene Assoziationen; aber die im Augenblick nicht verfügbaren sind ebenfalls „mein". Und alle jene Gedachtnisinhalte, die ich nur mit Hilfe eines Buches heranziehen kann, sind eben auch mein" x). Und Blondel schreibt: „Le domaine du moi parait extensible et réductible a loisir. Entre le non-moi et le moi, entre le nötre et le nous les limites se déplacent, selon les individus, les Psychologies et les Morales." Und: „II est tout a fait théorique d'arrêter, sans plus d'examen, les limites du moi a la surface du corps. Le monde extérieur est une ») R. Müller—freienfels : Philosophie der Individualitat, s. 73. Afrique, oü le moi colonise et établit des zones d'influences, avec ses Marocs, que des moi différents se disputent. II y a des amis, mais il y a mes amis; il y a des maisons, mais il y a ma maison. Les êtres qui nous touchent, les objets qui nous appartiennent, nous les voyons avec d'autres yeux: une sorte de halo affectif les environne. Sans quoi nous ne les sentirions pas nötres, nous ne nous prolongerions pas, nous ne nous fondrions pas en eux." 1) Nun ist Lévy-Bruhl der Meinung, dass wir, obwohl auch wir von „mein" u.s.w. sprechen, zugleich ein deutliches Gefühl von den Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich haben, was bei den Primitiven nicht der Fall sei. So sagt er z.B. in Bezug auf die primitive Individualitat: „Les frontières en demeurent indécises, du fait des appartenances, sécrétions, excrétions, traces, empreintes, restes d'alliments, vêtements, armes, etc. qui font réellement partie de 1'individu, qui sont une „extension de sa personnalité". II apparait maintenant que cette expression n'est peut-être pas tout a fait exacte. Les appartenances ne seraient une „extension", a proprement parler, de la personnalité, que si elle ne les comprenait pas d'emblée, si la représentation de soi, partant de la conscience, qui en serait le foyer originel, se propageait ensuite sur elles secondairement. Telle est bien notre fa^on a nous de sentir et de représenter la participation entre 1'individu et ses appartenances: c'est ainsi que s'expliquent notre culte des reliques, et les sentiments que nous éprouvons en présence des objets qui ont appartenu aux grands hommes. Quelque chose de la personne de Goethe ou de Victor Hugo demeure attaché a leur porte-plume. Un peu de celle de Napoléon subsiste dans son épée ou dans sa redingote." — „Pouvons-nous affirmer qu'il en est de même chez les primitifs? II ne le semble pas, du moins en ce qui concerne les appartenances les plus intimes. Dans leur esprit, ') Blondel, in Traité de Psychologie, Bd. II, S. 524—525. Vgl. auch Vierkandt, Gesellschaftslehre, 2. Aufl., über die inhaltlichen Grenzen des Ichbewusstsein: „Es umfasst eine Reihe von Gegenstanden, sowohl Dinge wie Personen, Gruppen, Interessen, Anschauungen, Werte, u.s.w., die in einer spezifischen Weise zu dem Ich zugehören. Sprachlich ist dieses Verhaltnis ausgedrückt durch das Wort ,Mein'(S. 138). la participation entre elles et 1'individu ne résulte pas d'un transfert, si rapide qu'il soit, sous 1'influence de 1'émotion. Elle n'est pas secondaire: elle est originelle, immédiate. Elle équivaut a ce que nous appelons une identité" x). Wir haben hier ein sehr wichtiges Problem vor uns, wie auch Lévy-bruhl bemerkt. Er ist also der Ansicht, dass zwischen dem Ich des Primitiven und seinem Nicht-Ich so gut wie keine Grenze besteht. Sie gehen in der Vorstellung des Primitiven in einander über, ein Vorgang der von ihm „mystische Partizipation" genannt wird und der von ihm von einfacher Geiühlsübertragung unterschieden wird. Ohne eine graduelle Verschiedenheit in der Gefühlsverbindung zwischen Ich und Nicht-Ich bei den Primitiven und der bei uns herrschenden leugnen zu wollen, so bin ich doch der Meinung, dass wir uns das Wesen dieser Verbindung nicht als verschieden zu denken brauchen, und dass deshalb der Ausdruck „mystische Partizipation" nichts Wesentliches zur Erklarung beitragt. Das Wort „mystisch" ist ausserdem nicht glücklich gewahlt, weil es meistens zur Klassifizierung bestimmter religiöser Erscheinungen verwendet wird. Mir scheint, dass wir mit der einfacheren Hypothese einer gefühlsmassigen Verbindung zwischen Subjekt und Objekt, einer sehr starken Subjektivitat, und eines grossen Einfühlungsvermogens, weiter kommen. Ausserdem ist es vielleicht besser, das Wort Identitat zu vermeiden. Dass nicht einfach von einem psychischen Gleichsein zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Nicht-Ich gesprochen werden kann, scheint mir durch die Tatsache der emotionalen Differenzierung bewiesen, die z.B. Beck bei den Australiern festgestellt hat 2). Das klassische Beispiel für den primitiven Identitatsglauben ist die von Von den Steinen angeführte Behauptung der Bororó, Araras (rote Papageien) zu sein. Ganz überzeugend sind aber dergleichen Beispiele wohl nicht. Einmal bleibt es fraglich, in wieweit die Sprache (und die Ubersetzung) hier den wirklichen Glauben wiederzugeben imstande sind. Zweitens aber ist das praktische Verhalten der ') L'ame primitive, S. 184, 185. ') W. Beck, Das Individuum bei den Australiern, S. 15 ff. Primitiven den Tieren gegenüber ebenso ein Faktor, der berücksichtigt werden muss, und dieses Verhalten macht einen Identitatsglauben nicht ohne weiteres evident. Daher ist es auch unrichtig, wenn Cassirer schreibt, dass der Mensch sich „in seinen Handlungen und Verrichtungen, in seiner gesamten Lebensform und Lebensweise" in keiner Weise vom Tier getrennt fühlt x). Jedenfalls bedarf die Frage einer Wesensgemeinschaft zwischen Ich und Nicht-Ich einer Vertiefung 2) 3. Der Gegensatz, den Lévy-Bruhl zwischen den primitiven und unseren Individualitatsvorstellungen konstruiert, ist noch aus einem anderen Grunde unzutreffend. Das Denken der Primitiven wird von ihm an deren „Kollektivvorstellungen" untersucht. Eine Kollektivvorstellung ist in seiner Terminologie ein verwickeltes Phanomenon, in welchem das, was für uns eigentlich Vorstellung ist, noch mit anderen Elementen emotionellen oder motorischen Charakters vermischt ist, und welches infolgedessen ein anderes Verhalten hinsichtlich der vorgestellten Gegenstande mit sich bringt 3). Die Kollektivvorstellungen der Primitiven sind, nach Lévy- *) Philosophie der symbolischen Formen, Berlin, 1925, II, S. 221. ') Auch Jung, der sich in ahnlicher Weise wie Lévy Bruhl zu dieser Frage geaussert hat, konstruiert zu voreilig (vgl. seine Arbeit „Psychologische Typen, Zürich, 1921, S. 635—636), obwohl er psychologisch tiefer geht als Lévy—Bruhl. Aldrich wendet in seinem interessanten Buche: „Primitive Mind and modern Civilization" (London, 1931), ebenfalls den Ausdruck „mystische Partizipation" an. Er betont aber gegenüber Lévy— Bruhl, dass der Unterschied zwischen Primitiven und Kulturvölkern nicht so gross sei, wie der letztere annehme. Nur bewusstes intellektuelles Unterscheiden befreie uns von der Partizipation. „Take, for instance, the phrase „home and mother". These two nouns represent one emotionally-coloured image for most Americans: where home is, there is mother, where mother is, there is home. They are not quite separate entities, the home and the mother even for the most cultivated grown-ups; not quite completely discriminated one from the other: they form one complex image. They are a complex, psyehologically speaking, since the interest that goes to them is not clearly divided between the home and the mother, but is directed in an undivided stream upon both". -— „Naturally, the degree of these mystic participations is the converse of the degree of consciousness attained by the individual subject: I am not arguing that the modern is as greatly given over to mystic participations as is the primitive; his more developed consciousness and rationality preclude that; but I do insist that exactly the same unconscious confusion of subject with object, of one object with another, is to be detected in moderns, though to a less degree, as is revealed among primitives." (S. 82.) s) Les Fonctions mentales, 1922, S. 28, 29. Bruhl ganz wesentlich verschieden von unseren Ideen und Begriffen x). Dazu ware zu bemerken, dass ja auch unsere Vorstellungen, soweit sie nicht auf rein wissenschaftlichem Wege gewonnen sind, emotionelle Elemente enthalten. Darüber lasst die psychologische Analyse wohl keinen Zweifel. Lévy-Bruhl ist der Ansicht, dass es für uns sehr schwer sei, „uns durch eine Anstrengung unserer Einbildungskraft verwickeltere Zustande zu vergegenwartigen, in denen die emotionellen und motorischen Elemente integrierende Bestandteile der Vorstellungen sind" 2). Lévy-Bruhl macht hier aber den Fehler, das begriffliche, wissenschaftliche Denken als für unsere Kultur kennzeichnend anzusehen. Tatsachlich stellt aber dieses Denken eine Ausnahme dar, und unser alltagliches Denken ist emotionell gefarbt. Dadurch wird LévyBruhls Antithese falsch: ein alltagliches psychisches Erlebnis der Primitiven wird mit einem wissenschaftlichem Denkvorgange verglichen. Hatte er unser gewöhnliches Denken mit dem primitiven Denken verglichen, so hatte er gewiss einen bedeutend geringeren Unterschied gefunden3). Leider ist das alltagliche, nicht-wissenschaftliche, also mit subjektiven Elementen verbundene Denken, noch erstaunlich wenig untersucht worden. Eine Untersuchung solchen Denkens ist freilich mit grossen Schwierigkeiten verbunden, da geeignete Methoden noch fehlen. d. Persönlichkeitsbewusstsein. Wir müssen hier an die ! nterscheidung zwischen einem primaren, vitalen Selbstge- ') a.a.O., S. 28. ') a.a.O., S. 28. 3) Wie auch Bartlett sagt: „The error here, as in much recent social and abnormal psychology, is not that the primitive or the abnormal are wrongly observed, but that the modern and normal are hardly observed at all " (F. C. Bartlett, Psychology and Primitive Culture, Cambridge, 1923, S. 284.) McDougall ist ebenfalls der Ansicht, dass die kollektiven Vorstellungen der Primitiven von den unseren nicht wesensverschieden sind: „ . . . . we are also largely dominated by collective representations; for these collective representations are nothing but ideas of objects to which traditional sentiments, sentiments of awe, of fear, of respect, of love, of reverence, are attached. Almost the whole of the religion and morality of the average civilised man is based on his acquisition of such collective representations, traditional sentiments grown up about ideas of objects, ideas which he receives ready made and sentiments which are impressed upon him by the community that has evolved them." (The Group Mind, S. 74.) fühl und einem Persönlichkeits- oder Individualitatsbewusstsein im Sinne eines reflektierten Sich-Fühlens, die in der Psychologie gemacht wird, erinnern 1). Lévy-Bruhl geht nicht so weit, den Primitiven Selbstgefühl, auf das Selbst bezogene Erlebnisse absprechen zu wollen. „La représentation que 1'individu a de lui-même, dans les sociétés primitives comme dans la nötre, doit être distinguée du sentiment subjectif qu'il a de sesétats de conscience, de ses émotions, de ses pensees, de ses actions et réactions, etc., en tant qu'il se les rapporte a lui-même. De ce dernier point de vue, sa personne est pour lui un individu qui se sépare nettement de tous les autres, qui s'oppose a eux, qui s'appréhende lui-même d'une fagon unique et trés différente de celle dont il percjoit les individus et les objets au tour de lui. Mais cette appréhension immédiate, pour vive et continuelle qu'elle soit, n'entre que pour une faible part dans la représentation qu'il a de sa personne. Ici, des éléments d'origine collective prédominent, et 1'individu ne se saisit guère lui-même que comme membre de son groupe 2). Hiermit werden sehr subtile Probleme berührt. Es wïirde für unseren Zweck zu weit führen tief auf ihre Bedeutung und Tragweite einzugehen. Eine Bemerkung sei aber erlaubt, weil wir der Ansicht sind, dass Lévy-Bruhl auch in dieser Frage den Unterschied zwischen den Primitiven und ,,uns' irrtümlich als einen Gegensatz ansieht. Dass die Primitiven nur ein primares Selbstgefühl erleben und dieses Gefühl nicht in einem PersönlichkeitsfowMSs/s^'w objektivieren, müssen wir auf Grund unseres Materials in Zweifel ziehen. Wir werden noch darauf zurückkommen. Andererseits aber darf nicht vergessen werden, dass das Selbstgefühl bei den Kulturvólkern sozial bedingt ist, so dass es schwer ist, eine Grenze zwischen bewussten, individuellen Vorstellungen von sich i\ Persönlichkeitsbewusstsein ist nicht elementar und unmittelbar wie Selbstgefühl, nicht Innewerden der „Person" als einer einzigartigen leibseelischen Gestalt, sondern reflektiertes Erlebnis des eigenen Wollens und damit des eigenen „Charakters" in sozialer Perspektive. G. Lehmann, in Lehrbuch der Soziologie und Sozialphilosophie, herausgegeben von K. Dunkmann, Berlin, 1931, S. 46. ') L'ame primitive, S. 70. selbst und kollektiven Elementen in diesen Vorstellungen zu ziehen. Die Vorstellung, die jemand von sich hat, hangt teilweise von seiner Stellung in der Gruppe ab. Sein Selbstgefühl ist abhangig von Persönlichkeitsidealen, die von der Gruppe gebildet sind. Diese Abhangigkeit wird z.B. von Vierkandt betont. Für ihn bedeutet das Persönlichkeitsbewusstsein (nicht das von Lévy-Bruhl gemeinte vitale, primare Selbstgefühl) „das Streben sich zur Geltung zu bringen, sich Anerkennung und Bewunderung zu gewinnen und alles zu meiden, was dem Ansehen und der Achtung Abbruch tun kann" *). Das Wesentliche dieses Selbstgefühles ist, dass der Mensch sich gegen seine Umgebung abgrenzt, was sich in Gefühlen wie Stolz, Eitelkeit, Verachtung, u.s.w. und Handlungen der Selbstbehauptung u.s.w. aussert. „Auf diesem angeborenen Trieb beruht es wesentlich", sagt Vierkandt, „wenn sich der Mensch in die gegebene Gesellschaftsordnung und die ganze Lebensführung und Verwaltungsweise seiner Umgebung einfügt: nicht die Furcht vor ausseren Straf en ist die Hauptkraft dafür, sondern die Furcht vor der Beschamung, die ihm bei Verletzung der bestehenden Ordnung die Gruppengenossen durch Spott und Tadel, durch Geringschatzung und Missachtung bereiten würden. Der dabei auftretende Zustand der Beschamung ist ein Zustand eigener Art, der sich nicht weiter ableiten oder erklaren und daher auch nicht definieren lasst. ,,Für uns ist die Hauptsache an diesem Triebe die [innere Verbundenheit des Einzelnenmit seiner gesellschaftlichen Umgebung die in seiner Betatigung enthalten ist und die er seinem Wesen nach voraussetzt. Wer nach Geltung und Anerkennung strebt, unterwirft sich eben damit innerlich dem Urteil seiner Umgebung. Er macht sich dadurch innerlich abhangig nicht gerade von jedem einzelnen, wohl aber von der Gruppe im ganzen oder von den bei ihr geitenden Wertanschauungen. Man kann daher unseren Trieb auch als Verlangen bezeichnen, teilzuhaben an den von der Gruppe anerkannten Werten; oder auch als Trieb, Anerkennung zu erwerben durch *) Die Philosophie in ihren Einzelgebieten, Berlin, 1925, S. 849. ein geschatztes Verhalten" 1). Diese Gefühle und Handlungen finden wir auch bei den Primitiven bezeugt. Beck hat in seiner Studie über das „Individuum bei den Australiern" schon auf die emotionelle Differenzierung hingewiesen, die im Grande auf diesem Selbstgefühl beruht 2). Viele Ethnographen geben Belege für die Ausserungen eines solchen Selbstgefühls bei den Primitiven. Die Frage nach dem Wertgehalt und dem Masse dieser Ausserungen muss hier beiseite gelassen werden. In unserem Zusammenhange bedeuten sie vor allem eine Lockerung der psychischen Gruppenhomogeneitat. Weil das Selbstgefühl aber zugleich auf ein Gefühl der inneren Gebundenheit an die Wertmassstabe der Gruppe zurückgeht, haben wir hier die merkwürdige Tatsache, dass die emotionelle Differenzierung zusammen mit Gebundenheit an der Gruppe auftritt. Die Verwickeltheit der Fragen, die sich auf unseren Gegenstand beziehen, ist auch hieraus wieder ersichtlich. Da wir nun dieses Selbstgefühl sowohl bei Kulturvölkern wie bei Primitiven finden, liegt hier kein grundsatzlicher Gegensatz vor. Das bedeutet natürlich noch keine Gleichheit. Die Frage, wieweit ein Unterschied zwischen beiden besteht und welcher Art dieser ist, müssen wir vorlaufig beiseite lassen. Wir wollten nur hervorheben, dass Lévy-Bruhl auch hinsichtlich des primitiven Selbstgefühls den Unterschied zwischen primitiver und moderner Mentalitat zu stark betont hat. Er hat viel zu sehr ein objektives, auf intellektuellem Wege zustande gekommenes Wertbewusstsein der Persönlichkeit als für die Kulturvölker charakteristisch angenommen und die beiden Gruppen gemeinsamen Ausserungen des Selbstgefühls, so wie dies im taglichen Leben in Erscheinung tritt, übersehen 3). ») a.a.O., S. 849 ff. ') S. 15 ff. T .. . ») Das Selbstgefühl besteht nicht in der Meinung, dem Urteil, das man über'sich hat, Meinung und Urteil in ihrer intellektuellen Bedeutung genommen. Es deckt sich nicht mit dem Bewusstsein seiner objektiven Leistunssfahigkeit, es ist kein objektives Wertbewusstsein". (Else Voigtlander. Das Selbstgefühl, Leipzig, 1910, S. 14.) Vgl. auch: O. Külpe, Vorlesungen über Psychologie, Leipzig, 1920, S. 118 ff. e. Primitiv. Eine allgemeine Bemerkung über den Begriff „Primitiv" sei noch hinzugefügt. In der diesbezüglichen Literatur, und besonders in psychologischen und soziologischen Arbeiten springt man oft sehr frei mit diesem Worte um. (Wir meinen hier natürlich nicht die ernsthafte ethnologische Fachliteratur). Haufig findet man Satze wie: „Der Primitive glaubt" oder „Der Primitive hat noch gar kein...." oder . „unterscheidet noch nicht zwischen ...Man ist oft erstaunt über die Leichtfertigkeit, mit der Gelehrte über einen so komplizierten Begriff wie „der Primitive" Behauptungen aufstellen, ohne von der grossen Uberhebung zu reden, die darin liegt, auf diese Weise über andere Kulturschichten und uns fernstehende Menschen zu urteilen. Die „Kollektiworstellung" unserer kulturellen Superioritat spielt hier hinter scheinbar wissenschaftlicher Objektivitat eine nicht geringe Rolle. Dagegen verdient wohl einmal Beachtung, was Pechuël Lösche, einer der besten Kenner der Naturvölker, bemerkt hat: „Menschliche Zustande sind überaus verwickelt und parteiischer Deutung offen. Je nach Stimmung. Es fallt nicht schwer, das namliche Volk als gut oder als schlecht zu beschreiben. Was werfen entzweite Zivilisierte einander vor, lassen kein gutes Haar aneinander, und wie loben sie sich wieder, wenn alles nach Wunsch geht, wenn sie sich brauchen. So die Leute, so die Völker. Nur die Primitiven kommen nicht zu Worte. An ihnen bleibt alles hangen. Sie sind wehrlos gegen üble Nachrede wie gegen verbesserte Tötungsmaschinen" 1). „Der" Primitive, wie ,,der" Zivilisierte, ebenso wie „der" Deutsche oder „der" Franzose bleiben Fiktionen, wenn wir nicht feiner differenzieren. Damit ist nicht gemeint, dass wir für wissenschaftliche Zwecke nicht eine Gruppe der Menschheit als „Primitive" klassifizieren könnten. Auf jederi Fall muss aber gesagt werden, dass wir, solange unsere Kenntnis von ihnen, und besonders von ihrem psychischen Leben, noch so unvollstandig und der Massstab unseres Vergleiches mit den Kulturvölkern so ungenügend festgelegt ist, nicht l) Volkskunde von Loango, Stuttgart, 1907, S. 50. von einem Gegensatz auf jedem Gebiete sprechen können. Es muss eben zwischen den verschiedenen Teilgebieten einer Kultur unterschieden werden, und diese bedürfen eingehender Untersuchung, ehe das Ganze der Kultur mit anderen Kultureinheiten verglichen werden kann. Eine fortwahrende Schwierigkeit bei allem ist, wie wir schon erwahnten, die ungenaue Kenntnis unserer eigenen Kultur 1). Der Untersucher steht aus diesem Grunde auf unsicherem Boden. Weil wir in Wirklichkeit noch so wenig über die soziale und sozialpsychologische Struktur und die Zusammenhange in der modernen Gesellschaft wissen, haben Vergleiche mit primitiven Kuituren immer et was Unsicheres und Problematisches. Um so mehr, wenn der Untersucher der primitiven Kultur unserer eigene Gesellschaft und Individualitat als genügend bekannt voraussetzt. Ethnologie ohne eine soziologische und psychologische Grundlage muss aber notwendigerweise an der Oberflache bleiben 2). Selbstverst andlich werden wir immer mit unseren Massstaben messen müssen. Es ist aber die Pflicht des Untersuchers, sich so viel wie möglich die Reichweite dieser Massstabe zu vergegenwartigen. Es ist ausserdem noch immer nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass es innerhalb der primitiven Kultur erhebliche Unterschiede gibt, so dass auch deshalb schon nicht einfach von „Primitiven" die Rede sein kann. Eine Tatsache, die leider noch zu sehr übersehen wird. 4. NAHERE BESTIMMUNG UNSERER POSITIVEN UNTERSUCHUNG. a. Begrenzung der Aufgabe. Bei einem Überblick über die Individualitatsfrage zeigt sich, dass sie eine ganze Reihe an- ') Bartlett bemerkt auch ganz richtig, dass ,,Lévy—Bruhls antithesis is not between the primitive man and the ordinary member of a modern social group, but between the former and the scientific expert at work within his own field." — „The error here, as in much recent social and abnormal psychology, is not 'that the primitive or the normal are wrongly observed, but that the modern and normal are hardly observed at all." (Psychology and Primitive Culture, S. 284.) In ahnlichem Sinne aussert sich Aldrich, The Primitive Mind and Modern Civilization, S. 66. *) Vgl auch die Forderungen von Steinmetz für die Ausbildung der Ethnographen (Gesammelte Kleinere Schriften zur Ethnologie und Soziologie Groningen, 1930, S. 309, 310, 312, 314, 449). Ebenso F. Krause: Mensch en Maatschappij, Steinmetznummer, 1933, S. 133. derer Fragen enthalt. Ich, Persönlichkeit, Individuum, Individuation, Individualismus, Identifikation, Differenzierung und andere Begriffe deuten die Probleme an, die sich um das Ratsel der Individualitat herumgruppieren 1). Auch sie haben alle Beziehung zur Frage der primitiven Persönlichkeit. Um irgendeinen Zugang zu diesem Kernproblem zu finden, müssen deshalb verschiedene Wege beschritten werden. Das Problem des Ich, das zum Teil ein philosophisches Problem ist, wird hier beiseite bleiben. Ebensowenig will ich die Frage behandeln, wie die primitive Individualitat strukturiert ist, und ob und inwieweit in der primitiven Gesellschaft von Persönlichkeit en als bestimmenden Faktoren der Entwicklung gesprochen werden kann. Auch kann die Frage, wie eigentlich das Verhaltnis des Einzelnen zur Gemeinschaft beschaffen ist, nicht vollstandig in Angriff genommen werden. Dazu ist sie zu verwickelt und das Material zu lückenhaft. Eine Seite der ganzen Frage, indessen werden wir besonders hervorzuheben suchen, namlich die der individuellen Differenzierung. So lautet unsere Fragestellung: wo finden wir Differenzierungserscheinungen unter den primitiven Menschen, undwelcherArtsindsie? Es mag zuerst den Anschein haben, alsob wir mit dieser Aufgabe nur die formelle Seite der Persönlichkeitsfrage berührten. Differenzierung braucht ja nicht höhere Entwicklung der Persönlichkeit, erhöhtes Selbstbewusstsein oder irgendeinen Individualitatswert zu bedeuten. Und umgekehrt braucht ein Individualitatswert noch nicht notwendig mit Differenzierung zusammenzugehen. Ausserdem kann Differenzierung sehr verschiedene Individualitatswerte ausdrücken. Die emotionelle Differenzierung durch Hass z.B. ist qualitativ nicht gleichzustellen mit dem Differenzierungsphanomen, das wir eine „hervorragende Persönlichkeit" nennen. Auch bedeutet Differenzierung nicht notwendigerweise innere Loslösung von der Gebundenheit. Die Differenzierung kann sehr aus- ') Vgl. dazu: K. Oesterreich, Die Phanomenologie der Ich in ihren Grundproblemen, Leipzig, 1910; J. Volkelt, Das Problem der Individualitat, München, 1928; R. Muller—Freienfels, Philosophie der Individualitat, Leipzig, 1921; Th. L. Haring, Über Individualitat in Natur- und Geisteswelt, Leipzig, 1926; G. Kafka, Versuch einer kritischen Darstellung der Anschauungen über das Ichproblem, Berlin, 1914. serlich sein und gerade ein Zeugnis der Gebundenheit an Gruppengefühle sein. Eine weitere Schwierigkeit ist die Frage, inwieweit die Differenzierung bewusst als solche erlebt wird. Es gibt hier verschiedene Erlebnisgrade. Man hat sich bei der Zergliederung dieser Erscheinungen immer die weitreichende und beinahe unentwirrbare Verschlungenheit des Aufeinandereinwirkens von Einzelwesen und Gemeinschaft zu vergegenwartigen. Bei einem vorlaufigen Überblick über die Differenzierungsmöglichkeiten zeigt es sich, dass die aktivierende Kraft a) von der Gesellschaft, b) vom Einzelwesen ausgehen kann. Von der Gesellschaft aus kann die Differenzierung sozusagen antomatisch bewirkt werden: durch Tabu, Etikette, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, Beruf, Sonderstellung ausphysischenGründen (Zwillinge, Krüppel), erfolgt eine Differenzierung, die vom Individuum bewusst erlebt wird oder nicht. Vom Individuum ausgehend, kann: 1°. ein Bewusstsein der Differenziertheit auftreten; 2°. eine Differenziertheit bestehen, die als solche nicht erlebt wird. Es muss hier unterschieden werden zwischen Persönlichkeitsbewusstsein haben und Persönlichkeit sein, also zwischen einer subjektiven und Reiner objektiven Differenzierung. Unser Ziel wird es sein, an einigen Phanomenen aufzuzeigen, auf welche Weise die Gemeinschaft differenzierend auf die Individuen einwirkt und welche Möglichkeiten der Differenzierung die letzteren haben oder suchen. Damit wird, wie schon hervorgehoben wurde, nur eine Seite der Individualitatsfrage berührt. Es scheint mir aber am günstigsten, zuerst die Untersuchung dieser Seite als der konkretesten anzugreifen. Die Ergebnisse werden dann erweisen, ob die kollektivistische Theorie, die in zugespitzter Form eine Homogeneitat der Gruppenglieder bedeuten würde, Recht hat oder nicht. Nun wird freilich von den Anhangern genannter Theorie nicht geleugnet, dass es psychische Unterschiede bei den Primitiven gibt1). Diese Unterschiede spielen aber nach ihnen M Lévy—Bruhl, z.B. in seinem letzten Buche: „Le surnaturel et la nature dans la mentalité primitive". Paris, 1931, S. XV. Vgl. auch Winthuis, Einführung in die Vorstellungswelt primitiver Völker, S. 13. eine geringe Rolle in Gemeinschaftsleben, verglichen mit den Tatsachen der Gebundenheit und des Aufgehens in kollektiven Vorstellungen. Dass diese Gebundenheit aber nicht einen so absoluten Charakter tragen kann, wie es dargestellt worden ist, glauben wir bereits gezeigt zu haben. Es gilt nun die funktionellen Beziehungen zwischen dem Einzelwesen und seiner sozialen Umwelt, mit besonderer Berücksichtigung der Individualisierung, aufzudecken. b. Material. Eine besondere Schwierigkeit bei der Behandlung unserer Frage liegt darin, dass es nur wenige ethnographische Beschreibungen mit gutem psychologischen Material gibt. Die institutionelle und statische Seite des primitiven Lebens ist im allgemeinen am besten untersucht worden. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass die für unser Problem wertvollen Mitteilungen in den Beschreibungen der verschiedenen Stamme nach Qualitat und Quantitat sehr uneinheitlich auftreten. Alles hangt hier vom Interesse und der Beobachtungsgabe des Ethnographen ab. Der eine Ethnograph teilt dieses, ein anderer wieder etwas anderes Wertvolles mit. Eine Methode fehlt hier ganzlich. Dadurch wird natürlich die Vergleichung zwischen verschiedenen Stammen ausserordentlich erschwert. Mir schien es daher am besten eine Untersuchung der Differenzierungserscheinungen zunachst für ein begrenztes Gebiet vorzunehmen. Als solches habe ich einige afrikanische Stamme gewahlt. Gerade weil man den Negern oft einen starken „Kommunismus" zuschreibt, schienen sie für eine Untersuchung besonders geeignetx). Nun stellen zwar die Neger nicht die „primitivste" Stufe dar. Die institutionellen und magischen Bindungen, in denen sie *) So schreibt Delafosse : „Le collectivisme triomphe chez eux dans chacun des domaines: social, religieux, foncier, économique même et politique". („Les Negres , Paris, 1927, S. 40.) Talbot behauptet: „The negro is perhaps the most gregarious of all men; his greatest joy is to be found in amusing himself with his companions in dances, „plays", etc., and perhaps his greatest grief is solitude, unpopularity and the ridicule of his townsmen. A West African misanthrope or misogynist would be hard to find". („The Peoples of Southern Nigeria , III, S. 754.) James W. C. Dougall sagt in einem interessanten Aüfsatz: „Characteristics of African Thought", Africa, Bd. 5: „The Africans whom I know are predominantly .extraverts'." (S. 261.) 4 leben, werden jedoch in der Literatur so oft betont, dass es von Interesse erscheint, gerade bei ihnen auf Differenzierungserscheinungen hinzuweisen. Bei der Wahl der Stamme hatten wir zwei Faktoren Rechnung zu tragen: 1°. mussten wir Völker gleicher kultureüer Entwicklungsstufe wahlen, um eme einheitliche Behandlung zu ermöglichen; 2°. mussten die besten Beschreibungen afrikanischer Stamme verwertet werden. Diese Erwagungen führten uns dazu, die folgenden Stamme als Beispiele für unsere Analyse zu wahlen: 1°. Die Thonga; 2° die Ba-ila; 3°. die BaVenda; 4°. die Bafioti; 5°. die Dschagoa-6°. die Ashanti; 7°. die Ewe\ 8°. die Kpelle; 9°. die Lango Die Bantustamme Thonga, Ba-ila, BaVenda, Bafioti und Dschagga stellen eine Mischkultur von Bauern- und Hirtentum dar, sind aber vorwiegend Bauern. Die westafrikamschen Stamme der Ashanti, Ewe und Kpelle smd fast ausschliesslich Ackerbauer. Die Lango gehören zu den Niloten und smd Hirten-Bauern. Obwohl sie keine reinen Neger smd, lasst ihre kulturelle Stufe hier eine gleichzeitige Behandlung mit den anderen genannten Stammen zu. II. Kapitel. SOZIALES LEBEN. 1. vorbemerkung über die individuelle differenzierung. a. Allgemeine Differenzierungstatsachen. Wie wir schon hervorgehoben haben, sind viele Ethnologen der Ansicht gewesen, dass es unter den Naturvölkern, vielleicht mit Ausnahme der Hauptlinge und Medizinmanner, sehr wenig individuelle Unterschiede gebe. Nicht nur die Struktur der primitiven Gesellschaft bietet nach ihrer Meinung dem Einzelwesen so gut wie gar keine Gelegenheit, sich gegen seine soziale Umgebung abzugrenzen und seine Individualitat in irgendeiner Weise auszupragen, auch eine psychische Gleichförmigkeit wird von vielen Theoretikern behauptet, aus der sich dann auch die soziale Gleichförmigkeit leicht ableiten lasst. Obwohl in den letzten Jahren von einigen Forschern auf die wichtigen Unterschiede unter den Eingeborenen hingewiesen worden ist x), erscheint es mir doch nicht ganz über- *) Für die australische Gemeinschaft ist die allgemeine Tatsache der psychischen Differenzierung schon von Beck (Das Individuum bei den Australiern, S. 15 ff.) und Knabenhans (Die politische Organisation der australischen Eingeborenen, S. 76 ff.) betont worden. Auch Anhanger der „kollektivistischen" Theorie haben in letzter Zeit zugegeben, dass es persönliche Unterschiede gibt. Lévy-Bruhl: „. . . . pour peu qu'un groupe soit assez nombreux, les individus y révèlent souvent la diversité de leurs tempéraments et de leurs caractères, s'ils le peu vent sans trop de danger" (Le Surnaturel et la Nature dans la mentalité primitive, S. XV); und Winthuis: „Wenn man zum ersten Male diese „Wilden" sieht, meint man, sie hatten alle dieselben Gesichtszüge. Erst allmahlich entdeckt man, dass diese schwarzen Gesichter ganz verschieden sind, genau so verschieden wie die weissen. Und, zwar nicht so schnell, aber schliesslich kommt man doch auch dahinter, dass diese „Wilden" ebenso ihrer Charakteranlage und ihren flüssig, auch hier zunachst diese biologisch fundierten Differenzierungen zu betonen. In rassischer Hinsicht sind die afrikanischen Gruppen ausserdem schon darum nicht homogen, weil in Afrika seit vielen Jahrhunderten Völkermischungen stattgefunden haben. Am starksten ist dies wohl dort der Fall gewesen, wo ein, einer höheren Kultur angehörender Stamm primitivere Stamme unterworfen hat und zur führenden Schicht geworden ist. Dieser Prozess hat besonders in Ostafrika und in Westafrika stattgefunden. Ausserdem sind fast in jedem Stamme durch Heiraten, Sklavenhandel u.s.w. neue Elemente hinzugekommen, die sich mit den alten Stammesmitgliedern vermischten. Aus 'diesem Grunde darf in vielen Fallen eine völkische Einheit der untersuchten Stamme nur in weit geringerem Masse vorausgesetzt werden, als es mehrfach in theoretischen Erwagungen der Fall ist. So erwahnt Pechuël-Loesche von den Bafioti1): „Auch Loango hat Familien, denen Rasse im engeren Sinne eigen ist, deren Angehörigen nicht allein das besitzen, was wir Feinheit und Vornehmheit nennen, sondern überhaupt edler als die Masse gestaltet sind. Wer unbefangen sieht, findet bald, dass es unter beiden Geschlechtern genug hübsche, sogar manche bildhübsche Personen gibt, wofür übrigens die Leute selbst ein feines Gefühl haben''' 2). Und über Unterschiede im Wahrnehmungsvermogen berichtet er: „Wie mit den Gesichtssinn, so verhalt es sich mit den übrigen Sinnen. Es ergeben sich alle individuellen Verschiedenheiten wie unter uns" 3). Schliesslich erwahnt er die moralischen Differenzen: „Wie anderswo gibt es in Loango Gemeine und Vornehme, Kluge und Dumme, Gute und Schlechte"4). Schon diese Tatsache der persönlichen Fahigkeiten nach verschieden sind" (Einführung in die Vorstellungswelt der Primitiven, S. 13.). Jedoch sagt Durkheim : „Plus les societes sont pnmitives, plus il y a de ressemblances entre les individus dont elles sont iormées" (De la division du travail social, 1926, 5. Aufl.). . n in den zitierten Namen von Bantustammen ist jedesmal dem Gebrauch der Quellen gefolgt worden. Es ware konsequenter das Nominalprafix in iedem Falie wegzulassen, wie in der Bantuistik der Fall ist. Indessen meinten wir dem in der Ethnologie geitenden Gebrauch Rechnung tragen zu müssen. 2) Volkskunde von Loango, S. 9. ») a.a.O., S. 31. •) a.a.O., S. 53. Unterschiede macht es nach Pechuël-Loesche hier ebenso schwierig, ein treues Bild von der Gesamtheit zu ent werf en, wie bei einem zivilisierten Volke x). Von den Ba-ila berichten Smith und Dale, dass unter ihnen zwei deutlich unterscheidbare physische Typen vorkommen, von denen der eine gross, stark und schlank ist, der andere dagegen kürzer und plumper. „Individuals correspondingto these two types are found, and there are numerous gradations between the two. It cannot be said that one type is aristocratie and the other plebeian, for chiefs and slaves are found of both types" 2). Von den Thonga wird uns ebenfalls berichtet, dass sie in physischer Hinsicht untereinander sehr verschieden sind 3). Eine ahnliche Tatsache erwahnt Stayt von den BaVenda, und er fügt hinzu, dass ihr Charakter sehr kompliziert und schwer zu verstehen ist. „This complexity is due to the variety of races and influences that have united to form their intricate character, especially the strong Hamitic strain so evident amongst them" 4). Steinmetz hat darauf hingewiesen, dass es für Psychologie und Ethnologie von grosser Bedeutung ware, wenn wir Psychogramme von Eingeborenen hatten. Einige wertvolle Personenschilderungen existieren für Afrika schon. So hat z.B. Westermann schon in seinem Buche über die Kpelle 5) die Lebensgeschichte eines Eingeborenen gegeben; in demselben Buche beschreibt genannter Verfasser ebenfalls die Unterschiede im Charakter seiner Gewahrsmanner 6). Von Interesse sind auch die Einzelheiten, die Junod über seine Gewahrsmanner erzahlt. Von einem namens Spoon heisst es: „He had been my butterfly catcher and I had often admired his skill and his powers of observation. — Spoon certainly had the mythological sense more developed than any of any of my other informants." Von einem anderen, Tobane, ') a.a.O., S. 9. ) The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 59 •) Junod, The Life of a South African Tribe, I, S. 34, 35. 4) The BaVenda, S. 20. S. 458 ff. •) Vergl. auch von demselben Verfasser: „Kindheitserinnerungen des Togonegers Bonifatius Foli" (Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen zu Berlin, 1931). berichtet er: „Tall, of a remarkably light complexion, his eyes very clear and bright, he was a man of mark in the Mpfumo clan. — He had been mixed up in all the political affairs of the country for a long time and had a profound knowledge of the customs of the court and of the tribunal amongst his people." Von Mankhelu sagt er: „[he] was the General of the army, the great doctor of the royal kraal, one of the main councillors, an entirely convinced bone thrower, a priest in his family, a Bantu so deeply steeped in the obscure conceptions of the Bantu mind that he never could get rid of them and remained a heathen till his death in 1908. Very kind hearted, very devoted to the missionaries, he was a true friend to me and willingly disclosed to me the secrets of his medical and divinatory science." Einen anderen Gewahrsmann beschreibt er folgendermassen: „He was a clever man, but not always a very good Christian, I must confess. He possessed a splendid memory" 1). Bemerkenswert sind bei Junods Gewahrsmannern ebenfalls die Unterschiede in ihrem Verhalten der Mission und dem christlichen Glauben gegenüber2). Es ware sehr wünschenswert, wenn jeder Ethnograph eine Beschreibung seiner Gewahrsmanner gabe. Am meisten fehlen aber psychologisch exakte Untersuchungen. Jedoch müssen wir schon dankbar sein für das, was uns Ethnographen und Linguisten bisher mitgeteilt haben, denn es darf ja nicht vergessen werden, dass für die Durch fünrung differenziell psychologischer Untersuchungen eine lange, intime Kenntnis der Eingeborenen erforderlich ist. Nur wenige Ethnographen verfügen aber über eine solche Kenntnis, und zudem fehlt ihnen meist noch das systematische Interesse für individuelle psychische Erscheinungen. Zukünftiger Forschung bleibt daher hier ein weites Tatigkeitsfeld vorbehalten. b. Höhepunkte der Differenzierung: hervorragende Persönlichkeiten. Obwohl es nicht in unserer Absicht liegt, hier her- ») The Life of a South African Tribe, I, S. 3 ff. 2) Die Frage der verschiedenen Stellungnahme zum Christentum innerhalb der Naturvölker ist untersucht worden von R. Allier: „La psychologie de la conversion chez les peuples non-civilisés", Paris, 1925. Dieses Buch stellt einen sehr wertvollen Beitrag zur Religionspsychologie dar. vorragende Einzelpersönlichkeiten und ihre Bedeutung in der afrikanischen Geschichte zu behandeln, wollen wir doch ganz kurz auf ihr Vorkommen hinweisen. Denn auch Afrika hat seine geschichtlichen Gestalten. Wir brauchen wohl kaum an den Namen grosser südafrikanischer Hauptlinge wie Chaka, Dingiswayo oder Mosheh zu erinnern1). Ihre Bedeutung ragt weit über das Mittelmass der sonstigen politischen Führer hinaus. Auch Westafrika hat seine grossen politischen Gestalten gehabt, wie El-hadjOmar 2), Samori 3) und viele andere. Obwohl es ein reizvolles Thema ware, die Rolle dieser Persönlichkeiten zu untersuchen, kann in unserem Zusammenhang nicht naher darauf eingegangen werden, weil wir hier vielmehr die Differenzierungserscheinungen behandeln, so wie sie im alltaglichen Funktionieren des Stammeslebens erscheinen. Jedoch nicht nur grosse Hauptlinge haben geschichtliche Bedeutung gewinnen können. Die afrikanische Geschichte zahlt auch einige Manner, die auf anderen Gebieten von Bedeutung waren, z.B. einige Propheten, auf deren Bedeutung wir noch zurückkommen. Dass auch Zeichen schöpferischer Kraft bei den Negern nicht fehlen, wird durch die Erfindung von Schriftsystemen in zwei Fallen bewiesen. Die eine stammt voneinemVai, dessen Name wahrscheinlich Momolu Duwala Bukele ist. Bemerkenswert ist, dass seine Schrift auch Eingang in seinem Stamme gefunden hat. Nach Delafosse gebrauchen die Vai wahrscheinlich schon seit über einem Jahrhundert diese Schrift4). Die andere wurde von dem König Nyoya von *) Über Chaka ist eine sehr wertvolle Biographie vorhanden, und zwar von einem Eingeborenen, Thomas Mofolo (Chaka, an Historical Romance, Oxford, 1931.) Eine Beschreibung von Chaka,Mosheh und anderen bedeutenden Afrikanern ist gegeben worden von G. A. Gollock, Sons of Africa London, 1928, und von demselben Verfasser in: Lives of Eminent Africans, London, 1928. 2) Vgl. M. Delafosse, Haut-Sénégal-Niger, Paris, 1912, Bd. II, S. 305 ff. ') a.a.O., S. 341 ff. Ebenso bei demselben Verfasser ein Text in „Essai de Manuel pratique de la langue mandé". Paris, 1901, S. 147 ff. der eine ausführliche Lebensgeschichte des Samori enthalt. *) Delafosse, Les nègres, Paris, 1927, S. 67. Vgl. auch seinen Aufsatz in: L'Anthropologie, 1899, S. 129 ff. Die Linguisten streiten noch darüber, ob es sich um eine ganz originelle Erfindung oder um eine selbstandige Umarbeitung einer schon in rudimentarer Form unter den Vai bestehenden Bamum in Kamerun ungefahr im Jahre 1900 erfunden x). 2. differenzierungserscheinungen in zwei institutio- nen: hauptlingschaft und ehe. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über individuelle Differenzierung wollen wir versuchen, an konkreten Erscheinungen institutionellen Charakters die Wirkung differenzierender Prozesse aufzudecken. Wir wahlen dazu die Hauptlingschaft und die Ehe, weil sie wesentlich integrierende Bestandteile des Stammeslebens bilden, und weil sich das auf diese Gegenstande bezugnehmende Material am besten nach einem für unseren Zweck massgebenden Gesichtspunkt gruppieren lasst. a. Hauptlingschaft. Auch von den Vertretern der Theorie die dem Primitiven ein geringes Mass von Eigenleben zuschreiben, wird nicht geleugnet, dass sich die Hauptlinge (und mit ihnen die Medizinmanner und Zauberer) als Persönlichkeiten von den übrigen Gruppenmitgliedern abheben. Als soziale Tatsache ist dieser Unterschied evident und erfordert keinen weiteren Nachweis. Auch wird wohl allgemein zugegeben werden, dass es psychische Unterschiede unter den Schrift handelt. Klingenheben, der vor kurzem einen Überblick über die verschiedenen Meinungen hinsichtlich dieses Gegenstandes gegeben hat, kommt zum folgenden Ergebnis: „He did not invent, for the first time and out of the void, a syllabic script in its final form; but he achieved the very important and decisive step of transforming the ancient and imperfect mode of indicating conceptual contents by pictures into the phonetically perfect system of syllabic writing. He, undoubtedly, utilized a great many components of the old picture writing; but in so far as the old pictures were not sufficiënt for the numerous syllables in the Vai syllabary, he must have devised new ones in addition". (Africa, Bd. VI, S. 165). *) Vgl. Van Gennep, Une nouvelle écriture nègre: sa portée théorique, Revue des études ethnologiques et sociologiques, I, S. 129 ff. und Delafosse, Les Nègres, S. 67. Der König Nyoya ist nicht nur durch die Erfindung einer Schrift, sondern ebenfalls durch seine politische Führung bekannt geworden. Spannaus sagt von ihm: „König Nyoya von Bamum hat nicht nur die politische Macht und Bedeutung der Weissen erkannt und sich zunutze gemacht, sondern er bemühte sich auch ernsthaft um die Erfassung europaischer Kultur und Zivilisation. So hat er überraschend schnell die Technik der Landvermessung und der Farmwirtschaft von den Europaern angenommen und in seinem eigenen Lande zur Anwendung gebracht". (Züge aus der politischen Organisation afrikanischer Völker und Staaten, Leipzig, 1929, S. 149). Hauptlingen gibt. Die Schwierigkeit fangt jedoch bei der Frage an, worin nach der Vorstellung der Gruppenmitglieder diese Unterschiede bestehen, und welchen Einfluss sie ausüben. Lévy-Bruhl z.B. ist der Meinung, dass die Anerkennung der Hauptlinge durch die Gruppe hauptsachlich auf einem Glauben an ihre mystische Kraft beruhe. „Les personnes de leur groupe ou des groupes voisins leur apparaissent comme plus ou moins fortes, plus ou moins redoutables, plus ou moins durables, selon qu'elles possèdent plus ou moins de force mystique ou de mana. Celle qui en ont davantage, les chefs, les medicinemen, les vieillards qui ont résisté a une longue suite d'années, sont les individualités nettement dessinées. Un jeune enfant, un adolescent non initié, une femme qui n'a pas encore eu d'enfants ne possèdent que peut de mana, et leur individualité ne s'impose pas, tant s'en faut, avec la même vigueur que les précédentes. Bref, le conceptgénéral de 1'individu humain, tel qu'il existe dans notre esprit, reste dans 1'ombre pour le primitif" 1). Dagegen ist zunachst einzuwenden, dass die Vorstellung, die wir von der Eigenart unserer Individualitat haben, nicht den allgemeinen Charakter tragt, den Lévy-Bruhl ihr zuschreibt. Daher ist es, wie wir schon an anderer Stelle (S. 27 ff) betonten, unzulassig, einen absoluten Gegensatz zwischen der „primitiven" und „unserer" Auffassung aufzustellen. Unsere weitere Untersuchung wird nachweisen müssen, inwieweit Lévy-Bruhls Vorstellung für unsere Stamme zutrifft. Allerdings bestreiten wir nicht, dass die Vorstellung von der Manakraft der Hauptlinge bei vielen Naturvölkern eine grosse Rolle spielt. Weil in Untersuchungen über das Gruppenleben der Primitiven mehrfach die Macht der Tradition und der festgelegten Gebrauche hervorgehoben worden ist, wird ferner die Frage für uns von Interesse sein, inwiefern Wahl oder Erbnachfolge des Hauptlings rein institutioneller Art sind, und inwiefern „freiere" Wirkungen eine Rolle spielen können. Auf zwei Fragen werden wir also naher eingehen: ') l'ame primitive, S. 129. 1. Auf die Bedingungen der Wahl oder Erbnachfolge des Hauptlings; und 2. auf den Charakter der Hauptlingsautoritat. 1. Die Hauptlingswahl. Ba-ila. Der Hauptling wird vom Klan unter Beistand anderer Alten und Fremden gewahlt. Falls der verstorbene Hauptling hinsichtlich seines Nachfolgers einen Wunsch geaussert hat, befolgt man ihn meist. Sind aber mehrere Kandidaten da, so machen diese ihre Ansprüche so stark wie möglich geit end, und heftige Dis- kussionen folgen. In der Theorie kann jeder Eingeborene zum Hauptling gewahlt werden. Es kommt denn auch wohl vor, dass ein Skiave Hauptling wird. „The clan relationship of the decease chief is respected in so far that in selecting the heir an endeavour is made to find a suitable successor of the same clan. „The principle of the selection is expressed in the proverb: „A chief does not beget a chief". That is to say, no person succeeds to a chiefship merely in virtue of his birth, as the son, brother, or nephew of the deceased" 1). Ein Faktor, der die Wahl beeinflussen kann, ist der Glaube an eine Wiedergeburt: „Where the spirit of a man of parts is believed to have returned to earth in the person of a youth with claims to the chiefship, this may well weigh down the scale in his favour. One such case is known to us" 2). Obwohl also die Klanbeziehungen und der Wiedergeburtsglaube Einfluss ausüben können, sind jedoch nach unseren Autoren die Interessen der Gemeinschaft bei der Wahl ausschlaggebend. „We believe we are absolutely correct in stating that the main principle underlying the selection, and weighing possibly against strong claims of kinship, is the ultimate good of the community. This has always been apparent in the numerous cases we have known since the old days have passed away and usurpation is rendered impossible. In certain cases men of some status and importance as the sons of a wealthy chief have reverted to the position of ordinary members of the ») The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 304. ') a.a.O., S. 304. community on their father's death, and we have known the change spoken of with commisseration. — .... a man's character, primarily, and his wealth, secondarily, are regarded in the selection. They want a man, wise, good-hearted, with capabilities for rule and conciliation. The question of wealth is also important" x). Smith und Dale erwahnen noch Falie, wo die Wahl von dem Ausgang eines Wettkampfes zwischen den Mitbewerbern abhangig gemacht wurde. „One such case was at Itumbi. Shimaponda, the first chief, on his deathbed nominated Momba; but others were proposed. To settle the matter several competitions were held, in one of which a large-eyed needie was thrown into a pool and the candidates were set to fish for it with their apears. The one who succeeded in spearing it through the eye was to be chief. Momba was the only one who succeeded and he became chief" 2). Einer ihrer Gewahrsmanner gab den Verfassern folgende Mitteilung über die Hauptlingswahl: „The chiefs and headmen select their fellow-chief in an assembly after the funeral of the deceased chief. In setting about the selection of the heir, they call over the names of his „children" and nephews, and then discuss among themselves whom they shall install, saying, „Who shall it be ? Let it be a proper man from among his „children" or his nephews". And then comes the argument. Because some wish to put in a „child" whom they think a suitable heir, but others when his name is suggested are hesitant and doubtful, and do not haste to agree, or if they seem to agree it is not heartily. Or they speak out and say, „He whom you wish to install to-day, has he left off doing certain things he is used to doing ? Is he really competent to rule the people?" The others, hearing this, reply: „Well, name the one you consider the proper person". So they put forward the name of their candidate for the chiefship, saying, „We wish for so-and-so, one of the deceased's nephews, he is the proper person". The others in their turn hesitate, and in silence turn the matter over in their minds, s) a.a.O., S. 304, 305. ») a.a.O., S. 305. and at last say, „We agree. Let your candidate be installed". So they come to a decision. And the „child" of the chief, if he does not fall in with it, will leave the village: there is no room there for him who thought that the chiefship would be his; there cannot be two chiefs. — It is not for them to put in one simply on the ground of relationship; no, the one they install is he whom they see to be the able man: that one is the chief. Still it is true that some chiefs are chiefs only in name, they are unable for chief ships and af fairs. But a chief is selected for his judgement and consistent good character" 1). Und ein anderer Gewahrsmann berichtete Folgendes: „He who is to be a chief comes to it while still a lad; people who see him say, „That boy will ie a chief some day". Why? Because he behaves well to people when he has to do with them. His subservience to the elders in listening and obeying is what makes them say, „He is a chief". He grows up in that way, with his good-heartedness to people in giving and talking ' nicely with them always" 2). Thonga. Bei ihnen liegen die Verhaltnisse weniger einfach als bei den Ba-ila. Hier besteht ein ausgepragtes Erbrecht. Der alteste Sohn eines Hauptlings ist dessen Nachfolger, jedoch unter der Bedingung, dass wahrend der Unmündigkeit des Sohnes alle jüngeren Brüder des Hauptlings an der Regierung beteiligt werden müssen3). Nach dieser allgemeinen Formulierung ware nun die Nachfolge ein Vorgang, der an bestimmte Regeln gebunden ist und regelmassig ablauft. Die weiteren Mitteilungen Junods lassen j edoch ersehen, dass der Vorgang einen weit komplizierteren Charakter tragt. Die Regelmassigkeit des Prozesses wird namlich mehrfach zerstört durch die oben erwahnten Regelung, nach der die Brüder des Hauptlings eine Zeitlang regieren, bevor sein erbberechtigter Sohn gekrönt wird. Diese Bestimmung ist die Ursache vieler Konflikte. „It is true that the younger brothers of the chief, when taking his place, are looked on more or less as princes J) Smith und Dale: The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 299 ff. *) a.a.O., S. 302. *) The Life of a South African Tribe, I. S. 420. regent, holding office on behalf of their nephew, who is the lawful heir to the throne. — But if the former chief died in youth, and if his younger brother has lived and reigned for a long time, and has become very popular, he is very much tempted to appropriate the chieftainship for his own family and to order the tribe to crown his son, to the exclusion of the son of the first chief, who belonged to the elder branch, but who has been more or less forgotten during all these years. This leads to conflicts and fighting. The lawful heir will contest and a mubango (civil war) will follow. Or, if he is not able to fight, he will keep to himself, full of bitterness, and ready to seize the first opportunity of asserting his rights" x). Junod erwahnt mehrere Falie von Machtergreifung durch die Brüder des alten Hauptlings und daraus entstehende Konflikte. „The habit of dividing the power between brothers who soon become rivals, and of allowing the younger brothers to reign before the legal heir, both tend to destroy the unity of the clan and give rise to quarrels and unrest. Another bad consequence of these features of the royal right is this; a chief, when he ascends the throne, will do his best to get rid of troublesome brothers in order to reign alone and to ensure the chieftainship to his son. This has of ten happened, especially in the case of Maphunga, chief of Nondwane, who killed as many as four brothers or near relations: Sitjobela, Nwanambalana, Zulu and Gigiseka. The last named was very courageous, and the cunning Maphunga succeeded in poisoning him treacherously, through the agency of a dissolute woman" 2). BaVenda. Auch bei ihnen gibt es Erbnachfolge. Der Nachfolger ist der Sohn desjenigen Weibes, das dem Hauptling von seinem Vater geschenkt worden ist. „The right of chieftainship is based on heredity, the position descending from father to son, subject to certain qualifications" 3). Leider wird von Stayt nicht mitgeteilt, welcher Art diese Bedingungen sind. „The chief does not hold his position on account of his *) a.a.O., S. 411. ') a.a.O., S. 413 ff. *) The BaVenda, S. 208. and at last say, „We agree. Let your candidate be installed". So they come to a decision. And the „child" of the chief, if he does not fall in with it, will leave the village: there is no room there for him who thought that the chiefship would be his; there cannot be two chiefs. — It is not for them to put in one simply on the ground of relationship; no, the one they install is he whom they see to be the able man: that one is the chief. Still it is true that some chiefs are chiefs only in name, they are unable for chiefships and affairs. But a chief is selected for his judgement and consistent good character" 1). Und ein anderer Gewahrsmann berichtete Folgendes: „He who is to be a chief comes to it while still a lad; people who see him say, „That boy will ie a chief some day". Why? Because he behaves well to people when he has to do with them. His subservience to the elders in listening and obeying is what makes them say, „He is a chief". He grows up in that way, with his good-heartedness to people in giving and talking * nicely with them always" 2). Thonga. Bei ihnen liegen die Verhaltnisse weniger einfach als bei den Ba-ila. Hier besteht ein ausgepragtes Erbrecht. Der alteste Sohn eines Hauptlings ist dessen Nachfolger, jedoch unter der Bedingung, dass wahrend der Unmündigkeit des Sohnes alle jüngeren Brüder des Hauptlings an der Regierung beteiligt werden müssen3). Nach dieser allgemeinenFormulierung ware nun die Nachfolge ein Vorgang, der an bestimmte Regeln gebunden ist und regelmassig ablauft. Die weiteren Mitteilungen Junods lassen jedoch ersehen, dass der Vorgang einen weit komplizierteren Charakter tragt. Die Regelmassigkeit des Prozesses wird namlich mehrfach zerstört durch die oben erwahnten Regelung, nach der die Brüder des Hauptlings eine Zeitlang regieren, bevor sein erbberechtigter Sohn gekrönt wird. Diese Bestimmung ist die Ursache vieler Konflikte. „It is true that the younger brothers of the chief, when taking his place, are looked on more or less as princes ») Smith und Dale: The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 299 ff. ') a.a.O., S. 302. >) The Life of a South African Tribe, I. S. 420. regent, holding office on behalf of their nephew, who is the lawful heir to the throne. — But if the former chief died in youth, and if his younger brother has lived and reigned for a long time, and has become very popular, he is very much tempted to appropriate the chieftainship for his own family and to order the tribe to crown his son, to the exclusion of the son of the first chief, who belonged to the elder branch, but who has been more or less forgotten during all these years. This leads to conflicts and fighting. The lawful heir will contest and a mubango (civil war) will follow. Or, if he is not able to fight, he will keep to himself, full of bitterness, and ready to seize the first opportunity of asserting his rights" 1). Junod erwahnt mehrere Falie von Machtergreifung durch die Brüder des alten Hauptlings und daraus entstehende Konflikte. „The habit of dividing the power bet ween brothers who soon become rivals, and of allowing the younger brothers to reign before the legal heir, both tend to destroy the unity of the clan and give rise to quarrels and unrest. Another bad consequence of these features of the royal right is this; a chief, when he ascends the throne, will do his best to get rid of troublesome brothers in order to reign alone and to ensure the chieftainship to his son. This has often happened, especially in the case of Maphunga, chief of Nondwane, who killed as many as four brothers or near relations: Sitjobela, Nwanambalana, Zulu and Gigiseka. The last named was very courageous, and the cunning Maphunga succeeded in poisoning him treacherously, through the agency of a dissolute woman" 2). BaVenda. Auch bei ihnen gibt es Erbnachfolge. Der Nachfolger ist der Sohn desj enigen Weibes, das dem Hauptling von seinem Vater geschenkt worden ist. „The right of chieftainship is based on heredity, the position descending from father to son, subject to certain qualifications" 3). Leider wird von Stayt nicht mitgeteilt, welcher Art diese Bedingungen sind. „The chief does not hold his position on account of his ') a.a.O., S. 411. ') a.a.O., S. 413 ff. *) The BaVenda, S. 208. prowess in warfare or because he is the most suitable person for that office, but fills his deceased father's position as the sacred representative of his family" 1). Die Erbnachfolge ist j edoch auch hier nicht ein automatisch ablaufender Vorgang, sondern ein Institut, in dem durch Gebrauch regulierte Prozesse unpersönlicher Art und persönliche, unregelmassige, nicht festgelegte Einflüsse sich kreuzen. Konfliktfalle kommen auch hier vor. „There are many possible complications preventing peaceful succession: possibly one of the chief's officials commits adultery with the royal wife, who is to bear the next heir, and the chief may disgrace this woman and refuse to acknowledge the legitimacy of her offspring; possibly the heir commits incest with one of his father's wives, which in the old days was punishable by death or banishment. In such cases, after the death of the chief, agreement becomes difficult, and before the lawful heir is proclaimed an ambitious brother may endeavour to usurp his rights, gaining the support of some of the powerful petty chiefs with promises of rewards and high offices. Occasionally the chief may take a violent dislike to the heir and at his death-bed appoint another son to succeed him. In such a case, unless the heir has disgraced himself, the dying man's wishes are entirely disregarded" 2). Bafioti. Bei den Bafioti lagen zur Zeit, als PechuëlLoesche sie beschrieb, die Verhaltnisse viel komplizierter, weil hier die politische Organisation viel starker ausgepragt war. Die oberste Macht lag in den Handen eines Königs, des Ma Loango, der aus der Kaste der geborenen Fürsten, d.h. der Abkömmlinge von Fürstinnen, gewahlt wurde. Ferner gab es bei ihnen Fürsten oder Fürstinnen, die ein Gebiet als Erbe oder Lehen innehielten. Sie wurden Gaufürsten (Mfumu nssi) genannt. Im Range nur dem Könige nachstehend, waren sie mit grossen Vorrechten ausgestattet 3). Wie im einzelnen die Erbfolge oder die Wahl dieser Fürsten vor sich ging, wird aus Pechuël-Loesches Berichten nicht ganz klar. Er erwahnt, dass man sich einen Erdherrn, wenn möglich einen geborenen ') a.a.O., S. 196. «) a.a.O., S. 208 ff. 3) Pechuël-Loesche : Volkskunde von Loango, S. 175. Fürsten oder eine Fürstin, gern von auswarts holt. Bei der Wahl wird besonders auf das Verhalten, die guten Manieren des Hauptlings geachtet. „Auf fehlerlosen Körperbau, auf Stattlichkeit und gute Haltung, auf gute Manieren der Hauptperson wird stets grosser Wert gelegt. Das verlangt nicht bloss der Schönheitssinn, das Untertanigkeitsgefühl, der ursprüngliche Heroenkultus. Vorzüge des Körpers und Geistes sind Gaben von Nsambi. Mit einem kümmerlichen Oberhaupte verfiele man dem Gespotte der Nachbarn" 1). Wir lassen hier noch die Mitteilungen Pechuël-Loesches über individuelle Differenzierung unter den Hauptlingen folgen. Von einem von ihnen, namens Ntona, heisst es: „Zweifellos war er einer der besten Redner des Gebietes, dazu schlau, aber anspruchsvoll und sehr habgierig". — „Anders Mavungo, ... ., der sich, obgleich gering an Macht, unter den anderen Hauptlingen stets mit einem gewissen Hochmute bewegte. — Er hatte viel Mannhaftes an sich, eine seltene Eigenschaft unter den Leuten, und war allen, sonst so beharrlich betriebenen kleinen Künsten, auch der Bettelei, abhold." — „Als Original zeichnete sich vor allen aus der grauköpfige Herr von Mputumongo (Europahügel) mit dem schonen Namen Sambuki. Lebhaften Geistes, schlagfertig, voller Witz und köstlichem Humor verbarg der vielerfahrene Alte unter einem über aus putzigen Wesen einen Schatz von Weltklugheit. Wo er weilte, ging es lustig her. Aber die Eingesessenen pflegten sich auch in ernsten Dingen Rat bei dem narrischen Weisen zu holen, der einen viel grosseren Einfluss besass, als man ihm zutraute." — Ein anderer Hauptling, Liumba, wird beschrieben als: ein stattlicher Mann in den besten Jahren, ruhig, überlegend, wortkarg. — Er genoss hohes Ansehen weithin im Lande, war wohl der beste Mann des ganzen Gebietes" 2). Kpelle. Bei den Kpelle gibt es ein Erbrecht. Die Berechtigung zur Hauptlingschaft vererbt sich in mehreren, manchmal untereinander verwandten, gleichberechtigten Familien, denen in gewisser Reihenfolge der jeweilige Hauptling ') a.a.O., S. 205. 2) Volkskunde von Loango, S. 254 ff. entnommen wird. „Die Regel ist, dass beim Abscheiden eines Königs dessen altester überlebender Bruder, oder falls ein solcher nicht vorhanden ist, der alteste Vetter die Nachfolge übernimmt. Erst wenn aus der gleichen Generation kein Überlebender mehr da ist, kommt die nachste in Betracht, also ein Sohn oder Neffe" 1). Jedoch auch in diesem Falie reicht eine blosse Kenntnis der allgemeinen Regel nicht zum Verstandnis des ganzen sozialen Prozesses der Nachfolge aus. Neben dem konstanten Faktor der oben angegebenen Regel treten namlich auch hier Faktoren auf, die keinen normierten Charakter tragen und der unregelmassigen, individuellen Tatigkeit Spielraum lassen. So berichtet Westermann : „Haufig treten nach dem Abscheiden eines Königs mehrere Bewerber um die Nachfolge auf, jeder gestützt auf besondere Vorzüge: auf höheres Alter, Beliebtheit bei der Bevölkerung, auf seinen Reichtum, oder als Nachstberechtigter infolge Geburt; und jeder sucht unter den wahlberechtigten Notablen, d.h. den Dorfhauptlingen und anderen Sippenhauptern, sich Anhang zu verschaffen. Sind mehrere Parteien annahernd gleich stark, so kann es ein Jahr und langer dauern, bis man zu einer Einigung gelangt" 2). Ewe. Bei ihnen gibt es ebenfalls ein Erbrecht, das jedoch mit einer Wahl verbunden ist. Spieth berichtet darüber folgendes: „Obgleich die Hauptlingswürde zwischen Kindern vaterlicherseits und solchen mütterlicherseits erblich ist, so muss doch der neu zu ernennende König (erster Stammeshauptling) noch besonders gewahlt werden. Der Thronbewerber pflegt sich die Stimmung der Hauptlinge und sonstiger einflussreicher Persönlichkeiten durch allerlei Geschenke, bestehend in Branntwein und anderen begehrten Dingen, zu erkaufen. Diese sucht er in der Stille sich geneigt zu machen und davon zu überzeugen, dass die Reihe der Regentschaft jetzt an ihn komme. Wahlbare Kandidaten sind es oft mehrere; doch sind nicht nur die Geschenke ausschlaggebend, sondern auch der Charakter des Bewerbers fallt sehr in das Gewicht. Am meisten Aussicht hat derjenige, der sich die l) Westermann: Die Kpelle, S. 90. •) a.a.O., S. 91. Gunst des Volkes durch irgend welche hervorragende Eigenschaften erworben hat" x). Auch bei den Ewe stellt also das Erbrecht und die Wahl einen Komplex (a) kollektiver und (b) individuelier Faktoren dar, denn (a) besteht die Erbnachfolge als Institut; daneben treten gemischte Faktoren mehr persönlicher Art, wie die Stimmung der Hauptlinge und sonstiger einflussreicher Persönlichkeiten auf; ferner spielen aber (b) die Charaktereigenschaften und der Reichtum des Kandidaten eine Rolle. 2. Die Bedingungen der Hauptlingsaut o r i t a t. Es ist nun ferner von Interesse zu untersuchen, von welchen Faktoren die Stellung des Hauptlings in den von uns gewahlten Stammen abhangig ist. Wir werden hierbei nicht die soziale Stellung in allen ihren Einzelaspekten behandeln, sondern vielmehr ihre sozialpsychologischen Bedingungen betrachten. Da unsere Berichte nur gelegentlich Bemerkungen über diesen Gegenstand enthalten, miissen wir von einer vergleichenden Untersuchung absehen und uns mit einer Analyse einiger Falie begnügen. Bei den Ba-ila ist die Autoritat des Hauptlings nur in geringem Masse mit einem Glauben an seine magischen Fahigkeiten verbunden, obwohl „it is undoubtedly the case that the chiefs do supplement their natural powers of ruling by recourse to the occult, and in so doing impress the minds of their people with their superior dignity" 2). Wie wir gesehen haben, sind für die Wahl des Hauptlings seine politischen Fahigkeiten und auch sein Reichtum (da er freigebig sein muss) ausschlaggebend. Ein ausgesprochenes Machtverhaltnis zwischen Hauptling und Untertanen besteht noch nicht: „The chief is the father of the community. — This involves maintaining their interests against neighbouring communities, settling their disputes in council with the headmen, helping to pay their debts, etc. It is not, we think, an enviable position to rule an independent people like the Ba-ila. — Yet the dignity of being the head of *) Die Ewe-Stamme, S. 98. *) Smith und Dale: The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 307. 5 a fine community, of having a band of drummers to wait upon one, to be eulogised in flattering terms on great occasions, of being looked up to as the father and arbitrator — these make the position worth having" x). In Bezug auf seine Autoritat als Richter heisst es: „The degree of obedience which his decision exacts depends entirely upon the force of character of the chief himself and the respect and fear in which he is held" 2). Und über seine richterliche Fahigkeit: „Some chiefs show remarkable shrewdness in dealing with these matters, and their decisions are unquestioned; others show themselves unable to grasp the kernei of the matter at issue" 3). Auch bei den Thonga tragt das Hauptlingtum keinen ausgepragten Herrschaftscharakter. Das Ansehen des ThongaHauptlings wird ebenfalls in weitem Masse durch seine Charaktereigenschaften und seine Freigebigkeit bedingt. Junod berichtet dazu: „A chief who wishes to succeed in his government must have a good character. If he imposes taxation, he must not use his wealth in a selfish way. — Should he buy oxen with the product of the fines, he will be wise to slaughter one from time to time for his counsellors and for the whole clan. A chief who is good is said to maintain or to save the country. If he does not do that, he is severely criticised. Mubvesha, who used all his money to buy wives, and prevented all the men from seeing them, whilst he himself was too old to content them, was considered a bad chief 4). Eine unbedingte Herrschaft wird schon durch die Kontrolle der Stammesaltesten unmöglich gemacht. So gibt es z.B. Falie, wo einem Hauptling seine Rechte entzogen wurden und wo man ihn durch eine andere Persönlichkeit ersetzte. Takt, Fahigkeit und Geduld werden besonders von einem Hauptling gefordert. „The chief must be a father to his people and not a tyrant" 5). Zwar verfügt der Hauptling zur Erhaltung seiner Stellung über besondere Medizinen; andererseits je- *) a.a.O., S. 307. 2) a.a.O., II, S. 351. 3) a.a.O., S. 358. *) Junod: The Life of a South African Inbe, I, S. 408 ff. •) a.a.O., S. 409. doch strebt er mit rationelleren Mitteln nach Popularitat: „.... the chief does his best to maintain and to increase his prestige. He must not be too familiar. He does not eat with his subjects, except with certain favourites. Sometimes he eats alone in his hut" x). Bei den BaVenda tragt die Autoritat des Hauptlings schon einen institutionelleren Charakter, wie ja auch die Erbschaftsnachfolge starker ausgepragt ist als bei den Ba-ila und Thonga. Der Hauptling ist in höherem Masse von Zeremoniell umgeben; er muss zwar auch freigebig sein, die Distanz zu seinen Untertanen jedoch ist, da er die Ahnen reprasentiert, ziemlich gross. „He is the hub of their universe, all the life of the community, religious, social and economie, revolving around him. His subjects treat him with reverence, awe, and humble adoration" 2). Dschagga. Gutmann charakterisiert die Stellung des Dschagga-Königs als die eines patriarchalischen Königs mit allen seinen Vorzügen und Schwachen. Obwohl die Hauptlinge bei der grossen Masse des Volkes unbedingten Gehorsam finden, ist die Hauptlingschaft keine reine Willkürherrschaft, denn auch der Tatkraftigste unter ihnen kann die Sonderstellung der Reichen und Grossen nicht völlig ausser acht lassen. In der Lebenshaltung j edoch unterscheidet sich der Fürst kaum von seinem Volke 3). Er muss ebenfalls sehr darauf bedacht ?ein, die Liebe seiner Untertanen zu gewinnen. Auch bei den D.chagga ist Freigebigkeit das beste Mittel um die Gunst des Volkes zu erlangen. „Liegt dem Hauptlinge sehr daran, seine Manner um sich zu sehen, dann muss er seinen offenen Hof halten und Fleisch und Bier darf er nicht sparen".4) — „Es ist vorgekommen, dass sie ihren ,faulen' Hauptling, d.h. einen, der ihnen nichts schlachtete, durch Herbeirufen der Feinde verjagten. Das ist allerdings das letzte verzweifelte Mittel, denn sie besitzen ein ausgepragtes Vaterlandsgefühl" 5) Ewe. Die folgenden Mitteilungen über die Hauptlings- ') a.a.O., S. 382. ■) Stayt, The BaVenda, S. 201, 202. ') Dichten und Denken der Dschaerga-Neger, S. 9 ff «) a.a.O., S. 22. •) a.a.O., S. 24 ff. autoritat bei den Ewe erhielt Spieth von einem seiner Gewahrsmanner: „Das Vertrauen der Hauptlingschaft und des Volkes muss sich der König durch weises Reden und Handeln erwerben. Gelingt ihm das, so wird ihm das Vertrauen des Stammes seine Arbeit erleichtern. Gelingt es ihm aber nicht, so stösst er überall auf Hindernisse. Von einem verstandigen König sagt man: „Gott hat ihm die Regierung gegeben", oder auch: „Got hat ihn zum König gemacht". Der Charakter eines solchen Königs wird mit dem Worte fa als friedliebend beschrieben. Ein guter König grüsst seine Untertanen freundlich und sagt: „Grossvater, bleibe gesund; bleibe am Leben, und ich will bei dir sein". Kommt einer der Untertanen in sein Gehöfte, so bietet er ihm gerne eine Kalebasse Palmwein an. Wer ihn besucht, und sollte es selbst ein Kind sein, soll merken, dass er den König mit seinem Besuch erf reut hat. Hat er gerade nichts bei sich, was er dem Besucher anbieten könnte, so entschuldigt er sich und sagt: „Leider habe ich augenblicklich nichts, was ich dir anbieten könnte; aber: (sich zu einem seiner umstehenden Leute wendend) — „du, gib ihm einige Kaurimuscheln, dass er sich ein Brot kaufen kann!" „Ein guter König „hört, als höre er nicht . Hat er über irgend jemanden et was gehort, so macht er keinen Larm darüber, sondern ruft seine Ratgeber, um es mit ihnen zu besprechen. Stimmt das, was sie gehort hatten, überein mit dem, was der König gehort hat, so trifft er Veranstaltungen, die Sache in Ordnung zu bringen. Wird jemand von den Richtern verurteilt, so sagt er nicht kurzweg ein Urteil heraus, sondern bezeugt dem Verurteilt en zuerst seine Teilnahme. Er nimmt dadurch dem Bitteren die Bitterkeit und dem Scharfen den Stachel. Das freut auch den Verurteilten, so dass er sich seine Strafe für die Zukunft zur Warnung dienen lasst. „Ein guter König muss auch ein fleissiger Ackerbauer sem, damit er durch tüchtige Arbeit seinen Untertanen ein gutes Beispiel geben kann. Wie alle andern geht er nicht nur auf den Acker, sondern webt auch zu Haus Kleider. Seine Untertanen ermahnt er, nicht zu den Feinden da oder dorthin zu gehen und sich kein Unrecht zu Schulden kommen zu lassen, weil er ihnen sonst nicht helfen könne. Die Untertanen eines guten Königs werden reich, und wo sie ihren Glanz zur Schau tragen, da redet man nicht von den Hoern, sondern von dem König der Hoer" x). Nach diesem Bericht schatzt man also auch bei den Ewe an einem Könige gute Charaktereigenschaften, Freigebigkeit und Tüchtigkeit. Der oben wiedergegebene Bericht ist besonders wertvoll, weil er die Gedanken eines Eingeborenen ausdrückt. Ein Nachteil ist j edoch, dass wir keine Gewissheit darüber haben, ob der Gewahrsmann die allgemeine Meinung der Ewe wiedergibt. Leider ist Spieth, wie übrigens die Mehrzahl der Ethnographen, sehr ungenau in seinen Angaben über c!ie Tragweite und den quantitativen Wert seines Materials. Weil j edoch der obige Bericht auf ahnliche Bedingungen des Ansehens hinweist, wie sie bei den anderen hier behandelten Stammen vorherrschen, haben wir guten Grund, ihre Richtigkeit anzunehmen. Zusammenfassend ergibt sich folgendes über die Wahl und das Ansehen des Hauptlings bei den behandelten afrikanischen Stammen: 1. Obwohl mit Ausnahme der Ba-ila eine Erbnachfolge besteht, hat diese Form der Institutionalisierung nicht einen so starren Charakter, dass differenzierende und individualisierende Prozesse durch sie ausgeschlossen waren. Wir sehen im Gegenteil, dass immer eine gewisse Auswahl stattfindet, bei der stark auf Charaktereigenschaften und Fahigkeiten geachtet wird. Dies bedeutet, dass in der politischen Führung die Persönlichkeit eine wichtige Rolle spielt. Reichtum kommt als ein sozial differenzierender Faktor hinzu, der aber zunachst nicht von individuelier Differenzierung begleitet zu sein braucht. Indessen ist nicht der Reichtum als solcher für die Wahl wesentlich, sondern die auf ihm beruhende Freigebigkeit, also wieder eine bestimmte Einstellung des Individuums. Ferner weisen wir auf die oft vorkommenden Konflikte undOppositionsverhaltnisse bei der Wahl hin. Ihre Existenz bedeutet, dass persönliche, differenzierende Faktoren bei der Erbnach- ') Die Ewe-Stamme, S. 103 ff. folge eine Rolle spielen. Die Zustande sind zwar bei den verschiedenen Stammen nicht ganz gleich; da es sich aber für uns nur um eine vorlaufige Analyse der Hauptmerkmale des Hauptlingtumes und noch nicht um eine durchgangige vergleichende Untersuchung handelt, können wir uns mit unserem Ergebnis, das die Bedeutung der Individualitat im Selektionsprozess hinreichend zeigt, begnügen. 2. Die Autoritat des Hauptlings ist in unseren Fallen teilweise institutionell, teilweise persönlich begründet1). Bei Stammen wie den Thonga, Ba-ila, BaVenda spielen aussere Machtmittel nur eine geringe Rolle, bei den westafrikanischen Stammen indessen eine grössere 2). Überall jedoch ist, insoweit unsere Berichte Einzelheiten darüber geben, die Persönlichkeit des Hauptlings noch von grösserer Bedeutung als die institutionalisierte aussere Machtstellung. Charaktereigenschaften tragen in weitgehenderem Masse zur Autoritat bei als der Glauben an die magischen Fahigkeiten des Hauptlings. b. Die Ehe. Die Familie stellt einen der am meisten behandelten Gegenstande der Ethnologie dar. Ihr widmen fast alle ethnographischen Beschreibungen ein Kapitel, und schon viele Theoretiker haben sich bemüht, ihre Entwicklung in einem Schema darzustellen, ihre Erscheinungsformen zu klassifizieren und in Beziehung zu anderen sozialen Erscheinungen zu setzen. Dabei sind besonders Themen wie die Stellung der Familie innerhalb des Stammeslebens, die Ver- 1) Vgl. zu der Frage der Autoritatsbegründung Vierkandt, Gesellschaftslehre, S. 52 ff. 2) Dieses Ergebnis gilt natürlich nicht für ganz Afrika. Es finden sich unter den afrikanischen Stammen sogar erhebliche Unterschiede hinsichtlich der institutionellen Begründung der Machtstellung des Hauptlings. Wir brauchen nur hinzuweisen auf die afrikanischen Staaten der Dahome oder der Fulbe, von denen die alteren Reiseberichte interessante Beschreibungen geben, oder auf die Stellung der Fürsten in Uganda. Eine Zusammenfassung des afrikanischen Materials hat G. Spannaus, Züge aus der politischen Organisation afrikanischer Völker und Staaten, Leipzig, 1929, gegeben. Sein Buch enthalt jedoch keine vergleichende systematische Untersuchung aller Faktoren, die für die soziale und psychische Stellung des Hauptlings wesentlich sind. Eine spezielle Untersuchung der Bedingungen für das politische Führertum bei den Naturvölkern würde wahrscheinlich sehr wertvolle Ergebnisse liefern. Für die Australiër ist die Frage schon behandelt worden von A. Knabenhans, Die politische Organisation bei den australischen Eingeborenen, Berlin, 1919. wandtschaftsbeziehungen, die Regeln für Exogamie und Endogamie. die Zeremonien bei der Eheschliessung, die Stellung der Frau, die Folgen der Polygamie, u.s.w. bevorzugt worden. Bisher ist die Familie und das Familienleben fast ausschliesslich als eine mehr oder weniger automatisch wirkende soziale Institution betrachtet worden. Diese starke Betonung der allgemeinen und durch Gebrauche geregelten Erscheinungen des Familienlebens ist geeignet den Eindruck zu erwecken, als ob das persönliche Leben in der primitiven Familie sehr wenig oder gar nicht hervortrete. Es ist indessen mit der Familie wie mit den meisten anderen Erscheinungen der primitiven Gesellschaft bestellt: die genaue Beobachtung der psychischen Seite ist bisher zugunsten der formal sozialen vernachlassigt worden. Der psychische Gehalt des Familienlebens ist den meisten Ethnographen entgangen, oder sie haben sich bei ihren Beschreibungen durch eine moralische Bewertung führen lassen, wie dies mehrfach bei Missionaren in ihrer Beurteilung der Polygamie der Fall gewesen ist. Diese Umstande erschweren eine theoretische Betrachtung der individuellen Seite des Familienlebens ausserordentlich. Weil daher das Material für eine allseitige vergleichende Untersuchung der psychischen Stellung der Familienglieder nicht ausreicht, werden wir uns auf zwei Teilprobleme beschranken. Wir werden in Erfahrung zu bringen suchen, ob es individualisierende Tendenzen gibt und zwar: 1. aus den Motiven zur Eheschliessung. 2. aus dem Verhaltnis zwischen Mann und Frau, d. h. aus dem Vorhandensein und der Rolle persönlicher Neigungen innerhalb der Ehe. 1. Motive zur Eheschliessung. Uns wird hierbei besonders die Frage interessieren, inwieweit die heiratsfahigen jungen Leute bei der Wahl der Frau persönlichen Neigungen folgen können, d.h. wieviel Spielraum die Bemühungen der Familiengruppe für die Aktivitat des Einzelwesens lassen. Es ergabe natürlich ein falsches Bild, wollte man von vornherein zwei Gemeinschaftsformen einander gegenüberstellen, bei denen in der einen Gemeinschaft der junge Mann und das Madchen ganz frei waren, ihren persönlichen Neigungen zu folgen, und in der anderen diese Neigungen neben den Gruppeninteressen gar keine Rolle spielten. Denn einmal ist zu bedenken, dass in beiden Fallen diese Neigungen schon innerhalb eines Komplexes mannigfaltiger psychischer und sozialer Faktoren erscheinen. Wer z.B. hinsichtlich unserer Gesellschaft sagte, einem heiratsfahigen Manne oder einer Frau stehe es ganz frei, eine Ehe nach seiner (ihrer) Wahl zu schliessen, der würde höchstens dem gesetzlichen Sachverhalt gerecht werden, dem psychischen und sozialen Tatbestand jedoch nicht genügend Rechnung tragen. Auch bei uns ist die Wahl ein Komplex vieler Faktoren, von denen hervorzuheben sind: individuelle Differenzierung, Tradition, Meinung und Einfluss der Eltern und Freunde, soziale Bewertung, Eigentumsverhaltnisse, Religion u.s.w. Zweitens müssen wir auch im Auge behalten, dass die modernen Verhaltnisse schon ihres wechselnden Charakters wegen nicht in einer einfachen Formel ausgedrückt werden können. Die moderne Kultur ist zeitlich und geographisch so stark differenziert, dass eine verallgemeinernde Aussage den Tatsachen kaum gerecht zu werden vermag. Auch aus diesem Grunde schon ist eine einfache Gegenüberstellung der Zustande bei Kultur- und Naturvölkern notwendigerweise unrichtig. Wir werden jetzt die Mitteilungen über die Wahl des Gatten bei unseren Stammen anführen. Thonga. Die ausführlichen Berichte Junods über Heirat und Familienverhaltnisse bei diesem Stamme sind sehr geeignet, die Kompliziertheit der Verhaltnisse zu beleuchten. Die Thonga sind, was den Stamm und den Clan betrifft, endogam und in Hinsicht auf die Familie exogam. Das bedeutet, dass die Gemeinschaft in Bezug auf die Heiratsmöglichkeit vier Arten von Personen unterscheidet, namlich (a) die Personen, mit denen die Heirat verboten ist; (b) die, die unter gewissen Bedingungen zugelassen werden; (c) die Personen, mit denen die Ehe unbedingt erlaubt ist; (d) die, die als Heiratskandidaten empfohlen werden. Absolut verboten ist die Heirat zwischen allen Abkömmlingen des gleichen Grossvaters d.h. zwischen Vettern und Basen. Unter gewissen Bedingungen ist die Heirat mit der Tochter des Grossonkels, d.h. des jüngeren Bruders des Grossvaters, und mit einer Tocht er des Grossvaters, soweit sie nicht die Tochter der Grossmutter ist, erlaubt. Unbedingt erlaubt ist eine Heirat zwischen Verwandten im und vom achten Grade. Jedoch wird eine Heirat mit dem Angehörigen einer zu weit entfernten Sippe nicht empfohlen. Eine solche Heirat führt, wie ein Gewahrsmann Junod erzahlte, wirtschaftliche Nachteile mit sich: „If the marriage were unsuccessful, the parents-in-law against whom the claim would be brought might run away with wife and oxen, and we should lose our herd. If our oxen multiplied in the other clan, we might be tempted to go and make war on our parents-in-law in order to appropriate the cattle. So blood would be shed on account of our own oxen! This would bring shame upon us! Whilst if we marry amongst friends, even amongst remote relatives, should a quarrel occur, we shall try to settle it peacefully. These people are amongst those with whom we discuss in the hut. With strangers we discuss outside, on the square, and we occasionally fight with them and drive them away." x) Aus dieser Mitteilung ist ebenfalls ersichtlich, dass die Eheschliessung nicht immer nach festen, unpersönlichen Regeln ablauft, sondern ein Vorgang sein kann, bei dem persönliche Reaktionen, Konflikte und andere differenzierende Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. Unter den emfifohlenen Heiraten gibt est zwei Arten: die eine wird auf Grund eines Prioritatsrechtes geschlossen, die andere infolge Erbrecht. Zu den Verwandten eines Mannes gehören einige Frauen, auf die er ein besonderes Prioritatsrecht geltend machen kann. Es handelt sich um die jüngere Schwester seiner Frau oder die Tochter seines Schwagers. Heiraten dieser Art werden als besonders günstig angesehen. Insofern kann man hier von einer durch die Gemeinschaft aufgestellten Regel sprechen. Jedoch nicht nur diese allgemeine, unfiersönliche Regel wirkt, sondern sie wird wiederum von Faktoren persönlicher Art durchkreuzt: „Should he [der MannJ not prove a good husband, his parents-in-law will not let him have their other daughters" 2). Das Prioritats- ') The Life of a South African Tribe, I, S. 260 ') a.a.O., S. 261. recht bedeutet also nicht ein absolutes Recht für den Mann, sondern es hangt von seinem Ver halt en und von der Beurteilung dieses Verhaltens durch die Familie seiner Frau ab, ob er es in Anspruch nehmen darf oder nicht. Im Falie einer Heirat mit der Tochter seines Schwagers gibt es ebenfalls verschiedene Möglichkeiten, individuellen Wirkungen Spielraum zu lassen. So berichtet Junod, dass die Familie des Madchens eher geneigt sein wird, von der sofortigen Bezahlung des Brautpreises abzusehen, wenn die Initiative zu der Heirat von dem Weibe des Mannes ausgeht, als wenn der Mann selbst den Vorschlag macht. Jedoch auch hier wirkt die allgemeine Regel nicht unterschiedslos: „... as my informant says: „Psi ya hi bhanu", i.e. „it goes according to the people". It depends on their character" x). Ein anderer Umstand persönlicher Art, der der allgemeinen Regel zuwiderlauft, wird noch von Junod berichtet: ... there is a reason which militates against such marriages. If I quarrel with my first wife, who may have a particularly difficult character, and she goes home, her younger sisters or nieces, .... will certainly follow her, and I shall remain quite alone without a single dish to eat in the evening. Should the quarrel end in a divorce, I shall lose all my wives at once" 2). Die zuletzt erwahnten erlaubten Ehen beziehen sich auf die zweite Frau und etwaige weitere Frauen eines Mannes. Die Frage ist nun: wie kommt die Heirat mit dem ersten Weibe zustande, und zu welchen Anteilen sind Familie und Individuum bei der Wahl ausschlaggebend ? Um den Zusammenhang zwischen Familien- und persönlichen Einflüssen zu zeigen, lassen wir Junods Bericht über das Zustandekommen der Verlobung folgen: „When a young man has made up his mind to get married, and when he is in possession of the necessary lobola [Brautpreis] cattle, he starts, one fine day, with two or three of his friends to look for a wife in the villages. He puts on his most brilliant ornaments and his most precious skins. Here they are, arriving in the village square; they sit down in the shade. They are asked: „What do you want?" „We have l) a.a.O., S. 261. ») a.a.O., S. 261 ff. come to see the girls", they answer bluntly. And the reply is: „All right. Look at them". Of course the girls do their very best to be as pleasing as possible, as the mother has told them that these are suitors. The suitor is easily known by his special attire, a belt of skins either of leopard or tiger-cat. He goes from one yard to the other, and talks with the cooks, inquiring their names, and looking at them as, with vigourous and graceful movements of the body, they crush the mealies in their mortar. If the seekers find what they want, they return home, if not, they go to the next hamlet. — When he is satisfied, the suitor goes home and says to his parents: „So and so pleases me. Go and woo her." Then a middle-aged man of the village is sent to the parents of the young girl. He is received in the father's hut and, with all the circumlocutions required by etiquette, he discharges his errand. The girl is called and told that the visitor who came the other day has chosen her; she is asked if she also loves him (or if she wants him.... for there is only one word in Ronga to express these two kindred notions). „Oh! is it the one who looked thus and so and who wore this and that ? Yes, I consent to accept (to eat) the money out of his hands". If she does not care for him, she will declare it quite as plainly; the suitor will have to seek elsewhere. It is a fact worth noting that, amongst these so-called savages, a father very seldom obliges his daughter to accept a husband whom she dislikes, except in the case of debt" 1). Obwohl dieser Bericht den Sachverhalt in allgemeiner Form darstellt, und Junod, wie wir noch naher sehen werden, der Gruppe beim Zustandekommen der Heirat einen grosseren Einfluss zuschreibt als dem Einzelwesen, ist dennoch hervorzuheben, dass Jüngling und Madchen in ihrer Wahl frei sind. Freilich müssen die Familien ihre Zustimmung geben und die Familie des Mannes ist verpflichtet, der Familie des Madchens einen Brautpreis (lobola) zu bezahlen. Indessen lasst dieser Bericht doch ersehen, dass die Verlobung weder eine rein individuelle noch eine reine Familienangelegenheit *) a.a.O., S. 102. ist. Eine bemerkenswerte Erscheinung ist, dass bei der Wahl Schönheitsideale eine Rolle spielen. „The ideal is tall stature, strong limbs and well developed breasts" 1). — „. ... a girl with an elongated face is admired more than one who is too broad-faced." — „A light complexion is preferred to a very dark one, because the white or yellow races are regarded as superior, and a Native laying claim to any European or Asiatic blood is proud of it" 2). Jedoch wird auch auf die Arbeitsfahigkeit des Madchens geacht et 3). Im Falie der Schönheitsideale haben wir es mit einer interessanten Erscheinung sozial-psychischer Art zu tun. Die Wahl ist zwar individuell, geht jedoch nach bestimmten typisierten Idealen vor. Bei einem Überblick über die Heiratsregelung bei den Thonga ergibt sich also folgendes: (1) Die Gemeinschaft in weiterem Sinne schreibt vor, welche Heiraten verboten, welche erlaubt und welche zu empfehlen sind. Auf Blutsverwandtschaft begründete Tabus und wirtschaftliche Motive spielen dabei eine Rolle; (2) die beiderseitigen Familien müssen ihre Zustimmung zur Ehe geben. Der Brautpreis macht die Heirat zu einer wichtigen Familieangelegenheit; (3) Die Initiative zur Wahl geht von den Einzelwesen (dem Jüngling) aus, und die Zustimmung ist in erster Linie dem Madchen überlassen. Wir sehen also, wie sehr die Verlobung ein Zusammenspiel von kollektiven und individuellen Faktoren darstellt, wiebeiuns. Wir sind daher der Meinung, dass Junod's Bemerkung: „It [die Heirat] is an affair of the community. It is a kind of contract between two groups, the husband's family and the wife's family4)", nur teilweise zutrifft. Genannter Verfasser betont besonders die Bedeutung der lobola als einer finanziellen Beziehung zwischen den beiden Familien: „One of the group loses a member, the others gains one. To save itself from undue diminution, the first group claims compensation, and the second grants it under the form of the lobola. This remittance of money, oxen or hoes, will allow the first group to !) a.a.o., I, S. 182. ') a.a.o., S. 183. ®) a.a.o., S. 183. *) a.a.o., S. 121. acquire a new member in place of the one lost, and so the balance will be kept. This conception of the lobola as a compensation, a means of restoring the equilibrium bet ween the two groups, is certainly the right one" 1). Es ist nicht meine Absicht, die Bedeutung der lobola als eines stark integrierenden Faktors leugnen zu wollen. Durch eine Zergliederung des Sachverhaltes hoffen wir aber gezeigt zu haben, dass hier nicht nur die „Gruppe" eine Rolle spielt. Überhaupt ist die Vorstellung, dass die Ehe nur eine Gruppen- oder auch nur eine individuelle Angelegenheit sei, wegen ihrer Einseitigkeit notwendig unrichtig. Sie stellt eben eine soziale Erscheinung dar, bei der individuelle und kollektive Faktoren in Wechselwirkung stehen. Das Starkeverhaltnis dieser Faktoren kann freilich verschieden sein, und es ist Aufgabe soziologischer Untersuchungen, das Verhaltnis zwischen diesen Faktoren so genau wie möglich quantitativ zu bestimmen. Dabei ist jedoch immer zu bedenken, dass eine soziale Erscheinung ein Ganzes darstellt und als solches betrachtet werden muss. Ba-ila. Bei ihnen kommt die Heirat meist durch Vermittlung der Eltern zustande. Smith und Dale erwahnen nicht, inwiefern die Neigungen des Mannes und des Madchens bei der Wahl eine Rolle spielen. Daneben wird aber auch hier von Heiraten aus echter Liebe berichtet: „There are cases of genuine love matches, where two young people are mutually attracted, the marriage is not one arranged for them by others. The aspirant to their daughter's hand has, of course, to satisfy the parents and guardians in the matter of the chiko [Brautpreis]. There is no doubt that there are such love matches" 2). Es ist j edoch fraglich, ob eine scharfe Unterscheidung dieser beiden Arten der Eheschliessung hinsichtüch der vorherrschenden Motive gemacht werden kann, solange wir noch so wenig über die Gefühlswelt des Afrikaners wissen. Als dritte ') a.a.O., S. 121. Lévy-Bruhl übernimmt hier ohne weitere Analyse der wirklichen Verhaltnisse die oben zitierte Bemerkung Junods über die lobola. Er leugnet zwar nicht, dass persönliche Neigungen eine Rolle spielen, meint aber: „Sous cette réserve, qu'il ne faut jamais perdre de vue, c'est la groupe familial qui décide". (L'ame primitive, S. 108). Dieser Vorbehalt ist aber überaus wichtig und macht es unmöglich, von der Heirat als einer „affaire du groupe" zu sprechen. ■) The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, ii, S. 46. Form der Eheschliessung kommt die Kinderheirat vor. Jedoch führt diese Art der Heirat zu allerhand Kon flikten: „In this way it sometimes happens that a very young girl is betrothed to a man greatly her senior, perhaps a hoary old polygamist, or at least one old enough to be her grandfather. The girls cannot be expected to welcome such a state of affairs; in fact, to our knowledge, many of them strenuously rebel, even to the extent of running away. But if one runs away, she is chased and brought back forcibly to her husband. It is by no means a matter of mere coquetry; we have known many cases where the young girls were forced into a relationship that they abhorred. Very of ten before the marriage takes place she has conceived an affection for a lad of her own age. We have known instances where in such an event the old man has been induced for a consideration to relinquish his claim; but, generally speaking, the girl has to obey. Once married, she may find herself fairly happy, as she may be the favoured wife, and especially as custom allows her to console herself with more youthful lovers" 1). Auch aus diesem Bericht ist ersichtlich, dass der Brauch ein Zusammenspiel von kollektiven und individuellen Faktoren darstellt. Die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung ist bei dieser Art der Eheschliessung offenbar sehr gering. Es ist indessen nicht so, dass sich nun der Gebrauch unbedingt in dieser unpersönlichen Form durchsetzen muss. Er führt zu Konflikten und Spannungen. Die Wirkung des kollektiven Elementes vermag also das Einzelwesen nicht ganz zu absorbieren; sie ruft vielmehr persönliche Reaktionen hervor, die diese Sitte ebensosehr als ein differenzierendes wie als ein integrierendes Phanomen erscheinen lassen. Wie von den Thonga werden uns auch von den Ba-ila typisierte Ideale als richtunggebend für die Wahl bezeichnet: „In a woman there are many things that appeal to a man. He likes to see bright eyes, and long eyelashes; small ears and lips that close evenly. He likes to see a head without a lot of depressions in it." — „If the girl has a navel hernia an inch >) a.a.O.; S. 48. or so long, it is an additional attraction because out of the common. He likes red thighs and calves that are fat and firm and able to fill out many leglets. He likes to see an erect carriage and a graceful walk. But there are other things he wants in a wife: above all, she must be good at agricultural work and a good cook. She must not simply be able to cook but must serve the food in a charming manner; and be attentive to his visitors. He likes to see her well dressed, with a skin-petticoat that fits her, and pretty mishini on her head. Many of these things are also attractive in a woman's eyes. She likes her lover to have bright eyes and long eyebrows. She admires a head-dress that is built and kept straight, and well ornamented with feathers and twala." — „Women like men to be men; strong, brave, and skilled in hunting and fighting" 1). Bei diesen typisierten Idealen haben wir es mit einem interessanten Zwischengebiet zwischen unpersönlichen, standardisierten Faktoren und individueller Auswahl zu tun. Es findet zwar ein selektiver, also differenzierender Prozess statt, jedoch nach gewissen, von allen Gruppengliedern geteilten Idealen 2). BaVenda. Wie bei den Thonga und den Ba-ila spielt bei den BaVenda der Brautpreis (lobola) eine grosse Rolle. Die lobola interessiert die beiderseitigen Familien an dem Zustandekommen und der Bestandigkeit der Ehe. Stayt berichtet dazu folgendes: „Marriages are often arranged in an entirely arbitrary way between the parents. — A great deal of bargaining generally takes place between the contracting parties, and sometimes a man will give his daughter to a friend on the promise that the lobola will be paid at a future date. Sometimes a man betroths a child, or even an unborn babe, to a man from whom he has borrowed cattle" 3). Ist nun das Zustandekommen lediglich eine Angelegenheit der beiden Familien? Nein, die Erscheinung hat auch hier ') a.a.O., S. 45. 2) Vgl. dazu R. Müller-Ereienfels, Allgemeine Sozial- und Kulturpsychologie, Leipzig, 1930, S. 237. ') The BaVenda, S. 144. ihre individuelle Seite: „As a rule the marriages arranged between parents are accepted by the young people without demur, although, if the girl expresses a strong dislike to the chosen man, her feelings are sometimes considered and new arrangements made, subject to the consent of the man to whom she is betrothed" x). Wie weit nun der individuellen Neigung Spielraum gelassen wird, geht freilich aus dem Bericht nicht hervor2). Dass aber diese Neigungen nicht nur bestehen, sondern auch anerkannt werden und sich durchsetzen können, darf angenommen werden. Die Anerkennung der individuellen Neigung ist kein Ausnahmefall, nicht eine Erscheinung, die ausserhalb des Brauches steht, sondern eben ein Teil dieses Brauches. Noch deutlicher wird die Anerkennung der persönlichen Wahl von seiten der Gruppe aus folgendem Bericht: „Sometimes a man is attracted towards a certain girl and arranges to meet her in secret. If his feelings are réciprocated he asks her father to arrange a marriage between them, which he is often willing to do in the usual way. It may happen that the girl in question is already betrothed to some one else, and in that case this third party must be taken into consideration and compensated. Genuine love affairs of this kind generally complicate matters considerably and usually end in elopement" 3). Dschagga. Die Verhaltnisse bei diesem Stamme sind von Gutmann sehr ausführlich und plastisch dargestellt. Er unterscheidet bis zum Zustandekommen einer rechtsgültigen Ehe zwei Vorstadien: „die Beziehungen der beiden Brautleute selbst als das grundlegende, und die Verhandlungen der beiderseitigen Sippen als das ausgestaltende Moment" 4). Es scheint mir, dass diese Unterscheidung, die unserer Unterscheidung zwischen persönlichen- und Gruppenfaktoren ent- 1) a.a.O., S. 145. . , 2) Ethnographische Mitteilungen begnügen sich zumeist mit sehr generalisierenden Mitteilungen, und der Ethnologe muss schon zufneden sein, wenn er Unterscheidungen, wie sie im obigen Bericht zwischen as a rule und „sometimes" gemacht werden, begegnet. Hoffentlich wird die Wieder gabe ethnographischer Beobachtungen allmahlich genauer werden und dazu übergehen, möglichst die Zahl der beobachteten Falie anzugeben. •) a.a.O., S. 145. *) Das Recht der Dschagga, S. 82. spricht, für das Verstandnis der Verhaltnisse sehr wesentlich ist. Sie trifft nicht nur auf die Dschagga, sondern, wie wir schon zu zeigen versuchten, auf mehrere Stamme zu. Aus der Beschreibung Gutmanns geht zunachst hervor, dass die jungen Leute durchaus die Möglichkeit haben, in nahere Beziehungen zueinander zu treten. Die Wahl geht von ihnen aus, und erst nach dieser Wahl fangen die Besprechungen der beiderseitigen Familien an. Zwar kommt es vor, wie Gutmann erwahnt, dass elterlicher Wille ein Madchen zur Verlobung und Heirat zwingt, aber der übliche Verlauf ist doch der, dass sich der Bewerber zuerst der Zustimmung des Madchens versichertx). Die Motive, die der Wahl zugrunde liegen, sind nicht sehr verschieden von den unseren; vgl. z.B.: „Auch bei ihnen gibt es Heiraten aus herzlicher Zuneigung, wo eins das andere ganz zu besitzen wünscht, wie die Liebesproben zeigen, welche sie sich gegenseitig abfordern. Auch bei den Wadschagga gibt es Madchen, die sich ihres Wertes voll bewusst sind und wahlerisch zuwarten, bis etwa der Schönste kommt, der ihrer würdig ist." — „Manch einer heiratet nach Schönheit und achtet darauf, dass die Erwahlte nach Gestalt und Hautfarbe zu ihm passé. Hinterher findet er sich dann wohl betrogen, „denneine schone Kuh gibt noch keine gute Milch," sagen die Wadschagga. Ein Verstandiger aber achtet darauf, dass er ein Madchen finde, das im Hause und auf dem Acker tüchtig und betriebsam ist" 2). Aufschlussreich über die Kenntnis der Unterschiede in den Heiratsmotiven ist auch die folgende Mitteilung: „Zwar gilt es als Ehre, wenn man als erste Frau geheiratet wird, aber viele lassen sich doch auch wieder verlocken durch den grosseren Reichtum bei einem Manne mit mehreren Frauen, die erleichterte Arbeitslast und grössere Unabhangigkeit. Scheiten doch verstandige Leute auf ein Madchen, das der Werbung eines alten, aber reichen Mannes widersteht und sich lieber an einen armen, aber jungen Gesellen hangt. Dann sagen sie wegwerfend: „Ein Madchen ist ein Hundsaffe und kennt das l) Dichten und Denken der Dschagga-Neger, S. 68. !) a.a.O., S. 66, 67. 6 Haus nicht, wo sie sich bergen sollte" 1). Dieser Bericht gewahrt uns nicht nur einen Einblick in die Verschiedenheit der Motive und des Verhaltens, sondern deutet auch auf Unterschiede in der Beurteilung dieses Verhaltens, alsoaufeine Differenzierung in der öffentlichen Meinung hin, denn wohl nicht nur die „verstandigen Leute" werden ein Urteil abgeben. Was die Kontrolle von seiten der Gruppe betrif ft, so zielt sie, wie Gutmann betont, besonders auf die Gesunderhaltung der Sippe hin. Die Ehe innerhalb der Sippe ist verboten. Wenn der junge Mann seine Wahl getroffen hat, beraten die Sippenaltesten darüber, ob die geplante Heirat auch wünschenswert ist. „Man achtete sehr auf die Lebenskraft der Sippe, aus der man eine Frau nehmen wollte. Sippen, die kein ordentliches Frauenband hatten, galten als ungeeignet für ein Conubium. Wenn ein Bursche dem Vater von einer Liebschaft Mitteilung machte und die Verhandlungen zu einer Verlobung angebahnt wissen wollte, erhob der Vater Einspruch, sobald es sich um eine Sippe handelte, die nach ihren seelischen Eigenschaften oder nach ihrer körperlichen Artung Bedenken erregte, und riet ihm zu einer anderen, deren Art Vertrauen einflösste für die gute Artung der zu erwartenden Kinder. Dann gehorchte der Sohn" 2). Es ist möglich, dass Gutmann durch seine Neigung, die Rolle der Sippe zu idealisieren, das Selektionsprinzip überschatzt. Auch ist aus einer solchen allgemeinen Mitteilung schwer zu ersehen, welcher Art im Einzelfalle die Reaktion des Individuums ist. Ob z.B. der Sohn immer nur gehorcht und sich unterordnet ? Es darf aber nach Gutmanns Berichten angenommen werden, dass die Eingeborenen eine Erfahrung von Vererbung und Entartung besitzen und zu beachten streben. So wird jede Eheverbinding mit Sippen, in denen eine unheilbare Krankheit herrscht, wie Aussatz, Beingeschwüre, Flechte, abgelehnt 3). Diese Selektion ist für unsere Frage von besonderem Interesse. Denn einerseits bedeutet sie eine •) a.a.O., S. 67 ff. *) Das Recht der Dschagga, S. 73 ff. ') a.a.O., S. 75. Beschrankung der individuellen Wahlmöglichkeiten durch die Gruppe, andererseits zeigt sie aber auch, dass die Gruppe nach ganz bestimmten und zugleich individuellen Merkmalen wahlt. Von Bedeutung ist auch, was Gutmann über die Ideale berichtet, die bei der Partnerwahl vorherrschen. Diese sind bei den Dschagga: Sanftmut, Körperform und Leibesschönheit. Unter „woloru" (Sanftmut) wird vor allem die Ehrerbietung gegen die Alten auf dem Hofe des Mannes und gegen die sonstigen nachsten Anverwandten verstanden. Man sagt, eine Frau, die nur ihren Mann' liebe und nicht auch seinen Anhang, werde zur Hofzertrennerin, denn nur ihretwillen entzweie sich der Mann mit seinen Brüdern. „Mkura", die Körperform, bestimmt die Wahl in entscheidender Weise, sodass z.B. ein hochgewachsener Mann eine grosse Frau oder doch wenigstens eine mittlerer Grosse nimmt. Nur im aussersten Notfalle wird er ein Madchen nehmen, dass grösser ist als er selber. Ein zu feingliedriges oder zu kleines Madchen pflegt auch nur der zu heiraten, der keine andere Wahl hat, denn man weiss von ihnen, dass sie empfindlicher für Krankheiten sind als andere Frauen und die Geburt des ersten Kindes schwer oder garnicht überstehen. Als Schönheitsideal gelten fleischgepolsterte Hüften. „Wutsa", Leibesschönheit, bezieht sich vor allem auf die Hautfarbe. Je hellfarbiger jemand ist, als desto schoner gilt er. Nicht leicht wird sich ein Hellfarbiger entschliessen, eine Person dunklerer Farbe zu heiraten. Und wenn sie doch an eine Dunkle geraten, trosten sie sich mit dem Worte: „Auch die Schwarze, wenn sie nur grad gewachsen ist und ein schönes Angesicht hat, dann mag's gut sein" *). Wir begegnen bei den Dschagga also einer Selektion nach typisierten Schönheitsidealen und psychischen Eigenschaften, wobei neben der Sanftmut auch die hausliche Tüchtigkeit eine Rolle spielt2). Moralische Bewertungen spielen also auch hinein. Obwohl die Berichte in ihrer allgemeinen Form keine weitreichenden Schlüsse zulassen, ist doch evident, dass die erwahnten typischen Ideale nicht nur eine Uniformierung der Wahl und damit eine Schwachung der *) a.a.O., S. 76 ff. 2) a.a.O., S. 77. individuellen Neigungen darstellen, sondern auch der individuellen Wahl Spielraum lassen. Lango. Bei ihnen ist nach Driberg die Heirat „the result of individual choice on the part of both parties" x). Ashanti. Rattray berichtet, dass sich die Art, in der bei diesem Stamme junge Leute miteinander bekannt werden, von der unseren kaum unterscheidet. Freilich kommen auch Kinderheiraten vor, aber sie bilden eine Ausnahme: „In ordinary cases the two young people become attracted to each other" 2). Das Madchen muss ihre Zustimmung zu der Heirat geben. Ewe. Bei den Ewe waren die Kinderverlobungen sehr ïm Schwange. „Wenn ein heiratslustiger Mann, gleichwohl, ob er jung oder alt ist, eine Frau sieht, die ihm gefallt, so pflegt er zu ihr zu sagen: „Wenn du wieder ein Kind bekommst, und es ist ein Madchen, so will ich dasselbe zur Frau haben; denn ein Kind von dir will ich zur Frau nehmen. Wirst du einen Knaben bekommen, so soll er mein Freund sein" 3). Bemerkenswert ist aber, dass die Selektion hierbei doch nicht ganz fehlt. Der junge Mann achtet namlich auf die Eigenschaften der Mutter seiner zukünftigen Frau. Über die Werbung wird von den Familiengliedern beraten. „Ist der Brautwerber nach ihrer Meinung ein tüchtiger Arbeiter und kein Mann, der den Streit liebt, auf den man sich auch dann verlassen kann, wenn etwa Not über die Familie kommt, so geben sie ihre Zustimmung" 4). Nicht immer j edoch ist das Ergebnis der Beratung mit den Familienangehörigen dem Brautwerber günstig. Ein Motiv zur Weigerung kann z.B. sein, dass er früher einem der Familienglieder eine Beleidigung angetan hat. Ein anderer Grund, der gegen die Heirat spricht, ist Krankheit des Bewerbers 5). Von seiten der Gruppe findet also die Auswahl nach gewissen seelischen Eigenschaften oder physischen Merkmalen statt, obwohl die Selektion nach weniger strengen Regeln vor sich zu gehen scheint als etwa bei den Dschagga. >) The Lango, S. 66. . , _ __ , , ino_ c __ ') Rattray, Religion and Art in Ashanti, Oxford, 1927, b. //. ') Spieth, Die Ewe-Stamme, S. 185. 4) a.a.O., S. 185. 5) a.a.O., S. 185. Ohne die Zustimmung des Madchens wird auch bei den Ewe die Heirat nicht vollzogen. Hat sie „das heiratsfahige Alter erreicht, so wird sie von der Mutter sehr gebeten, sie möge sie doch nicht beschamen, sondern zu ihrem Manne gehen. Ein wohlerzogenes und gutgeartetes Kind lasst die Mutter nicht umsonst bitten. Manche Madchen weigern sich jedoch beharrlich, zu ihrem Manne zu gehen. Die Angehörigen versuchen deswegen, sich den Gehorsam dadurch zu erzwingen, dass sie sie binden, in Eisen legen und sie drei bis vier Tage lang ungegessen lassen" 1). Bei manchen bleiben aber auch diese aussersten Massregeln ohne Erfolg. Solche „laufen dann spater als Huren herum". Das letzte wird sich freilich wohl nur auf die Zustande in den Stadten beziehen. Von Bedeutung ist auch hier wieder das Ineinandergreifen verschiedener Faktoren: 1. Das Madchen muss ihre Zustimmung geben. 2. Man erwartet jedoch von ihr, dass sie sich dem Willen der Eltern fügt. Sowohl die Zustimmung wie das Vorherrschen des elterlichen Willens, also sowohl der individuelle wie der Gemeinschaftsfaktor ist Teil eines gewohnheitsmassigen Vorgehens. Mit der Weigerung des Madchens tritt nun ein neuer Faktor hinzu, ein individuelles Verhalten, das ausserhalb und der Sitte entgegen wirkt. Die Bedeutung dieser persönlichen Reaktion im Vergleich zum Gesamtverhalten der sich wohl zumeist fügenden Madchen ist freilich schwer zu schatzen, weil uns einmal die ethnographischen Berichte nur wenig über die Haufigkeit dieser persönlichen Reaktion mitteilen, und ferner weil uns die jeweiligen Situationen, in denen sie vor sich geht, unbekannt bleiben. Und gerade diese zwei Faktoren sind für eine vergleichende Beurteilung sehr wichtig. Kpelle. Auch bei ihnen werden die Madchen haufig im Kindesalter, manchmal sogar schon vor ihrer Geburt, verlobt. Die Verlobungen werden aber, wie Westermann erwahnt, unter ausdrücklichem Vorbehalt der spateren Einwilligung der Braut abgeschlossen. Der folgende Bericht des genannten Verfassers zeigt ein gleiches Ineinanderspiel individuelier und a.a.O., S. 187. kollektiver Faktoren wie bei den Ewe. „Sie gegen ihren Willen zu verheiraten ist kaum möglich, und da bei diesen Verlobungen der Mann in der Regel viel alter ist als seine Braut, kommt es nicht selten vor, dass die Verbindung an dem Widerstande des Madchens scheitert. Freilich bildet ein starkes Gegengewicht gegen ihre Abneigung das Interesse der Eltern, die für sich und ihre Tochter von dem erhofften Schwiegersohn schon viele Geschenke erhalten haben, und die auf diese Art der Verlobung deswegen eingegangen sind, weil der Bewerber reich ist und also von seiner Freigebigkeit viel erwartet werden darf" 1). Neben dieser Form der Verlobung, die unter „guten Familien" üblich ist, gibt es aber auch Ehen, die aus freieren Beziehungen bestehen, in denen also der persönlichen Wirkung mehr Spielraum gelassen ist. „Ein junger Mann und ein Madchen haben sich gern und kommen überein, wie Mann und Frau zusammen zu leben. Erst nachher bittet der Mann die Eltern des Madchens um deren Zustimmung, die fast nie verweigert wird. Damit ist die Verbindung gesetzlich anerkannt" 2). 2. Persönliche Neigungen innerhalbder Ehe. Unsere Auffassung, dass von einem einfachen Gegensatz zwischen Kultur- und Naturvölkern nicht die Rede sein kann, gilt ebenfalls für das Vorkommen der Liebe. Selbstverstandlich wird, wo die Liebe mit so vielen sozialen und sozialpsychischen Faktoren verknüpft ist, die Andersgeartetheit der gesellschaftlichen Zustande eine RoUe spielen und daher wird sie bei den Primitiven anders funktionieren als bei uns. Dazu muss jedoch bemerkt werden, dass auch bei uns die Funktion der Liebe und die Auffassung von ihr sehr verschieden ist, und dass sie ausser von individuellen Faktoren auch vom sozialen Milieu abhangig ist. Wie weit von einander verschiedene Auffassungen wird man z.B. beim Bauern, beim Künstler und beim Beamten finden. Und doch tritt bei allen Gruppen ein Komplex von Trieben, psychischen und sozialen *) Die Kpelle, S. 58. 2) a.a.O., S. 60. Faktoren auf, nur jedesmal verschieden wirkend und verschieden zusammengesetzt. Ist bei den Primitiven der Sachverhalt grundsatzlich anders? Es wird wohl nicht möglich sein, auf diese Frage schon eine befriedigende Antwort zu geben. Das ethnographische Material ist dafür nicht umfassend genug. Jedoch verfügen wir hinsichtlich unserer Stamme über einige Angaben, aus denen die Existenz persönlicher Gefühle, die wir Liebe nennen, hervorgeht. Ob sie seltene oder haufige Erscheinungen darstellen, wird allerdings nicht in den Berichten erwahnt. Von einem 5a-z.7a-Hauptling berichten Smith und Dale folgendes: „Shaloba, the chief of the 'village Lubwe, was frequently our host. He was a slightly-built old man, with thin aristocratie face and a fine dignified manner. His chief wife, Ntambo, was a tall, handsome woman, arrayed during our visits in a splendid leopard skin, and she always exerted herself to make us and our followers at home. There was never any question in our mind as to the mutual affection between these two; they were evidently fond of each other. If a particularly witty remark were made, he would call her and repeat it for her benefit. If anything were given him he would summon her to admire it, and if a present were made to her he would show almost childish delight in the compliment to her. When other men were present it was against etiquette for her to eat with him, but in the evening, after all visitors had gone, she would produce some tasty dish, and they would sit and eat it together in Darby and Joan style" 1). Und an einer anderen Stelle berichten genannte Verfasser: „There are so many unhappy unions, and so many instances of infidelity come under the official's notice, that he is apt to conclude they are all of a like character. I believe this to be a mistake; there are many instances of sincere affection and many happy unions of long standing; a number of instances, too, where, when death has severed the tie, the survivor has proved inconsolable and sought relief and oblivion in suicide" 2). Von den Thonga berichtet Junod: it would be er- ') The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, I, S. 123. s) a.a.O., II, S. 75. roneous to think native lovers or husbands are not capable of deep and lasting affection. I know of a case, near Shiluvane, in which a Nkuna committed suicide because his wife had deceived him, and had relations with another man" 1). Hier kann freilich auch verletzter Stolz die Ursache sein. Von den BaVenda wird ebenfalls das Vorkommen wahrer Zuneigung erwahnt: „There is often a genuine affection between a man and his wives" 2). Nach der Meinung Spieths spielen im Eheleben der Ewe echte Liebesgefühle nicht eine so grosse Rolle. Vielmehr wird das Verhalten des Mannes durch die Furcht vor der Kritik seiner Dorf-genossen beherrscht. Er gibt aber zu, dass es auch bei ihnen Ehen gibt, in denen die persönlichen Gefühle vor den rein sozial bedingten den Ausschlaggeben. „Es unterliegt keinem Zweifel, dass es Ehen gibt, in denen Mann und Frau oder Frauen aufs Beste harmonieren; aber im Grunde besehen, ist die Frau dem Mann und der Mann der Frau doch ziemlich gleichgültig. Stirbt der Mann, so weiss ja die überlebende Ehehalfte, dass sie bald wieder einen anderen Mann bekommen kann. Stirbt die Frau, so trauert zwar der Mann um sie, beweint sie und tut, was ihm die Sitte vorschreibt. — Ist die Frau krank, so bemüht sich zwar ihr Mann, das Leben der Kranken zu erhalten. Der innere Beweggrund aber ist nicht die Liebe zur Frau sondern die Furcht vor dem Gerede der Leute. Sie sollen nicht sagen können, er habe seine Frau nicht lieb; denn das würde für ihn die schlimme Folge haben, dass er keine andere mehr heiraten könnte. Er denkt bei seinem Schmerz weniger an den Verlust einer Lebensgefahrtin als vielmehr an den Verlust dessen, was er für die Verstorbene getan und gegeben hatte. Seine Heiratsgeschenke sind verloren gegangen und werden ihm von niemandem ersetzt. Zum andern ist seine Hoffnung, Kinder zu bekommen, vereitelt, und das tut ihm weh. Der in der Vielehe lebende Mann tröstet sich beim Tod einer seiner Frauen auch damit, dass er ja noch andere habe, die ihm bei seiner Arbeit helfen kön- !) The life of a South African tribe, II, S. 191. 2) Stayt, The BaVenda, S. 157. nen" x). Obwohl anzunehmen ist, dass Spieth Recht hat, wenn er sagt, dass das soziale Urteil einen stark regulierenden Einfluss auf das Verhalten im Eheleben ausübt, enthalt sein Bericht doch eine zu verallgemeinernde Aussage. Denn einerseits spielt das soziale Urteil ja auch bei uns eine wichtige Rolle, und andererseits ist er sehr schwer, einen Einblick in die wirklichen Motive der Eingeborenen zu bekommen. Daher ist eine Verallgemeinerung nach der negativen Seite ebenso unpsychologisch wie eine Verallgemeinerung nach der positiven Seite. Uber die Ashanti bemerkt Rattray: „Although there does not seem to be any exact equivalent in the Ashanti language for our abstract word „love", it does not necessarily follow that „love", in its higher sense as opposed to the purely physical aspect of the matter, is non-existent" 2). Leider behandelt genannter Verfasser diese Frage nicht weiter auf konkrete Weise. Von den Lango berichtet Driberg, dass bei ihnen die Heirat die Folge individueller Wahl und ihr Eheleben daher „happy and harmonious" sei, „a mutual physical attraction and the woman's reputation as a good cook and housewife being the chief incentives to the union" 3). Zusammenfassend kommen wir zu dem folgenden Ergebnis: 1. Bei den von uns behandelten Stammen spielt die individuelle Wahl mehr oder weniger eine Rolle. Die Verhaltnisse sind zwar in den einzelnen Stammen verschieden, bei allen von uns behandelten Stammen j edoch kann das Einzelwesen seine besondern Wünsche geltend machen4). *) Die Ewe-Stamme, S. 198. 2) Rattray, Religion and Art in Ashanti, S. 77. s) The Lango, S. 66. *) Vgl. B. Malinowski, The sexual life of savages in North-Western Melanesia, London, 1932, besonders den Abschnitt über die Heiratsmotive. Nachdem er verschiedene Motive sozialer, ökonomischer, praktischer und sentimentaler Art, die bei den Trobriandern den Mann zu einer Heirat führen, erwahnt hat, fahrt genannter Verfasser fort: „And last, though not least, personal devotion to a woman and the promise of prolonged companionship with one to whom he is attached, and with whom he has sexually lived, prompt him to make certain of her by means of a permanent tie, which shall be binding under tribal law. The woman, who has no economie inducement to marry, and who gains less in comfort and social status than the man, is mainly influenced by personal affection and the desire to have children in wedlock. This personal motive comes out very strongly in the course of love affairs which do not run smoothly" (S. 70). 2. Aus unseren Berichten geht hervor, dass die Wahl einen Komplex von individuellen Regungen, von sozialen Regelungen und sozial-psychischen Faktoren (Wahl nach bestimmten sozialen Werten oder typisierten Schönheitsidealen) darstellt. 3. Obwohl die Berichte über das Vorkommen der Liebe sparlich sind, zeigen sie doch zur Genüge, dass sie zum mindesten nicht fehlt. Im Vorhergehenden haben wir uns auf zwei differenzierende und individualisierende Erscheinungen in der Ehe beschrankt. Damit ist j edoch das Gebiet der differenzierenden Beziehungen innerhalb des Familien- und Ehelebens noch nicht erschöpft. Es gibt vielmehr noch eine ganze Reihe anderer Erscheinungen, deren Bedeutung für die Frage der Differenzierung hier nur angedeutet werden kann. Wir meinen: Stellung der Frau, Funktion des Reichtums in der Vielehe 1), sexuelle Freiheit vor der Heirat, Prostitution, Freie Liebe, Eifersucht, Differenzierung unter den Frauen (bevorzugte Stellung der ersten Frau, z.B.). 3. DIE DIFFERENZIERENDE SEITE EINIGER BRAUCHE. In den vorhergehenden Abschnitten haben wir die Differenzierungserscheinungen in zwei Institutionen naher betrachtet und zu zeigen versucht, dass das persönliche Leben nicht ganz in diesen Institutionen auf geht, sondern dass sie eine Mischung von festumschriebenen Regeln und individuellen Reaktionen auf soziale Situationen darstellen. Auf diese Weise ware auch zu untersuchen welche differenzierenden Beziehungen das Einzelwesen zu seinen Mitmenschen *) Auf die Bedeutung des Reichtums für die Erwerbung der Frauen in einer polygamen Heirat und die damit gegebene Differenzierung ist auch von Ronhaar hingewiesen worden: „Polygamy .... was a powerful means of advancing individualism, as women formed one of the first means of investment. Wealth leads to polygamy and polygamy to esteem". (J. H. Ronhaar, Woman in primitive motherright societies, Groningen, 1931, S. 317). Zu der Aussage des genannten Verfassers: „Wherever polygamy exists we find difference in wealth and thus difference in individuality" (S. 317) müssen wir jedoch bemerken, dass Differenzierung durch Reichtum, also soziale Differenzierung, nicht notwendigerweise eine Differenzierung der Individualitat mit sich zu bringen braucht. Differenzierung und Individualitat stehen zwar in engem Zusammenhange, sind jedoch verschiedene Begriffe. in den Gruppenverbanden hat, d.h. innerhalb der Sippe, des Stammes, des Geheimbundes, der Altersklasse und ebenfalls innerhalb der Stande, Berufe. Denn wie wir schon betonten, können Individuum und Gruppe nicht einfach kontrastiert werden (wenn überhaupt von einem Gegensatz die Rede sein kann), sondern das Einzelwesen gehort verschiedenen Grappen an, und diese verschiedenen Gruppenangehörigkeiten durchkreuzen einander und üben verschiedenartige Einflüsse aus. Leider ist das ethnographische Material für eine systematische Untersuchung des Charakters und Zusammenhanges dieser Uberlagerungen von Gruppenzugehörigkeiten nicht ausreichend. Selbstverstandlich sind die Stamme in dieser Hinsicht nicht gleich. Wo schon eine relativ entwickelte soziale Gliederung besteht, wie das bei vielen airikanischen Stammen der Fall ist, wird auch die psychische Stellung des Individuums differenzierter sein als in einfacheren Verhaltnissen. Der Sachverhalt wird j edoch dadurch kompliziert, dass psychische Differenzierung auf Grund der Zugehörigkeit zu einer weiter entwickelten Gruppe nicht etwa bedeutet, dass das Einzelwesen zugleich unabhangiger oder „freier" ware als in einfacheren Verhaltnissen, wo die soziale Differenzierung weniger fortgeschritten ist. Diese Tatsache erschwert ein Verstandnis der psychischen Stellung des Individuums und seines Verhaltnisses zur Gruppe ausserordentlich. Überhaupt wissen wir noch sehr wenig darüber, wie der Primitive seine Beziehungen empfindet, und wir sind nur zu leicht geneigt, sie in einem Schema von „Bindungen" oder „Freiheiten" unterzubringen. Die Stellung eines Individuums ist j edoch nicht nur durch seine Gruppenzugehörigkeit bestimmt. Er lebt ausserdem in einem anderen System von Beziehungen, die wir für gewöhnlich als Sitten und Gebrauche bezeichnen und die seine Handlungen teilweise bestimmen. Diese Beziehungen sind zum Teil dieselben, die auch seine Gruppenangehörigkeit regeln, teilweise auch anderen Charakters. Auch hier findet eine Durchkreuzung und Überlagerung der Beziehungen statt. Wir können hier wegen Mangels an Beobachtungen keine systematische Untersuchung über die Wirkung der Gebrauche geben, wollen j edoch durch einige Beispiele kurz auf ihren komplizierten Charakter hinweisen. Nehmen wir als Beispiel die Beerdigungsriten bei den Baila 1). Wir lassen hier erst den Bericht Smith und Dales folgen. „The reasons ior the practice of flocking to a funeral are many. Family feeling is strong, and it is considered a great fault if a man does not weep for a relation; this extends not only to blood relations but to all members of the clan, to allied clansmen, and to friends. If a person absented himself he might very easily be charged with having bewitched the deceased. Without question the mourning in many instances is sincere; indeed many show a lot of emotion. We recall what we saw at the funeral of Chongo, one of the Kasenga headmen. Mungaila, the chief, and a relation of the deceased, was coated from head to foot with white ash and wore the scantiest bit of cloth around his loins. With a broken stick in one hand and a wild beast tail, containing musamo, in the other he was going about alone. As he stood, with his long thin shanks and wizened body, gesticulating with the tail and shouting, as if expostulating with death, he presented a most pathetic figure. Every now and then he would flop down and wallow in the dust, throwing ash from the mukwashi over himself. When after a time he came over to speak to us, the old man was quite exhausted. Three old women, the picture of grief, were sitting together, with their arms round each other. On the grave four of the deceased's wives were lying as if lifeless. A son, a lad of fourteen or so, was lying on an ash-heap, his body shaking with sobs. These were real mourners. In the case of others it is a very perfunctory affair. Men take their spears and run across the kraal a few times in a listless fashion and think they have done quite enough to show their respect for the deceased. It may be that many are attracted to the funeral by the meat that is provided for the mourners. It is almost their only chance of getting a taste of beef 2). 0 Die Beerdigungsriten primitiver Völker haben schon darum eine differenzierende Wirkung, weil sie sich nach Todesart und sozialer Stellung des Verstorbenen abstufen. Vgl. e. Bendann, Death Customs, an analytical study of burial rites, London, 1930, S. 197 ff. , XT ^ •) Smith und Dale, The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, ii, S. 108 ff. Obige Beschreibung lasst uns den Beerdigungsritus als eine in mancher Hinsicht differenzierte Erscheinung erkennen : (1) Die Menschen, die der Beerdigung beiwohnen, stehen schon auf Grund ihrer Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zum Familienkreise des Verstorbenen in einem ungleichen Verhaltnis zu diesem; denn es sind ja nicht nur seine Familie und seine Freunde anwesend, sondern auch die übrigen Klanmitglieder. (2) Diese Differenzierung in den Beziehungen bringt eine Verschiedenheit in den Motiven mit sich, aus denen man an der Beerdigung teilnimmt. Einmal ist man durch die Sitte dazu verpflichtet. Diese Verpflichtung erstreckt sich besonders auf die Familie, Freunde und Clanmitglieder und kann auch ohne das Vorhandensein von ausgepragten Gefühlen individueller Art funktionieren. Schon die Furcht andernfalls wegen böser Zauberei verdachtigt zu werden, ist ein zwingender Grund, sich an der Beerdigung zu beteiligen. Aber nicht bloss die durch die Sitte regulierten Motive wirken hier. Eine Beerdigung ist namlich zugleich ein Fest, bei dem viele Rinder geschlachtet und sonstige Opfer gebracht werden. Schon als ein wichtiges Ereignis im Stammesleben übt sie also eine Anziehungskraft auf viele aus, die an sich nicht dazu verpflichtet waren, der Beerdigung beizuwohnen. „A funeral is a great occasion. We fancy sometimes that some men spend their lives in going to funerals. One's workmen seem to be always wanting to go, and are quite clever in tracing their relationship with the deceased in order to have a good excuse for going" x). (3) Die bei der Beerdigung geausserten Gefühle variieren je nach der Beziehung, in der der Leidtragende zu dem Verstorbenen stand. Wirkliches Leid zeigt sich neben konventionellem Ver halten. Das Bemerkenswerte ist freilich nicht, dass die Gefühle verschieden sind, sondern dass sie in ihrer Differenzierung gezeigt werden können. Dies bedeutet, dass die Sitte dem Einzelwesen die Freiheit lasst, seine persönlichen Gefühle zum Ausdruck zu bringen und damit sein Verhalten von dem Verhalten seiner Mitmenschen abzuheben. Die Sitte übt hier also nicht eine streng uniformierende Wirkung auf Gefühlsleben und Verhalten aus. ') a.a.O., S. 106 ff. Ein ahnliches differenziertes Verhalten, das gleiche Nebeneinandervorkommen von wirklichem Leid und konventionellem Verhalten wird ebenfalls von einem Berichte Weeks beleuchtet: „As we have watched the dancing, drinking, gunfiring, and have listened to the drumming and chanting of the mournful dirges, we have asked ourselves again and again: Is there any real sorrow for the death of the person whose obsequies are filling the village with hideous noises? and as we have looked on the perspiring dancers, and the crowd of boozing, feasting men and women, bent on enjoying themselves, and eagerly getting as much amusement as they could out of the passing event, we have had to answer, No, that is not true grief, but when we have peered into the hut, or gone to the back of it, and seen two or three woe-begone, huddled figures with their tear-stained faces, we have forgotten the laughing, joking crowd, we have become suddenly deaf to the songs and chants of the professional mourners, for here is sorrow as true and sincere as pierced the hearts of those with white skins; and our heart going out to them in sympathy, we have removed our heimet and sat down to mourn with the mourners, and our sympathy has never been refused" 1). Noch auf eine andere Erscheinung wollen wir in diesem Zusammenhang hinweisen, namlich auf die distanzierende Wirkung einiger Gebrauche. Wir haben es hier mit Fallen zu tun, in denen die Differenzierung von der Gemeinschaft ausgeht. In der ethnologischen Literatur ist oft behauptet worden, dass das Zusammenleben der Primitiven einen so intimen Charakter trage, dass von einem Eigenleben nicht die Rede sein könne 2). Es ist indessen fraglich, ob diese Behauptung in dieser ausgepragten Form berechtigt ist. Die ethnographischen Berichte teilen nur wenig über die Enge oder Weite des Zusammenlebens mit. Und doch waren genaue Angaben darüber sehr wünschenswert für eine richtige Beur- *) J. H. Weeks, Among the primitive Bakongo, London, 1914, S. 275. !) So behauptet z.B. Cureau : „Dans le village, extension de la familie, les citoyens sont astreints a un communisme étroit, a une dépendance mutuelle, a une fusion egalitaire, oü la personnalité et 1'originalité sont noyées. Ils ne sont libres ni de se réjouir, ni de rêver, ni de souffrir, ni d'aimer a part. Ils vivent les uns contre les autres, les uns des autres, les uns pour les autres". (Les sociétés primitives de 1'Afrique équatoriale, Paris, 1912, S. 322 ff.). teilung der Distanzbeziehungen zwischen den Leuten und damit ihres ganzen Verhaltens. Denn es ist ja wahrscheinlich, dass die isolierte Lebensweise eines Jagers oder Fischers eine andere Wirkung auf den Menschen ausübt als etwa die mehr kooperative Lebensweise der Ackerbauer. Auch wird die Art, in der die Familienmitglieder raumlich zusammenleben, Einfluss ausüben. Jedoch solange keine genaueren Angaben über dergleichen Fragen vorliegen, ware es voreilig, Mutmassungen über diesen Faktor der Differenzierung aufzustellen. Jedoch wollen wir hier auf drei gewohnheitsmassige Erscheinungen hinweisen, deren Bedeutung für unsere Frage darin liegt, dass hier von der Gemeinschaft selbst distanzierende und damit differenzierende Beziehungen zwischen den Menschen geschaffen werden. Wir meinen: (a) Tabu; (b) Höflichkeit; (c) Namen. a. Tabu. Wenn wir sagen, dass das Tabu zu den gesellschaftlichen Mitteln der Distanzierung gehort, so meinen wir natürlich nicht, dass dies seine Hauptfunktion ist, oder etwa ein bewusst erstrebtes Mittel darstellt. Nur wollen wir darauf hinweisen, dass das Tabu unter anderen auch diese, von uns angedeutete Funktion hatx). Für unseren Zwecke brauchen wir hier nicht auf das Wesen und auf die Klassifikation des Tabus einzugehen. Es möge genügen, kurz darauf hinfcuweisen welcherlei Schranken es zwischen den Menschen errichtet. So gibt es z.B. bei den Ba-ila physiologische Tabus, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern regeln und diese voneinander distanzieren 2). Weiter beziehen sich spezielle Tabus auf bestimmte Berufe, besonders solche, die den Berufsausübenden mit dem Tode und anderen Mysterien in Berührung bringen: Krieger, Schmiede, Handelsleute, Jager sind ') Auf diese Funktion ist auch von einigen Soziologen hingewiesen worden. So sagt z.B. von Wiese: „Der Umstand, dass die Berührung bestimmter Personen und Dinge, zumal Speisen, gewissen anderen Personen verboten und eine Ubertretung mit der Strafe des bösen Zaubers belegt ist, hat tiefgehende, mystisch vertiefte Schranken zwischen Menschen errichtet". (Allgemeine Soziologie, I, S. 226). Vergl. auch: Howard Becher und David K. Bruner, „Some Aspects of Taboo and Totemism" (Tourn. of Social Psychology, III, S. 3 ff.). !) Smith und Dale, i, S. 348. bei den Ba-ila Tabu x). Eine besondere Art Tabu ist die, welche mit der Hierarchie in der Gruppe verbunden ist. So ist es bei den Thonga Tabu „to precede a chief or an elder in agncultural operations, sowing or harvesting" 2). Diese Art Tabu erstreckt sich ebenfalls auf die Ahnen: „The ancestor-gods, bemg the elders of the actual members of the family, must be treated as hierarchically superior; hence the religious taboo of luma: the interdiction of eating the new erop bef ore having presented the gods with the first fruits; the prohibition of infringing the sacerdotal rights of an elder brother is a taboo of the same kind" 3). Noch auf eine andere differenzierende Seite des Tabu mochten wir hier hinweisen. Das Tabu bezieht sich bekanntlich nicht nur auf Gruppen, sondern auch auf gewisse Personen. Ein solches Tabu bringt eine gewisse Isolierung der betreffenden Person mit sich. Auch der Ursprung dieses Tabus ist oft persönlicher Art. Wir lassen hier einen diesbezüglichen Bericht von den Ba-ila folgen: „One often finds men who refuse to eat certain foods, and there is no apparent reason for their abstention: the thmgs tabooed are not their totems, nor are they taboo to the generality of people. The reason is that earlier in life they ate them and were ill after eating; and the vomiting and mdigestion 01 what not is taken as a sign that the food is taboo to them. For example, our old friend, Mungalo, was a total abstamei from all kinds of beer: the reason being that once when a voung man he had a „sore head" after a feast, and the divinei on being consulted declared that evidently beer was taboe to him: not to be drunk without danger. Often the oracle o the diviner is not considered necessary: should a man be li after taking honey or mük or ground-nuts, or any particula: food and the same thing should happen a second and thirc time, he draws his own conclusions, and, no matter how nio it may be, from that time he does not touch ït: ït is taboo ) Bemerkenswert ist hier, dass die Person selber ïhr besonderes 1) a.a.O., S. 348 ff. 2) Junod, II, S. 576. 3) a.a.O., S. 576. ') Smith und Dale, I, S. 349. nur sie betreffendes Verhalten regelt. Der hier erwahnte Brauch wird in der Literatur Tabu genannt. Jedoch könnte in diesem Falie ebenfalls mit Recht von einer selbstandigen Fürsorge iür die eigene Gesundheit gesprochen werden. b. Höflichkeit. Wie das Tabu, stellt auch die Höflichkeit einerseits ein Mittel der Uniformierung dar, wirkt aber andererseits auf individuelle Distanzierung hin. Von der Gemeinschaft aus gesehen, gehort Höflichkeit und Etikette zu den Regulatoren, die die soziale Stabilitat sichern und einen reibungslosen Verkehr unter den Menschen ermöglichen sollen. Sie bedeutet eine Einschrankung der individuellen Ausserungen, insoweit diese von der Gruppe für unerwünscht gehalten werden. Dieser Zwang zur Einordnung in ein traditionelles Verhalten kann, vom Einzelnen aus gesehen, als die negative Seite der Höflichkeit aufgefasst werden. Sie hat indessen auch eine positive Seite für das Individuum: (1) Sie funktioniert als Schutz der individuellen Empfindlichkeit. Sie schafft Distanz. (2) Sie bedeutet eine gewisse, wenn auch oft nur formelle, Achtung der Persönlichkeit. (3) Sie ist eine der Ausdrucksmittel der sozialen Differenzierung. Die sozial-psychologische Bedeutung der Etikette im allgemeinen wie auch für die primitive Gesellschaft im besonderen ist bisher noch wenig untersucht worden. Die diesbezüglichen Stellen der ethnographischen Berichte sind karglich und bleiben zu oft nur an der Aussenseite haften. Um die von uns betonte distanzierende und differenzierende Wirkung der Höflichkeit zu verdeutlichen, lassen wir hier eine Mitteilung Pechuël Loesches folgen. Er berichtet: „Anerkennenswert höflich sind die Leute, obschon, wie überall, die Höflichkeit des Herzens nur wenigen eigen ist. Hauptsachlich handelt es sich um Ausserlichkeiten, die das Zusammenleben glatten. Die Umgangsformen sind gefallig. Stets spricht einer allein. Was daheim tagtaglich bei Rauchern als ungebildet auffallt, wird einem in Loango schwerlich begegnen. Personen, die grüssen oder plaudern, nehmen stets die Pfeife aus dem Munde, junge, die mit alten reden, halten sie gesenkt oder hint er sich. Bejahrten gibt man die schmalen Pfade frei, auch Weibern, selbst wenn sie nicht bebürdet sind. Manner unterstützen sich bei ihren Verrichtungen, springen einander bei, dienen aber allenthalben bereitwillig auch dem schwachern Geschlecht. Es hat mich oft gefreut, zu sehen, wie ohne Ansehen der Person und unaufgefordert Frauen oder Madchen geholfen wurde, anstrengende Hantierungen zu volbringen. Das ist die natürliche Folge der Verehrung für die Mutter, des Vertrauens in die Schwester" x). Wie andere Naturvölker haben auch die Bafioti z.B. ihre festen umstandlichen Formen der Begrüssung. Dieser Gebrauch ist j edoch nicht ganz erstarrt, sondern erlaubt Verwandten eine warmere Begrüssung und verhindert nicht die Ausserung persönlicher Gefühle: „Eltern und Kinder sowie Eheleute verhalten sich beim Scheiden oder Wiedersehen warmer, herzlicher, auch feierlich. Zwar wird es nicht für geziemend erachtet, sich vor den Augen anderer zu liebkosen, doch fügt es der Zufall, dass man im Laufe der Zeit manchen Ausbruch der Zuneigung und Liebe beobachtet. Es gibt vielerlei sprachliche Wendungen für segnen und verfluchen, für Herzenswünsche innigster Art" 2). Dass innerhalb der festumschriebenen Formen auch wieder Differenzierungserscheinungen nicht fehlen, geht ebenfalls aus einer Mitteilung Stayts hervor: „The rigidity of etiquette within the family is often rebelled against, but in the presence of strangers it is strictly adhered to" 3). c. Namen. Auch die N amengebung übt eine differenzierende und nicht bloss eine integrierende Funktion aus, wie LévyBruhl und andere meinen, die hauptsachlich auf die magische Bedeutung der Namen hingewiesen haben. Bekanntlich gibt es bei den Primitiven Namen für verschiedene Lebensperioden ') Volkskunde von Loango, S. 79. «) a.a.O., S. 43. Zu den Gebrauchen, die den Umgang zwischen Personen verschiedenen Geschlechtes regeln, bemerkt Pechuel Loesche, dass die öffentliche Meinung sehr empfindlich sei. Hier wirke jedoch die Reaktion von Seiten der Individuen differenzierend: „Freilich weichen die Ansichten darüber und das Gefühl dafür bei Familien und Personen ebensosehr voneinander ab wie bei Zivilisierten. Was den einen bekümmert, mag den anderen ziemlich gleichgültig erscheinen". (S. 290). 3) The BaVenda, S. 156. und werden Namen wenn möglich zu besonderen Umstanden oder Vorfallen in Beziehung gesetzt. Die Mitteilungen Spieths z.B. zeigen, dass es bei den Ewe verschiedene Arten der Namengebung gibt. Neben den Namen, die an den Geburtstag anknüpfen, bestehen Erinnerungsnamen, die den Kindern die Reihenfolge zeigen, in der sie geboren sind, oder die sie an Ereignisse erinnern, die sich wahrend ihrer Geburt zugetragen haben. Diese Namen tragen also teilweise einen unpersönlichen Charakter, teilweise verbinden sie den Namen mit persönlichen Umstanden. Ferner gibt es bei den Ewe Andeutenamen: „Wenn jemand mit einem anderen in Streit geraten ist, so pflegen sich beide Teile in Andeutungen zu beschimpfen. Der Beschimpfte soll aber nicht merken, dass der Schimpf ihm gelte. — Man gibt diese Namen Kindern, damit derjenige, gegen den der Name gerichtet ist, ihn horen und sich darüber argern solle" x). Von Interesse ist ferner, was Spieth über die sogenannten Trinknamen mitteilt: „Palmweintrinker legen sich zuweilen fünf, zehn, ja zwanzig Namen bei. Jeder Name besteht aus einem ganzen Satz und ist in den meisten Fallen ein allgemein gebrauchtes Sprichwort. Bei schweren und sehr ermüdenden Arbeiten oder im Krieg, dann auch beim Palmweintrinken ruft sich der Inhaber seinen Namen laut zu, oder es werden ihm dieselben von einem Freund laut und in sehr raschem Tempo aufgezahlt. Wer die Trinknamen eines andern kennt, beweist damit, dass er in freundschaftlicher Beziehung zu demselben steht. Der Zweck dieser Namenaufzahlung ist der der Ermunterung und Anfeuerung zu schwerer oder besonders gefahrvoller Arbeit. In den Trinknamen werden Körperkraft, Mut und Klugheit eines Menschen lobend festgehalten und anerkannt. Im Gegensatz zu diesen Vorzügen werden Reichtum, angesehene Stellung, körperliche und geistige Schwachen in den Trinknamen gegeisselt. Aus den langen Satzen der Trinknamen werden gewöhnlich nur einzelne Stichwörter als Personen- oder Rufname gebraucht; zwar nicht so, dass jeder, der Trinknamen hat, sich mit einem dieser Stichworte rufen lassen würde. Es kann jemand Komla gerufen werden, der *) Die Ewe-Stamme, S. 220. daneben noch eine ganze Anzahl Trinknamen hat. Andere wiederum wahlen sich eines der Stichwörter ihrer Trinknamen zu Personennamen, womit sie sich auch im Alltagsleben rufen lassen" Bei den Ba-ila gibt es ebenfalls verschiedene Arten von Namen. Der Geburtsname wird dem Kinde bald nach der Geburt gegeben, wenn der Zauberer festgestellt hat, welchen seiner Ahnen es wiederverkörpert. Im taglichen Leben werden iedoch andere Namen gebraucht, die entweder besondere Umstande zur Zeit der Geburt andeuten oder sich auf charakteristische Merkmale des Kindes beziehen 2). Ferner haben die Ba-ila „praisetitles", wenn sie jemanden loben wollen: „They are bestowed upon a man by his fellows, or sometimes a man will boastfully entitle himself, in allusion to personal characteristics and exploits. Their use is a not very subtle form of flattering chiefs and others, when on occasion thexr followers hail them by these titles" 3). Bei den Lango werden die ersten Kinder nach Famüienangehörigen benannt. Bei den folgenden Kindern bleibt die Wahl eines Namens in gewissem Sinne der Willkür überlassen: „The infant's mother offers the child her breast saying, „Drink, So-and-so (using one of the available names)." If the baby refuses, another name is tried, and the name to which he responds by drinking is given to him" 4). Wie die Ewe ihre Trink- und die Ba-ila ihre Lobnamen, so haben die Lango Kriegsnamen, die das Verhalten eines Mannes im Kriege beschreiben. Ferner gibt es bei ihnen einen „Anrufsnamen" (name of invocation), der nur von dem Trager selbst gebraucht werden darf. „It is the name of his beloved, and is used only as an invocation on the successful cast of a spear in hunting or fighting. Should anyone but the man himself use this name, a senous quarrel would ensue, possibly resulting in bloodshed ). *1 The^iia-speaking peoples of Northern Rhodesia, I, S. 365. Ahnliche Mitteilungen fFnden LI üEer die Namengebung bei den Thonoa (Junod. i»ilLLcnungvii - The life of a South African tnbe, I, b. JV). 3) a.a.O., b. 06b. *) Driberg, The Lango, S. 148. •) a.a.O., S. 151. Die obigen wenigen Beispiele, die sich leicht um ahnliche vermehren liessen, lassen ersehen, dass bei der Namengebung integrierende und differenzierende Wirkungen eine Rolle spielen. Die Namengebung ist einerseits eine integrierende Funktion, denn durch sie wird das Kind in eine Gruppe eingereiht. Kollektiv ware auch zu nennen, das jedes Kind einen Namen empfangt, und dass gewisse Regeln für die Namengebung bestehen. Durch die Benennung nach einem Familienmitgliede oder Ahnen wird die Verbindung mit der Gruppe aufrechterhalten. Diese Art der Namengebung ist j edoch nicht die einzige. Bei den anderen Art en der Namengebung macht sich eine individualisierende Tendenz bemerkbar, die hauptsachlich von der Gruppe ausgeht, teilweise auch vom Namentrager selber. Obwohl diese Tendenz nicht von grosser Bedeutung ist (die Bewertung der Differenzierungserscheinungen lassen wir übrigens beiseite), zeigt sie doch, dass auch innerhalb eines ziemlich geregelten Brauches emotionelle Strebungen, Willkür, usw., also unkontrollierbare Einflüsse aller Art eine Rolle spielen können. Bemerkenswert ist, wie in der Namengebung z.B. die Eitelkeit zum Ausdruck kommt. Wir haben im Vorhergehenden auf das Vorkommen von Differenzierungserscheinungen in der gewohnheitsmassigen Funktion einiger Institutionen und Brauche hingewiesen. Die Untersuchung liesse sich leicht auf andere Gebiete ausdehnen. Unter die weiteren sozial begründeten Differenzierungserscheinungen fielen dann alle die Tatsachen, die mit der sozialen Differenzierung (Berufe, Kasten im französischen Sudan, wirtschaftliche Ungleichheiten, Sklaverei) zusammenhangen; ferner, die Individualisierungsphanomene, die in Gruppen wie den Geheimbünden und in Brauchen wie Tanz und Spiel, in der Mode u. dgl. auftreten. Die Zahl der Differenzierungserscheinungen ist indessen mit denen von institutionellem Charakter nicht erschöpft. Wie wir schon betonten, sind nicht alle Beziehungen in den primitiven Gruppen durch Brauche geregelt oder in Institutionen festgelegt. Es besteht noch ein weites Gebiet mehr unregelmassiger Beziehungen, wo der freien Handlung, der eigenen Aktivitat, der Spontaneitat, den emotionellen Ausserungen Spielraum gelassen wird. Einigen dieser Beziehungen werden wir in den nachsten zwei Kapitein begegnen. Hier sei nur auf die antisozialen Differenzierungserscheinungen des Verbrechens und des Selbstmordes hingewiesen, Handlungen, die in den meisten Fallen einen ausgesprochenen antisolidarischen Charakter tragen. In seinem Aufsatz: „Anleitung zu einer systematischen Ermittlung des Individuums bei den Naturvölkern" schreibt Steinmetz: „Das Verbrechen wird meist oder fast immer von Einzelnen verrichtet; soweit es wirklich als Verbrechen gilt, also von der Gesamtheit verurteilt, kann es ja nie von ihr verrichtet werden. Das Verbrechen ist also gerade die prinzipielle Abweichung von der Norm, von der Kollektivitat. Eine lange Reihe von echten, primitiven Verbrechen gab ich in meiner „Strafe", 1894: Verrat, Inzest, Zauberei, u.s.w. („Ethnologische Studiën zur ersten Entwicklung der Strafe", 2. Aufl., 1928, II, 325—346). Sie werden am einzelnen Tater oder an seiner engeren Familie gestraft, also an einer engeren Gruppe innerhalb der grosseren. Eine merkwürdige Erscheinung ist hierbei die Ausstossung von Verbrechern aus der Gemeinschaft, z.B. vom Madchenschander bei den Ckaratschai, — ein deutliches Symptom von anerkanntem Eigenleben der Einzelnen innerhalb der Gruppe, welches im Widerspruch ist zu jeder vermeintlichen Starrheit derselben. Der Einzelne, z.B. der Verrater, kann sich sogar im eigenen gesonderten Interesse direkt an der Gesamtheit als solcher vergreifen, eine eigentlich individualistische Tat" 1). Smith und Dale erwahnen einen Fall, aus dem hervorgeht, dass gelegentlich Auflehnung gegen die Beschlüsse der Hauptlinge stattfindet. Genannte Verfasser beschreiben eine Ge- *) Ethnologische Studiën, 1929, S. 6 ff. Vgl. auch: Malinowski, Crime and Custom in Savage Society. Schon in 1894 hat Steinmetz auf den persönlichen, antisolidarischen Charakter des Selbstmordes hingewiesen (Suicide Among Primitive Peoples, „The American Anthropologist", 1894; spater in: Gesammelte kleinere Schriften, I, S. 124 ff). Vgl. auch Steinmetz, Der Selbstmord bei den afrikanischen Naturvölkern (Zeitschrift für Sozialwissenschaft; spater in: Gesammelte kleinere Schriften, II, S. 354 ff), und Ethnologische Studiën, S. 7. richtsverhandlung, bei der ein junger Mann sich wegen Ehebruches zu verantworten hatte. „The accused, a young man who sat with his face covered with his hands, was asked what he had to say. He replied, „What can I say?" and was silent. The chiefs then proceeded to argue the matter among themselves, and finally announced their decision that the young man should pay a cow. He then spoke, just a word or two, but the effect on the chiefs was electrical. He declared he didn't care what they said, they were shami („good-fornothing chiefs"). I thought Mungaila (einer der Hauptlinge) would go out of his senses. Hitherto everything had been quiet and orderly, now it was Bedlam let loose. Mungaila screamed and gesticulated; all the rest of the chiefs did the same. The cry was, „He curses us". After quiet was restored you could still hear Mungaila ejaculating Weh! very disgustedly. Finally they declared the young man should be banished" x). Neben den antisozialen gibt es aber innerhalb des regelmassigen Gruppenlebens noch viele andere freie, erlaubte Differenzierungsbeziehungen, besonders solche emotioneller Art. In einer weiteren Arbeit hoffen wir diese Seite unserer Frage ausführlicher zu behandeln. Welche Art Beziehungen wir hier meinen, wollen wir an einem Beispiel aus Pechuël Loesche verdeutlichen. Er teilt mit, dass die Bafioti keine Liebe für Tiere besitzen. Der oft so glanzende Beobachter ist hier j edoch zu früh zu einer Verallgemeinerung gekommen. An einer anderen Stelle erzahlt er namlich eine reizende Szene zwischen einem jungen Madchen und einem Gorilla: „Unser Gorilla hatte ein liebenswürdiges, unvergleichlich anmutiges Madchen in sein Herz geschlossen. Sie hiess Nkambisi, und besass in hohem Grade, was wir sonnige Heiterkeit und vornehme Gelassenheit nennen. Der Gorilla war, wie bei Tieren manchmal zu beobachten, von ihren Bewegungen und namentlich von ihrer Stimme förmlich bezaubert. Und in *) The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, i, s. 353. (Der Bericht stellt eine günstige Ausnahme in der ethnographischen Literatur dar. Leider fehlen uns im allgemeinen noch genaue Angaben über Verlauf und Haufigkeit ahnlicher Falie). der Tat hatte Nkambisi auch ein Organ von seltenem Wohllaute, dabei so biegsam und ausdrucksfahig, dass sich ihr Sprechen wie Musik anhörte. Als der Gorilla schwer erkrankt war, besuchte sie ihn und gab sich viel mit ihm ab wie mit einem leidenden Kinde, pflegte ihn und hielt ihm lange, drollige Reden, dass er nicht mehr im Hofe herumspiele, nicht mehr die Marktkörbe der Hökerinnen untersuche und seinen Vatern, damit meinte sie uns, so viel Sorge bereite" 1). Wir haben es hier mit einem Verhalten zu tun, das nicht durch eine Sitte geregelt, andererseits aber vollkommen erlaubt ist und zugleich einen spontanen und individuellen Charakter tragt. •) Volkskunde von Lango, S. 70. III. KAPITEL. RELIGION, ZAUBEREI UND MEDIZIN. 1. ALLGEMEINE BEMERKUNGEN. Von dem Gesamtgebiet des primitiven Lebens ist die Weltanschauung wohl am ausführlichsten ethnologisch behandelt worden. Den Gründen dafür nachzugehen, liegt nicht in unserer Absicht. Wir müssen aber die merkwürdige Tatsache feststellen, dass man trotz der Jahrzehnte eifriger ethnologischer Forschung auf dem Gebiete von Religion, Zauberei usw., die individuelle Seite des geistigen Lebens noch sehr wenig untersucht hat. Diskussionen über das Wesen des Animismus, Praanimismus, Monotheismus, sowie Entwicklungsprobleme erforderten die ganze Aufmerksamkeit. Ohne der Wichtigkeit dieser Fragen Abbruch tun zu wollen, bedauern wir es doch, dass man sich fast ausschliesslich mit ihnen beschaftigt hat. Es gibt Ausnahmen, aber im allgemeinen wird die Behandlung der kollektiven Seite des primitiven Lebens bevorzugt. Nun ist das aus verschiedenen Gründen wohl verstandlich. Einmal geben die ethnographischen Berichte sehr wenig Auskunft über individuelle Erscheinungen, oder zum mindesten haben die Ethnographen noch sehr wenig systematisches Interesse für sie. Zweitens hat die Ethnologie sich in einer Zeit entwickelt, in der man besonderes Interesse für Entstehungsfragen hatte. Die primitive Weltanschauung wurde und wird noch oft als ein Anfangsstadium einer Entwicklung gesehen, ohne dass man für die eigenen Werte dieser Weltanschauung ein Auge hatte. Genetische Fragen wurden so mit metaphysischen verquickt. Drittens ist die differen- tielle Psychologie noch sehr jung und besonders die Verwertung ihrer Ergebnisse für die Religionswissenschaft ist noch im Anfangsstadium. Allgemeine Glaubensvorstellungen stehen in ethnologischen Untersuchungen noch einseitig im Vordergrund, wodurch der Schein erweckt wird, alsob nur „Kollektiv-Vorstellungen" bestünden. Ob das richtig ist oder nicht, werden wir weiterhin sehen. Aber schon aus allgemein psychologischen Gründen darf gesagt werden, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass bei den Primitiven nur allgemeine Vorstellungen bestehen. Auch bei uns hat es ja in der Religionswissenschaft eine Zeit gegeben, in der man nur Dogmen und schriftlich bezeugte Vorstellungen untersuchte. Die Religionspsychologie hat hierin Veranderung gebracht, denn sie versucht die religiösen Erlebnisse kennen zu lernen, deren Inhalt oft stark von den allgemeinen Vorstellungen abweicht und mit der psychischen Differenzierung der Individuen zusammenhangt. Man denke nur an das Mittelalter und an das Vorkriegs-Russland, wo sich unterhalb der starken kollektiven Einflüsse in der Religion der persönliche Glaube in einer grossen Anzahl von Sekten einen Ausweg suchte. Auch bei Primitiven besteht eine psychische Differenzierung. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass sie auf die allgemeine Vorstellungen in verschiedener Weise reagieren, auch wenn die kollektiven Einflüsse sehr stark sind. Diese Wechselwirkung zwischen individuellen religiösen Gefühlen und allgemeinen Glaubensvorstellungen naher zu studieren, ware eine schone Aufgabe für Ethnographen mit psychologischem Verstandnis. Die Ethnologie verfügt noch über viel zu wenig einschlagiges Material. Von ungünstigem Einfluss auf die Erforschung der individuellen Erlebnisse war es auch, dass man primitive Vorstellungen meistens einseitig als „Aberglauben" usw. gewertet hat. Dass diese Vorstellungen von vornherein unrichtig waren, davon war man fest überzeugt. Seit aber eine neue Wissenschaft, die Parapsychologie, sich mit derartigen Problemen beschaftigt, scheint doch einige Vorsicht in unseren Bewertungen geraten. Jedenfalls müssen wir versuchen, psychologische und metaphysische Fragen in der Erforschung der primitiven Weltanschauung so viel wie möglich zu trennen. 2. berufliche differenzierung: priester, zauberer, me- dizinmanner, propheten. Dass es bei den Primitiven Personen von hervorragender Bedeutung gibt, zu denen neben den Hauptlingen bei den höheren Naturvólkern die Priester, Zauberer usw. gezahlt werden, wird auch von den Anhangern der kollektivistischen Theorie nicht geleugnet. Insofern hatte es also keinen Zweck, ihre Bedeutung im primitiven Gruppenleben besonders hervorzuheben. Weil aber diese Bedeutung fast ausschliesslich dem Glauben der Stammesgenossen an ihre magischen Fahigkeiten und Eigenschaften zugeschrieben wird, müssen wir uns die Frage vorlegen, ob nicht auch rationelle Faktoren zu ihrem Erfolg oder Misserfolg beitragen können, d.h. auf welche Weise sie psychisch von ihren Stammesgenossen differenziert sind.. a. Priester. Bei den Thonga und Ba-ila besteht keine eigentliche Priestergruppe *). Die Ahnenverehrung innerhalb des Familienkreises spielt hier noch eine grosse Rolle. Die BaVenda dagegen haben Priester. Nach Stayts Angabe ist das Priesteramt schon seit Generationen in bestimmten Familien erblich 2). Sie sind Priester der Mwari (der Gottheit). Nach Posselt hatte der Mwari-Kultus in früheren Zeiten grosse Bedeutung im Stammesleben. „The Mwari cult was esoterie and its details known only to the priests, who carefully guarded their secrets" 3). Über die Weise, in der jemand Priester wird, wird uns wenig mitgeteilt. Posselt berichtet nur: „The „divine" call appears to have been signified by fits whether of an epileptic nature or not is uncertain" 4). Bei den Bafioti konnte jeder Freie die Würde des Erdpriesters erlangen. Er musste aber „unbescholten, gesund und fehlerlos an seinem Leibe sein." 5) ^ Thongas have no sacerdotal caste." (Tunod, II s. 411). Von (I^1 r78)beriChten SMITH UnC' ^>ALE: ..There is no organised priesthood" 2) The BaVenda, S. 259. !) F. Posselt: Some notes on the Religious Ideas of the Natives of bouthern Rhodesia, South African Journal of Science 1927 S 531 4) a.a.O., S. 531. ... 5) Volkskunde von Loango, S. 286. In Westafrika besteht ein ausgepragtes Priestertum. Uber die Berufung und Ausbildung der A shanti-I'viester gibt Rattray ausführliche Mitteilungen. Ich entnehme ihm folgendes: „The novitiate and training undergone by an Ashanti priest, a first-hand description of which will now be given, is a long, trying, and very serious business, and even when a man is fully qualified the profession of priesthood is no sinecure. Most, if not all, Ashanti priests and priestesses will state that thé reason they first adopted their profession was because they discovered that they were subject to possession by some spirit influence. They might have been going about their ordinary tasks, but more often were attending some religious ceremony, when suddenly, and without previous warning, they heard „the voice of Tano" or of some other god, or feil down in a fit, or went into a trance. Some fully qualified priest or priestess would then be called in to interpret this phenomenon and would probably say that it is the spirit of such and such a god „who wishes to marry" that person. The subject of these fits would then probably decide, or be persuaded, to enter and train for the priesthood, and would therefore enter the service of some fullfledged priest of the particular god, whose spirit he has been told has manifested itself in him. What now follows is mainly a translation of an account given me by a qualified priest. It is the fullest description I have ever been able to obtain, but I have no doubt it is very far from being complete. Many of this priest's statements are corroborated by fragments of information gathered from time to time from other sources. As may be easily imagined, it is difficult to obtain full knowledge of such a delicate subject. „The novitiate lasts three years. The neophyte has to leave his own home and go to reside with his new master, if he is a married man he must also leave his wife, with whom he may no longer cohabit until his three years training has come to an end; if he is unmarried, he must remain chaste for the three years. In the case of a neophyte already married, his wife, if she does not wish to wait for him, may obtain a divorce; „if she loves her husband, she will wait for him". „The period of training seems to fall into three clearly marked sessions, each of a year's duration. As far as I can gather the first year is occupied in ceremonial ablutions, „bathing with medicine"." *) „These various lustrations are intended to bring the nkomoa (spirit of possession) upon the pupil. The bathings at the cemetery are in order to get into contact with the samanfo (spirits of dead men). — Should a priest in training break his vow of celibacy he must make a sacrifice to his own obosom and also the obosom of the master who is training him, and begin his training all over again. „Besides the taboo of sexual intercourse the novice must observe: 1. All the taboos of his own god. 2. All the taboos of the new god whose priest he is striving to become. „All this time he lives with the priest, helps him in his farm, and at night sleeps in the temple beside the shrine of the god whose service he has entered. During the first year the novice may not use any but cold water for his ablutions, nor may he use a soap or a sponge. On holy days he will return to his own village and give his own obosom an offering. The old priest who is training the novice keeps the latter under constant observation during the whole year. He is not told anything very secret; should he not prove obedient and attentive to instruction, his family is informed that the novice is not likely to make a good priest, and his training will cease. — „On the god's ceremonial days the novice fasts all day. He must never, in fact, eat too much, but he sits with food before him. His locks will remain uncut. „There is little difference between a would-be priest and a madman", said my informant. The taboos or prohibitions which he must observe vary according to the particular god to whose service he has dedicated himself" 2). Als individuelle Faktoren können wir hier unterscheiden: 1° Die persönliche Berufung. Der Betroffene wird zwar von einer überindividuellen Macht, einer Gottheit, ergriffen, er >) Rattray, Religion and Art in Ashanti, Oxford, 1927, S. 40, 41. ') a.a.O., S. 42. hat indessen sehr persönliche Erlebnisse, was auch immer ihr Ursprung sein mag. Die Berufung stellt eine Beziehung zwischen Gottheit und Individuum dar. Sie ist also ein Vorgang, an dem die Gruppe als solche keinen Anteil hat. 2°. Obwohl mit der Ausbildung des Priesters Gruppenfaktoren eintreten, bleibt das persönliche Element sehr wichtig: auf Entsagung, Ausdauer, Abhartung, Starkung der Willenskraft und Einsamkeit wird viel Wert gelegt. Spieth gibt ausführliche Mitteilungen über die -Ewe-Priester. Die Ewe haben Priester für den Verkehr mit den Göttern und mit den trowo, den Geistern. Bei den Göttern sind zu unterscheiden: Mawu, der Hauptgott, und die Erd-Gottheiten. Uns interessiert hier besonders die Priesterwahl. „MawuPriester müsste von rechtswegen jeder Reiche und jeder Alte sein" x). Es scheint aber, dass nicht jeder Reiche und Alte Lust hat, Priester zu werden. Ein gewisser Zwang besteht bei der Wahl. „Der eigentliche Mawu-Priester wird ernannt. Wenn die tro-Priester sehen, dass jemand reich und angesehen wird, so fassen sie ihn ins Auge. Arbeitet er am Freitag und Sonntag auf dem Acker, so wird schon ein leichtes Unwohlsein, das ihn befallt, damit in Zusammenhang gebracht. Fragt der Kranke die Priester nach der Ursache, so sagen sie ihm: „Gott lasst dir sagen, du behandelst ihn als ein Kind. Er sei kein Kind, dessen Altersgenossen am Freitag und Sonntag auf dem Acker arbeiten. Er habe dich begleitet, du aber habest auf dem Acker gearbeitet. Deswegen habe er Unglück über dich verhangt. Willst du wieder gesund werden, so musst du Gottespriester werden und Gott Opfer bringen" 2). An einer anderen Stelle sagt Spieth, dass der Priester von Mawu selbst erwahlt wird 3). Der Priesterweihe gehen lange Vorbereitungen voraus. Wie die Wahl der MawuPriester im Einzelnen zustande kommt, geht aus seiner Schilderung nicht mit Sicherheit hervor. Genauer sind Spieths Mitteilungen über die Wahl der Erdgötter-Priester. Die Erd- ') Spieth, Die Religion der Eweer in Süd-Togo, Göttingen, 1911, S. 18. ') Die Ewe-Stamme, S. 18. ') Die Religion der Eweer in Süd-Togo, S. 26. gottheiten sind ihrer Herkunft nach entweder Erb- oder Wandergötter. Uber ihre Priester wird nun folgendes berichtet: „Der Priester eines Erbgottes wird durch Erbnachfolge, der Priester eines Wandergottes dagegen durch freie Wahl seines Gottes selbst bestimmt. Nun kommt es aber haufig vor, dass sich ein zum Erbpriester ausersehener Mann weigert, den Dienst anzunehmen. Ein solcher wird dann entweder durch den Willen der Hauptlingschaft oder aber durch eine, von dem verschmahten Gott erzeugte Krankheit zu Annahme des Priesteramts gezwungen. Die Wandergötter ,erf assen' die von ihnen erkorenen Priester und Priesterinnen derart, dass Körperzuckungen, Schlafsucht und sonst ungewöhnliche Krankheiten das sichere Zeichen dafür sind, dass ein Gott bei ihnen wohnen will. Beim Tod eines Priesters springen diese Götter auf irgend einen andern, ihnen beliebigen Menschen über, um diesen fortan zum Priester zu haben" x). Uber die „Erfassung" durch die tro-Gottheit teilt Spieth noch folgendes mit: „Wird in einem Familienteil ein von den Vatern ererbter tro verehrt, so offenbart er sich einem der mannlichen Familienglieder dadurch, dass er ihn krank werden lasst, dass derselbe irgendwelche Zuckungen oder Anfalle verschiedener Art bekommt. Der herbeigerufene Priester untersucht das Leiden und erklart, dass der Familien tro den Kranken mit der Absicht ,erfasst' habe, bei ihm, als seiner Frau, bleiben zu wollen. Als ausseres Abzeichen wird dem Erwahlten eine Schnur um seinen Hals gebunden. „Sehr haufig ergreift der tro die Leute auf dem Weg zum Brunnen. Das Ergriffene fangt nach seiner Rückkehr mit dem gefüllten Wassertopf auf dem Kopfe zu tanzen an, wobei es das Wasser über sich herunter schüttet. Will ihm jemand den Topf vom Kopfe nehmen, so weigert es sich solange, bis es damit in das Haus eines Priesters gekommen ist. Von letzterem lasst es sich den Topf willig herunter nehmen. Daran erkennt man aber, dass das Betreffende von dem tro dieses Priesters befasst worden ist. Sobald es vom Priester etwas Medizin bekommen hat, hört es auf zu wackeln und zu ') Die Ewe-Stamme, S. 445. zittern und geht nach Hause. Wenige Tage spater aber wird es wieder vom tro ergriffen, wackelt und zittert wieder. Nun fangt das vom tro Ergriffene an, zum Priester zu gehen und dieser führt es in alle Handlungen und Gebrauche des tro ein. Geht der Priester irgendwohin, um die Sache seines tro zu machen, so tragt ihm sein neuer Schüler den Stuhl und fasst dort alles genau ins Auge, was der Priester macht. Von dem Augenblicke an, wo es vom tro ergriffen war, halt es sich viel im Zimmer auf, um dort zu lernen und sich in die Geheimnisse der Zauberei einführen zu lassen. Nach 3—4 jahrigem Unterricht kann sich der tro öffentlich zeigen" x). Wir haben es hier, wie bei den Ashanti-Priestern, mit einem persönlichen Erlebnis zu tun. Inwieweit ein Unterschied zwischen blosser Erbnachfolge und Berufung durch eine Gottheit gemacht werden muss, ist schwer zu sagen. Die Mitteilungen Spieths erwecken den Eindruck, dass auch die Erbnachfolge nicht automatisch vor sich geht, sondern dass übernatürliche Machte auf die Wahl einwirken. Andererseits ist die Wahl durch eine Gottheit nicht rein persönlich, sondern auf einen Familienkreis beschrankt. Leider findet man keine weiteren genauen Angaben. In „Das Eingeborenenrecht" wird über die Ewe-Priester nur berichtet, dass ihr Amt meist an derselben Familie haftet 2). Über die Togo-Stamme wird noch mitgeteilt, dass in Kunja die Priesterwürde sich vom Vater auf den Sohn vererbt. In Akposso, bei den Konkomba, in der Landschaft Moba, in Dagomba, Adela, Kratschi, Tschandjo, Kubares, Losso erganzen sich die Fetischpriester stets aus derselben Familie 3). Für uns ist hier wichtig, dass die differenzierenden Faktoren in der Form persönlicher Erlebnisse am starksten beim Besessensein durch eine Gottheit hervortreten. Wie die Dinge bei der Erbnachfolge liegen, ist weniger klar. Wahrscheinlich spielt der traditionelle Faktor, die Vererbung der Würde vom Vater auf den Sohn, eine wichtige Rolle. *) Die Religion der Eweer in Süd-Togo, S. 41. ■) A. Schlettwein in Bd. ii, S. 25. 3) a.a.O., S. 26. b. Zauberer. Die in der Ethnologie gemachte Unterscheidung zwischen sozialer und asozialer, weisser und schwarzer Magie trifft auch für die hier untersuchten Stamme zu. Leider ist es noch sehr schwierig, eine allgemein gültige Terminologie für die Funktionen der Zauberer zu finden. Einmal sind die Unterscheidungen, die in den ethnographischen Beschreibungen gemacht werden, von sehr ungleicher Genauigkeit und zweitens ist die Magie noch wenig nach der funktionellen Seite hin untersucht worden. In grossen Zügen aber scheint die genannte Unterscheidung hier anwendbar. So ist nach Junod der Unterschied zwischen beiden Gruppen folgender: 1° Die Arbeit der Zauberer [magicians] ist nicht geheim. Sie treten öffentlich auf. 2° Sie werden für ihren Beruf ausgebildet und müssen geweiht werden. 3° Sie verwenden keine Gifte wie die Hexen, sondern heilkraftige Krauter oder andere Gegenstande, denen eine aussergewöhnliche Kraft innewohnt. 4°. Die Zauberer sind Stützen der Gesellschaft und keine Verbrecher wie die Hexen 1). Wir wollen uns hier zunachst mit den berufsmassigen, anerkannten Zauberern befassen. Junod gibt einige interessante Berichte über Thonga-Zauberarzte. Ich entnehme seiner Beschreibung folgendes: „Mankhelu, with his forked branch, was a medicine-man of the highest rank, owing to his calabashes containing a mixture of all the most powerful drugs, salted with Rivimbi's sea charms. He was a magician, being a rammaker, a detector of baloyi, and, in particular, a successful bone-thrower, but he seemed to be entirely ignorant of the art of exorcism. — Makasana, on the contrary, a Thonga from the Leydenburg district, had acquired his power after passing through the ordeal of exorcism and had obtained the drugs of his exorcist". — „Possessing all these drugs Makasana was at the same time exorcist, witch-doctor, medicine-man, and magician of Heaven. The last qualification was perhaps his principal one; he told me that he had to fight against col- l) Junod, The Life of a South African Tribe, II, S. 516 ff. Vgl. auch: E. E. Evans-Pritchard, Sorcery and Native Opinion, Africa, Bd. IV, S. 26 ff. leagues, who wished to test him by means of their own charms1). Von einem anderen Zauberarzt, Nwashihandjime, heisst es: „.... the great Nkuna magician, a splendid creature, tall, his éyes beaming with a kind of supernatural light" 2). Junod gibt keine Einzelheiten über die Auswahl und Ausbildung der Zauberarzte. Von den Wahrsagern [diviners] aber, deren Funktion oft mit der des Zauberarztes zusammengeht, schreibt er: ... every one is not a diviner and an initiation is necessary to become a fully qualified practitioner. If a young man feels that he has the qualities of perspicuity and shrewdness necessary for the practice of the art, he begins by collecting the astragalus one after another" 3). Dann geht er zu einem erfahrenen Wahrsager der ihn in seine Kunst einweiht. Am Ende seiner Lehrzeit muss der Kandidat eine Probe bestehen. „The new diviner must then show his powers of divination: all his astragalus being mixed with those of the master, he must piek them out without a mistake, calling them by the name he has given them. If he fails, the trial must be gone through again later; he returns home and the bones are given a rest; he then comes another day and the two sets are again dipped, this time into beer; the beer is drunk by both the master and the apprentice, the bones are washed and thrown, and the latter must now piek them out again. He will probably succeed, and so become a master 4). Diese Probe stellt in unserem Zusammenhange eine sehr interessante Erscheinung dar. Sie zeigt namlich, dass die Fahigkeiten eines Wahrsagers im Glauben der Eingeborenen nicht bloss magische und infolgedessen mehr oder weniger unpersönliche Krafte darstellen, sondern weit rationellere Elemente enthalten. Es wird eben an eine objektive Fahigkeit geglaubt. Nach Junod bleibt eine sehr enge Beziehung zwischen dem Zauberarzt und seinem Schüler fortbestehen 5). Die Tatsache >) Junod, The Life of a South African Tribe II, S. 519. 2) a.a.O., S. 520. 3) Junod, II, S. 564. ') a.a.O., II, S. 566. «) a.a.O., S. 567. weist auf eine gewisse, innerhalb des Gruppenlebens bestellende Freiheit zur Bildung zwischenmenschlicher Beziehungen differentieller Art hin. Was nun wirklich das persönliche Element in der Beziehung darstellt, ist natürlich schwierig festzustellen. Sie wird uns nur als eine Tatsache mitgeteilt. Ihrer Art und Funktion im Gruppenleben nachzugehen, muss weiterer Untersuchung vorbehalten bleiben. Smith und Dale unterscheiden bei den Ba-ila den „diviner" und den „doctor". Der Wahrsager ist „essentially a revealer: things that are hidden from ordinary view he can discover and make known. Hence, he is called upon to find things that are lost, to detect thieves, to tracé straying cattle, to determine the identity of the child that is born and so on". — „He reveals not only what the disease is, but also its cause, and often tells what the medicine is and from what doctor it may be procured. He tells also whether the death was due to witchcraft or to the divine will" x). Die Praxis der alten Wahrsager wird jeweils kauflich erworben. Ihr Einkommen hangt von ihren Fahigkeiten und ihrem Erfolg ab 2). Die BaVenda haben ebenso Wahrsager und eigentliche Medizinmanner. Die letzteren sind die zahlreichere Gruppe. Von beiden sagt Stayt, dass ihr Ruhm von ihren persönlichen Fahigkeiten und ihrer Kenntnis abhangt 3). Ihr Beruf ist erblich: für gewöhnlich erbt ein Mann seine Kenntnisse von seinem Vater und eine Frau von ihrer Mutter. Wenn jemand ausserhalb des Zauberer- und Medizinmannerstandes den Beruf zu lernen wünscht, muss er sich unter die Leitung eines angesehenen Meisters stellen 4). Pechuël-Loesche gibt eine Fülle von Material über das Fetischwesen bei den Bafioti. Über die Ausbildung der Fetischdiener berichtet er Folgendes: „Ihre Kunst erlernen sie wie einen Beruf, indem sie gegen Entgeit bei Erfahrenen in c S^!JrTH„und Dale' The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, 1, o. 265 ff. ') a.a.O., S. 266. ') The BaVenda, S. 262. 4) a.a.O., S. 264. die Lehre gehen. Allmahlich eignen sie sich das überlieferte Wissen von der Schwarzkunst und der Weisskunst an, von den Hexengiften und dem in besonderen Fallen wirksamen Gegenzauber, von den verschiedenen Kraften der Fetische und den zu ihrer Erhaltung notwendigen Regeln. Zuletzt werden sie eingeweiht, ngilingili und Fetische zuzurichten, und erfinden selbst vielleicht neue Mischungen von erstaunlicher Wirksamkeit" x). Unter den Zaubermeistern existiert eine weitgehende Differenzierung. Nicht jeder hilft in allen Fallen. „Zum Beispiel untersucht der eine, ob jemand einfach krank ist, und behandelt die Krankheit oder lasst einen anderen rufen, der gerade darin erfahren ist. Scheint dem sein Leidender besessen zu sein, so löst ihn ein dritter ab, der besonders mit Besessenen und Seelen umgehen kann. Mutmasst der Behexung, so hat ein vierter darüber zu befinden, ob es stimmt, alsdann hat ein fünfter die Hexe auszuspüren. Erst der sechste übernimmt vielleicht die Durchführung der Giftprobe. Je ernster die Angelegenheit, desto mehr Meister, namentlich entfernt wohnende, werden damit betraut" 2). Die Banganga gebieten mehr oder weniger über Krafte, die an ihre Persönlichkeit gebunden sind. Sie werden von den Glaubigen gwissermassen für lebendige Fetische gehalten3). Es geht daraus hervor, dass der Beruf der Zaubermeister in der Vorstellung der Eingeborenen ein sehr persönlicher ist. Nur die klugsten Meister können die starksten Fetische herstellen 4). Es bestehen aber nicht nur in der Fahigkeit Unterschiede zwischen den einzelnen Zauberern, sondern auch in ihren Bestrebungen, ihrer Wissensbegierde und dem Interesse an der Zauberei. Nicht alle namlich streben nach dem höchsten Grade der Ausbüdung. „Die meisten begnügen sich mit dem Erlernen des alltaglichen Zauberns, überhaupt der kleinen nützlichen Künste für den eigenen Gebrauch, sowie mit einer mehr oder minder oberflachlichen Kenntnis von der Natur ») Volkskunde von Loango, S. 446. a) a.a.O., S. 405. 3) a.a.O., S. 440. 4) a.a.O., S. 408. und dem Wirken der Krafte. Sie wollen nicht praktizieren. Aber sie gefallen sich darin, um ihrer Schulung in der Geheimwissenschaft willen, der grossen Menge gleichsam als Studierte, als Gebildete überlegen und gegen Ubel besser geschützt zu sein". 1). Gelegentlich treten auch wohl Personen als Zauberer auf, die nicht den üblichen Unterricht genossen haben, sondern ihre Weisheit selbst gefunden oder irgendwie ererbt haben wollen. „Die Zünftigen eifern allerdings gegen solche unliebsame Genossen und brandmarken sie als Tauscher und Kurpfuscher, doch, wie überall unter der Sonne, ohne durchschlagenden Erfolg. Die anerkannten Meister sind ja auch nicht einig miteinander. Warum soll sich nicht Ausserordentliches ereignen? Auch solche Leute finden Glaubige. Sind sie klug und geschickt, werden sie vom Zufall begünstigt, dann mögen sie die geschulten Gegner weit überflügeln. Man hört und sieht, streitet, versucht, wird überzeugt oder enttauscht. Wie bei Zivilisierten" 2). Pechuël-Loesche betont, dass die Zauberer der Bafioti ihre Kunst nicht durch Vermittlung der Geister erhalten. Eigene Begabung und Ausbildung sind nach ihrer Oberzeugung die zwei Hauptbedingungen für Erfolg. „Keiner der Kundigen hat sich jemals mir gegenüber vermessen, dass er, gleich einem Medium, mit irgendwelchen Wesen aus dem Jenseits verkehre und daher seine Krafte, sein Wissen habe, und niemals hat sich vor meinen Augen ein Nganga danach betragen, dass anderen glaubhaft werden sollte, es ware der Zaubermeister Art, überhaupt mit Geistern zu verkehren. Es ist das kaum nachdrücklich genug hervorzuheben. Einer meint, die Gabe und Kraft stecke in ihm, weil er ein geschulter tüchtiger Mann sei, ein anderer hat sie sich umstandlich erworben. Zu diesem Zwecke befolgt er gewisse Regeln, wendet er gewisse Kunstgriffe an, um, wie bei der Herstellung von Fetischen, sich selbst die gewünschten Krafte einzuverleiben. Er sondert sich ab, schweigt, fastet oder geniesst wenigstens nur bestimmte Nahrungsmittel, richtet sein ganzes Verhalten ') a.a.O., S. 446. a) a.a.O., S. 447. in besonderer Weise ein und isst und trinkt eigens zubereitetes ngilingili" 1). Spieth gibt ausführliche Berichte über die Zauberei bei den Ewe, die nach ihm im öffentlichen wie im privaten Leben eine grosse Bedeutung hat. Uber die Ausbildung der Zauberer jedoch finden wir bei ihm wenig Angaben. Zauberer wird jeder, der allmahlich viele Zaubermittel gesammelt hat 2). Die Zauberer bilden einen Stand, der eine eng zusammenhangende Gruppe darzustellen scheint. „Die einzelnen Zauberer schliessen gegenseitig feste Freundschaft. Diese hat den Zweck, dass sie sich zu neuen Zaubermitteln verhelfen." — „Eine solche Freundschaft ist sehr eng, auch wenn die Freunde weit auseinander wohnen. Wird einer der Freunde durch irgend jemanden geargert, so hat jeder die Pflicht, eine sich darbietende Gelegenheit zu benützen, um den Gegner aus dem Leben zu schaffen" 3). Spieth spricht von einem „sehr berühmten und gefürchteten Zauberer" 4), was auf Unterschiede unter den Zauberern hinweist. Die berufsmassigen Zauberer bei den Kpelle lemen ihre Kunst in der Poroschule, also im Geheimbund. Sie ist „Gegenstand eines besonderen Studiums, das von alten Zauberern und dem Obmann des Bundes geleitet wird und natürlich auch höhere Bezahlung verlangt" 5). Der Porokursus erstreckt sich auf mehrere Jahre, und, da sich auslandische Zauber eines besonderen Rufes erfreuen, besuchen angehende Zauberer nach Vollendung des Kursus noch benachbarte Stamme, d.h. die Vai, Bassa, Gola, De und Mende, und erweitern ihre Kenntnis als Schüler der fremden Doktoren6). Die Kpelle glauben, dass Zwillinge für den Beruf des Zauberers besonders geeignet sind. „Sie besitzen von Geburt an ungewöhnliche Krafte und werden überall, wo es sich um wichtige Zauberunternehmen handelt, zu Hilfe gerufen" 7). Merkwürdig ist *) a.a.O., S. 440 ff. а) Die Ewe-Stamme, S. 255. 3) Die Religion der Eweer in Süd-Togo, S. 257. 4) Die Ewe-Stamme, S. 529. 5) Westermann, Die Kpelle, S. 211. б) a.a.O., S. 211. ') a.a.O., S. 212. hier die Tatsache, dass eine Differenzierungsform körperlicher Art, die zunachst gar nicht eine psychische Differenzierung mit sich zu bringen braucht, hier soziale Bedeutung erlangt. Die Gruppe legt dem Einzelwesen in subjektiver Weise Eigenschaften bei, die ihm auf Grund einer ausserlichen Sonderstellung zugeschrieben werden. Es ware von Interesse zu sehen, wie sich diese subjektive Übertragung auf das Selbstbewusstseins des Individuums auswirkt. Es gibt bei den Kpelle neben den eigentlichen Zauberern auch Personen, die sich mit dem Einfangen und Unschadlichmachen der Wulu, der bösen Geister, beschaftigen. Das Amt der Geisterfanger gehort gewissen Familien an und vererbt sich in ihnen durch viele Generationen vom Vater auf den Sohn 1). Diese Familien stehen nach Westermann in hohem Ansehen und sind neben denen der Oberhauptlinge oft die einzigen, in denen das Gedachtnis der Vorfahren sich lebendig erhalt 2). An anderer Stelle aussert sich genannter Verfasser zusammenfassend über die Inhaber religiöser Amter (Leiter der Geheimbünde, Sandschlager, Zauberer, Geisterfanger, Ordalleger): „Ihr Amt verschaf ft ihnen meist so reichliche Einkünfte, dass bei ihnen die Feldarbeit in den Hintergrund tritt; sie besitzen wohl Acker, lassen sie aber durch andere bewirtschaften. Ihr Ansehen würde es zudem fast unpassend erscheinen lassen, dass sie sich mit derlei Dingen beschaftigen. Der Beruf dieser Leute hebt sich von den anderen auch dadurch hervor, dass er sich vom Vater auf den Sohn vererbt und so durch lange Zeiten in derselben Familie fortlebt" 3). c. Medizinmanner. Von den Thonga-Medizinmannern berichtet Junod, dass sie ihre Kenntnis meistens vererben. „Certain drugs have been tried, and used for years, by a certain individual, who probably owed them to his father, or to another of his ancestors. Before his death he transmitted his art to his son, or to his uterine nephew, the one *) a.a.O., S. 106. 2) a.a.O., S. 186. ') a.a.O., S. 74. of his descendants who seemed to be „induced by his heart" to enter the profession" 1). Zwei Faktoren müssen bei diesem Sachverhalt unterschieden werden: 1° Der Beruf ist erblich. Das bedeutet einerseits Differenzierung, da in diesem Falie die medizinische Kenntnis nicht allgemein ist, sondern auf gewisse Familien beschrankt bleibt. Andererseits bedeutet dieses Berufsmonopol aber zunachst nur eine Gruppen-, noch nicht eine individuelle Differenzierung. Tradition und Gruppenegoïsmus können hier eine grosse Rolle spielen. 2°. Die Tatsache aber, dass der Beruf auf dasjenige Familienmitglied übergeht, das sich am meisten dazu beruf en fühlt, weist darauf hin, dass sich hier auch individuelle Differenzierung einstellt. Unter den Medizinmannern, z.B. der Thonga, sind zudem Unterschiede im medizinischen Wissen vorhanden. DieseUnterschiede sind teilweise sozial bedingt, namlich durch die Tatsache, dass gewisse Familien sich spezialisiert und dadurch ein Monopol für die Heilung bestimmter Krankheiten erworben haben. Es kommen jedoch auch individuelle Faktoren hinzu. Der Medizinmann ist oft mit dem ererbten Wissensschatz nicht zufrieden, sondern experimentiert weiter und erweitert so auf ganz individuelle Weise seine Kapazitat. Auch die Unterschiede im Ansehen werden meist in den persönlichen Fahigkeiten der betreffenden Medizinmanner, seien sie nun objektiv oder subjektiv gesehen, ihre Ursache haben. Aus der folgenden Beschreibung Junods geht der verwickelte Charakter der Differenzierungserscheinungen naher hervor. „Medicine-men differ very greatly as regards competence. Some only treat one complaint, or one category of patients, because they only know the medicine which applies to them. For instance Eliashib, one of our first converts, a native of Khosen, had only one drug, the bark of a certain tree which possessed terrible purgative powers, and he prescribed it in every case, half killing those who came to him for treatment, and who had all the more confidence in the drug because it came from a distant land. Eliashib *) Junod, The Life of a South African Tribe, II, S. 453. was hardly a nanga. Sam Ngwetsa, my Rikatla neighbour, was a physician for infantile diseases only. He knew the milombyana prescription and how to biyeketa, and people used to ask for his assistance as a specialist in this domain alone. We have seen that there is also a special doctor who boasts of being able to treat the dangerous condition of the mother of twins, and another who treats leprosy, this latter being regarded as the most skilful of all. Spoon-Elias had a more extensive knowledge of the popular 'materia medica' than Sam, but he was still only a beginner. His Nondwana colleague, Kokolo, was vastly superior, — an individual in the prime of life, wearing the black crown which distinguishes the notables of the land. He belonged to an ancient family of doctors; his father Mankena and his grandfather Mahlahlana practised before him, and bequeathed to him the valuable legacy of their experience. Tobane, to whom I applied to put me in touch with some really clever practitioners, said of this man: „Awa daha!" — „He is one who succeeds in his cures!", adding with a look of profound respect: „It seems that even the Whites of Lourengo Marqués consult him!" And Kokolo, without too much persuasion, showed me his drugs, and went to „dig" for some for my special benefit. I had to pay him fairly generously, as the gentleman does not work for nothing, and it was with an evident consciousness of his talent and powers that he explained to me the uses of his medicines. But the most distinguished medicine-man I ever met was old Mankhelu, who may be looked upon as one of the masters of the profession in the Thonga tribe" 1). Es besteht hier ein Durcheinanderwirken von objektiven und subjektiven Elementen. Der eine Medizinmann verfügt offenbar über eine umfangreichere Kenntnis oder über mehr Fahigkeiten als der andere. So wird Kokolo als „vastly superior" beschrieben. Daneben spielt aber hier der subjektive Faktor des Selbstbewusstseins eine grosse Rolle. Sie sind durchweg stolz auf ihre Kenntnis 2). Von einem Medizinmann ') a.a.O., S. 454. ') a.a.O., S. 452. wird z.B. mitgeteilt, dass er sich mit seiner Kenntnis einer gewissen Krankheit brüstet x), und von einem anderen, dass ér sich sichtlich seiner Fahigkeiten und Macht bewusst ist 2). Die Banganga [doctors] der Ba-ila unterscheiden sich nach Smith und Dale dadurch von ihren Stammesgenossen, dass sie mehr von Medizin und Zaubermittel wissen als jene und dass die Heilkunde ihren alleinigen Beruf bildet. Obwohl jeder Familie einige beliebte Heilmittel bekannt sind, beschrankt sich doch die eigentliche Medizinkenntnis und damit die Ausübung des Beruf es auf gewisse Familien 3). Von einem Medizinmann schreiben genannte Verfasser: „He derived his knowledge from his grandfather, who in his days was a noted physician" 4). Der Medizinmann ist ferner angst lich bemüht, die Geheimnisse seiner Heilkunst zu hüten 5). Bei den BaVenda ist der Beruf des Medizinmannes ebenfalls erblich. Jemand, der den Beruf erlernen will, muss sich unter die Leitung eines angesehenen Meisters stellen6). Individuelle Fahigkeit sowie Kenntnis von Krautern und anderen Heilmitteln sind nach Stayt die beiden Hauptfaktoren, die zum Ansehen eines Medizinmannes beitragen. Dazu kommt ferner sein suggestiver Einfluss und die anderen Wechselwirkungen zwischen ihm und seiner Umgebung. „When once a practitioner has proved his powers and established his reputation he can perform his rites and work his cures with the utmost confidence, believed and trusted implicity by the credulous people. While the magical element in the treatment is scientifically useless, the personality of the practitioner, often combined with undoubted hypnotic powers, and the stimulus and excitement caused by the divinatory ritual, fortified by the implicit faith of the sick person and his relations in the practitioner's powers, so ') a.a.O., S. 453. 2) a.a.O., S. 454. s) Smith und Dale: The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 272. «) a.a.O., S. 273. 5j 3, 3, O S 272. 6) Stayt: The Bavenda, S. 264. work on the mind of the patiënt that a cure is effected" 1). Auch bei den BaVenda ist der Beruf des Medizinmannes in weitgehendem Masse spezialisiert: „A practitioner may know the correct treatment for a very large number of diseases, but he may be skilled in the treatment of one alone; he may simply know the secret of one special medicine, which secret he has inherited from his father and which he preserves all his life, visiting the necessary trees and procuring the necessary animals in the strictest privacy. Obviously the profession is nearly as complicated as our own medical profession, and a patiënt or cliënt may have to consult two or three different dzinganga before his trouble can be cured 2). Die Heilmethoden sind auch bei den BaVenda das Monopol gewisser Familien. Die Ausbildung erstreckt sich für gewöhnlich auf zwei oder drei Jahre3). Bemerkenswert ist die von Stayt mitgeteilte Tatsache, dass, obwohl normalerweise die medizinischen Kenntnisse vom Vater auf den Sohn und von der Mutter auf die Tochter übergehen, der Erbnachfolger infolge eines im Traume geoffenbarten Wunsches der Ahnen, die aus irgendwelchen Gründen Bedenken gegen ihn haben, seine Rechte verlieren kann4). Es ist natürlich schwer zu sagen, inwiefern hier die bewussten oder unbewussten Wünsche der übrigen Familienmitglieder eine bestimmende Wirkung ausüben. Jedenfalls haben wir es hier mit einem Falie zu tun, in dem der traditionelle Ablauf der Erbnachfolge durch die Einwirkung persönlicher Faktoren gestort wird, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die gegebene Motivation, namlich die Missbilligung der Erbnachfolge durch die Ahnen, nur den auf die Ahnen übertragenen Wunsch der Familienmitglieder darstellt. Ob damit einer rationellen Einsicht oder bloss egoistischen Motiven Ausdruck gegeben wird, ist im gegebenen Falie schwer zu entscheiden. Der ethnographische Bericht ist hier, wie in l) a.a.O., S. 262, 263. ") a.a.O., S. 263. 3) a.a.O., S. 264. *) a.a.O., S. 264. den meisten Fallen, zu wenig in die Tiefe gedrungen und hat sich bloss mit der Mitteilung einiger Tatsachen begnügt, die an sich wichtig sind, deren Sinn innerhalb des ganzen Tatbestandes aber nur im Zusammenhang mit anderen, noch fehlenden Tatsachen verstanden werden kann. Die für die Zauberer der Bafioti gegebenen Mitteilungen treffen auch für ihre Medizinmanner zu. Auch sie bilden einen beruflichen Stand und müssen eine Ausbildung durchmachen 1). Wie bei den vorher erwahnten Stammen ist auch unter den Medizinmannern der Bafioti die Arbeitsteilung weit fortgeschritten. Pechuël-Loesche hebt hervor, dass die rationelle Kenntnis der Methoden bei der Ausübung ihrer Heilkunst eine wichtige Rolle spiele. „Die Arzneimeister sind Arzte in unserem Sinne, und wenn sie auch meistens der gleichzeitigen Anwendung zauberischer Kunstgriffe, ihrer Patienten wegen, nicht entraten können, so wissen sie doch mit bemerkenswertem Geschick Schaden und Krankheiten zu bekampfen. Sie haben ganz gute Heilmittel. Ihre Einsicht in anatomische Verhaltnisse, die übrigens schon durch das Vorhandensein eines überraschend reichen Wortschatzes im Munde des Volkes bewiesen wird, ihr Wissen von den Verrichtungen innerer Organe haben uns oft in Erstaunen gesetzt" 2). Gutmanns Mitteilungen über die Medizinmanner und Zauberer der Dschagga sind leider viel weniger ausführlich als seine Beschreibung ihres Rechtslebens. Seine wertende Einstellung mag dazu beigetragen haben. Eine seiner gelegentlichen Bemerkungen über diesen Gegenstand ist j edoch von Interesse. Er erwahnt von den Vertretern des eigentlichen arztlichen Berufes, dass sie durchaus vom Glauben an ihre Kraft erfüllt seien. „Ihre „Heilsprüche", mit denen sie die Krankheit zu bannen suchen, sind daher nicht nur darauf berechnet, das lebenweckende Vertrauen des Leidenden zu erregen, sondern sie sind ebensosehr der naive Ausdruck ihres Kraftbewusstseins und Selbstgefühls" 3). Nun ist es ') Pechuël-Loeschk: Volkskunde von Loango, S. 405. 2) a.a.O., S. 442. a) B. Gutmann: Dichten und Denken der Dschagganeger, S. 159. zwar schwierig, etwas darüber auszusagen, inwieweit wirklich eine Steigerung des Selbstbewusstseins stattfindet. Die Methoden zur Untersuchung derartiger Vorgange sind ja noch sehr ungenügend. Sofern j edoch das vorliegende ethnographische Material überhaupt Folgerungen zulasst, ist man nach dem Verhalten des Medizinmannes berechtigt, Gutmanns Mitteilung für richtig zu halten. So schreibt er, dass der Medizinmann sich „feierlich und mit bedachtiger Würde" *) über den Kranken hinbeuge. Nicht nur die Absicht, Eindruck zu erwecken, wird hier eine Rolle spielen, sondern es ist wahrscheinlich, dass der ganze Vorgang, in dem er ja die Hauptfigur ist, sein Selbstbewusstsein steigert, zumal, wie Gutmann und andere Ethnographen berichten, sein Glauben an die Wirkungskraft seiner Heilkunst durchaus echt ist. Dies wird auch von Driberg von den Medizinmannern der Lango, den ajoka, die zugleich Priester und Zauberer sind, berichtet 2). Genannter Verfasser hebt ebenfalls den verwickelten Sachverhalt bei der Ausübung der Heilkunst hervor. „That his ends are not selfish the modesty of his remuneration proves, but desiring eminence in his profession and a more than local reputation he enhances his natural gifts by a species of magical symbolism, the bizarre mysticism of which tends not only to attract attention, but offers a safe retreat should his inspiration prove to have been at fault" 3). Einerseits haben wir es hier mit wirklicher Begabung, also mit rein individueller Differenzierung zu tun, andererseits aber üben die Wechselwirkungen mit der Umgebung, Suggestion und andere Erscheinungen sozial-psychologischer Art ihren Einfluss aus. Objektive und subjektive Faktoren wirken hier durcheinander. Letztere tragen j edoch ebenfalls zur Differenzierung bei, da sie den Glauben der Stammesgenossen an die Uberlegenheit des ajoka und ebenfalls dessen eigenes Selbstbewusstsein starken. Driberg betont stark die Rolle der Persönlichkeit: „In *) a.a.O., S. 159. ') j. H. Driberg, The Lango, S. 236. ') a.a.O., S. 236. addition to the psychical gifts enumerated (powers of clairvoyance, hypnotism and ventriloquism), a successful ajoka must be endowed with wide knowledge and with what may be termed a scientific mind, for he will have to deal with inquiries of every imaginable kind. He must have observed natural phenomena with an intelligent appreciation, and his knowledge must be based on a study of natural laws; he must have the power of drawing inferences and making deductions from known facts, and that his deductions are more often than not incorrect is immaterial, for the very fact that he makes them distinguishes his intellect from that of his fellows. He is, in short, a primitive philosopher, a scientist in embryo" 1). Was den Ursprung der medizinischen Kenntnisse betrifft, so sagen unsere Berichte über die Bantustamme, dass diese Kenntnisse sich in gewissen Familien vererben und dass sie von den Medizinmannern auch erweitert werden. Der sozial bedingte Differenzierungsfaktor ist hier also zunachst von gleich grosser Bedeutung wie der rein individuelle. Es gibt aber auch Falie, wo die arztlichen Fahigkeiten direkt von den Geistern her auf eine Person übergehen, wie das bei den ajoka der Lango der Fall ist 2), oder wo mindestens Berufung durch Geister den Anfang der medizinischen Laufbahn darstellt, wie es nach Rattray, bei den Ashanti der Fall ist. Wir entnehmen seinen interessanten Mitteilungen Folgendes: „In localities very widely separated, and among Ashanti speaking different dialects, I constantly obtained the same answers to the questions: „How did you become a doctor? How did you become a priest?" I shall deal with the former class first. The reply to this inquiry generally was, „the mmoatia [the fairies] taught me". My hunter friend, Kwaku Abonyowa, related how, as a young man, he lived for forty days and forty nights in company with the mmoatia, being fed only with an egg a day with which his tongue was touched. He also recorded what has already ') a.a.O., S. 237. 2) Religion and Art in Ashanti, S. 236. been mentioned, i.e. the language of the mmoatia was a whistling language. In Northern Ashanti, in the village of Sekwa, is a life-size suman [Fetisch] of anthropomorphic form. It was made by the brother of its present custodian, who is called Kwesi Asante. This brother, now dead, was one day found to be missing. After many weeks his funeral rites were held. „One day we heard some children shouting that my brother was in the back-yard. We ran out and found him with an armful of suman and nufa [„medicine"], made up in little balls or cones. He said that a Sasabonsam had caught him, but instead of killing him had taught him all about plants. He also brought a cap with him and became very famous. He made this suman which he called Sasabonsam." „From such stories — and there are many similar — one fact emerges clearly. A would-be practitioner retires alone, for a considerable period, into the solitude of the forest where he lives and studies nature. He eventually emerges from his retreat and is hailed as one returned from the dead. He tells his relations he was not dead, but merely serving the usual apprenticeship for a „doctor's degree" with fairies or forest monsters as his mentors. This gives him „a good local press", and the rest depends upon his skill in, and his knowledge of, roots and herbs, no less than his acquaintance with the psychology of his patients. „Medicine-man are often hunters and hunters medicinemen. Wonderful folk they are; botanists, knowing every tree and plant and fern by name, and the spiritual properties of each; zoologists, intimately acquainted with the haunts and habits of animals, birds, and insects. The forests, with their sights and sounds, are books which they can read with unerring skill; taciturn and suspicious of the wouldbe European hunter, they love the solitude of nature, whose voices they claim to hear and understand. Thus, in course of time, the medicine-man-hunter becomes different from his fellows and a „mad hunter" becomes the epithet by which he is known among his kinsfolk. These men are members of a class which is rapidly disappearing, with only a very few who know them to lament the passing of the oldest of the world's brotherhoods" 1). Aus Rattray's Beschreibung geht hervor, dass bei den Ashanti das Motiv zur Wahl des arztlichen Berufes persönlicher Art ist. Ein individuelles Erlebnis, die Berufung durch Geister, führt den Einzelnen dazu, Medizinmann zu werden. Leider teilt Rattray nichts darüber mit, ob die Berufung sich doch auch als Regel auf gewisse Familién beschrankt, wie das bei der Priesterwahl oft der Fall ist, oder ob dieser Gruppenfaktor gar nicht in Frage kommt. Der Glaube, dass der zukünftige Medizinmann seine Kenntnisse von den Geistern erhalt, weist dar auf hin, dass die Familie hier bei der Wahl und Ausbildung eine geringere Rolle spielt als bei den erwahnten Bantustammen. Zusammenfassend ist also über die Differenzierungsfrage bei den drei Gruppen der Priester, Zauberer und Medizinmanner Folgendes zu bemerken: 1°. Es hat sich eine Berufsdifferenzierung herausgebildet. Die religiösen Führer bilden einen Stand. Diese Berufsdifferenzierung ist ausserdem zu einem stark ausgepragten Spezialistentum fortgeschritten 2). 2°. Diese soziale Differenzierung ist in mancher Hinsicht mit einer fisychischen Differenzierung verbunden: a) Die Auswahl der Priester findet in den erwahnten Fallen oft durch Berufung statt. Der zukünftige Priesterberuf wird dem Auserwahlten durch Geistererscheinungen oder andere Erlebnisse persönlicher Art geoffenbart. Andererseits teilen die Berichte wiederum mit, dass der Priesterberuf oft in gewissen Familien erblich ist, was eher auf eine Auswahl nach traditionellen, kollektiven Gesichtspunkten hinweist. Welcher Art eigentlich der Zusammenhang zwischen den persönlichen und den Gruppenfaktoren ist, wird aus den Berichten nicht deutlich. Die auch in der primitiven Gesellschaft vorliegende Kompliziertheit der sozialen Erscheinun- ') R. S. Rattray, Religion and Art in Ashanti, S. 38 ff. ') So teilt Weeks mit: „There are about fifty different classes or orders of medicine-men" (J. H. Weeks, Among the primitive Bakongo, London, 1914, S. 214). gen lasst erwarten, dass beide Faktoren auftreten werden. Bei der Auswahl der Zauberer scheinen rein soziale Faktoren wie z.B. die Erbnachfolge eine viel geringere Rolle zu spielen. Von den Thonga, Ba-ila, Bafioti, Ewe wird berichtet, dass der Beruf jedem offen steht. Nur muss eine Ausbildung unter Leitung eines angesehenen Zauberers stattfinden, wie von den Thonga, Ba-ila, Bafioti, und ebenso den Kpelle mitgeteilt wird. Nur bei den BaVenda und den Kpelle ist der Beruf erblich. Bei den letzteren sind aber in der Vorstellung der Eingeborenen Zwillinge besonders für den Beruf geeignet. Die Einrichtung der Erbnachfolge funktioniert hier also nicht rein automatisch, sondern unter Bevorzugung einer Art von Personen, der aussergewöhnliche Macht zugeschrieben wird. Der Beruf des Medizinmannes beschrankt sich bei den Thonga, Ba-ila und BaVenda auf gewisse Familien. Bei den Thonga werden indessen solche Familienmitgliedern bevorzugt, die besondere Neigung dazu fühlen, und bei den BaVenda kann der Beruf auf Wunsch der Ahnen auf ein bestimmtes Familienmitglied übergehen. Bei den Bafioti steht der Beruf jedem frei; eine Ausbildung gegen Entgeit findet statt. Von den Lango und Ashanti wird Berufung durch Geister erwahnt. Wir sehen, dass bei der Berufswahl in allen drei Gruppen sowohl individuelle wie kollektive Faktoren mitwirken. Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie ist zwar für die Ausübung des Berufes erforderlich, daneben spielen aber Veranlagung, persönliche Neigungen, und individuelle Erlebnisse (Berufung durch Geister) eine nicht geringe Rolle. Aus der geringen Anzahl unserer Falie lassen sich freilich keine weitreichende Folgerungen für die Auswahl der religiösen Führer in den primitiven Gesellschaften ziehen. Unsere Aufgabe beschrankt sich hier darauf, die differentielle Seite der Erscheinung aufzuzeigen. b) Gradunterschiede in den Fahigkeiten bestehen zwischen den Zauberern und den Medizinmannern. Bei den Priestern fehlen Angaben über dergleichen Unterschiede. Das mag darin seine Ursache haben, dass der Beruf des Priesters weni- 9 ger Gelegenheit gibt, persönliche Fahigkeiten zu entwickeln als der des Zauberers und des Medizinmannes, da sich ja die religiösen Zeremonien nach festen Regeln vollziehen, und der einzelne Priester dabei eine wenn auch nicht unpersönliche so doch eine untergeordnete Rolle spielt. Von ihm verlangt man nur die Fahigkeit, mit den Geistern zu verkehren. Die Handlungen des Zauberers und des Medizinmannes dagegen sind von vornherein weniger an ein Ritual gebunden. Bei ihnen ist dem individuellen Verhalten des Einzelnen mehr Spielraum gelassen. Die Stellung, die sie in der Gruppe einnehmen, wird nicht, wie es bei den Priestern der Fall ist, durch ihre Funktion als solche beherrscht, sondern ist von persönlichen Fahigkeiten abhangig x). Individuelle Kenntnisse gewinnen Bedeutung. Damit soll nicht gesagt werden, dass nur die persönliche Veranlagung eine Rolle spielt. Die Wechselwirkung mit der Umgebung ist hier auch sehr stark ausgepragt. Es sei nur betont, dass sich sowohl der objektiv differentielle Faktor der Veranlagung als der subjektiv differentielle des Ansehens, der Suggestion, usw. in weitgehendem Masse aussern können. c) Der Stand der religiösen Führer distanziert sich von den übrigen Stammesmitgliedern, was wieder bei den Zauberern und Medizinmannern besonders hervortritt. Die Zauberer der Ewe stehen in enger Freundschaftsbeziehung zueinander, die Medizinmanner der Thonga sind angstlich bemüht, ihre Geheimnisse zu hüten. Weiter wird z.B. von den letzteren berichtet, dass sie auf ihren Stand stolz sind. Ein distanzierendes Verhalten innerhalb des Standes wird uns von den Bafioti berichtet, deren Zaubermeister viel Streit und Konkurrenz untereinander haben. d. Propheten. Unter den primitiven Vólkern treten gelegentlich Personen hervor, die ihren Stammesgenossen Offenbarungen von Geistern übermitteln, von denen sie sich besessen fühlen. Sie sind oft schwer von den Priestern zu i) Vgl. G. Nioradze, Der Schamanismus bei den siberischen Vólkern, Stuttgart, 1925, S. 46 ff., und auch A. A. Goldenweiser, Early Civilization, New York, 1926, S. 214 ff. unterscheiden, die ja auch berufen werden und mit Geistern verkehren. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass die Propheten keinen eigentlichen Stand bilden, dass ferner ihre Erlebnisse intensiverer Art sind, und dass sie oft mit einem Missionsgedanken auftreten. Von Propheten unter den Bantustammen erzahlen uns verschiedene Berichte. Diese Berichte gehen zwar nicht sehr in die Tiefe, zeigen aber doch, dass hier Personen von aussergewöhnlichen Fahigkeiten eine starke Wirkung im Stammesleben erregen können. Wir lassen hier einige von Smith und Dale mitgeteilte Einzelheiten über die Propheten der Ba-ila folgen. Sie spielen nach genannten Verfassern eine sehr wichtige Rolle. „As the mouthpieces of the divinities they are the legislators of the community and, generally speaking, they receive a great deal of credit. Sometimes the message they deliver is harmiess enough, sometimes it is distinctly good, but sometimes it is noxious. The word of the prophet is sufficiënt to condemn to death a perfectly innocent man or woman. And such is the extraordinary credulity of the people that often they will destroy their grain or their cattle at the bidding of a prophet" x). Es gibt bei den Ba-ila zwei Arten der Übermittelung von Offenbarungen. Das haufigere Phanomen ist die Besessenheit: ein Geist ergreift Besitz von dem Propheten und offenbart ihm seine Mitteilungen an die Stammesmitglieder. Daneben findet sich die Ekstase: der Geist des Propheten macht eine Exkursion in übersinnliche Gebiete und er erzahlt nachher seinen Stammesgenossen, was er gehort und gesehen hat. Einige Propheten der Ba-ila geniessen einen weiten Ruf, und ihre Namen bleiben durch viele Generationen hindurch bekannt. „The Bambala speak of no less than five famous prophets of the past, of whom Mukubwe was the greatest. Another famous one was Longo, the mother of the chief Shakumbila of the Basala". — „In December 1911 the chief Sachele, ') The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, ii, S. 141. who had died about six months before, began to speak through a woman: he told the people that he had not been allowed to go to his mother — the Longo spoken of above — in the spirit world because she was angry with him for having been buried with dogs in his grave instead of slaves. He told them that he was living in the neighbourhood of the village and going about hunting as he used to do in life. This prophet, like most others, had a message demanding something from the people; in this case she gave out that all who went to pay respects would be given rain and those who refused would experience famine" 1). Wir lassen noch die Berichte über zwei andere Propheten der Ba-ila folgen. Einer von ihnen nannte sich selber Chilanga, „der Schöpfer"; er trat in 1909 auf. „He announced that he could destroy a grub that was spoiling the crops. In obedience to his commands the people brought him specimens of the grub and he burnt some amidst incantations. But the grubs did not cease their ravages. One would have thought that they would have lost faith in him, but undaunted he ventured on lof tier flights. He said that in a short time he would turn the sun black for six days, destroy the bridge over the Kafue, tear up the railway, and cause all the Europeans to leave the country. To enable all this to happen the people were to destroy their cattle. The unfortunate Batwa, to whom he told this tale first, had by long exertions managed to scrape together a few head of cattle; believing his story they killed them; but before the sun turned black the false prophet was arrested for sedition and put into prison by a Government not to be sympathetic with such things" 2). Von dem anderen Propheten wird Folgendes erzahlt: „In June 1913 another prophet arose in the neighbourhood of Nanzela. His name was Mupumani, and he was a leper. According to his own account, he was not given to dreams, and had only the one vision. This is what he told us of his experience. He had gone to sleep as usual in his ») a.a.O., S. 142 ff. ») a.a.O., S. 143 ff. hut, when he heard a movement above, and looking up saw a man's leg dangling down from the roof, then a body, and at last the person reached the floor and stood by his side, but he could not see his face. The man (Mupumani said he must have been a musangushi, „a ghost") lifted him upon his shoulders and carried him off, where to, he knows not, but he found himself in the presence of Namulenga („The Creator"), or Mulengashika („Creator of Pestilences"). The first thing Namulenga did was to take Mupumani's leprous body and throw it away and then begin to mould a new body with complete fingers and toes. But another figure intervened and said, „No, do not do that. If Mupumani goes back to earth with a new body the people will die of amazement to see him". So Namulenga desisted and gave him messages to take to the people. One was to the effect that he would give him a kankudi ka buloa („a small calabash of blood"), which he was to pour out and all the people would die. But once again the second figure, wishing to save the people, intervened and restrained Namulenga from doing this. Then Namulenga gave him a message that people when mourning were to cease killing cattle, throwing themselves violently on the ground, and rushing about with spears. He had often, He said, sat by invisible and watched people mourning and had split His sides with laughing to see their antics. He took men from earth, and caused men to be reborn, as it pleased Him: it was not for people to mourn. He also gave a message denouncing witchcraft. „Go down again," he concluded, „and give my words. Perhaps the people will revile you, perhaps they will listen and treat you well. I shall see." Mupumani found himself back in his house; how he got there he does not know. He began to teil of his vision and soon the fame of it spread abroad, and people began to flock to him from all quarters. We ourselves were at the time travelling in the northern districts and met many parties, some from as far off as the Lukanga swamp, on their way to him. In those villages whence the people had already been to him, a long white pole was erected as a sign. Ultimately, people came from districts as remote as Ndola and Mwinilunga. To all of them he gave the message. At first he accepted nothing from them, except the small ring of beads for the little finger which seems to be given to every prophet. But what preacher is accepted without signs and wonders ? And the people demanded „medicine" of him to make their own corn grow and give them good luck in hunting, and Mupumani had to yield to their insistence. He gave them drugs, and they gave him money in return. Later, before the magistrate, Mupumani said that the Ba-ila did not accept his messages: „They still kill cattle at the funerals, you know the Ba-ila never listen well to people who teil them to do things. At first I told the people about the calabash of blood and then I did not. Perhaps I made a mistake in not always speaking about it; they would have been afraid of that and listened to Leza's voice" x). Wir haben diesen Bericht vollkommen zitiert, weil er uns für die Differenzierungs- und Individualisierungserscheinungen von Bedeutung erschien. Folgende Punkte sind zu beachten: 1 °. Der Prophet handelt unter dem Einfluss persönlicher Erlebnisse, wie auch immer man diese erklaren mag. 2°. Eine bemerkenswerte Tatsache ist, dass gelegentlich zwei Geister mit ihm reden. Dies ist vielleicht aus dem Ringen entgegengesetzter Wünsche im Unterbewusstsein des Propheten zu erklaren: eine Tendenz zielt auf die Schadigung, die andere auf das Heil des Stammes. 3°. Offenbar entsteht dieser Wunsch aus einer Missbilligung dessen, was in seinem Stamme vor sich geht. So wünscht z.B. der Prophet (oder der Geist durch ihn) die Aufgabe der im Stamme üblichen Beerdigungsriten und tritt so als Erneuerer der Stammessitten auf. Beachtenswert ist dabei, dass er im erwahnten Falie keine be- trügerischen Absichten hat. Es könnten noch verschiedene Falie von Prophetie unter den Bantustammen erwahnt werden. Kraftvolle und geschichtlich klar greifbare Gestalten treten uns in einigen von ihn en entgegen. Meist predigten sie eine Erneuerung der Religion ihrer Vater und erstrebten die Befreiung ihres Stammes von der Herrschaft der Weissen. So erregte z.B. 1818 ein a.a.O., S. 147 ff. • Prophet der Amaxosa namens Makana einen Aufstand gegen die englische Regierung 1). Aber nicht immer hatte das Auftreten dieser aus der Geschichte bekannten Propheten eine politische Tendenz. Simon Kibangu z.B., der 1921 im Kongogebiet einen ungeheueren Einfluss gewann, steilte sich zur Aufgabe, Kranke zu heilen 2). Der nicht weniger bekannte Prophet Harris, der einige Jahre vorher in Westafrika eine tiefgehende Wirkung ausübte, trat hauptsachlich als Religionserneuerer auf 3). Zusammenfassend ist also über die Bedeutung der Propheten für die Frage der Individualisierung Folgendes zu sagen: 1°. Persönliche Erlebnisse, wie Berufung durch Geister oder ekstatische Zustande usw. bezeichnen den Anfang ihres Auftretens. Es ist hier nicht erforderlich, des weiteren auf die mannigfaltigen Arten der Berufung der Propheten oder auf die Struktur des Berufungserlebnisses einzugehen. Das ware Aufgabe eines speziellen vergleichenden Studiums. Für uns ist hier nur von Bedeutung, dass alle Arten der Berufung eine bestimmte Veranlagung voraussetzen. Es ist evident, dass die Propheten sich psychisch stark von dem durchschnittlichen Eingeborenen unterscheiden 4). Traditionelle Faktoren dagegen, wie z.B. die Erbnachfolge dagegen spielen hier eine viel geringere Rolle als bei den vorher erwahnten Gruppen religiöser Führer. 2°. Auch die Wirkung des Propheten ist oft stark indivi- ') Theal gibt in seinem „Compendium of South African History", 2. Aufl., Lovedale, 1876, Kapitel XVII eine Beschreibung von ihm und anderen Bantupropheten des vorigen Jahrhunderts. 2) Sehe dazu W. C. Willoughby, The Soul of the Bantu, London 1928, S. 123 ff. 3) Sehe F. Deaville Walker, Harris, le Prophéte noir, Frivas, 1931. und Paul Marty, Etudes sur 1'Islam en Cóte d'Ivoire, Paris, 1922 S 13—18. 4) „Although a man or woman needs no previous training to become a „prophet", it appears therefore that a predisposition to ecstasy, daydreams, and visions, is a necessary qualification. They all aspire to the exercise of transcendental and peculiar authority; and their success depends in the main upon the intensity of their convictions, though it is often promoted by their own cleverness, by the support of some chief who makes them his political tools, or by the chance fulfilment of one of their predictions". (W. C. Willoughby, The Soul of the Bantu, S. 114 ff.). dueller Art, d.h. sie ist nicht institutionellen Charakters, sondern „frei"; persönlichen, willkürlichen und unregelmassigen Faktoren wird infolgedessen ein breiter Spielraum gelassen. Dies bedeutet aber, dass das Gruppenleben nicht einen so starren Charakter tragt, wie es vielfach angenommen wird. Natürlich wird man sich die Wirkung der Propheten nicht von ihrer Umgebung getrennt denken können 1). Soziale Umstande verursachen oder beeinflussen ihr Auftreten, und die Wechselwirkung mit der Umgebung bedingt ihren Erfoig. Diese kollektiven Faktoren müssen freilich berücksichtigt werden, und eine Untersuchung des Prophetentums als eines ganzen müsste ihren Zusammenhang mit den individuellen Faktoren darstellen. Diese Erwagung beeintrachtigt jedoch nicht ihre Bedeutung für die Frage der Differenzierung und der Individualisierung 2). 3. DIE DIFFERENZIERENDE WIRKUNG DER MAGIE. Der Einfluss der Magie auf das menschliche Verhalten ist noch sehr wenig systematisch untersucht worden. Wie überhaupt bei den religiösen Ausserungen des primitiven Lebens, hat man auch bei der Magie bisher fast nur den Glaubensinhalt und die Zeremonien beschrieben, nicht aber die magischen Prozesse als Formen menschlichen Verhaltens untersucht. Eine Seite dieses Verhaltens, die für unsere Frage von Bedeutung ist, sei hier hervorgehoben, namlich die Distanzierung und Individualisierung als Folge der Magieausübung. Das Vorhandensein der Magie lauft der Existenz eines durchgangigen solidarischen Gruppengefühles zuwider. Man ') Mit Recht sagt Lowie: „Even from the meager accounts available it is clear that some of these Bantu prophets were men distinguished for character, intensity of faith, and intellectual powers. But it is equally certain that the effectiveness of their propaganda was co-determined by the highly special circumstances of the South African aborigines at that time." (R. H. Lowie, Primitive Religion, London, 1925, S. 162). a) Willoughby bemerkt zur Frage der besonderen Stellung der Propheten noch: „. . . . the „prophet" comes charged with a demand for a new (shall we say) national movement. He calls people to action, to sacrifice, to return to old loyalties. His ideal age is in the past; present troubles can only be healed by sweeping away new customs and returning to the ancient manner. The impressive feature of the „prophet" is that he uses no argument and appeals to no authority but that of the spirit which inspires him." (The Soul of the Bantu, S. 115.) braucht zwar nicht so weit zu gehen wie einige altere Ethnographen, die der Meinung waren, dass die Zauberei das ganze Stammesleben zerstöre. Sie hat aber, unserer Ansicht nach neben anderen Funktionen eine stark differenzierende Wirkung. Bei beiden Arten der Magie, der sozialen und der antisozialen, zeigt sich diese Wirkung. Wir werden hier versuchen, sie an einigen Beispielen aufzuzeigen. a. Die Zaubermittel dienen nicht nur dem Schutze gegen böse Einflüsse, sondern auch dazu etwas zu erreichen, und zwar für sich persönlich etwas zu erreichen. Der Eingeborene verhalt sich seiner Umwelt gegenüber nicht nur abwehrend, sondern sucht sie auch in seinem eigenen Interesse zu beeinflussen 1). Zur Erreichung dieses Zweckes stehen ihm verschiedene Mittel zur Verfügung. Ein sehr allgemeines Mittel ist der Talisman. Ein Hauptling der Ba-ila z.B. besass Talismane für folgende Zwecke: . to keep his people together, so that they may not stray; medicine to ') Die individualisierende Seite der Magie wird auch von Cassirer betont. Er schreibt: „Die erste Kraft, mit der der Mensch sich als ein Eigenes und Selbstandiges den Dingen gegenüberstellt, ist die Kraft des Wunsches. In ihm nimmt er die Welt, nimmt er die Wirklichkeit der Dinge nicht einfach hin, sondern in ihm baut er sie für sich auf. Es ist das erste primitivste Bewusstsein der Fahigkeit zur Gestaltung des Seins, das sich im Wunsche regt".— „So übt in der magischen Weltansicht das Ich über die Wirklichkeit eine fast schrankenlose Herrschaft aus: es nimmt alle Wirklichkeit in sich selbst zurück. Aber eben diese unmittelbare In-EinsSetzung schliesst nun eine eigentümliche Dialektik in sich, in welcher sich das ursprüngliche Verhaltnis umkehrt. Das gesteigerte Selbstgefühl, das sich in der magischen Weltansicht auszudrücken scheint, weist auf der anderen Seite eben darauf hin, dass es zu einem eigentlichen Selbst hier noch nicht gekommen ist. Das Ich sucht Kraft der magischen Allgewalt des Willens die Dinge zu ergreifen und sie sich gefügig zu machen; aber eben in diesem Versuch zeigt es sich von ihnen noch völlig beherrscht, noch völlig „besessen". (Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 194). Allerdings überschatzt Cassirer den Einfluss der Magie. Er sieht in ihr zu sehr eine das ganze Leben umfassende Macht, ein Fehler, den viele Theoretiker gemacht haben. Neben der Magie gibt es viele andere Gebiete des Erlebens und Handelns. („Recent fieldwork, done by specialists, shows us the savage interested rather in his fishing and gardens, in tribal events and festivities than brooding over dreams and visions, or explaining „doublés" and cataleptic fits", B. Malinowski, Magie, Science and Religion, in: Science, Religion and Reality, London, 1925, S. 22). Vgl. auch: O. Leroy, La raison primitive, Paris, 1927, S. 242 ff. und: J. J. Fahrenfort, Dynamisme en logies denken bij Natuurvolken, Groningen, 1933, S. 64 ff.). Ausserdem ist die Verknüpfung von Individualisierung und Abhangigkeit nicht nur für das magische Verhalten charakteristisch, sondern ebenfalls für zahlreiche andere Erscheinungen sozialpsychischer Art. prevent his cattle from being eaten by crocodiles; medicine to increase the number of his cattle; medicine to give his hunting dogs speed" x). Jager und Handelsleute bedienen sich spezieller Zaubermittel, um Erfolg zu erreichen 2). Ein anderes Mittel bewirkt, dass man Ansehen erwirbt: ... as a result, his neighbours sink and he alone floats, and his name becomes famous" 3). Ein weiteres Zaubermittel macht reich. Es ist bemerkenswert, wie viele dieser Mittel dazu dienen, das Selbstbewusstsein des Menschen zu erhöhen. Man wünscht offenbar eine besondere Rolle im Gruppenleben zu spielen und benutzt „Medizin" um diesen Zweck zu erreichen. Ihr Gebrauch zeigt, dass die Eingeborenen sich über die Rolle ihrer eigenen Persönlichkeit bestimmte Vorstellungen bilden. Das bedeutet, dass der Differenzierungsprozess nicht nur unbewusst und in der rein emotionellen Sphare vor sich geht, sondern sich auch im Willensleben aussert. So erzahlen Smith und Dale : „ [A] man will have a charm named aft er the tortoise (fulwe); just as Fulwe suddenly withdraws his head, and turns from a living thing into what seems to be mere stone, so he, when perhaps there is nothing wrong with him, or very little, suddenly dies, leaving the people puzzled as to his disappearance" 4). Es ist natürlich schwer, sich aus diesem kurzen Bericht ein genaues Bild der tatsachlichen Erlebnisse des betreffenden Mannes zu machen; j edoch wird man wohl in der Vermutung nicht fehlgehen, dass er ein Bedürfnis fühlt, in den Augen seiner Stammesgenossen etwas Besonderes darzustellen, eine Persönlichkeit, über die man auch nach ihrem Tode noch spricht. Eine ahnliche Funktion eines Zaubermittels ist folgende: „ there is a charm named after a tree, mutesu, which will cause a great crowd to gather to a man's funeral, all feeling very sorry and weeping for him tumultuously 5). Dieses Verlangen, etwas zu bedeuten, spielt im Leben der >) Smith und Dale, The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 253. 2) a.a.O., S. 262. s) a.a.O., S. 263. 4) a.a.O., S. 265. 6) a.a.O., S. 265. Eingeborenen eine grosse Rolle, und die Zauberei darf als eine wichtige soziale Erscheinungsform dieses Verlangens angesehen werden Die Arten, in denen sich der Wunsch etwas zu bedeuten, auswirkt, sind mannigfach, und es liegt nicht in unserer Absicht, hier eine systematische Klassifikation der Zaubermittel zu geben. Für uns ist hier nur von Bedeutung, dass sie eine der wichtigsten Differenzierungsausserungen der Primitiven darstellen. b. Die Zauberei erstrebt nicht nur das Wohlergehen der eigenen Person, sondern sucht in vielen Fallen bestimmend auf das S chicks al ander er Menschen einzuwirken. In diesen Fallen wirkt sie von Person auf Person. Es ist schwer eine scharfe Trennungslinie zwischen den beiden Wirkungsarten zu ziehen. Der Unterschied ist hauptsachlich intentioneller Art: in dem einen Falie beschrankt sich der Wunschgedanke auf die eigene Person, im zweiten Falie richtet er sich nach aussen. Im ersten Falie erstrebt sie das Wohlbefinden (der eigenen Person), im zweiten Falie meist die Schadigung (einer anderen Person). Die Literatur ist überreich an Mitteilungen über die letztere Art der Zauberei. Die alteren Berichte mit ihren ausführlichen Schilderungen der zerstörenden Wirkung der Zauberei erwecken sogar fast den Eindruck, als ob sie fasst die einzige Erscheinungsform der Magie ware. Man hatte dabei zu einseitig die anti-soziale Zauberei und ihre Folge, die Hexenprozesse, vor Augen. Zur Verdeutlichung unserer Analyse lassen wir einige ethnographische Mitteilungen folgen. Wir teilen dabei die auf andere Personen gerichtete Zauberei je nach dem dabei erstrebten Zwecke in zwei Gruppen ein, namlich: die Zauberei, bei der einfach Einfluss auf andere Menschen erstrebt wird, ohne dass schadigende Absichten vorliegen, und 2. solche, bei der die letzteren vorherrschen. 1. Die Liebestalismane gehören in diese Gruppe. Sie sind nach unseren Berichten sehr zahlreich 1). Bei den Dschagga wendet das Madchen, wenn es den Widerstand der Eltern ') B. Gutmann, Amulette und Talismane bei den Dschagganegern am Kilimandscharo, Leipzig, 1923, S. 22. und des Bruders gegen ihren Bewerber brechen will, einen besonderen Steinzauber anx). Smith und Dale erwahnen von den Ba-ila: „When, they say, a man is in love with his wife and she rejects him, in order to gain her affections he gets the root of the Mudimbula tree and scrapes it; he takes also the feathers of the Inzhinge bird, burns them, mixes the ash with the scrapings, and conceals it all in a piece of liver. If she is at her home, the woman's relations are prevailed upon to give her the liver to eat; if she is at his place, the man manages with guile to get her to eat it. „If a man wants to win the love of a woman, he takes the root of the Chikalamatanga bush and smokes it with tobacco in his pipe. While smoking he calls softly to her, or, if he is in company, he whispers inaudibly, „So-and-so, how I do love her! Would that she might return my love!" So on and so on. The effect is telepathie. She dreams of him, and in the morning, as she recalls her dreams, his image haunts her. She begins to think kindly of him. So the natives say. There are also medicines which women drink or smoke to excite the passion of their lovers; or a woman neglected by men will resort to these to attract a lover or a husband" 2). Diese wenigen Beispiele, die sich leicht vermehren liessen, zeigen die grosse Bedeutung der Zauberei für das Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen. Bereits die Situation vor dem Auftreten der Zauberwirkung ist für die Differenzierungsfrage von Interesse. Schon in diesem Stadium besteht ja eine Ungleichheit in den emotionellen Beziehungen zwischen den Personen, die einander spater im Verhaltnis von Zauberer und Bezaubertem gegenüberstehen. Diese Beziehungen sind also nicht fest von der Gruppe geregelt worden, sondern gehören einem freien Wirkungskreise an. Die Zauberei nun vergrössert nicht nur die emotionelle Ungleichheit, sondern bringt zudem die von ihr betroffenen Menschen in ein Machtverhaltnis zu einander. Freilich besteht dies Macht- *) a.a.O., S. 24. Von Bedeutung ist die Bemerkung des genannten Verfassers, dass diese Kampfe zwischen Tochter und Vormund haufiger seien als man glaube (S. 24). *) The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 249. verhaltnis zunachst nur im Bewusstsein des Zaubernden und hat noch keine deutlich nachweisbare soziale Wirkung. Schon in diesem Falie j edoch funktioniert die Zauberei als ein Ventil für persönliche Wunsch- und Phantasiebetatigung. 2. Ein distanzierendes, zerstörendes Verhaltnis entsteht, wenn der Zaubernde eine schadigende Wirkung beabsichtigt. War bei den unter 1. erwahnten Fallen das Verlangen nach Einfluss noch mit einem Gefühl der Zuneigung verbunden, so treten hier in starkem Masse die distanzierenden Gefühle des Neides, Rachebedürfnisses usw. auf. Einige Beispiele mögen verdeutlichen, wie sich die menschlichen Beziehungen bei dieser Art der Zauberei gestalten. So berichtet Gutmann folgende Geschichte: „In früher Jugend schon hat zwischen Mture, dem Eingewanderten, und Okeleki, dem Einheimischen, grosse Feindschaft bestanden. EinesTages warf der kraftigere Mture den Okeleki auf freiem Rasen nieder, schleuderte sein Gewand weg und zog auch die Hülle vom Körper des Okeleki, um so nackt über den Nackten hinwegzuschreiten. Die Leute haben sich über diese Handlung entrüstet; da aber keine Sippenbrüder da waren, die Sache aufzugreifen, hatte sie weiter keine Folge. Als nun Okeleki heiratete, starb ihm das erste Kind. Er heiratete eine zweite Frau, doch auch deren Kind starb. Das Kind der dritten Frau wuchs heran, aber mit sechs Jahren starb es auch. Da kommt Mture auf den Hof des Okeleki und spricht zu ihm: „Weisst du auch, wer deine Kinder tötet?" Der spricht: „Nein, wie sollte ich es wissen". „Nun, entsinne dich doch, wie ich einst über dich hinweg geschriften bin. Ich bin es, der dich abgeschnitten hat. Du wirst keine Nachkommen haben!" Mture hat spater diese Prahlerei in der Trunkenheit wiederholt und dabei sogar in eine Kufe Bier gespien, die Okeleki gerade seinen Freunden ausschenkte. Okeleki führte ihn damals ruhig vom Hofe, denn einem Trunkenen macht man keine Vorwürfe. Auch wandelte sich sein Geschick: zwei Knaben blieben ihm leben und wuchsen heran. Doch eines Tages erschlagt der Altere den Jüngeren auf der Viehweide mit einem Steine. Jetzt entsinnt sich Okeleki seines Feindes und seiner hamischen Reden. Und dem selber wird es leid, und er versteht sich zur Leistung einer Sühne von zwei Rindern. Ob diese Bereitwilligkeit reuevoller Einsicht entsprang, bleibe dahingestellt, denn wenn es auf den Hauptlingsrasen gekommen ware, hatte er jedenfalls volles Wergeld zahlen müssen. Okeleki hat aber ein Rind ihm wieder zurückgegeben und sich mit dem anderen begnügt. „Mture hat also nicht nur selbst geglaubt, dass er die Ursache zum Tode der Kinder sei, sondern sich auch dessen gerühmt und damit zu erkennen gegeben, welche Absicht ihn beseelte, als er das Nachbarkind auf der Wiese damals übersprang. Er selber stand demnach am starksten unterm Zwange solcher Vorstellungen und handelte ihnen gemass in schadenwünschender Absicht" 1). Bei einer Zergliederung dieser Geschichte nach ihrer Bedeutung für die Differenzierungsfrage lassen sich folgende Faktoren unterscheiden: 1°. Mture wirkt magisch auf Okeleki ein, um Macht über ihn zu gewinnen. Es besteht also eine Ungleichheit in den gegenseitigen Absichten und Gefühlen. Der Unterschied in Körperstarke wird gewiss das Machtgefühl bei Mture erhöhen. 2°. Mture glaubt selbst an die schadigende Wirkung seiner Handlung und isoliert sich dadurch in seinem Gefühlsleben von der Gemeinschaft. 3°. Er ist ausserordentlich stolz auf seine Handlung und empfindet also eine Erhöhung seines Selbstbewusstseins. 4°. Das Verhalten Okelekis steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu dem Mtures. Er bleibt ruhig, obwohl er der Schwachere ist. Offenbar wirkt der Glaube an die schadigende Wirkung des Zaubers bei ihm viel weniger intensiv als bei Mture. Auf jeden Fall zeigt sich, dass die Reaktion auf den Zauber bei beiden Personen ganz verschieden ist. Der zerstörende Charakter der Wünsche, die in vielen Fallen der Zauberei zugrundeliegen, geht auch aus folgenden, Smith und Dale entnommenen Beispielen hervor: „The witchcraft musamo may be „eaten" by a person with the object of transforming himself after death into a mutalu, a vengeful, destructive ghost, described as kayayabuseka („one who goes killing and smiling"). His victims fall suddenly dead. ') B. Gutmann, Das Recht der Dschagga, S. 694, 695. The only thing to be done in such cases is to get the mudimbula medicine, and doctor the ghost. „Men not disposed to allow their survivors to live peacefully after they themselves are dead, procure certain charms to cause their unhappiness. One of them is named shombololo, and it makes people fight, commit suicide, be rebellious, and turn criminal. — Another man will „eat" the charm named after a small red bird, kashise, and the result is that all his family are wiped out" 1). Spieth berichtet z.B.: „Es gibt einen Zauber, mit dem man die Leute beisst, so dass sie krank werden und sterben. Jemand, der die Absicht hat, jemanden mit Zauber zu beissen, lasst sich den bei Nacht im Zimmer machen, sodass niemand etwas davon weiss. Solche Zauberer legen etwa ein an einem Ende angebranntes Stück Holz auf den Weg und sprechen den Namen ihres Feindes über dem Holze aus. Kommt der Betreffende, so tritt er mit dem Fusse darauf und muss sterben." — „Manche legen ihrem Feinde Zauberhölzer auf den Stuhl, und wenn sich dieser darauf setzt, so muss er sterben" 2). Beispiele dieser Art liessen sich leicht vermehren. Diese Art Zauberei stellt eben eine weit verbreitete Erscheinung dar. Die erwahnten Beispiele haben denn auch für uns nicht als vergleichendes Material ihren Wert, sondern dienen dazu, um die distanzierende und feindliche Tendenz, die sich in einem Teile der Magie aussert, zu beleuchten. „Das Gebiet der Zauberei ist vor allen Dingen der Tummelplatz persönlicher Feindschaft", sagt Gutmann3). Nun muss allerdings hinzugefügt werden, dass dies nicht für die ganze Zauberei gilt, besonders nicht für jene, die zum eigenen Schutze betrieben wird. Junod berichtet, dass die schwarze Magie (Witchcraft] eine verheerende Wirkung auf das Eingeborenenleben ausübe: „It is a continual source of trouble, fear, quarrels, sorrow" 4). Im Vorhergehenden haben wir versucht zu zeigen, dass die ») I, S. 264. 2) Die Religion der Eweer in Süd-Tongo, S. 273. ') Dichten und Denken der Dschagganeger, S. 164. *) The Life of a South African Tribe, II, S. 535. Zauberei zu einem grossen Teil vom Individuum ausgeht und ihre Wirkung in vielen Fallen auf Individuen gerichtet ist. Jetzt werden wir naher auf die Frage eingehen, welche Grenzen dieser individuellen Wirkung gesetzt sind, in welchem Masse also die Gemeinschajt dem Einzelwesen gegenübertritt. Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, naher auf den Unterschied zwischen sozialer und antisozialer, zwischen der sogenannten weissen und schwarzen Magie, einzugehen. Die Terminologie macht hier allerdings Schwierigkeiten. Die ethnographischen Beschreibungen stimmen in ihrem Wortgebrauch nicht überein, und ausserdem wird dieser Gegenstand in ihnen noch zu sehr vom europaischem Gesichtspunkt aus behandelt. Obwohl deshalb die vorhandene Berichte keine genaue Analyse zulassen, lasst sich doch einiges aus ihnen ableiten. Wie wir schon erwahnten, macht Junod den üblichen Unterschied zwischen „black" und „white magie". Die schwarze Magie wird von den Eingeborenen Buloyi genannt x). it consists of the criminal magical practices by which wizards and witches bewitch innocent folk. Buloyi is a crime. White Magie is called Bungoma, and means the magical operations of those who combat evil influences and use their powers for the benefit, and not for the ruin, of their countrymen" 2). Die Baloyi, die Leute, die den „bösen Bliek" haben, sind in j edem Stamm zahlreich. Ihre Macht ist erblich, und ihre Hauptverbrechen sind Diebstahl und Mord. Die Tatigkeit der Baloyi ist also ausserordentlich schadlich und gemeingefahrlich. Die böse Zauberei wird streng bestraft und war früher mit der Todesstrafe belegt. Gegen sie arbeiten die Mungoma, die berufsmassigen Zauberer, deren Tatigkeit also zum Heile der Gemeinschaft dient. Nun darf die Frage gestellt werden: In welchem Lichte betrachten die Eingeborenen die Zauberei, insoweit sie weder von den Mungoma noch den Baloyi ausgeübt wird, und welcher Art ist diese Zauberei? Denn jeder Eingeborene zaubert. Verhalt es sich bei den Thonga so, dass er nur zaubert, um >) The Life of a South African Tribe, ii, S. 504, 505. ') a.a.O., S. 505. sich selber gegen böse Einflüsse zu schützen, oder ist ihm eine breitere Wirkungssphare erlaubt, ohne dass er dabei in den Verdacht der schwarzen Zauberei kommt? Ferner bleibt auch unklar, wie sich die Eingeborenen gegenüber anderen gefahrlicher Tatigkeiten (mit ausnahme von Diebstahl und Mord) gegenüber verhalten. Die von Smith und Dale gemachten Unterscheidungen sind ebensowenig klar. Genannte Verfasser teilen die magischen Handlungen ein in „Leechcraft" und „Witchcraft". Ein „Wizard" oder eine „Witch" (Mulozhi) wird von Hass und Neid getrieben und tötet die Menschen 1). Seine (ihre) Tatigkeit wird von der Gemeinschaft ausserordentlich gefürchtet und streng bestraft. Die Grenze zwischen dem Mulozhi und dem Munganga [doctor] scheint aber nicht immer scharf gezogen : „They come into association when the mulozhi secures from the munganga the powerful drugs with which he or she works. Further, a munganga may be a mulozhi, but that is not part of his profession". — „A person, moved by hatred or jealousy, may send to a doctor to secure witchcraft medicine" 2). Auch hier tut sich die Frage auf: wo ist die Grenze zwischen erlaubten und unerlaubten magischen Handlungen? Unter „Leechcraft" teilen die Verfasser eine Anzahl Falie mit, aus denen ebenfalls eine schadigende Absicht hervorgeht. Wir erwahnten einige dieser Falie. Sie gehören offenbar z.T. nicht zur eigentlichen Witchcraft. Steht es dem Eingeborenen in diesen Fallen frei zu zaubern? Die Berichte von den BaVenda ergeben folgendes Bild: Allgemein ist der Gebrauch von beschützenden Zaubermitteln. Dieser Gebrauch steht jedem frei. Daneben unterscheidet Stayt „Witchcraft" und „black Magie". Die Ansichten der BaVenda über Witchcraft erinnern stark an die der Thonga. „The word vhaloi (sing. muloï) .... is applied to those people who through sheer malignancy, either consciously or subconsciously, employ magical means to encompass all manner of evil to the detriment of their fellow-creatures. They destroy property, bring disease and misfortune and cause death, >) The Ua-speaking Peoples of Northern Rhodesia, II, S. 90 ff 2) a.a.O,, S. 94 ff. 10 often entirely without provocation, to satisfy their inherent craving for evil-doing" 1). Wie bei den Thonga gibt es zwei Typen von vhaloi, „the one who acts subconsciously and is quite unaware of the fact that she is possessed of this evil genius, and the other who deliberately attempts to encompass the death of her enemy through sympathetic or contagious magie" 2). — „The unconscious muloi nearly always acts during sleep. It is supposed that the evil spirit of the seemingly innocuous individual leaves the body and goes out into the world to carry on its evil mission" 3). Im Gegensatz zu denjenigen Vhaloi, denen man ein gespaltenes Ich zuschreibt und die am Tage als gewöhnliche Individuen und des Nachts als böse Wesen auftreten, gibt es andere Vhaloi, die bewusst und absichtlich Menschen durch Zaubermittel zu töten suchen. Diese Art Zauberei heisst madambi. Bemerkenswert ist, das also ein Unterschied zwischen Verantwortlichkeit und NichtVerantwortlichkeit gemacht wird. Auch bei den BaVenda finden wir, wie es bei den Thonga der Fall war, dass die Zauberdoktoren (dzinganga) bereit sind, den muloi gegen Entgeit bei der Vollführung ihrer bösen Plane behilflich zu sein. In dieser Tatigkeit übt der sozial anerkannte Zauberer also zeitweilig eine antisoziale Wirkung aus. Obwohl also Stayts Mitteilungen es evident machen, dass es Personen gibt, deren magische Handlungen als Verbrechen aufgefasst werden, geht aus ihnen nicht mit genügender Klarheit hervor, welche Mittel und Absichten noch einen legalen Charakter tragen. Obwohl auch die Berichte Pechuël-Loesches keine ganz deutliche Vorstellung des Sachverhaltes geben, beleuchten sie doch die Ansichten der Eingeborenen. Es wird von jedem gezaubert, zunachst als Abwehr gegen schadliche Zaubereinflüsse. Diese Art Zauberei ist vollkommen erlaubt. Im Gegensatz zu ihr steht die schwarze Magie. Zwischen diesen beiden Spharen jedoch liegt, wie aus Pechuël-Loesches Darstellung hervorgeht, ein Gebiet mit nicht scharf umrissenen Grenzen: „Die Leute zaubern eben alle. Das führt auch sonst ganz gute ») The BaVenda, S. 273 ff. ') a.a.O., S. 274. ') a.a.O., S. 274. Menschen auf Abwege und verlockt sie, zum eigenen Vorteil und oft zum Schaden anderer, Dinge zu treiben, die sie besser unterliessen. Um ein bischen Zauber in Liebe und Geschaften wird man selten in Verlegenheit sein. Mancher oder manche, sonst ganz brav, mag im Arger einem Nebenbuhler oder einer Nebenbuhlerin, einem erfolgreichen Wettbewerber im Handel, einem aus irgendwelchen anderen Gründen unliebsamen Mitmenschen verwünschen oder ihn mit Hilfe von Fetischen gewissermassen zu überzaubern versuchen. Deswegen sind sie noch keine Hexen. Gefahr ist freilich dabei. Wenn nicht reiner Mund gehalten wird, und wenn zufallig dem Betreffenden oder seinen Angehörigen ein ernstlicher Unfall zustossen sollte, dann könnte der vorwitzige Zauberer in eine recht üble Lage geraten. Aber zaghaftes und gelegentliches Herumtappen im Nebel der Zauberei, wovon kaum einer sich ganz rein weiss, kommt nicht in Betracht neben der entsetzlichen Wirksamkeit ausgemachter Hexen. Als einmütig anerkannt ist festzustellen: die schlimmste Hexenart, der richtige Ndodschi, der schreckliche Unhold und Würger, wird geboren. Die ihn kennzeichnenden Eigenschaften besitzt er ohne sein Zutun oft ohne sein Wissen bereits von der Geburt her" x). — „Neben diesen Unholden, aber nach Wirksamkeit von ihnen kaum zu trennen, gibt es noch Hexen in unserem Sinn, Schwarz-Künstler, die ihre verderblichen Künste erst irgendwie erworben haben". — „Man erkennt sie im Alltagsleben oft am scheuen, heimtückischen Wesen, am unsteten, zur Erde gewendeten Bliek, an den blöden Augen, die niemand fröhlich anzuschauen vermogen und, ein ganz sicheres Zeichen, die Aussenwelt verkehrt widerspiegeln" 2). Aus diesen Berichten geht hervor, dass es bei den Bafioti ebenso wie bei den vorher erwahnten Stammen zwei Arten böser Zauberer gibt, deren Tatigkeit mit Sicherheit einen antisozialen Charakter tragt. Daneben steht die Zauberei jedem frei. Auch böse Absichten brauchen noch nicht als antisozial und ungesetzlich aufgefasst zu werden. Die Mitteilungen von den Dschagga, Ashanti und Kpelle ') Volkskunde von Loango, S. 336. 2) a.a.O., S. 337. enthalten wenig genaue Einzelheiten über den Sachverhalt. Von Interesse ist jedoch eine Mitteilung Gutmanns nachi der bei den Dschagga die öffentliche Memung deutlich das Ziel das mit dem Zaubermittel erstrebt wird, in Betracht zieht und danach die Zauberhandlung bewertet. Wahrend das Tragen von Amuletten als notwendige Schutzmassnahme erschemt güt der Talisman als ein unlauteres Mittel, sich Emfluss auf den Nebenmenschen zu verschaffen. Die Folge ist dass man die Amulette offen am Halse, Arm- und Fussgelenken zur Schau tragt, den Talisman aber heimlich bei sich halt: im Munde, unter der Achsel, in das Kleid eingenaht ). Spieths Berichte heben hervor, dass bei den Ewe die Hauptfunktion der erlaubten Zauberei der Schutz der eigenen Person ist. Diese Art Zauberei ist allgemein: „Wenn em Mann gar keinen Zauber besitzt, so wird er ausgelacht; denn man glaubt, dass er nicht lange am Leben bleiben durfe ).. D Zauberei, die mit dem Zwecke, anderen im Geheimen Schade zuzufügen, betrieben wird, wird von Spieth .geheime Zauberei" genannt. „Redet jemand vor anderen uber bose Zauberei, so kommt er sofort m Verdacht, selbst em boser Zau berer zu sein". — „Man fürchtet sich sehr vor solchen Menschen, weil sie das Leben anderer zu Grunde richten. So bringen sie z.B. Medizinen in ihre Getranke, an_ deI\en sie sterben müssen.Der Grund ist gewöhnlich Eifersucht undHabsuch , ) Diese Art Zauberei wird sehr gefürchtet. Aus Spieths Mitteilungen geht aber nicht mit Klarheit hervor, » die Gemeinschaft gegen sie auftritt, welche Grenzen also der mdividuellen Tatigkeit hier gestellt smd. Wer im Ve^achte er Zauberei steht, muss sich nach Spieth dem ^tesgencM unterwerfen 4). An einer anderen Stelle aber sagt er „Wer im Verdachte steht, dass er seine Mitmenschen verzaubert wir von seiner Umgebung gemieden, und lange Zeit spricht niemand mehr ein Wort zu ihm" 5). Das würde also eher eine 1) B. Gutmann, Amulette und Talismane bei den Dschagganegern am Kilimandscharo, Leipzig, 1923, s. 5. „ 2S0 2) Die Religion der Eweer m Sud-Tongo, =>• »' a.a.O., S. 273. 4) a.a.O., S. 274. ') a.a.O., S. 273. moralische Verurteilung durch die Grappe und eine Isolierung der Verdachtigten in seinen gesellschaftlichen Beziehungen, als eine eigentliche Verurteilung auf gesetzlichem Wege bedeuten. Jedenfalls im Anfangsstadium des Verdachtes. Neben den bösen Zauberern gibt es die Hexen. „Die Hexe ist ein böser Geist". — (Sie) „nimmt Menschen in Besitz und leuchtet aus ihnen heraus" 1). — „Die Hexen werden von jedermann sehr gefürchtet, weil sie Haus und Familie ruinieren. Wird jemand als Hexe entdeckt, so wird er verklagt" 2). Schliesslich wollen wir noch die Berichte von Evans-Pritchard über die Azande heranziehen, weil sie eine systematische Untersuchung der legalen und der illegalen Seite der Magie enthalten. Die Azande unterscheiden, wie die vorher erwahnten Stamme, Hexerei (Mangu) und eigentliche Zauberei oder Medizin (Ngwa). Mangu ist eine erbliche, physiologisch bedingte Eigenschaft eines Menschen. Sie wirkt, im Gegensatz zu Ngwa, ohne Zaubermittel. Die Hexerei gehort immer zur bösen Zauberei. Die eigentliche Zauberei wird unterschieden in „gute" und „schlechte". „The Azande stigmatize bad magie as such, not because it is destructive to the health or property of others, but because it circumvents or flouts the legal and moral rules of their society. This good magie does not do, but on the contrary it acts in accordance with the recognized modes of behaviour which are expected from every good citizen" 3). Aus den Berichten geht ferner hervor, dass die Zauberei, die eine schützende Funktion ausübt, erlaubt ist. Sie darf sich j edoch nur auf die Vernichtung eines böswilligen Zauberers erstrecken. „Good magie with destructive functions of this kind only acts in the event of some crime taking place, and it only acts against the criminal" 4). Von der Zauberei verbrecherischen Charakters wird folgendes berichtet: „It is generally a personal weapon aimed at some individual whom the sorcerer dislikes, against whom he *) a.a.O., S. 299. ») a.a.O., S. 301. s) E. E. Evans-Pritchard, Sorcery and Native Opinion, Africa, Bd. IV, S. 30. «) a.a.O., S. 32. has a grudge but no case of even a quasi-legal nature. The rites which he performs are crimes which spring from the darkest chamber of the human heart where lurk malice, jealousy, hatred, envy, and greed. lts purpose is to injure those who are successful, the brave, the rich, the noble, the fair, the powerful." 1). Es gibt j edoch auch Zauberhandlungen, deren Charakter weniger feststeht, und die nicht mit Sicherheit unter den Grappen der erlaubten und der verbotenen Zauberei untergebracht werden können. Evans-Pritchard warnt davor, allzu scharfe Grenzen zwischen den verschiedenen Zaubergruppen zu ziehen2). Freilich bezieht sich hier die Unsicherheit meist darauf, ob ein gewisses Zaubermittel als gut oder schlecht zu bezeichnen ist, sodass der Eingeborene im Zweifel gerat, ob er es benutzen darf. Das entscheidet aber noch nicht über die Frage, welche Absichten und Handlungen nun gut oder schlecht sind. Der Verfasser sagt, gute Magie sei „directed towards ends which conform to the rules of society" 3). Aber diese „rules of society" umfassen nach unserer Auffassung nicht jedes nichtverbrecherische Verhalten und es ware von Bedeutung zu wissen, welche andere Zauberhandlungen ausserdem erlaubt sind. Zusammenfassend ist über die Grenzen der individuellen Tatigkeit in der Ausübung der Zauberei bei unseren Stammen Folgendes zu sagen: 1 °. Obwohl die Berichte nicht deutlich hervorheben, welche Absichten und Handlungen von der Gruppe gutgeheissen und welche verurteilt werden, steht doch fest, dass es jedem Individuum überlassen wird, sich gegen böse Einflusse zu *) a.a.O., S. 34. 2) „. . . . let us beware of clear-cut doctrines, and those rigid definitions of native opinion which betray the easily satisfied observer. Most men may be convinced that some actions are wrong, and that others are right, but as they near the border line of right and wrong their opinions begin to waver and divide. For some forms of magie may be used legally or illegally while the justice of others may be in dispute, some holding one view while others hold a contrary view. — Sometimes the inquirer will find that there is no single native opinion formulated by tradition into a stereotyped doctrine. Public opinion is seen to be honeycombed with contradictions." (S. 40.) s) a.a.O., S. 39. schützen. Die Gruppe übt darüber keine oder geringe Kontrolle aus. 2°. Verboten sind die in hohem Masse schadigenden Handlungen, im besonderen Mord und Diebstahl, also die Verbrechen, die auch ohne Zauberei streng bestraft werden. 3°. Ferner gibt es ein Gebiet zauberischer Handlungen, deren Ausübung frei ist, insofern sie nicht zu Interessenkonflikten führt. Hierher gehören z.B. Zauber zur Erwerbung von Reichtum, Liebeszauber u.s.w., im allgemeinen die Zaubermittel, die nicht nur zum Schutz dienen, sondern die Erfüllung positiver Wünsche erstreben. 4°. Das Individuum handelt in allen Fallen auf eigene Verantwortlichkeit und es wird für böse Zauberei als Einzelwesen bestraft. Es besteht hier also keine kollektive Verantwortlichkeit. 4. DIFFERENZIERTES UND KRITISCHES VERHALTEN DER ZAUBEREI GEGENÜBER. a. Unterschiede im Zauberglauben. Im vorhergehenden Abschnitt haben wir auf die differenzierende Wirkung hingewiesen, die die Zauberei auf das Verhalten der Individuen ausübt. Wir haben dieses Ver hal ten betrachtet, wie es sich innerhalb eines allgemeinen Glaubens an die Zauberei ausbildet. Jetzt wollen wir nicht von der allgemeinen Erscheinung, sondern von dem Einzelwesen ausgehen und sein Verhalten gegenüber den Zauberhandlungen nach der differenziellen Seite untersuchen. Dabei interessiert uns die folgende Frage: Gibt es Unterschiede im Ver halten der Individuen und zeigt sich dar in schon eine kritische Einstellung? Ehe wir zur Beantwortung dieser Fragen übergehen, wird es zweckmassig sein, darauf hinzuweisen, dass der Zauberglaube nach unseren Berichten tief im Stammesleben verwurzelt ist. Der Zauberglaube ist allgemein und intensiv. Dieser Umstand erhöht die Bedeutung der Falie, in denen Eingeborene ein kritisches Verhalten zeigen. Uber die allgemeine Verbreitung der Zauberei wird z.B. Folgendes berichtet: „Almost every Mwila you meet wears one or more of these charms round his neck or on his arm or head" 1). „Die Leute zaubern eben alle" 2). Nachdem wir die Allgemeinheit und Intensitat des Zauberglaubens betont haben, dürfen wir jedoch die Frage aufwerfen, ob diese Intensitat nicht in vielen Fallen von den Ethnographen übertrieben worden ist. Einige unserer Berichte lassen einen Zweifel daran gerechtfertigt erscheinen. So bemerkt Pechuël-Loesche, einer der besten Beobachter derartiger Erscheinungen, z.B.: „Obgleich gewiss niemand in Loango ebensowenig frei ist von Hexenfurcht wie vom Glauben an Gespenster und Fetische, bekundet sich doch oft eine merkwürdige Gleichgültigkeit selbst erschreckenden Vorgangen gegenüber. Geschadigte mögen noch so laut über Verhexung jammern, ihre Beschwerden verhallen unbeachtet oder werden mit Spott und Hohn beantwortet. Mancher zieht es darum vor, zu schweigen, und wird irre in seinem Verdachte. Trotz der gewiss grossen Macht der Uberlieferung, trotz der erdrückenden Furcht vor dem Bösen respektiert der unter ertraglichen Verhaltnissen immer bereite Witz und Mutwillen des Volkes weder die Hexen noch ihre Opfer. Und wenn man so die Leute hört und sieht, könnte man leicht der groben Tauschung verfallen, dass sie weit erhaben waren über solchen Unsinn" 3). Und: „Ihre Angst vor Gespenstern ist gewiss ausserordentlich gross, und dennoch gewinnen sie es über sich, sei es aus reiner Lust am Unfug, um andere anzugruseln, sei es, um irgendwelche Zwecke zu erreichen, deren Rolle in eigener Person zu übernehmen und ganz herzhaft mit zu spuken" 4). Aus den angeführten Stellen geht deutlich hervor, dass die Zauberei bei den Bafioti nicht einen durchaus starren, alles beherrschenden Charakter tragt, sondern dass die Intensitat, mit der sie erlebt wird, von Personen und Umstanden abhangt. Es ist hierbei zu bedenken, dass es kein festumschriebenes Glaubensdogma gibt. Wir werden darauf noch ■) Smith und üale, The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 252. 2) Pechuël-Lösche, Volkskunde von Loango, S. 336. ») a.a.O., S. 345, 346. ') a.a.O., S. 346. zurückkommen (vergl.S. 161). „Esist", sagtPECHUËL-LoESCHE mit Bezug auf die Glaubensvorstellungen, „alles im Fluss, aus dumpfen Gefühlsregungen aufsteigend wie Schaumblasen aus brodelndem Wasser. Das meiste tut die Stimmung" x). Es ist deutlich, dass in dieser emotionalen Sphare das Persönliche und Willkürliche eine grosse Rolle spielen kann. Pechuël-Loesche, dessen Berichte für unser Thema sehr wertvoll sind, teilt weiter einige Einzelheiten über die Unterschiede im Verhalten der Zauberei gegenüber mit. Er hebt hervor, wie sehr bei den Bafioti Charakterunterschiede dieses Verhalten beeinflussen. „Der Mann mit Selbstvertrauen, der Zweifler, der Geizige spart die Kosten und behilft sich mit wenigen Fetischen, die er teilweise vielleicht selber fertigt. Der Zaghafte kann gar nicht genug haben" 2). „Haare, Nagelschnippsel, Speisereste und andere Dinge bieten den Schwarzkünstlern willkommne Gelegenheit, ihre verderblichen Künste zu üben. Dennoch sieht man solche Dinge achtlos wegwerfen und findet man sie allenthalben herumliegend. Wahrend Angstliche sie sorgsam vernichten, fühlen sich andere nicht dazu bewogen, sei es aus Leichtsinn, aus Lassigkeit, sei es, weil sie wirklich nicht fürchten, geschadigt zu werden, oder weil sie ihren Fetischen unentwegt vertrauen" 3). Ahnliche Unterschiede werden von Spieth berichtet. Bei den Ewe sucht sich der eine Eingeborene mit viel mehr Zaubermitteln zu schützen als der andere. „Viele sind sehr eifrig darin und suchen sich mit einer möglichst vollzahligen Sammlung von Zaubermitteln zu umgeben. Sie füllen zuweilen ganze Zimmer damit. So hatte T. in A. ein besonderes Zimmer für seine Zaubermittel eingerichtet. Die Veranlassung dazu liegt wohl bei den einen in der Vorsorge für sich und die ihrigen und bei den andern in dem Wunsche, sich möglichst mühelos durchs Leben zu bringen. Der Zauberer H. hatte einen kranken Bruder, den er sehr liebte. Für diesen kaufte ') a.a.O., S. 345. a) a.a.O., S. 36 ff, ») a.a.O., S. 346. er eine ganze Menge Zaubermittel, so dass er allmahlich nicht weniger als 57 Mark für diesen Zweck ausgegeben hatte Andere dagegen verschaffen sich die Zaubermittel nur in dem Gedanken ihre Mitmenschen zu betrügen, d.h. auf möglichst leichtem Wege viel Geld herauszuschlagen" 1). Diese Berichte lassen einmal ersehen, dass bei der Zauberei individuelle Unterschiede in den Motiven sowie in den begleitenden Gefühlen auftreten, zweitens aber, dass diese Unterschiede ein verschiedenes Verhalten bewirken. Wichtig ist dabei, dass die Gemeinschaft diese Ungleichheiten ermöglicht und zulasst. In welchem Masse dies der Fall ist, geht aus den Berichten leider nicht hervor. Auch hier freilich, wie überhaupt beim menschlichen Verhalten, kann von rein persönlichen Ausserungen keine Rede sein. Die Wechselwirkung zwischen dem Einzelwesen und seiner Umgebung ist vielmehr für das Verstandnis unserer Erscheinungen ausserst wichtig. Schon die wenigen Beispiele, die uns zur Verfügung stehen, zeigen das. Besonders Pechuël-Loesches Berichte über die Hexenprozesse der Bafioti sind dafür aufschlussreich. Sie lassen die Kompliziertheit des Zaubervorganges als einer sozialen Erscheinung sowie das Zusammengehen persönlicher und kollektiver Faktoren ersehen. Anklagen wegen böswilliger Zauberei, sagt PechuëlLoesche, haben ihre Schwierigkeiten und ihre Gefahren. Es gilt mancherlei Rücksichten zu nehmen, Stellung und Familienbeziehungen zu beachten, überhaupt den W ert des in Frage stehenden Menschen abzuschatzen2). Die Rolle des Persönlichen bei diesen Vorgangen wird, wie wir schon betonten, noch dadurch gestarkt, dass die Anklagen von einer Person oder einer Familie erhoben werden. Die Gemeinschaft verhalt sich zunachst abwartend, die Einzelperson ist der Handelnde. Ihr Erfolg hangt einerseits von ihren persönlichen Eigenschaften, anderseits aber auch von ihrer sozialen Stellung ab. Ein aufschlussreiches Beispiel für dieses Zusammenwirkens individueller und kollektiver Faktoren lief ert die folgende Mitteilung Pechuël-Loesches: „Hexenprozesse *) Spieth, Die Ewe-Stamme, S. 526. ') Volkskunde von Loango, S. 413 ff. sind Privatangelegenheiten, falls es sich nicht um einen ausgemachten gemeingefahrlichen Ndodschi handelt, dem ein Grosser zum Opfer gefallen ist. Sie können von der öffentlichen Meinung gebilligt, gefordert, sie können aber auch verworfen werden. Nur der von der Gerechtigkeit seiner Sache vollstandig Uberzeugte, nur der Zahlungsfahige wagt es, sie anzustrengen. Doch kommt es vor, dass ein Verdachtigter, der um seine gesellschaftliche Stellung besorgt ist, sich im Vertrauen auf seine Makellosigkeit freiwillig der Giftprobe unterwirft und sogar selbst die Kosten tragt". — „Alle solche Möglichkeiten wirken abschreckend, warnen vor übereilten Ausbruchen des Verdachtes. Sie verhindern manche Anklage oder wenigstens die Durchführung der Giftprobe. Mancher hat es ja eilig, falls seine Versicherung bezweifelt wird, zu rufen: ich nehme Gift darauf! Aber er tut es deswegen noch lange nicht. Wie die anderen, die gleich anfangs zaudern und sich herumdrücken, rechnet er mit Angehörigen, Blutsbrüdern und Freunden, mit seiner Beliebtheit, sowie mit Palaverkünsten. Wie immer die Angelegenheit stehen und wen sie, mit den schon erwahnten Ausnahmen, betreffen mag, die nachste Folge wird sein, dass man langwierige Untersuchungen und Verhandlungen beginnt, Leumundszeugen beschafft, grosse Familien- und Erdschaftspalaver abhalt. „Derweile mag der hitzige Anklager in die Dörfer, auf die Markte ziehen, aller Welt seine Beschwerden haarklein halb singend mit leidenschaftlichem Ungestüm vortragen. Es nützt ihm nicht viel. Es kann geschehen, dass ihm Ruhe geboten, dass er hinausgeworfen wird. Ja es kann geschehen, dass der Beklagte selbst, ein Freund oder gemieteter Anwalt ihm entgegentritt, ihn niederschreit, lacherlich macht — nganga mpaka: Prozesshansl. Unterdessen wird die Untersuchung weitergesponnen, und die Parteien erklaren sich allmahlich für und wider. Die ganze Art der umstandlichen, redelustigen und tüfteligen Leute, die alle ihre Weisheit anbringen wollen, wirkt hierbei günstig. Zumal wenn die Seele sich nicht meldet, wenn weder Zeichen noch Wunder geschehen. Denn vielleicht begibt sich inzwischen et was Neues und Aufregendes, das die Aufmerksamkeit ablenkt und lan- gere Zeit fesselt. Das ist eine Unterbrechung. Die Angelegenheit tritt in den Hintergrund und wird nachher vielleicht gar nicht wieder aufgenommen; man ist ihrer überdrüssig. „Wer aber trotz aller Palaverkünste und Durchstechereien die öffentliche Meinung gegen sich hat und dessenungeachtet noch zaudert, sich durch die Probe zu reinigen, der wird scheel angesehen, kommt in Verruf, wird von allen gemieden. Er gilt nicht mehr für respektabel und ist gesellschaftlich so gut wie tot. Selbst die besten Freunde fallen von ihm ab, und seine Familie fühlt sich mit Schande beladen. Einem solchen Drucke wird auch der Widerwilligste selten lange widerstehen, er müsste denn vorziehen, in die Fremde, ins Elend zu gehen. Der Gedanke ist j edoch den Leuten meistens schrecklicher als der an die Giftprobe. Kleine Leute freilich, die nicht mit einflussreichen Angehörigen und Freunden den Austrag der Probe verschieppen können, werden in stürmischen Zeiten bald handgreiflich dazu gezwungen. Es ist eben von grösster Bedeutung, wer klagt, gegen wen, und unter welchen Umstanden, ob ein bezahlter Hexenmeister anschuldigt oder ob der Volksglaube sich sofort gegen eine Person wendet" 1). Bei einer Zergliederung der obigen Mitteilungen ergeben sich folgende Punkte: 1°. Das Einzelwesen oder mit ihm seine Familie ist selber für die Anklagen verantwortlich und tragt die Folgen. 2°. Man muss seiner Sache sicher sein, um sie durchsetzen zu können, d.h. viel hangt hier vom Selbstbewusstsein und den Fahigkeiten des Individuums ab. 3 . Offenbar ist die Empfindlichkeit für Verdacht verschieden abgestuft, da es einerseits vorkommt, dass sich jemand freiwillig der Giftprobe unterwirft, andere dagegen anfangs zaudern und davor scheuen. 4°. Aber auch bei den Leuten, die schnell bereit sind, sich der Giftprobe zu unterwerfen, bilden sich Unterschiede heraus, die teilweise von sozialen Umstanden (soziale Stellung, Familienbeziehungen, öffentliche Meinung), teilweise von persönlichen Eigenschaften (Redegewandtheit, Selbstbewusstsein), und schliesslich auch von einem Aufeinandereinwirken beider Gruppen von Faktoren (Beliebtheit) abhangen. 5°. Von Interesse ist ferner die Wirkung der öffent- ') Volkskunde von Loango, S. 414 ff. lichen Meinung. Sie lasst vieles zu, wie Palaverkünste, Durchstechereien und Zaudern der Angeklagten, und ist imstande, gewisse Angeklagte auf Grund ihrer Stellung, Eigenschaften und der jeweiligen Umstande zu begünstigen. Das heisst, dass die öffentliche Meinung und mit ihr die Stabilitat der Gruppe eine gewisse Spannkraft hat, innerhalb deren persönliches Wirken möglich ist. Diese Stabilitat hat aber ihre Grenzen. Wenn der Angeklagte zu lange zaudert oder zu sehr in Verruf kommt, so ist seine gesellschaftliche Existenz gefahrdet oder gar unmöglich geworden. Auch in diesem Falie geht eine Wirkung vom Individuum aus (das Zaudern) und von der Gruppe (Zwang zur Unterwerfung unter die Giftprobe, Ausstossung aus der Gruppe). Man könnte sagen, dass persönliche Wirkungen nicht nur möglich sind, sondern bis zu einer gewissen Grenze sogar an dem Zaubervorgang inharent sind. Diese Grenze wird durch das Stabilitatsbedürfnis der Gruppe bedingt. Ein unterschiedsloses, unpersönliches Funktionieren der Zauberei würde aber ebenfalls diese Stabilitat gefahrden. An den Namen und der Entstehung der Fetische bei der Bafioti sehen wir ebenfalls, wie sehr gewohnheitsmassiges und freieres, willkürliches Verhalten sich kreuzen, und wie wenig es möglich ist, eine strenge Unterscheidung zu treffen. Nach Pechuël-Loesche tragen viele Privatfetische, die für dauernde Dienstleistungen und für Zwecke des allgemeinen Wohles bestimmt sind, Eigennamen; und zwar haben alle gleichartigen, die manchmal zu Hunderten oder Tausenden im Volke verbreitet sein mögen, die gleichen Namen. Insoweit könnte man also von einem gewohnheitsmassigen Verhalten, von Tradition sprechen. Nun kommen aber persönliche Faktoren hinzu. „Neu erfundene, für ungewöhnliche Zwecke begehrte (Fetische), erhalten neue, manchmal auch alte, schon wohlbekannte Namen, je nach Laune und Belieben ihrer Ver fertiger und Besteller" 1). Gegen Nachahmungen erheben bisweilen die Zunftgenossen Einspruch, und es gibt Palaver. In diesem Falie macht sich also die Gruppe geltend und versucht den bestehenden Zustand aufrechtzuerhalten. Die Dif- •) a.a.O., S. 369. Von mir hervorgehoben. ferenziertheit der Bestrebungen tritt aber daneben deutlich hervor: „Nicht selten lasst eine vornehme und zahlungsfahige Familie zu Ehren eines ausgezeichneten Mitgliedes einen neuen Fetish herstellen, dem der Name, aber keineswegs haufig die Gestalt des Betreffenden gegeben wird" 1). Ahnliches wiederholt sich bei anderen wichtigen Ereignissen. „Banganga stellen wohl auch einen berühmten Verstorbenen ihrer Zunft im Bilde dar und benutzen das Stück mit bei ihren Zaubereien. Ferner verf allen sie auf den Gedanken, ein wichtiges Ereignis, eine allgemeines Interesse erregende Persönlichkeit durch einen neuartigen Fetisch zu verherrlichen und somit in ahnlicher Weise Erfolge zu erstreben wie die Hersteller unserer Modewaren. Bemerken andere, dass der Kaufer des neuen Zaubergebildes Glück hat, so wollen sie es ebenfalls haben und bestellen Nachbildungen. Bewahren sich auch diese, so kommt der Nganga in den Ruf, ein neues und unübertreffliches Ngilingili gemischt zu haben. Der Ruhm seiner Erfindung geht durch das ganze Land. Er erhalt Zulauf und Bestellungen, wird gleichsam Fabrikant und ein reicher Mann. Sein Muster wird massgebend, freilich auch für Nachahmer, was wieder zu mancherlei Rechtshandeln führen kann" 2). Aus diesen Berichten geht hervor, in welchem Masze bei der Entstehung und Benennung der Fetische persönliche Umstande, Willkür, Stolz, Laune, Ruhm des Verfertigers eine wichtige Rolle spielen können. Aus anderen Mitteilungen Pechuël-Loesches geht hervor, dass die engen Beziehungen, die zwischen einem Fetisch und seinem Besitzer bestehen, ebenfalls eine differenzierende Wirkung haben. So lehren die Banganga, dass Fetische gleicher Art in verschiedenen Handen ungleich wirken. „Ihr richtiger Gebrauch ist ja eine Kunst, die nicht ein jeder gleich geschickt auszuüben versteht und verlangt genaue Beobachtung von Vorschriften, wobei leicht etwas versehen wird. Wer ganz und gar sicher gehen will, der bestellt allerdings seinen besonderen, nur für ihn herzustellenden Fetisch 3). ') a.a.O., S. 369. *) a.a.O., S. 369. s) a.a.O., S. 370. Wichtig für das Verhalten gegenüber den Fetischen ist bei den Bafioti die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schichtung. So bedienen sich fast nur die Grossleute, die gegen Anfeindungen genügend gesichert dastehen der wichtigen Förderfetische; Kleinleute haben Bedenken x). Die soziale Schichtung ist auch bestimmend dafür, wieviel Schutz man sich verschaffen kann. Der Reiche vermag viele und machtige, sowie grosszügig ausgestattete Zaubermittel zj erwerben, wahrend sich der Arme mit wenigen und geringen, d.h. mit denen der unteren Stufe begnügen muss2). Fetische gehören überhaupt zu den Würdenzeichen der Vornehmen und der Hauptlinge, ihr Besitz tragt also zur Distinktion und Differenzierung bei. „Von besonderem Reize ist es, zu beobachten, wie die Leute, je nach Alter, Stellung und Besitz von Glücksgütern, sich der Fetische bedienen. Im allgemeinen sind in der ansteigenden Half te des Lebens die Fetische für Erfolge, die Förderfetische, in der absteigenden Halfte die Fetische für Abwehr von Übeln, die Schutzfetische begehrt" 3). Das Verhalten der Leute den Gemeindefetischen gegenüber kann ebensowenig einfach als Sitte oder Gewohnheit charakterisiert werden. Die Mitglieder der Gemeinde müssen gewisse Verhaltungsmassregeln beobachten, ohne die die Zauberkrafte des Fetisches nicht wirksam bleiben. Ein Verstoss gegen die Regeln schadigt die ganze Gemeinde, weil dann die Krafte des Fetisches versagen. Wer durch Missachtung der Vorschriften ein Unglück verschuldet, hat oft einen harten Stand und wird zur Verantwortung gezogen. Auch hier indessen tritt wieder die persönliche Reaktion ein. Die Schuldigen sind namlich nichts weniger als geneigt, ihren Fehltritt zu bekennen, falls sie nicht etwa auf frischer Tat ertappt worden sind. Sie isolieren sich also gewissermassen von der Gemeinschaft. „Sie schweigen fein still und warten ab, was sich weiter entwicklen wird. Treten keine Missgeschicke ein, so werden sie irre am Fetisch wie an den Lehren der Banganga. Sie geraten unter die Zweifler, die zwar noch lange ') a.a.O., S. 370. ') a.a.O., S. 371. •) a.a.O., S. 370. nicht Freigeister sind, aber den Zaubermannern und ihren Werken manchmal recht ungemütlich begegnen" 1). Aus Pechuël-Loesches Mitteilungen über die öffentlichen Beschwörungen der Gerichtsfetische geht ebenfalls hervor, dass die Zuschauer gar nicht in gleichem Masse glaubig sind. Wahrend bedeutender, vorher angesagter Beschwörungen entfaltet sich oft ein Volksleben wie auf einem Jahrmarkt. „Schaulustige kommen von nah und fern herbei und sammeln sich um den Platz. Die weibliche Jugend versaumt nicht die Gelegenheit, sich im Putz zu zeigen. Die ringsum stehenden, sitzenden, hockenden, liegenden Leute treiben allerlei Kurzweil, drangen und necken sich, schwatzen, lachen, johlen. Schuldlose brauchen ja Fetische nicht zu fürchten. Passende und unpassende Bemerkungen, Spottreden, Witze fliegen hin und her. Es geht gelegentlich recht pöbelhaft zu. Ich habe Zaubereien beigewohnt, wo über dem Unfug der Zweck der Handlung vergessen wurde. Doch sieht man auch Gruppen, die ein tieferes Verstandnis und gebührende Würde sowie Unwillen über die Störungen zur Schau tragen. „Naher Beteiligte folgen den VorgangenmitSpannungund rufen tadelnd zur Ordnung. Dann wird es für ein Weilchen stiller" 2). Der Bericht zeigt meines Erachtens deutlich, wie wenig hier von einer fest geregelten Sitte, von einem durch Tradition bedingten Vorgang die Rede sein kann. Wir haben es zwar mit einem kollektiven Glauben an die magische Wirkungsfahigkeit der Fetische zu tun, seine Tiefe scheint indessen sehr verschieden zu sein: bei vielen wird wohl die Lust am Schauspiel überwiegen; daneben gibt es aber würdigere, „frommere" Leute. Auch das Mass des Interesses an der Beschwörung ist nicht bei allen Zuschauern das gleiche. Daraus folgt eine Verschiedenheit in der Distanz oder der Nahe zu dem Vorgang. b. Kritisches Verhalten. Beziehen die bisher erwahnten Berichte sich nur auf Unter- *) a.a.O., S. 405. ■) a.a.O., S. 395. schiede in der Intensiteit des Glaubens, so gibt es doch auch Falie, wo wirkliche Skeptiker hervortreten. Pechuël-Loesche teilt einige Begebenheiten mit, die für die Frage der primitiven Individuation von Interesse sind. Wir lassen sie hier folgen. „Einst liessen wir in unserem Gehöft wegen eines Diebstahles den machtigen Fetisch Malasi in Tatigkeit setzen. Da drangte sich diensteifrig aus unserem Gesinde ein Mann vor, der sich, Ellbogen und Knie auf den Boden stützend, das Zauberbild wahrend der Handlung auf den Rücken stellen liess. Dieser Mann war der Dieb selber. Natürlich wurde er nicht entdeckt, erlitt auch sonst keinen Schaden. Aber spater, als er eines zweiten Diebstahles überführt worden war, gestand er uns seine Schuld ganz gemütlich ein. „Ein anderes Mal hatten wir den Mabiala ma ndemba, einen der berühmtesten Diebfinder, mit seinen Banganga nach der Station zum Zaubern berufen. — Nachdem die Zauberhandlung erledigt war, baten unsere Leibdiener und die Vormanner des Gesindes um die Gunst, den gewaltigen Fetisch persönlich auf ihre Treue beschwören zu dürfen. Durch eine geringe Erhöhung des Honorares erwirkten wir ihnen diese Erlaubnis. Einer nach dem anderen trat vor das nagelgespickte Holzbild und forderte es in feierlicher Weise heraus, ihn zu strafen, sofern er seine Pflichten gegen uns verletze. Dabei tat ein jeder einige Schlage auf eine zu diesem Zwecke in den Leib des Fetisches getriebenen Nagel. Als die Reihe an meinen neben mir stehenden Jungen Ndembo kam, der sich viel darauf zugute tat, dass ich ihm volles Vertrauen schenkte, lachte er, hob die Schultern und lehnte einfach ab. Da die übrigen dennoch in ihn drangen, ging er zu dem Fetisch, griff ihm an den Kopf und schlenkerte ihm die Hand ins Gesicht, dass es klappte. Die Umstehenden waren zuerst verblüfft, dann larmten sie los. Ein Nganga lachte, der andere maulte ob des dem Mabiala angetanen Schimpfes. „Dieser Vorfall gab viel zu denken. Ware der kecke Beleidiger nachher erkrankt, verunglückt oder gar gestorben, so hatte der Fetisch natürlich an Ansehen gewonnen. Da jedoch keinerlei üble Folgen ein trat en — ich traf den Tater sechs 11 J ahre spater noch wohlauf und zu einem stattlichen Burschen herangewachsen —, hatte die Wirkung nur entgegengesetzt sein können, wenn man auch in Loango nicht rasch vergasse, was nicht in das System passt. „Ndembo, der keineswegs frei war vom Glauben an Gespënster, Hexen und Zaubermittel, versicherte auf Befragen, dass dieses machtige Zauberbild ihm gar nichts anhaben könne, weil es bloss schlechte Menschen töte. Dies entsprach nun allerdings der landlaufigen Anschauung. Aber von dieser Uberzeugung, die ja offenbar auch unsere übrigen Diener beherrschte, bis zur tatlichen Verhöhnung des allgemein Gefürchteten, ist doch noch ein weiter Schritt. Bei einer spateren, unter anderen Verhaltnissen in einem Dorfe vorgenommene'n Beschwörung, sowie bei dem Auftreten eines in der grotesken Maske des Mkissi Ndungu die Eingeborenen bedrohenden und vielfach in die Flucht jagenden Mannes, zeigte der Junge eine ahnliche Haltung. „So schlagend und frei vor allem Volke, wie oben beschrieben, habe ich Missachtung eines Hauptfetisches nur noch von einer zweiten Person, von einem Madchen, bei einer grossen Zauberei beweisen sehen. Das resolute Madchen stiess nach einigen lauten Worten den menschenahnlich gebildeten Fetisch so derb mit dem Fusse, dass er umfiel und sich überrollte. Viele aus der Menge lachten, andere murrten. Grollend hoben die Banganga das Holzgebilde auf, bliesen den Staub ab und fuhren fort zu zaubern. Weiter geschah nichts''l). Pechuël-Loesche warnt mit Recht davor, in derartigen Vorfallen etwa Anzeichen von besonderem Heldenmute oder überlegener Weltanschauung zu sehen. „Den Ubermütigen, die angesehenen Familien entstammten, gefiel es eben, leichten Sinnes oder im Zorne einmal gerade so und nicht anders zu handeln, ohne sich weiter zu bedenken oder Rechenschaft abzulegen. Sie würden, namentlich im höheren Alter, gewiss nicht zaudern, sich vertrauensvoll der namlichen Fetische zu bedienen. Sie würden unter anderen Umstanden, mit schlechtem Gewissen, sie auch fürchten und vor ihnen vielleicht eine ■) Volkskunde von Loango, S. 403 ff. sehr kleinmütige Haltung zeigen 1)". Es ist natürlich sehr schwer in Erfahrung zu bringen, was die Eingeborenen wirklich glauben und was sie sich bei den Zauberhandlungen denken. Ihr Verhalten jedenfalls zeigt, dass ihr Glaube Differenzierungsmöglichkeiten zulasst. Damit ist nicht etwa der Glaube selbst aufgehoben, er funktioniert nur vielmehr so, dass Raum für Lockerung und Ungleichheiten bleibt. Es handelt sich also nicht um ein starres, nur von einheitlichen „Kollektiv-Vorstellungen" beherrschtes Funktionieren. Ein Fall, in dem ein Eingeborener sich dem Zauberbetrieb gegenüber kritisch verhalt, wird noch von Spieth berichtet: „Einst kam ein angesehener Zauberer nach Ho und Akoviewe, wo er den Leuten gegen reiche Geschenke ihre Ubel vertrieb. Unter den vielen, die sich um ihn drangten, befand sich auch ein Mann, der über die wunderbaren Wirkungen des Zaubers erstaunt war. Um nun aber ganz von der Zuverlassigkeit dieser Wirkungen überzeugt zu werden, nahm er die Fasern einer verrotteten Bananenstaude, legte sie sich an das Bein und band einige Blatter darauf, unter denen der schmutzige Saft abfloss. Dann hinkte er an einem Stock zu dem Zauberpriester und sagte: „Ich habe bemerkt, wie sehr dich dein Zaubermittel gesegnet hat. Nun habe ich an meinem Bein schon Jahre lang eine schwere Wunde, die nicht heilen will". Er machte den Zauberpriester auf den unter dem Verband abfliessenden Eiter aufmerksam. Der Zauberer fing hierauf zu tanzen an und sagte: „Ich sehe Leben für dich!" Der Fragesteller sagte: „Was siehst du für mich?" Hierauf gab er dem Zauberpriester sein Geschenk, und wieder sagte derselbe: „Ich sehe Leben für dich! Deine Wunde aber ist unheilbar, die musst du bis zu deinem Tode behalten". Kranker: „Aber lasst sich denn gar nichts dagegen tun? Hier bringe ich dir mein Opfer". Priester: „Nein, diese Wunde musst du bis zu deinem Tode behalten, du bist jetzt schon ein toter Mensch! Als du noch in Bome, im Menschenwerdungsplatz, warst, hatte jemand eine schwere Wunde. Als nun ein Mann kam, die Wunde zu reinigen, da hast du einen Stein gegen den Topf geworfen, in dem sich das Wasser mit der ') a.a.O., s. 405. Arznei befand. Der, der die Wunde reinigen wollte, nahm dann einen Stock, um dich zu schlagen, du aber bist entflohen, urn deine Zuflucht in die Welt des Sichtbaren zu nehmen. Der mit der Wunde Behaftete wurde darüber sehr böse und sandte dir seine Wunden in das Diesseits nach, die du auch behalten musst". Jetzt nahm der Kranke den Verband ab und zeigte dem Zauberpriester sein Bein, das ganz gesund war, und dieser stand nun beschamt als Lügner da. Die Leute aber schalten den angeblichen Kranken, weil er sich „mit Gott messe" und „Gott versucht" habe" x). Obwohl Spieth sagt, dass das Volk dem Zauber unbedingtes Vertrauen schenke, zeigt noch ein anderer von ihm mitgeteilter Vorgang, dass die Zauberei nicht immer mit unerschütterlichem Glauben aufgenommen wird und dass auch eine kritischere Einstellung zu finden ist. Im Jahre 1890 waren die Hauptlinge des Ewe-Dorfes Vakpo zu der Überzeugung gekommen, dass böse Zauberer unter ihnen sein müssten. Jeden Morgen namlich fanden sie in ihrem Dorfe, namentlich an den Wanden der Hütten, Blutspuren. Ein Zauberer wurde herbeigerufen und dieser fand auch den Tater richtig heraus. Dieser, ein noch junger Mann, musste sich hernach manches Schimpfwort und sonstige Misshandlungen gefallen lassen. Trotzdem fanden die Hauptlinge auch an den folgenden Tagen wieder Blutspuren. „Ausser sich vor Arger, dass der Mensch, trotz Bestrafung, immer noch sein unheimliches Geschaft des „Menschenessens" fortsetzte, wollten sie ihm jetzt ihre Macht zeigen" 2). Insoweit ist der Vorgang ganz im Rahmen des kollektiven Zauberglaubens geblieben. Was nun folgt, zeigt j edoch, dass auch eine kritischere Einstellung möglich ist: „Einige unter ihnen kamen aber auf den Gedanken, man müsse doch noch vorher nachforschen, ob das auch tatsachlich Blutspuren seien, was sie für solche gehalten hatten. Die vermeintlichen Blutflecken wurden hierauf genau untersucht, und da zeigte es sich, dass es nur die Exkremente fliegender Hunde waren, die rote Früchte gegessen hatten. Der als geheimer Zauberer gekennzeichnete Mann !) Die Ewe-Stamme, S. 531. a) Die Ewe-Stamme, S. 542. kehrte nun den Stiel um und wollte die Dorfbewohner verklagen. Sie brachten ihm aber reiche Geschenke und baten ihn um Verzeihung" 1). Bei den Zande werden uns von Evans-Pritchard Falie von Skeptizismus berichtet. Seine Mitteilungen dürfen als besonders wertvoll angesehen werden, weil er einer der wenigen Ethnographen ist, die unserem Gegenstand spezielle Aufmerksamkeit gewidmet haben. Er stellt sich die Frage, wie weit der Glaube der Eingeborenen an die Fahigkeiten der Zauberdoktoren geht, und antwortet Folgendes: „Ethnological literature almost entirely neglects queries of this kind. Therefore I was surprised to find a considerable body of sceptical opinion in many departments of Zande culture. I was especially impressed by Zande scepticism about the supernatural powers claimed for their witch-doctors. There is much variation of opinion among individuals about these powers. Savages do not all hold the same opinion any more than Europeans do. Quot homines tot sententiae is also true of primitive societies. Some men are more credulous than others and less critical in their acceptance of statements made by professional magicians. These differences of opinion depend largely upon modes of upbringing, range of social contacts, variations of individual experience, and possibly also on innate dispositions" 2). Der Verfasser gibt zu, dass europaischer Einfluss auf die Entstehung oder Entwicklung dieses Skeptizismus fördernd gewirkt haben kann. Jedoch gibt es manche Zeichen dafür, dass die Erscheinung des Skeptizismus unter den Zande nicht neu ist. „Also, old men who can be quite acquitted of „white" influence have expressed to me the same scepticism about witch-doctors. Thus my old friend Ongosi used to teil me that most of what the witch-doctors told their audiences was just bera, just „supposition", they think out what is the most likely cause of any trouble and put it forward, in the guise of an inspired oracle, as a likely guess, but it is not sangba ngwa, ») a.a.O., S. 542. 2) „The Zande Corporation of Witch Doctors", in Journ. of the Royal Anthr. Inst., 1932, S. 320. the words of medicine, i.e. it is not derived from the super natural power of the medicines which they have eaten. „Ongosi is a man who has spent his whole life in close association with the court life of kings whom he has served and has largely acquired their detached attitude towards „Zande" (commoner) practicers. My informant, Koagbiaro, had the same detached viewpoint as a result of an even closer association with court life. He was never deeply moved by revelations of witch-doctors and even treated them with a measure of open contempt". — „Another instance is that of my cook, Zingbondo, (he had been 2 years in military service and had travelled to Wan-Kamanga, had also travelled to a wider extent than most Azande), whose remarks were often tinged with refreshing cynicism, and who was accustomed to speak lightly of witch-doctors. He contrasts in a remarkable manner with Kamanga, who was a fervent believer in all kinds of magie, and especially in the magie powers of witchdoctors, a belief which months of mild effort on my part failed to break down. „I particularly do not wish to give the impression that there is anyone who disbelieves in witchdoctorhood. The view of most of my acquaintances is that there are a few entirely reliable practitioners, but that most of them are mere quacks. Hence in the case of any particular witch-doctor they are never quite certain whether reliance can be placed on his statements or not. They know that some witch-doctors he and that others teil the truth. There is no certain means of immediately knowing from his behaviour into which category any witch-doctor falls. They reserve judgment and temper faith with scepticism" 1). Aus diesem Bericht eines der besten heutigen Ethnographen geht ebenfalls hervor, dass der Glaube der Eingeborenen an die Zauberei nicht kritiklos ist, sondern vielmehr oft ein skeptisches Verhalten zeigt 2). In dieser Hinsicht zeigen sich ») a.a.O., S. 321 ff. 2) Marett bemerkt über die Einstellung der Hauptlinge und Alten: „Having their native share of shrewdness, they must have their doubts about many a point of current belief. Indeed, it is possible, as I myself have done, to accumulate an impressive heap of witness in respect to the unter den Eingeborenen oft deutliche Unterschiede. Derartige Unterschiede werden auch von den Ba-ila berichtet: „The belief in the diviner's power to find things is strongly held by most people, perhaps, though some merely laugh at it" 1). Von Interesse ist auch, was Weeks über den Charakter des Zauberglaubens sagt. Die Eingeborenen dürfen nach seinen Worten glauben, was sie wollen, nur an Hexerei muss jeder glauben, da man sich namlich als Unglaubiger der Gefahr aussetzt, selbst verdachtigt zu werden. „A man may believe any theory he likes about creation, about the Supreme Being, and about the abode of the departed spirits; but he must believe in witches and their power for evil, and must in unmistakable terms give expression to that belief, or be accused of witchcraft himself. A man may be a devoted believer in charms and fetishes, he may decorate his person, his house, his children, his pigs, his goats, and his dogs with as many charms as he can afford to buy, or he may leave all the charms and fetishes severely alone, and no one will think the better or worse of him; but he must believe in witchcraft, and in witches and their horrible power, or his life will be made wretched with accusations of witchcraft" 2). Aus diesem Bericht geht sowohl die allgemeine Verbreitung des Zauberglaubens als die dennoch innerhalb dieser Allgemeinheit bestehende Möglichkeit zu einem differenzierten Ver halt en hervor. Die folgende Mitteilung des genannten Verfassers lasst das Vorkommen persönlicher und skeptischer Ausserungen noch deutlicher erkennen. „A man may believe or disbelieve in alleged scepticism of certain savage chiefs and elders who, under crossexamination by the civilized inquirer, have cheerfully allowed that augurs may have cause to wink at one another in their private capacity. Even if we suppose, as is quite likely, that such confessions often form part of a general conspiracy to fooi the white man, yet the very fact that the native mind can distinguish between different versions of the faith, whether the estoric one be imparted to strangers or reserved for the initiated, proves that one dead-level of credulity by no means represents the psychological truth of the matter." (Faith, Hope and Charity in primitive Religion, S. 106 ff.) ') Smith und Dale, The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, I, S. 267. a) Among the primitive Bakongo, S. 284. medicine-man and witch-doctors without dire consequences necessarily resulting from his scepticism; he may snub a witch-doctor and talk slightingly of his charms, his fetishes, and his power; he may pass one by to call in a distant medicine-man, and suffer no inconvenience from his sneering attitude towards one or twenty of the fetish-men; but he must believe in witchcraft and the ordêal. The village witch-doctor is seldom, if ever, engaged by the natives of the village in which he lives. They know too much about him to waste their money on him. They see him repairing his charms and fetishes from the depredations of rats, cockroaches, and white ants; they know his fetish power and his charms are unable to keep him, his wives, his children, or even his goats, pigs, and dogs in good health; so they flout him and send for the medicine-man of another village of whom they know little or nothing. Therefore a faith in all witch-doctors is not a necessary part of their creed. Their fetishes are very numerous, but no one man believes in them all. Each native has his own particuliar few, which he regards with awe and respect, sprinkles with fowl's or goat's blood, and patronises in a general sort of way. All others he regards with more or less contempt" 1). Ein Beispiel ausgesprochen kritischer Gesinnung wird uns von Driberg berichtet. Es bezieht sich hier nicht speziell auf Skeptizismus gegenüber der Zauberei, sondern auf ein auflehnendes Verhalten den ganzen Stammesüberlieferungen gegenüber. Der Bericht lautet folgendermassen: „Among the Didinga of the Sudan there was a youth, Lotingiro, who, from his earliest days, questioned the accepted beliefs of his tribe: he denied the immortality of the dead, doubted the traditions in which he had been brought up, and was as complete a sceptic and an atheist as an independent and inquiring mind could make him. Many of the elders disapproved of his ideas but, though he was regarded as abnormal, he was generally popular: his popularity was even heightened by a kind of mystery, with which his revolutionary ideas invested him. He was a person of no rank or import- l) a.a.O., S. 285. ance, so his immunity from interference cannot be accounted for in this way. At the age of nineteen, however, he involuntarily offended one of the tribal laws and was punished with a considerate leniency. When, however, he proceeded to offend again, and this time of deliberate purpose, because according to his own theories, often expressed without reprobation, the law was bad and incompatible with his atheism, the tribe had no option but to deal with him summarily. He was executed not for his beliefs, but for his actions. He had complete freedom of thought, but his actions were limited by membership of a community, which exists not for the individual, but communal welfare" x). Leider teilt der Bericht nicht weiter mit, ob das erwahnte Verhalten eine seltene Ausnahme darstellt oder nicht. Selbstverstandlich wird ein solches Verhalten und die Gesinnung, die Begabung und der Charakter, die ihm zugrunde liegen nicht allgemein sein können, denn dadurch würde ja die Stammeseinheit unmöglich gemacht werden. Es ware jedoch von sehr grossem Interesse, nahere Angaben über die Haufigkeit solcher Falie zu erfahren 2). Aus dem Bericht geht jedenfalls das eine hervor, dass es eine gewisse Freiheit zu skeptischem und auflehnendem Verhalten gibt, dass also die Gruppe bis zu einem gewissen Grade genügende Spannkraft besitzt. Dies bedeutet, dass Homogeneitat und Integration nicht die alleinherrschenden Faktoren des Gruppenlebens sind 3). Aus obigen Beispielen dürfte hervorgehen, dass bei der Zauberei nicht von Glaubensvorstellungen die Rede sein J. H. Driberg, The Savage as he really is, S. 9 ff. *) Vgl. auch die von Malinowski mitgeteilte Falie von Skeptizismus, in: Baloma, the spirits of the dead in the Trobriand islands, Tournal Anthr. Soc., 1916, S. 364—366. *) Durkheim hat mit Recht auf die Unbestimmtheit der magischen Vorstellungen hingewiesen. „II n'existe pas d'Eglise magique. Entre le magicien et les individus qui le consultent, comme entre ces individus eux-mêmes, il n'y a pas de liens durables qui en fassent les membres d'un même corps moral, comparable a celui que forment les fidèles d'un même dieu, les observateurs d'un même culte." (Les formes élémentaires de la vie religieuse, S. 62). Vgl. zur persönlichen Seite des Zauberglaubens ebenfalls: K. Beth, Religion und Magie, 2. Aufl., Leipzig, 1927, S. 135 ff.; R. Allier, Le non-civilisé et nous, Paris, 1927, S. 86 ff.; D. Essertier, Les formes inférieures de 1'explication, Paris, 1927, S. 293 ff. kann, die auf rein kollektive Weise erlebt werden. Vielmehr sind die Reaktionen individuell verschieden und ist auch der Zauberglaube als solcher allgemein, so ist jedoch sein Inhalt oft persönlicher Interpretation offen. Innerhalb des Glaubens besteht ferner Raum für verschiedene Starkegrade. Ausserdem gibt es, wie wir sahen, Falie ausgesprochen kritischer Gesinnung. Leider verfügt die Ethnologie über zu wenig zuverlassiges Material über den Entwicklungsgang solcher Zweifler1). Zusammenfassend können die Differenzierungserscheinungen, die uns innerhalb des magischen Gebietes begegnet sind, etwa folgendermassen gruppiert werden (wir lassen hier die Verteilung der Erscheinungen auf die einzelnen S tamme ausser Betracht): (a) Gruppendifferenzierung. 1. Berufsdifferenzierung (Medizinmanner und Zauberer), die sich in zwei Formen aussert: Beschrankung der medizinischen und magischen Kenntnisse auf einige Familien und Bildung beruflicher Bünde. 2. Die Gruppendifferenzierung führt ebenfalls eine Differenzierung im Verhalten mit sich und zwar entsteht (cc) ein distanzierendes und isolierendes Verhalten den anderen Stammesmitgliedern gegenüber und (b) umgekehrt ein solches der Stammesmitglieder gegenüber den Medizinmannern und Zauberern. 3. Differenzierung entsteht nicht nur durch Zusammen- i) Mit Recht bemerkt Hauer über die bisherige ethnologische und religionsgeschichtliche Forschung: „Sie hat mit vorbildlichem Eifer endloses Material zusammengetragen und mit staunenswerter Scharfsinnigkeit Einteilungen der Zauberei geliefert, aber kaum je hat ein Forscher üaraut sein Augenmerk gerichtet, was denn nun tatsachlich bei diesen Zauberhandluneen erlebt, erfahren wird. Dies ist aber doch die wichtigste und grundlegende Frage, denn es ist die Frage nach den inneren latsachen dieses ganzen Komplexes von aussergewöhnlichen Handlungen. Man hat allzusehr das Gebilde der Zauberei und den ihr zugrunde liegenden Glauben für illusorisch gehalten, und steilte darum die Wahrheitsfrage überhaupt nicht; nicht einmal wenigstens nach der Tatsachlichkeit der behaupteten Erlebnisse fragte man ernstlich. Dies muss anders werden, wenn die religionsgeschichtliche Forschung nicht nur die Formen sondern das stromende Leben der religiösen Entwicklung erfassen will. J. H. Hauer, Die Religionen, S. 121. schluss der Medizinmanner und Zauberer, sondern auch durch Rivalitat und Kampfverhaltnisse unter den beruflichen Grappen und den einzelnen Berufsangehörigen. (b) Individuelle Differenzierung. 1. Subjektive Individualisierang bei Medizinmannern und Zauberern: (a) auf Grund ihrer Gruppenzugehörigkeit; (b) auf Grand ihrer Distanzierung von den übrigen Stammesmitgliedern sowie auf Grund eigener und fremder Bewertung. 2. Objektiv begründete Differenzierung durch Besitz besonderer Fahigkeiten und besondere Kenntnisse. 3. Sondererfahrungen des Medizinmannes und Zauberers: Ausbildung (Lehrzeit, Fasten), Verbindung mit übernatiirlichen Machten, Traume, Besessenheit, Einsamkeit1). 4. Verselbstandigung und Isolierung des Individuums in der magischen Wirkungssphare und Auftreten differenzierender Gefühle wie Hass, Misstrauen, Rivalitat. 5. Differenzierung nach den bei der Zauberei vorherrschenden Absichten, Verlangen nach Schutz oder weitergehendes Verlangen nach Reichtum, Einfluss, Schadigung der Nachbarn. 6. Differenziertes und kritisches Verhalten der Zauberei gegenüber: Unterschiede im Zauberglauben, je nach Charakterunterschiede, Zugehörigkeit einer sozialen Schicht, Alter; Falie von Skeptizismus. 5. Uber die differentielle seite des religiösen lebens. a. Anmerkung über die Unklarheit der primitiven Glaubensvor- stellungen. Viele ethnographische Beschreibungen erwecken durch den allgemeinen Charakter ihrer Mitteilungen und durch genau ') Hubert und Mauss sagen ebenfalls von den Australischen Medizinmannern: „La révélation se produit normalement chez des individus isolés et non pas en groupe. Elle est un phénomène social qui ne se produit qu'individuellement". (Mélanges d'histoire des religions, Paris, 1929, S. 171). Vgl. über das psychologisch-philosophische Problem der Besessenheit: j. W. Hauer, Die Religionen, Berlin, 1923, S. 408 ff. und die eindringliche Analyse T. K. Oesterreichs, Die Besessenheit, Langensalza, 1925. „Kein Ethnologe kann heute mehr mit der Betrugshypothese arbeiten," sagt Hauer (S. 395). Vgl. ach: W. D. Hambly, Origins of education among primitive peoples, London, 1926, S. 212 ff. formulierte und systematische Klassifikation der religiösen Vorstellungen leicht den Eindruck, als ob diese Vorstellungen in klar umrissener Form im Bewusstsein der Eingeborenen lebten und eine allgemeingültige und dogmatische Wahrheit für sie darstellten. Die Existenz einer derartigen intensiven Gemeinsamkeit in den religiösen Erlebnissen und Vorstellungen darf j edoch in Zweifel gezogen werden auf Grund der in mehrerern Berichten erwahnten Tatsache, dass die Eingeborenen über bestimmte Vorstellungen verschiedener Meinung sind, oder dass die Vorstellungen selbst unklar sind x). So wird z.B. von den BaVenda berichtet: „ some think that the spirits live a very similar life to that lived on earth" usw., und: „others think that there is no spirit world" 2) usw. Aus Pechuël-Loesches Beschreibung haben wir schon verschiedene Falie von Zweifel und sonstigem kritischen Verhalten zitiert, die ebenfalls eine Verschiedenheit der Meinungen zeigten. So berichtet Junod z.B.: „ though the belief is not universal, some think that all souls go away (or die) during sleep" 3). Ein anderes Beispiel liefert die folgende Mitteilung Spieths: „Die Frage, ob es nur eine einzige Geistermutter oder ihrer viele gebe, wird von den einen bejahend und von den andern verneinend beantwortet. Die einen behaupten, die Geistermutter sei die Frau jedes einzelnen dort lebenden Mannes. Und so viele Manner es dort gebe, so viele Geistermütter gebe es auch. Andere bezweifeln das und sagen, die Geistermutter sei die Frau von Mawu selbst, sie sei die Gebarerin aller dort lebenden Geister, der mannlichen und der weiblichen"4). Von den Bakongo wird berichtet; there are as many variations in their state¬ ments as there are individuals. Having no fixed standard, ») Schon Lang hat auf diese Eigenart des primitiven Glaubens hingewiesen • Naturally we expect most shades of opinion where there is most knowledge and most liberty, but the liberty of savage heterodoxy is very wide indeed. We might almost say that (as in the mythology of Greece) there is no orthodox mythical doctrine among savages. (A. Lang, Mytn, Ritual and Religion, London, 1899, II, S. 359). !) Stayt, The BaVenda, S. 241. • k j. «4- s) The Life of a South African tribe, II, S. 363. Für die Melanesier betont Rivers den unbestimmten Charakter ihrer Glaubensvorstellungen (Medicine, Magie and Religion, S. 7). ') Die Ewe-Stamme, S. 506. no written creed, no catechism, no court of appeal in matters of faith and practice, everyone is a law unto himself" 1). b. Individuelier und kollektiver Glaube. Die unter a. angeführten Ausserungen über die Unklarheit der primitiven Glaubenvorstellungen liessen ersehen, dass von einem allgemeinen Glauben nicht ohne weiteres die Rede sein kann. Jedoch die meisten ethnographischen Beschreibungen und ethnologischen Studiën gehen stillschweigend von der Voraussetzung aus, der jeweils beschriebene Glaube sei alleinherrschend und ohne Abweichungen. Meist beginnen derartige Berichte etwa mit den Worten: „Die .... glauben oder haben die Vorstellung, dass usw." Liegen die Verhaltnisse indessen wirklich so einfach? Die ethnographische Literatur erweckt zwar diesen Eindruck, aber psychologisch und soziologisch geschulte Einsicht wird hinter der scheinbaren Homogeneitat eine kompliziertere Wirklichkeit vermuten. Uberdies ist es sehr schwer festzustellen, was die Eingeborenen wirklich glauben, und besonders was jeder Einzelne sich innerhalb des Rahmens der allgemeinen Glaubensvorstellungen in jeder Situation denkt. Die Religionspsychologie hat gezeigt, dass der Glaube als individueller Bewusstseinsinhalt etwas von den Glaubenslehren verschiedenes ist. Wird dies nicht auch für die Primitiven gelten? Dies ist um so wahrscheinlicher, weil bei ihnen die institutionelle Seite der Religion weniger ausgepragt ist als bei uns (in den höheren Religionen hat insbesondere das heilige Buch zur Institutionalisierung beigetragen). Die oben behandelte Verschiedenheit im magischen Glauben macht es wahrscheinlich, dass auch der religiöse Glaube differenziert ist. Religionspsychologisch gesehen ist es ferner sehr wahrscheinlich, dass eine Beziehung zwischen Glauben und individueller Differenzierung besteht. Es fehlen jedoch noch gute ethnographische Untersuchungen über diesen Gegenstand. Glücklicherweise gibt es aber Ethnographen, die, obwohl sie unserer Materie keine spezielle Aufmerksamkiet widmeten, dennoch interessante Tatsachen überliefert *) J. H. Weeks, Among the primitive Bakongo, S. 283. haben. So hat von unseren Autoren besonders Junod es als wünschenswert empfunden, einen Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Glauben zu machen. Eins seiner Beispiele eines individuellen Glaubens ist das folgende: „In a certain year, the mintjhopfa trees did not bear fruit. A Rikatla boy, named Zinyao, took a stick and walked through the bush, belabouring all the ntjhopfa shrubs, scolding them because they had not done their duty. An ethnographer, anxious to penetrate into the mysteries of primitive souls, might infer from this fact that Thongas believe in the personality of trees, and that each tree possesses a spirit; this would however be absolutely false. Zinyao was doing the same thing as a little boy who hits the table against which he has knocked his head, or as a little girl who breaks her doll because she is angry with it. The same boy, who was evidently endowed with a strongly animistic tendency, once saw a big moth fall to the ground; a hen at once ran towards it and devoured it. Zinyao watched very attentively, and I heard him muttering to himself: ,The Son-of-Moth goes to the Son-of-Hen, yonder, and asks him to pay a fine, because, says he, I have been eaten by you there on the earth.' If this reflection were taken seriously, it would mean that, to the Thonga mind, each animal has a soul which continues to exist after death, and even that wrongs done to an animal during its earthly life must be repaired in the after world. This conclusion would be absolutely erroneous. No one seriously believes in a continued existence of animals after death; and, as to a final judgment, there is no idea of it, even as regards human beings, who are believed to be immortal! These were the personal views of Zinyao" 1). Wertvoll für das Verstandnis der individuellen religiösen Erlebnisse sind auch die folgenden Mitteilungen: „A young man of the Hobyana family told me that when he was still a boy, he was employed by his father to convey travellers over the river in a boat. He was accused by his brothers of stealing the money paid to him for this service. His brothers •) The life of a South African tribe, ii, S. 366. did not like him; they took from him the money which he received from the travellers and accused him of keeping it for himself and of deceiving the owner of the boat. One evening, as he was returning home after his day's work, he heard a great noise in the village; people were speaking of him in angry tones. A Portuguese official had passed through the country some time before and had shown him kindness. He decided to run away and seek refuge amongst the Whites. The night was pitch dark when he arrived on the borders of a great plain. He feit very lonely and was seized by a terrible fear of this great, empty space which he had to cross. Then „another heart" told him to pray to the ancestor-gods to help him in his anguish. He remembered how his father used to hahla, and thought of saying „tsu". But he did not dare to pronounce the sacramental syllable. A feeling of shame prevented him from doing so. However, he kneeled down, put the parcel containing his clothes under his left arm, crossed his hands before his breast and joined them. He decided not to address his prayer to his paternal ancestors, those of the Hobyana family, as it was his father and his brothers who were ill-treating him, but rather to those of his mother. One of these maternal ancestors bore a special relation to him, as his parents had named him after this ancestor, who had died without posterity and whose name they wished to „revive" in this way. The boy prayed as follows: „You, my ancestor-god, after whom I have been named, save me and lead me where I am going." While pronouncing these words, he kept his eyes towards the East, where the moon was just rising, and, adds the boy, „I feit a great peace and joy in my heart and continued my journey." „Another boy of the Mashaba family, going for the first time to work in Johannesburg, was suddenly seized by fear in the railway carriage, remembering that he had been told that the mines were full of water and that boys working underground contracted fatal diseases. Overcome by the idea that he was going to his death, he jumped out of the train at the third station after Komati Poort and began to walk in the direction of Barberton through the desert. Feeling tired, he lay down and tried to sleep. But he heard antelopes running about quite near him, saying „mpfi! mpfi!" „If these animals were hyenas, „thought he, „I should be lost." Then the idea came to him that he ought to call upon the psikwembu to help him, which he did without pronouncing the official tsu, saying: „My gods! Help me! Save me from dangers and from wild beasts! Keep me alive!" „One of my pupils of the Khosa clan had a great affection for his mother. He said that she frequently prayed in her hut when he was sick, asking the psikwembu to heal him. She used to offer them a little of a special mealie pap, prepared with particular care, and to throw a pinch of ground tobacco on the threshold of the hut in the morning. When she was tilling her garden and feit very tired and unwell, she used to pray „according to what her heart instructed her to say." „An Inhambana boy told me that, when travellers cross the Inharrime drift, many take a little water in their mouths, say tsu, and pray to their ancestor-gods to take care of them in this dangerous passage. Though his father and mother were still living and it is the custom not to hahla before their death, he said tsu, as the others did" x). Aus diesem Bericht erhellt, dass nicht alle Glaubensvorstellungen traditionell oder allgemeingültig sind. Zweierlei ist dabei zu unterscheiden: Einmal, dass es Personen gibt, die sich eigene Gedanken über religiöse Phanomene machen, und zweitens, dass die Stammestradition und der herrschende Glaube diesen eigenen Gedanken Spielraum lassen. Höchstwahrscheinlich ist die Bedeutung des Denkens bei den Primitiven überhaupt und des individuellen Denkens im besonderen oft unterschatzt worden. Dagegen bemerkt Schweitzer, dass der Naturmensch in viel höherem Masse Denker ist, als man für gewöhnlich annimt. Er sagt: „Wenn er auch nicht lesen und schreiben kann, so hat er doch über viel mehr Dinge Uberlegungen angestellt, als wir meinen. Gesprache, die ich mit alten Eingeborenen in meinem Spital über die letzten Fragen des Lebens geführt habe, haben mich ') a.a.O., S. 590 ff. tief ergriffen. Der Unterschied zwischen Weiss und Farbig, Gebildet und Ungebildet verschwindet, wenn man mit dem Urwaldmenschen auf die Fragen zu reden kommt, die unser Verhaltnis zu uns selbst, zu den Menschen, zur Welt und zum Ewigen betreffen. „Die Neger sind tiefer als wir, denn sie lesen keine Zeitungen," sagt mir letzthin ein Weisser. In dieser Paradoxie liegt etwas Wahres" x). Eine Mitteilung Spieths zeigt, dass das Einzelwesen in seinem religiösen Glauben nicht lediglich auf überlieferte, allgemeine Vorstellungen angewiesen ist, sondern dass es ebenfalls bei sich selbst Einkehr halt: „Neben der Tradition ist noch das eigene Herz und die Natur eine reiche Quelle für die Gotteserkenntnis. Einschon vor JahrengestorbenerHauptling bekannte einmal jemand, er habe in seinem Innern „einen kleinen Menschen", ein amevi, der zu Gott hinaufsteige und ihm alles erzahle, was er tue. Die Redeweise: „Mein Herz sagt es mir," weist darauf hin, dass das religiöse Denken auch für den Hoer zu ein er inneren Notwendigkeit geworden ist. — Neben dem Gewaltigen in der Natur ist es auch das ewige Werden und Vergehen der einzelnen Formen, das allerlei Fragen in ihnen erweckt, mit Hilfe deren sie Tradition und eigene Anschauungen weiter bilden" 2). Pechuël-Loesche sagt, dass nur wenige Loango einigermassen selbstandig denken und überlegen. Er fügt aber hinzu: „Zwar gilt ihnen die Person alles, und j ede Sache hangt nur an der Person. Aber die Gesamtheit wirkt, nicht der Einzelne, der, stehe er noch so hoch und fest, sei er noch so tüchtig, immer wieder unmerklich in das Treiben der Masse hinuntergezogen wird. — Herkommen, Brauch und Sitte gan- >) Zwischen Wasser und Urwald, München, 1926, S. 146 ff. Wertvoll /''esen Gegenstand ist auch die folgende Bemerkung des genannten Verfassers: „In dem Umgang mit den Primitiven kam ich naturgemass dazu, mir die vielverhandelte Frage vorzulegen, ob sie einfach in Traditionen gefangene oder wirklich selbstandigen Denkens fahige Wesen waren Zu memem Erstaunen fand ich in den Gesprachen, die ich mit ihnen führte, dass sie mit den elementaren Fragen nach dem Sinn des Lebens und nacli dem Wesen von Gut und Böse durchweg viel mehr beschaftigt waren, als ich angenommen hatte." (Aus meinem Leben und Denken, Leipzig, 1931, o. 122, 123). ') Die Ewe-Stamme, S. 420 ff. 12 gein alle und sind bequem" 1). Anscheinend besteht ein Widerspruch zwischen Pechuël-Loesches beiden Bemerkungen, dass nur wenige selbstandig seien und andererseits die Person ihnen alles gelte. Vielleicht meint er hiermit, dass das Persönliche im Sinne des Subjektiven eine grosse Rolle spielt. Obrigens bemerkt Steinmetz zu Pechuël-Loesches Worten mit Recht, dass „der Zustand genau dem in unseren Vólkern entspricht, wenigstens auf vielen Gebieten" 2). Ein grundsatzlicher Gegensatz zwischen Naturvölkern und Zivilisierten liegt hier nicht vor3). Die Tatsache, dass jedenfalls einige Personen einigermassen selbstandig denken und überlegen, ist ein weiterer Hinweis auf das Vorkommen von Differenzierungs- und Individualisierungserscheinungen, von denen wir schon in den Abschnitten über die Magie einige Beispiele (von den Bafioti) erwahnt haben 4). ») Volkskunde von Loango, S. 80. ") Ethnologische Studiën, S. 13. ») Vgl. das Kapitel „Freedom of Thought" in Radin, Primitive Man as Philosopher, S. 53 ff. . . 4) Marett betont in seinem Buche „Faith, Hope and Chanty in .rrimitive Religion" (Oxford, 1932) die soziale Seite der primitiven Religion. „Primitive Religion, being almost wholly communal, does not enable the individual to dance himself back into fortitude by means of a pas seul. He has, of course, his amulets, his personal taboos, and so on, to furnish him with a mana of his very own; but, in the case of the average man at any rate, his luck, like his usefulness, amounts to very little apart from the support and co-operation of his fellows (S. 45)." Wir glauben auf Grund unserer Ergebnisse annehmen zu dürfen, dass Marett hier die persönliche Seite der primitiven Religion unterschatzt. Gilt seine Beschreibung des Durchschnittsmenschen bei den Naturvölkern nicht auchfiir die Kulturvölker ? Übrigens hat Marett an anderen Stellen auf Individualisierungstendenzen hingewiesen (Anthropology, S. 243 und. An outline of Modern Knowledge, S. 423, 424). Die Ausserungen Malinowskis beleuchten den Sachverhalt mit tieterem soziologischen Verstandnis. Er sagt zu den Auffassungen Durkheims und seiner Schule Folgendes: „Can primitive religion be so entirely devoid of the inspiration of solitude? No one who knows savages at first-hand or from a careful study of literature will have any doubts. Such facts as the seclusion of novices at initiation, their individual, personal struggles during the ordeal, the communion with spirits, divinities, and powers in lonely spots, all these show us primitive religion frequently lived through in solitude. Again, the belief in immortality cannot be explained without the consideration of the religious frame of mind of the individual, who faces his own pending death in fear and sorrow. Primitive religion does not entirely lack its prophets, seers, soothsayers and interpreters of belief All such facts, though they certainly do not prove that religion is exclusively individual, make it difficult to understand how ït can be regarded as the Social pure and simple. And again, the essence of morals, c. Differenzierungserscheinungen in der Ahnenverehrung. 1. Unterschiede zwischen den Geistern und d i f f e r e n z i e r t e s Verhaltnis zu den Ahnen beim Opfer. Wir wollen hier am Beispiel der Ba-ila kurz auf die Unterschiede zwischen den Geistern und auf den respektiven Anteil von Einzelwesen und Gruppe an der Ahnenverehrung hinweisen. Steinmetz hat in seiner Studie: „Kontinuitat oder Lohn und Strafe im Jenseits der Naturvölker" ausführlich die Ursachen analysiert, die bei den Naturvölkern zu einer Differenzierung im Jenseits führen, und hat dargestellt, dass nicht nur soziale Unterschiede als solche oder die Todesart für diese Differenzierung entscheidend sind, sondern dass moralische Bewertungen und Vorstellungen von Lohn und Strafe eine bedeutende Rolle spielen. Leider haben die Ethnographen diesem Gegenstand bisher nur in geringem Masse ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Vorurteile über die Moral der Primitiven mögen darauf noch immer Einfluss ausüben. Was nach Steinmetz viele Forscher irreführt, ist ihre konventionelle Auffassung der Moral: „Sie beurteilen die soziale Hygiene der Wilden und deren Ansichten hierüber nach einem christlichen Katechismus" 2). An dem Beispiel der Ba-ila wollen wir hier mehr im Besonderen auf die Bedeutung eingehen, die die emotionelle Differenzierung für das Leben im Jenseits hat. Das Geschick der as opposed to legal and customary rules, is that they are enforced by conscience. The savage does not keep his taboo for fear of social punishment or of public opinion. He abstains from breaking it partly because he fears the direct evil consequences flowing from the will of a divinity, or from the forces of the sacred, but mainly because his personal responsibility and conscience for bid him doing it." — „Now this mental attitude is undoubtedly due in part to the influence of society, in so far as the particular prohibition is branded as horrible and disquieting by tradition. But it works in the individual and through forces of the individual mind. It is, therefore, neither exclusively social nor individual, but a mixture of both." (Magie, Science and Religion, in: Science, Religion and Reality, London, 1925, S. 54 ff.). Die persönliche Seite der Berufungserscheinungen wird auch von Söderblom (The Living God, basal forms of personal religion, London, 1933, S. 11) und Hauer (Die Religionen, S. 28) betont. ') Zuerst erschienen in „Archiv für Anthropologie", 1897; spater in: Gesammelte kleinere Schriften, I, S. 272 ff. *) Gesammelte kleinere Schriften, I, S. 279. Seelen der Verstorbenen ist verschieden: „the ghost goes underground or somewhere to the east, or hovers in the vicinity of the grave or lives in the houses of the living; it becomes an animal or lives in a tree, or rock or ant-hill; it becomes an evil spirit or a divinity that is worshipped: it may for a time possess a person; sooner or later, unless prevented by certain untoward circumstances, it is reincarnated" x). Wie die Verfasser sagen, haben die Ba-ila hinsichtlich des Loses der Vestorbenen keine scharf umrissenen Glaubensvorstellungen. Daher lasst es sich auch nicht mit Genauigkeit sagen, welcher Art die Ursachen dieser Verschiedenheit der Schicksale im Jenseits sind. Von den Geistern, die Tiere werden, erwahnen die Verfasser: „it depends upon their own wishes and whether they can obtain the necessary medicine" 2). Bemerkenswert ist hier, dass das eigene Verlangen eine grosse Rolle spielt. Leider ist uns weiter nichts über die Motive bekannt, die jemanden veranlassen, nach seinem Tode ein Tier zu werden. Von Bedeutung ist j edoch, dass es immer mehr oder weniger gefahrliche Tiere sind, in die man sich verwandelt: Löwe, Leopard, Hyane, wilder Hund, Elephant, Shimakoma-Schlange und ItoshiMonster3). Besonders Hauptlinge verwandein sich in solche Tiere. Wir werden wohl nicht fehlgehen wenn wir annehmen, dass das Verlangen, auch nach dem Tode eine Rolle zu spielen, ein wichtiges Motiv solcher Vorstellungen ist. Von den bösen Geistern wird nicht genau erwahnt, auf welche Weise ihre bösen Eigenschaften entstanden sind. Einige sind unter den Einfluss von Hexen gekommen und sind nun deren Sklaven. Andere jedoch handeln aus freiem Antrieb. „They cause disease, sometimes, by entering into a person. They waylay people and strike them dead. They act, sometimes, in sheer devilry, it seems, knocking burdens off people's heads, breaking hoes, unhandling axes, upsetting pots of beer, and so on" 4). ») Smith und Dale, II, S. 119. ') a.a.O., S. 125. a) a.a.O., S. 125. a) a.a.O., S. 132. Besonders Menschen, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind, können böse Geister werden, aber ebenfalls, und das ist in unserem Zusammenhang wichtig, Personen, die, „through ill-treatment or sheer malice,.... have expressed an intention on his or her deathbed of returning to haunt the living" 1). Von einer alten Frau z.B. wird berichtet, dass sie vor ihrem Tode sagte: „You people neglect me, you do not bring me water and food as you ought; when I am dead I will come back and trouble you" 2). Wir sehen, dass der eigene Wille oder die Charaktereigenschaften des Verstorbenen einen wichtigen Einfluss auf seinen Zustand nach dem Tode ausüben. Im allgemeinen, auch für die guten Geister, ist zu sagen, dass sie durchaus menschliche Eigenschaften haben: „The best of living men are subject to moods: ordinary people are jealous, touchy, fickle; you have to be on your guard not to offend them, for if put out they are apt to be vindictive. And so it is with the ghosts; you can never be quite sure of them; any omission on your part to do them reverence will be visited on your head, or on the head of someone dear to you" x). Im Vorhergehenden haben wir auf die Differenzierung unter den Geistern, besonders die emotionelle, hingewiesen, und ferner auf das differenzierte Verhaltnis, das die Geister zu den Menschen haben. Jetzt wollen wir die differenzielle Seite des menschlichen Verhaltens zu den Geistern, speziell den Ahnen, naher behandeln. Die Ahnenverehrung als Institution kann nicht ohne weiteres als Angelegenheit einer homogenen Gruppe angesehen werden. Es tritt namlich nicht nur die „Gruppe" mit den Geistern in Verbindung, sondern sowohl das isolierte Individuum, als die Familie und die Gemeinschaft im weiteren Sinne. Die Ba-ila unterscheiden einen Schutzgeist (musedi). Auf das Wesen dieses Schutzgeistes braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden, weil es uns nur um seine Bedeutung für das Differenzierungsproblem zu tun ist. „It is", sagen Smith und Dale, „in a sense, the man himself, his spirit moving on a higher plane, watching over him and his inter- ') a.a.O., S. 115. ') a.a.O., S. 115 ff. ') a.a.O., S. 167 ff. ests" x). Die Beziehung des Einzelwesens zu seinem Schutzgeist ist sehr eng und tragt einen ganz persönlichen Charak- ter „ whatever good fortune a man may have, whether it be by way of gaining wealth or fame, or escaping from danger, it is ascribed to the good offices of his namesake. The apparent contradiction that he also has medicines for the securing of safety and prosperity is not greater than the contradiction between praying for rain and yet working medicines to induce it to fall. The two things work together. The musedi is the man's own personal god, devoted to his interests. Accidents, of course, happen; a man may have his life endangered in a thousand ways. When such happens he wonders what his musedi was doing to allow him to get into danger like that. He makes an offering and reproaches his musedi, saying, „Why did you leave my ? I nearly died. Where were you? See, I make you an offering: do not leave me again". Should the accident be fatal, his friends can only suppose that for some reason the guardian spirit was vexed and has abandoned him to his fate. As for the way the guardian spirit conveys his admonitions, he comes in dreams, or he speaks in a low voice heard only by the man himself within his breast" 2). Der Schutzgeist wird vor den anderen Geistern verehrt. Wir haben es hier mit einer für die Differenzierungsfrage sehr wichtigen Erscheinung im religiösen Leben zu tun, wo das Individuum also in einer sehr engen Beziehung zu sich selber steht 3). Die eigentliche Ahnenverehrung ist eine Angelegenheit der Familie 4). Es tritt also bei dieser religiösen Erscheinung eine 1) The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, II, S. 165. 2) a.a.O., S. 159. . s) Der musedi der Ba-ila hat vieles gemeinsam mit dem Kla oder Aklama der Ewe. „Kla oder aklama wohnt in dem Menschen und weilt sein ganzes Leben lang bei ihm. Er ist der standige Beschützer des Menschen, der stets nur auf dessen Wohl bedacht ist. Leben und Wohlsein bekommt der Mensch von seinem aklama." (Spieth, Die Ewe-Stamme, S. 511). Der Aklama steht in grossem Ansehen und wird mehr als die eigentlichen Geister verehrt. Vgl. auch die Mitteilungen McDougalls über den Glauben an einen Schutzgeist (The Group Mind, S. 72). M the whole core of ancestor worship among these peoples is cen- tred in the cult of the immediate family Gods." (A. Richards, Hunger and Work in a Savage Tribe, London, 1932, S. 183). Und: n The Durkheimian conception of a society uphfted by a sense ol bemerkenswerte Gruppendifferenzierung hervor: jede Familie steht vornehmlich mit ihren eigenen Ahnen in Verbindung. Die Ahnen interessieren sich umgekehrt auch nur für ihre eigene Fanilie. Diese Gruppendifferenzierung überlagert sich in der Ehe: Mann und Frau verehren jeweils ihre eigenen Ahnen. Daneben werden durch die Gemeinschaft als solche Ahnen verehrt, die für das Wohlergehen der Gemeinschaft sorgen. Es ist kein organisiertes Priestertum mit ihnen verbunden; sie haben j edoch ihre irdischen Vertreter, die ihnen Opfer darbringen und deren Amt meist erblich ist. Aus diesen Berichten geht hervor, dass Opferhandlungen sowohl vom Einzelwesen als auch von Familie und Stamm verrichtet werden können. 2. Das Gebet. Neben den Opferhandlungen ist das Gebet ein wichtiger Faktor in der Ahnenverehrung. Ist das Gebet nun ganzlich eine liturgische Handlung, oder spielen das persönliche Verhaltnis zu den Ahnen sowie individuelle Gefühle eine Rolle? Mit anderen Worten, inwieweit kann das Gebet zum Ausdruck persönlicher Religion werden ? Die Ansichten darüber sind sehr verschieden. So sagt Junod von den meisten Gebeten der Thonga, dass sie „have an extremely liturgical character; all know what must be said on each occasion of regular sacrifice; the personal element is almost wanting" 1). Und ferner: „Prayers to the ancestors do not show very much religious feeling, and are, at any rate, absolutely devoid of awe. Whilst sacrificing the natives laugh, talk in loud tones, dance, sing obscene songs, even interrupt the prayer with their remarks, and insult each other about family matters. The officiant himself sits on the seat designated by the bones, and speaks in a monotonous manner, looking straight in front of him with utter indifference" 2). mystic tribal union in a common sacrificial feast is a picture which does not exist in actual life. Kinship bonds are expressly emphasized in the ancestral sacrifices of the Bantu peoples, rather than the merging of family sentiment in a wider tie. The spirits appealed to in daily life are the ancestors of the family group." (S. 187). *) Junod, The life of a South African tribe, II, S. 422. 2) a.a.O., S. 423 ff. Vergl. auch demselben Verfasser in: International Review of Missions, Oct. 1922. Ein anderer Kenner der Bantu-Stamme, Willoughby, aussert sich weniger entschieden:.... „all my native friends insisted that their prayers were extempore, and that they had never heard of set forms of prayer that people memorised and recited"1). Und: „Bantu prayer is a free utterance" 2). Auch Le Roy, der Einzelheiten über die Gehete einiger Bantustamme mitteilt, ist der Meinung, dass die Gehete zum Teile Ausdruck spontanen Erlebens sind: „II y a des prières qui jaillissent tout naturellement de 1'inspiration actuelle, suivant les circonstances et les faveurs demandées; et il est des prières consacrées par 1'usage, des sortes de formules que les ministres du culte doivent réciter en certaines occasions" 3). Eine Ausnahme macht Junod allerdings bei den Zauberern, die einst von Geistern besessen waren. Von ihnen sagt er, dass ihre Verbindung mit den Geistern einen stark persönlichen Charakter trage. Sie hatten ihren eigenen Altar in ihrer Hütte und verehrten die Geister taglich. Von diesen Zauberern heisst es ferner, ihre Verehrung sei „much more constant and individual that the rites of ancestrolatry, a real communion with the spirits who, after having tormented the exorcist, have become his benefactors, giving him the power of healing and thus of making money! There is much more religiosity in the exorcised than in ordinary people" 4). Von den Bafioti teilt Pechuël-Loesche mit, dass sie im Gebet nicht mit den eigentlichen Seelen der Vorfahren verkehren, sondern mit dem, was er deren Seelenpotenz nennt. Nun wollen wir freilich in inserem Zusammenhang die Frage der Seelenvorstellungen beiseite lassen. Es darf aber bemerkt werden, dass, wenn Pechuël-Loesche Recht hat, diese Art Ahnenkult mehr auf die eigene Person bezogen sein muss als z.B. im Falie der Thonga. Er berichtet die folgenden bemerkenswerten Falie. „In Bedrangnis geratene Manner von verantwortlicher Stellung ziehen sich ins Innerste ihrer Behausung zurück oder gehen abseits ins Freie oder, was am ]) Willoughby, The Soul of the Bantu, S. 371. ') S. 372. 3) A. le Roy, La Religion des Primitifs, Paris, 1925, S. 298. •) The Life of a South African tribe, II, S. 449. seltesten vorkommt, an die Graber ihrer Alteren. So tun sie, um sich zu sammeln, um der Gewesenen zu gedenken, wie die wohl beschliessen würden. Sie setzen sich nieder, drücken das Gesicht in die Hande, murmeln wohl auch mit sich selber wie mit einer zweiten Person, was sie aber auch sonst oft tun: laut denken". — „Die Bekümmerten wollen vielmehr ihrer Gewesenen gedenken, in ihrem Sinne mit sich zu Rate gehen, sich klar werden, ungestört einen Entschluss fassen, die vielleicht locker gewordenen Beziehungen wieder starker empfinden. Mit der Erinnerung gewinnen sie Trost und Selbstvertrauen. Ihre Herzensnot treibt sie zu einer Selbsteinkehr, wenn man will zu einer Handlung der Pietat, zu einem schonen Ahnendienst, der auch Zivilisierten nicht fremd ist, die zu Grabern gehen. „In Südwestafrika, zu Okahanddya, sah ich den alten Oberhauptling Maharero im Dammerstündchen zu dem mit Gehörnen der Kuduantilope, des Totemtieres, geschmückten Grabe seines Vaters Tyamuaha gehen, wo er in seiner Bedrangnis mit sich und vielleicht mit ihm zu Rate ging. In Loango habe ich dergleichen nicht beobachtet, nur davon gehort, als ob es gelegentlich vorkame. „Unser Maboma sass einst wohl zwei Stunden unbeweglich auf dem Strande vor der tosenden Brandung, die Ellbogen auf die hochgezogenen Knie gestützt, die Hande vor das Gesicht geschlagen. Politische Verwicklungen machten ihm das Herz schwer. Ein anderes Mal, wahrend eines schwierigen Palavers, hoekte er eine halbe Stunde abseits in unserem Gehöft, mit sich selber redend, ab und zu leicht gestikulierend, bis er seinen Entschluss gefasst hatte. Einen anderen Hauptling sah ich grübelnd an einem Baume, mit der Stirn am Stamme, stehen" 1). Die von Pechuël-Loesche mitgeteilten Tatsachen müssen mit einiger Vorsicht gelesen werden. Es besteht in solchen Fallen die Gefahr, zu viel Gedanken oder Gefühle in den Handlungen hineinlegen zu wollen. Der umgekehrten Gefahr sind j edoch Ethnographen wie Junod ausgezetzt, die einseitig auf das rituelle Ver halt en achten und ausserdem der Meinung *) Volkskunde von Loango, S. 298 ff. zu sein scheinen, das dies Verhalten das gleichzeitige Vorkommen persönlicher Gefühle ausschliesse, was ja doch nicht notwendigerweise der Fall zu sein braucht. Das hinter den Handlungen verborgene Seelenleben ist eben nur schwer zuganglich. Heiler bemerkt in seinem Buche über „Das Gebet' 1) mit Recht, dass die meisten Ethnographen bis heute auf das Individuelle, Persönliche kaum geachtet haben, sondern ihre Aufmerksamkeit fast nur auf das Generelle und Konventionelle gerichtet haben, das naturgemass viel leichter fassbar ist. „Damit hangt auch zusammen, dass die Ethnographen das Gebet als spontanen und formlosen Herzenserguss viel seltener beobachtet und aufgezeichnet haben als die schon irgendwie formelhaften Gebete, die Gemeingut einer sozialen Gesamtheit sind. Manche Forscher schweigen völlig über das Beten der Wilden oder begnügen sich mit andeutenden Hinweisen und ungenauen Berichten. Sie, die zweifellos bisweilen in der Lage waren, solche Gebete zu hören oder zu erfragen, haben wohl die ausführliche Mitteilung von Gebeten oder die nahere Beschreibung des Gebetsgestus für zu banal und uninteressant gehalten, da es sich um scheinbare Selbstverstandlichkeiten handelt. In vielen Fallen freilich beruht das Schweigen über das Beten eines Volkes oder sogar die kategorische Behauptung, dass ein bestimmter Stamm das Gebet überhaupt nicht kenne, auf der taktvollen Zurückhaltung der Primitiven über ihr religiöses Denken und Leben. Die meisten ethnographischen Notizen sagen uns auch nichts darüber, ob und wieweit ein mitgeteiltes Gebet spontan-augenblicklich oder regelmassig-wieder kehrend, frei-improvisiert oder traditionell-gebunden ist" 2). Obige Bemerkung Heilers gilt auch für unsere Stamme. Daher werden wir hier die Frage nach dem individuellen Seelenleben hinter den Gebetshandlungen ausser Betracht lassen. Für unsere Frage ist es hier wesentlich, dass das Gebet eine persönliche Beziehung zu den übernatürlichen Machten darstellen kann. Es ist in den herangezogenen Fallen nicht eine Gruppen-, sondern eine individuelle Handlung. Zudem braucht es auch nicht an festen Formeln gebun- ») F. Heiler, Das Gebet, München, 1918. s) a.a.O., S. 29. den zu sein, so dass des Ausserung persönlicher Regungen Spielraum gelassen wird. Zusammenfassend können die Differenzierungserscheinungen, die auf dem Gebiete der Religion auftreten, folgendermassen gruppiert werden: a. Gruppendifferenzierung. 1. Organisiertes Priestertum oder Ahnenverehrung durch die Familie. 2. Unterscheidung der Geister nach Familiengruppen. b. Individuelle Differenzierung. 1. Berufung der Priester nach persönlichen Erfahrungen: Besessenheit, Traume, Ekstase. 2. Auftreten einflussreicher Propheten. 3. Differenzierung in den Glaubensvorstellungen: a. Fehlen von Dogmatismus auf Grund der Unklarheit der Glaubensvorstellungen. b. Existenz individueller Vorstellungen neben den mit der Gruppe geteilten. 4. Differenzierung der Ahnengeister nach Schicksal, Charakter und Verhalten im Vorleben. 5. Unterschiede im Grade der Individualisierung und Institutionalisierung des Verhaltens zu den Ahnen (dieses Verhalten ist teilweise eine persönliche, teilweise eine Gruppenangelegenheit; es ist teilweise durch Gebrauch geregelt, teilweise individuellen Regungen überlassen. IV. Kapitel. DICHTUNG. Obwohl die primitiven Völker nicht über eine geschriebene Literatur verfügen, haben sie in der von Mund zu Mund gehenden Dichtung in der Form von Marchen und Erzahlungen, von Mythen, Liedern und Sprichwörtern Ausdrucksmittel ihrer Gefühle und Vorstellungen von hohem Wert. Diese Literatur spielt eine überaus wichtige Rolle im Volksleben, besonders die Marchen und Sprichwörter. Nur ein Teil der primitiven Dichtung, namlich die Mythen, sind im allgemeinen naher untersucht worden. Ihr Wert ist für die Kenntnis der Weltanschauung in engerem Sinne allerdings auch gross. Jedoch der andere Teil, die Marchen und besonders die Lieder und Sprichwörter sind bisher viel weniger systematisch erforscht. Doch ware es ein sehr verlockendes Thema, die ganze primitive Literatur auf ihre soziale Funktion und ihre Bedeutung für die Weltanschauung naher zu untersuchen 1). Unsere Aufgabe ist im Augenblick bescheidener. Wir werden kurz das Wichtige in Bezug auf die Individualisierungserscheinungen hervorheben. 1. marchen. Für unseren Zweck brauchen wir keine scharfe Grenze zu ziehen zwischen Mythen, Erzahlungen und Marchen. Der Form und Funktion nach sind sie oft verwandt. Nur bilden *) Sehr gut hat Radin (Primitive Man as Philosopher) diese Bedeutung gesehen, obwohl sein Buch keine eingehende systematische Untersuchung enthalt. die Erzahlungen und Sprichwörter weit mehr einen wesentlichen Teil des Volkslebens als die Mythen. Zudem befassen sie sich auch mehr mit alltaglichen Problemen. Die eigentlichen Mythen wollen wir hier ausser Betracht lassen, weil ihre Untersuchung uns zu weit führen würde x). Für unseren Uberblick unterscheiden wir Erzahler und Erzahltes, also: a. die Personen; b. den Inhalt und die Funktion der Marchen. 1. Erzahler. Viele afrikanische Stamme haben Marchenerzahler. Sie bilden oft eine gewisse Berufsklasse, besonders in Westafrika. Aus der französischen Literatur sind sie uns als „griots" bekannt. Diese „griots" sind zugleich Sanger, Musikanten, Tanzer und stellen in Westafrika eine besondere Kaste dar2). Auch in anderen Teilen Afrikas scheint es solche Zünfte gegeben zu haben. Pëchuel-Loesche berichtet davon in seiner Beschreibung der Bafioti: „Nach einheimischen Schil- *) A. Werner, African Mythology, London, 1925, gibt einen Uberblick der afrikanischen Mythen. Auch, kürzer, C. Meinhof, Afrikanische Dichtung, Berlin, 1911. 2) So schreibt M. Delafosse über sie: „II y a des griots de toutes catégories : les uns sont musiciens, chanteurs, poètes, conteurs, mimes, danseurs, baladins; d'autres ont la charge de recueiller dans leur mémoire les généalogies des families nobles, les hauts faits des grands personnages, les annales des Etats ou des tribus, les coutumes politiques, juridiques ou sociales, les croyances religieuses, et de les transmettre a leurs descendants. Ce sont ces derniers qui représentent la littérature orale sous sa forme savante. Chacun d'eux est un véritable dictionnaire vivant que consulte lorsqu'il est embarrassé sur un point d'histoire, de droit ou de liturgie, le prince, le magistrat ou le prêtre, et que 1'on met a contribution pour 1'enseignement sommaire distribué a la jeunesse lors de 1'initiation a la vie adulte. Cette forme trés curieuse et éminemment riche de la littérature orale a été utilisée avec fruit par plusieurs auteurs européens, qui se sont fait dicter par quelquesuns de ces professionnels des récits abondants et remplis d'indications précises et détaillées". — „C'est grace a des griots traditionnistes que nous possédons quelques lumières sur les annales reculées de nombreux Etats indigènes, comme 1'empire de Ghana, connu des Noirs sous le nom d'empire du Ouagadon ou de Koumbi, 1'empire du Mali ou Manding, les royaumes de Diara, de Sosso, de Tekrour, etc. Certaines des chroniques redigées en arabe par des écrivains soudanais ne sont pas autre chose que des compilations et des traductions de recits faits par ces griots". (Les Nègres, Paris, 1927, S. 69). Frobenius berichtet, dass bei den Fulbe und Tuareg Heldensanger, Barden lebten und noch leben, die mit den Kriegern auf Abenteuer auszogen wie einst Parcival. Er hat eine ganze Fülle von Sagen dieser Sanger erzahlt. (Erganzungsband zu Petermanns Mitteilungen, 1910, S. 35, 166). Leider wissen wir noch sehr wenig von dem geistigen Leben der hamitischen Wüstenstamme. derungen scheinen sie als Zunft, wenigstens die Gelernten, zur Königszeit besonders geachtet gewesen zu sein und mancherlei Vorrechte gehabt zu haben. Das hat sich verloren. Sie sind nicht mehr zahlreich und unternehmen bloss ab und zu noch Kunstreisen durch die Dörfer" x). Smith und Dale sagen in Bezug auf die Ba-ila, dass es ein Genuss sei, einem guten Erzahler zuzuhören. Sie erwahnen besonders ihren beredten Freund Mungalo, von dem sie viele Geschichten erhielten. Interessant ist der folgende Bericht über seine Erzahlkunst: „Here was no lip-mumbling, but every muscle of face and body spoke, a swift gesture often supplying the place of a whole sentence. He would have made a fortune as a raconteur upon the English stage. The animals spoke each in its own tone: the deep rumbling voice of Momba, the ground hornbill, for example, contrasting vividly with the piping accents of Sulwe, the hare. It was all good to listen to — impossible to put on paper. Ask him now to repeat the story slowly, so that you may write it. You will, with patience, get the gist of it, but the unnaturalness of the circumstances disconcert him, your repeated request for the repetition of a phrase, the absence of the encouragement of his friends, and, above all, the hampering slowness of your pen, all combine to kill the spirit of storytelling. Hence we have to be content with far less than the tales as they are told. And the tales need effort of imagination to place readers in the stead of the original listeners" 2). Junod bericht über die Thonga-Erzahler. Er schreibt: „Story-tellers are of all ages and of both sexes. I have heard little girls of ten amusing their play-mates with tales. Those I have collected were told by young girls of eighteen (Nkulunkulu and Nwanawatile), young men of twenty (Khwezu, Maganyele, Simeon Makwakwa), and men of thirty and forty (Spoon, Jim Tandane); but the majority came from adult women, the most skillful being Shigiyane-Camilla, Sofia Midomingo, Martha and Lois. Some only know one Volkskunde von Loango, S. 102. ") Smith und Dale, a.a.O., II, S. 336. tale, and repeat it on every occasion, like Jim Tandane, who used to narrate the story of an ogre, Nwatlakulalambimbi, with such gusto that he was surnamed after his hero! But others can recite six, ten or twenty tales. Shigiyane, for instance, could entertain the company for many nights with her tales, some of which were very long. This woman's memory was wonderful, and the graceful manner in which she told her stories was no less astonishing" 1). Und weiter: „As regards the narrators, they also vary greatly. Some of them, the beginners, are dull, slow and tedious. They mingle the episodes without any order, frequently assuming that things are known which have not bef ore been mentioned. But others are full of life, and one feels a true literary pleasure in listening to them. It was a real treat, for instance, to hear Shigiyane, Spoon, his wife, and Simeon Makwakas! Their gestures, their mimicry, their play of feature, the wealth of descriptive adverbs introduced into the narrative, added a great interest to the story" 2). Von den Kpelle sagt Westermann, dass bei den Erzahlern individuelle Unterschiede deutlich hervortreten. Über seine Gewahrsmanner z.B. berichtet er, dass der eine „am kunstvollsten" ist; ein anderer hat eine „anmutige Darstellungsart, ist aber sonst oft weitschweifig"; ein dritter spricht „eintönig, aber ohne Abschweifungen"; ein vierter „ahnlich, ist aber in seiner Ausdrucksweise besonders sorgfaltig" 3). Mehr im allgemeinen teilt Westermann noch Folgendes über die Erzahlkunst mit: „Der Marchenschatz und die Erzahlkunst der einzelnen Individuen sind ausserordentlich verschieden. Einige sind kaum zu gebrauchen, weil sie wenig wissen oder es ihnen an Lust und Geschick zum Darstellen fehlt, wahrend andere, besonders altere Leute, über ihr heimatliches Dorf hinaus einen Ruf als gute Geschichtenerzahler besitzen und geradezu unerschöpflich sind. Unrichtigkeiten in der Darstellung werden von den Umstehenden sofort unter Protest berichtigt, und wenn sie sich wieder- •) Junod, The Life of a South African Tribe, II, S. 211. !) a.a.O., S. 215. •) Westermann, Die Kpelle, S. 173. holen, unbarmherzig verspottet, wodurch schwache Erzahler leicht ganz aus den Geleise gebracht werden und sich zurückziehen" 1). Driberg betont ebenso die Unterschiede unter den LangoErzahlern: „Certain narrators, by the excellence of their dramatic art and the extensiveness of their repertoire win a more than local reputation" 2). Und über die Bavenda finden wir berichtet: „There are generally two or three persons in every kraal with reputations as story-tellers, but almost every adult has at least one good tale to his special credit, in the recital of which he or she excels" 3). Aus diesen Beispielen geht hervor, dass die Erzahler sich ihrer Begabung 4) und Stellung nach von den übrigen Stammesgliedern unterscheiden. Der Beruf des Erzahlers scheint wohl mit am meisten an die Individualitat gebunden zu sein. Leider verfügen wir noch über zu wenige Tatsachen hinsichtlich der Persönlichkeit, des Entwicklungsganges, Einflusses, u.s.w. der Marchenerzahler. Die Erzahler müssen aber ausser ihren besonderen Fahigkeiten der Darstellungskunst und ausser ihrer Erinnerungsgabe auch über Phantasie verfügen, denn sie verandern gelegentlich die Erzahlungen5). Hier haben wir eins der treffendsten Beispiele der individuellen Wirkung: Beeinflussung der Kultur durch begabte Persönlichkeiten. So sagt Junod, dass die Marchen fortdauernd von den Erzahlern geandert würden und dass diese Anderungen viel weiter gingen, als man im allgemeinen vermuten sollte, selbst weiter, als die Eingeborenen selber wüssten. „After having heard the same stories told by different story-tellers, I must confess", sagt Junod, ') a.a.O., S. 361. a) Driberg, the Lango, S. 133. 3) Stayt, The Bavenda, S. 330. *) A. van Gennep sagt von den Erzahlern: „lis se recrutent parmi les individus les plus intelligents, je ne dis pas les plus instruits, de la localité." (La formation des légendes, Paris, 1920, S. 269). A. van Deursen hat eingehend auf die bedeutende Rolle der Erzahler bei den amerikanischen Indianern hingewiesen. (Der Heilbringer, Groningen, 1931, S. 25—34). 5) Eine dergleiche Hinzufügung von neuen Elementen zu den Geschichten wird auch von den Indianer-Erzahlern berichtet. (Van Deursen, Der Heilbringer, S. 29). „that I never met twice with exactly the same version. First of all words differ. Each narrator has his own style, speaks freely and does not feel in any way bound by the expressions used by the person who taught him the tale. It would be a great error to think that, writing a story at the dictation of a Native, we possess the recognised Standard form of the tale. There is no Standard at all! For this reason I cannot attribute any great importance to the text of the tales. They are examples of the language as spoken by so and so in such and such a district, and therefore have a linguistic value, just as any report or address they make or deliver. But they are by no means stereotyped texts, transmitted as such from old times. The words of the songs, which occasionally accompany the narration, are probably the most ancient and stable element of the tales." — „But these fixed elements are rare and, as a rule, Natives change the words with the greatest freedom." — „I will go further: new elements are also introduced, owing to the tendency of Native story-tellers always to apply the circumstances of their environment to the narrative. This is one of the charms of Native tales. They are living, viz., they are not told as if they were past and remote events, in an abstract manner, but considered as happening amongst the hearers themselves, the names of listeners being often given to the heroes of the story, which is, so to speak, forced into the frame of everyday life. So all the new objects brought in by civilisation are, without the slightest difficulty, made use of by the narrator" 1). Bei einem anderen Kenner einer Bantu-Sprache finden wir eine ahnliche Mitteilung: — „Die Erzahlungen der Bantu haben, ungleich dem Sprichwort, keineswegs eine stereotype Form. Einzelzüge verandern sich im Munde jedes Erzahers. Dieser pflegt sich mit der ganzen Kraft seiner Vorstellung in die einzelnen Situationen der Geschichte zu versetzen; die mit ausserster Lebhaftigkeit, unter lebendigem Geber- ») Junod, The life of a South-African Tribe, II, S. 218 ff. Ahnliche Bemerkungen gibt Junod in: „Folklore", 1924, S. 326, in einem Aufsatz: „La Genèse des Contes Africains: Ou comme quoi les Noirs inventent les contes sans le savoir." 13 denspiel gegebene Schilderung macht mehr den Eindruck einer vom Augenblick inspirierten eigenen Produktion als den der Nacherzahlung von Überliefertem. Kein Wunder, dass der Erzahler da und dort ausschmückt und andert. Ja, oft verliert er den Faden auch ganz und mischt die Motive" 1). Pechuel-Loesche teilt einige Einzelheiten über die Entstehung der gewöhnlichen Geschichten bei den Bafioti mit. Die Manner sitzen einen grossen Teil der Nacht am Lagerfeuer und schwatzen und erzahlen eifrig. „Die Geschichte, die einer anfangt, erganzt ein zweiter oder nimmt sie ihm ab und bereichert sie durch eine Erinnerung, durch ein Gleichnis, setzt ein Dritter oder Vierter fort und spinnt hinein, was sich jüngst ereignete, was vielleicht getraumt oder von Europaern aufgeschnappt wurde. So sind gewöhnlich viele zugleich tatig an der Ausgestaltung einer Geschichte, wodurch sich deren vielfaltige Fassung erklart. Je nach Ort, Zeit und Anlass wird Altes mit Neuem verwebt" 2). Rattray sagt, dass es eine enge Beziehung gibt zwischen Charakter und Eigenart eines Stammes und Form und Inhalt der Marchen dieses Stammes: „Every tribe and every nation which has in turn borrowed such stories not only relates them in a new dialect or in a new language but also alters them to conform with its own peculiar outlook upon life. I suppose I have listened to most of the tales contained in this volume at least three or four times, in areas widely apart, and related by men and women of different tribes. The same tale was never quite the same, although always clearly recognisable: the personality of the story-teller and local circumstances in each case influenced the telling" 3). Es ware natürlich unrichtig, den Erzahlern einen allzu grossen Einfluss zuschreiben zu wollen. Sie sind Teil ihrer Umgebung und ihr Beruf ist nicht das wichtigste im Stammesleben. Innerhalb dieser Umgebung können sie aber mehr ») J. Raum, Versuch einer Grammatik der Dschaggasprache. (Archiv für das Studium deutscher Kolonialsprachen, Bd. XI, 1909, S. 306, 307). 2) Volkskunde von Loango, S. 101. •) Rattray, Akan-Ashanti Folk-tales, Oxford, 1930, S. VIII. oder weniger selbstandig funktionieren. Wir sehen, dass die Erzahler eine gewisse Freiheit haben, die Erzahlungen zu verandern und ihre Phantasietatigkeit wir ken zu lassen. Sie können also in gewissem Sinne als Erneuerer des im Stamme gehegten Wissensschatzes auftreten. Dieser Tatsache scheinen sich die Erzahler selber wohl nicht bewusst zu sein. So behaupten die Thonga-Erzahler: „Marchen haben schon immer dieselbe Form gehabt; dagegen werden Lieder taglich neu erfunden" 1). Trotz dieser traditionellen Anschauung können wir deutlich eine persönliche Wirkung der Erzahler bemerken, nicht nur in Bezug auf die Darstellungskunst, sondern auch was Form und Inhalt der Erzahlungen betrifft. Auch hier sind uns leider nur wenige Tatsachen bekannt. Die Forscher begnügen sich meistens damit, die allgemeinen Züge der Erzahlungen hervorzuheben. Wir mochten nicht den Eindruck erwecken, als ob wir der Meinung waren, die Erzahler seien „freie Persönlichkeiten", die ohne Verbindung mit ihrer Umgebung standen. Wir sehen auch hier keinen Gegensatz zwischen Individuum und Gruppe. Beide wirken vielmehr auf einander ein. Es darf nicht vergessen werden, dass die Marchen in einer sozialen Situation erzahlt werden. Der Erzahler ist in gewissem Sinne abhangig von seinem Publikum, wie bei uns ein Redner. „Unrichtigkeiten in der Darstellung werden von dem Umstehenden sofort unter Protest berichtigt, und wenn sie sich wiederholen, unbarmherzig verspottet," sagt Westermann 2). Trotzdem hangt sein Erfolg zu einem grossen Teil von seinen persönlichen Fahigkeiten ab. b. Inhalt und Funktion. Es ist hier nicht beabsichtigt, in systematischer Weise den ganzen Inhalt der Marchen zu be- l) „Les chants disent-ils, naissent et passent. II en parait de nouveaux en toute saison, tandis que les contes nous sont légués par nos ancëtres. Personne n'aurait 1'idée d'en inventer de nouveaux". (Tunod, Les Ba-Ronga s. 277). ' Westermann teilt dagegen mit, dass die Profanerzahlungen der Kpelle von den Mannern erfunden werden. (Die Kpelle, S. 358). Leider finden wir nichts weiteres über die Art der Entsteheng mitgeteilt. *) Westermann, Die Kpelle, S. 361. handeln oder einen Uberblick über die verschiedenen Arten von Marchen zu geben. Ihr Inhalt interessiert uns hauptsachlich in Bezug auf die Frage, , in wie weit sie das Bewusstsein einer individuellen Differenzierung ausdrücken. Dabei mochten wir zugleich betonen, dass wir nicht der Meinung sind, die Mythen und Marchen seien vor allem Ausdruck einer Weltanschauung. Sie haben, besonders die Marchen, eine soziale Funktion und als solche wirken viele Faktoren mit: Weltanschauung, aber auch das einfache Bestreben, dem allgemeinen Vergnügen zu dienen, Personen und persönliche Umstande, usw. 1). Bekanntlich spielen bei den afrikanischen Vólkern die Tierfabeln eine grosse Rolle. Besonders der Hase ist ein populares Tier, das durch seine List den anderen Tieren überlegen ist. Der Eingeborene findet Vergnügen an diesem Thema und hört diesen Berichten stundenlang zu. Der Hase nimmt in den Marchen eine ganz besondere Stellung ein. „He is the most popular of all the dramatis personae. In the minds of the Ba-ila he embodies all subtlety. He is skilful in oratorical jokes; he is cruel, he is cunning, he is false; a Macchiavel, a Tartuffe, a downright rogue" 2). Das trifft nicht nur für die Marchen der Ba-ila, sondern für einen grossen Teil der uns bekannten afrikanischen Marchen zu. Was bedeuten nun die Handlungen des Hasen für die Eingeborenen? Smith und Dale haben auf diese Frage schon ') Smith und Dale z.B. schreiben: „It is usual to regard savages as uneducated people, and as far as books are concerned, they certainly are, but in the book of Nature they are well read. From an early age they learn to recognise the animals, to distinguish their footprints and cries, to know their names, their habitats and customs. And not only are they keen observers, they reflect on the facts, and, comparing the facts one with another, they want to know the reason of things, They ask not so much, How ? as Why ? Why are things as they are ? The answers to such question are embodied in tales. If the explanations are naïve, they bear witness to considerable powers of observation and reflection, of imagination and humor". (Smith and Dale, The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, II, S. 337). Das trifft gewiss zu. Es kommt in den Marchen ein Versuch zur Erklarung der Wirklichkeit zum Ausdruck. Das ist aber nur eine Seite der Erscheinung. Bartlett Psychology and primitive Culture, Cambridge, 1923, S. 62) und Malinowski (Myth in primitive Psychology, London, 1926, S. 23) haben daneben mit Recht die Bedeutung der Marchen als soziales Phanomen betont. Und als solches ist ihre Funktion vielseitiger. ') Smith und Dale, a.a.O., II, S. 339. teilweise eine Antwort gegeben. „In sketching these animals, not Sul we and Fulwe only, but all the animals in these tales, the Ba-ila are sketching themselves. The virtues they esteem, the vices they condemn, the follies they ridicule — all are here in the animals. It is a picture of Ba-ila drawn by Ba-ila, albeit unconsciously, and valuable accordingly. In the hero, Sulwe, we may find some at least of the characteristics that the African most admires. The tales show us that he esteems mind above physical strength, brain above brawn. The Elephant and the Lion are types of the latter, the Hare of the former, and Sulwe always wins; if at last he is beaten it is only by superior cunning. In real life among the Bantu, it is not so much a Hector as an Odysseus that prevails; even in these cases where, as with Moshesh and Chaka and Sebitwane, the chief is also a great warrior, he does more by subtlety than by the assegai. The greatest figure in Basute history is not Moshesh but Mohlomi, the mystic and seer. The most powerful persons, because most feared, among the Ba-ila are the munganga and musonzhi, the doctor and diviner, who with much knowledge have also abundance of wit and cunning. Yes, the Ba-ila appreciate mind, but the type that appeals most to them is the Sulwe type or the Fulwe type: to get the better of one's neighbours without being found out — that is wisdom" x). Die Bedeutung dieser Marchen für unsere Frage dürfte klar sein: Sie zeugen für ein lebendiges Gefühl für die Differenzierung unter den Menschen. Dieses Gefühl finden wir auch in anderen Erzahlungen. Junod gibt eine Beschreibung von Marchen, die er „Erzahlungen von der Weisheit der Kleinen" nennt. Auch hier wieder dieselben Gedanken vom Sieg der Geringen über machtige Feinde in Geschichten, in denen Kinder, elende und verachte Menschen siegen. Die Thonga haben weiter Marchen mit einer (obwohl vielleicht unbewusst) moralischen Tendenz. In einigen dieser Geschichten tritt diese moralische Tendenz, nach Junod, sogar sehr deutlich hervor. Fehler wieNeugier, Eifersucht, Eigensinn, Unfreundlichkeit u.s.w. werden be- ') a.a.O., S. 341 ff. straft. Die Tiermarchen, sagt Junod, sind Beispiele für den Sieg von Weisheit über nur brutale Macht: „So the exaltation of wisdom or goodness is clearly noticeable in almost all the tales" x). Bei den Kpelle bringen die Spinnengeschichten die Achtung vor Starke und Klugheit zum Ausdruck, zeigen aber zugleich, dass der Starke oft im scheinbar Schwachen seinen Meister findet und der Betrüger in seiner allzu grossen Selbstsucht und Gier zum Betrogenen wird2). Die Kpelle besitzen neben ihren Marchen eine Menge von Erzahlungen aus Familie und Gesellschaft: das Eheleben wird geschildert, besonders nach seinen bösen Seiten, die Untreue der Frauen, die lacherliche Eifersucht von Mannern, die trotzdem hintergangen werden u.s.w. Diese Erzahlungen sind, so berichtet Westermann, „entweder freie Erfindungen oder Berichte von tatsachlichen, wenn auch ausgeschmückten Begebenheiten, manchmal in ihrem schonungslosen, gelegentlich an Selbstironie grenzenden Realismus, in der wirklich humorvollen Darstellung und streng zusammenhangenden Ausführung, in ihren Anfangen einer Charakterschilderung fast ans Novellenhafte streifend. Von den Marchen unterscheiden sie sich ganz deutlich dadurch, dass sie nichts Wunderbares enthalten, sondern sich durchaus auf dem Boden der taglichen Wirklichkeit bewegen und ihre Entstehung dem Vergnügen an der Wiedergabe von Beobachtungen des Menschenlebens, menschlicher Leidenschaften und Torheiten ver- ') Tunod The life of a South African Tribe, II, S. 223. Ebenso Trilles. Les Legendes des Bena Kanioka et le Folklore Bantou (Anthropos, 1909, S. 951). 2) Westermann, Die Kpelle, S. 362. Graebner weist darauf hin, dass das Vergnügen an Betrügergeschicnten sehr charakteristisch ist für die primitiveren Hochkulturen wie er sie nennt. Die Betrüger vom Typus des Reineke Fuchs, im Sudan die Spinne, in Indonesien der Zwerghirsch, bei den Cora in Mexiko das Opossum, wissen immer andere Tiere ins Unglück zu bringen, teils aus blosser Schadenfreude, teils um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Für den Hörer liegt der Keiz vorwiegend in der Komik; ein Zeichen, dass ihm in dem Augenblicke ]edenfalls die individuelle Komik höher steht als das sittliche, soziale Verhalten . (Das Weltbild der Primitiven, S. 125). Wir mochten dazu bemerken, dass dieses Vergnügen an Betrügergeschichten in Afrika, nicht nur im Sudan, also bei den höchstentwickelten afrikanischen Stammen, lebt, sondern überall in Afrika. danken; sie sind ausgeschmückte Schilderungen menschlicher Schicksale" 1). In den Erzahlungen der Dschagga finden wir dieselben Züge. Auch die Sudan-Neger zeigen, nach Labouret, in ihren Erzahlungen eine scharfe Beobachtungsgabe. In den Gegenden von Bougouni und Bamaka besteht ein wirkliches Theater, wo Eingeborene von ihnen selbst verfasste Stücke aufführen. „Les auteurs anonymes de ces pièces en sont aussi les acteurs, ils font oeuvre de psychologues, et savent porter avec art a la scène les ridicules de leurs concitoyens." — „La troupe est formée d'hommes du village, qui assument a la fois les röles masculins et feminins, tous jouent avec un naturel véritable dénotant un grand esprit d'observation et d'adaptation" 2). Aus allen diesen Berichten geht hervor, dass die Eingeborenen über eine scharfe Beobachtungsgabe für menschliche Eigenschaften verfügen und dass die Unterschiede der Menschen ihnen in weitem Masse bewusst sind 3). Auf eine interessante soziale Funktion, die die Tiermarchen möglicherweise auch haben, mochten wir noch hinweisen. Sie besteht in einer gewissen Kritik der Eingeborenen an den Hauptlingen. Die Marchen waren also, wenn dies zutrifft, eine Ventilsitte. Junod meint in den Marchen deutlich diese Funktion sehen zu können. Er sieht in ihnen einen diskreten Protest der. Schwachheit gegen die Starke, einen Protest der geistigen gegen die materiellen Krafte. Es sei uns gestattet, hier Junods Worte zu zitieren. „Among the Bantus, the Chief is all powerful. Surrounded by Counsellors, protected by warriors always ready to do his biddings, he is an autocrat with power of life and death over his subjects, especially where the primitive clan has evolved into a confederation of tribes united by military power. If the Bantu clan is in a sense democratie, the hierarchy is, J) Westermann, Die Kpelle, S. 358. Rattray machte ebenso einen scharfen Unterschied zwischen Profanerzahlungen und Mythen. *) H. Labouret et Moussa Travélé: Le théatre Mandingue (Soudan francais), Africa, I., S. 92. s) Vgl. dazu auch: Pechuël-Loesche, Volkskunde von Loango, S. 105 und Driberg, The Lango, S. 133. nevertheless, all powerful in its midst. Before the Chief and before the invincible custom of which he is the representative, every one bows and trembles. In every village the headman possesses similar power over his subordinates and elder brothers reign as despots over the younger. From the top to the bottom of the social ladder the strong dominate over the weak and combine, in a wonderful way, to assure the submission of the inferior. In the evening, round the fire, the women and the children take their revenge in the Black man's usual way, i.e., by saying what they think in a roundabout manner. They do not try to upset the existing state of affairs. Far from it! But they take malicious pleasure in telling of the clever tricks of the Hare and his associates! Why? Because Mr. Hare represents the little one, the subject, the ordinary private individual, who has received no special advantages, either by birth or from nature, and yet who, by his own personal wit or common sense, gets the better of the great ones of the community and even of the chiefs. Is it a mere coincidence that three of the tales I have collected conclude with the death of a chief brought about by the machiavellian astuteness of that rascal, the Hare? Or, sometimes, it is the youngest sister who figures in the story; the despised one, covered with a loathsome skin disease; the insignificant little goat-herd; the son of the neglected wife; all of whom accomplish great deeds, entirely unexpectedly" 1). Es scheint mir, dass Junod hier Recht hat, obwohl er wahrscheinlich zu weit geht. Ein so starker Gegensatz zwischen „Individuum" und Hauptling wird wohl nicht bestehen. Jedenfalls nicht im Bewusstsein des Eingeborenen. Junod idealisiert wohl die Verhaltnisse, wenn er sagt, dass „in the collective state of human society, folklore represents an aspiration to a state of things where the individual will have his due place" 2). Wie wir versucht haben zu zeigen, ') II, S. 224. Einen ahnlichen Gedanken finden wir bei Trilles, der sagt, dass die Erzahlungen der Bantu den Kampf zwischen den Machtigen, Reichen und den Armen wiedergeben (Anthropos, Bd. III, S. 952). a) a.a.O., S. 225. ist es besser, nicht von einer kollektiven Stufe zu reden, da dieser Ausdruck zu unbestimmt ist und die andere Stufe, auf die der genannte Verfasser hinweist, sich ebenfalls im einzelnen schwer umgrenzen liesse. Die Auffassung Junods, dass die Marchen eine Art Ventilsitte bedeuten können, findet eine Bestatigung in einem Bericht von Rattray. Er schreibt, dass die Profanerzahlungen der Ashanti manchmal Ausdrücke enthalten, die im gewöhnlichen Leben Tabu sein würden. Dinge, welche gewöhnlich als heilig angesehen werden, z.B. die Götter, Fetische, Ahnen, Hauptlinge, sexuelle Ausdrücke werden als profan behandelt und sind oft Gegenstand des Spottes. Die Erzahlungen geben also eine Gelegenheit, Dinge zu sagen, die man sonst nicht sagen darf. Rattray schreibt Folgendes darüber: „During some story-telling evenings, between the various tales, and often, indeed, in the very middle of a story, actors will sometimes enter the circle and give impersonations of various characters in the stories. In this connexion I have seen inimitable representations of an old woman dressed in rags and covered with sores; a leper; a priest with an attendant carrying the shrine of his g°d". — „These impersonations are extremely realistic and clever and, like the stories, call forth roars of laughter from all who witness them. On one occasion — it was in connexion, I think, with a sketch depicting an old man covered with yaws — I asked some one seated beside me if people habitually laughed at persons inflicted by Nyame (the Shy-god) in this way, and I suggested it was unkind to ridicule such a subject. The person addressed replied that in everyday life no one might do so, however great the inclination to laugh might be. He went on to explain that it was so with many other things: the cheating and tricks of priests, the rascality of a chief — things about which every one knew, but concerning which one might not ordinarily speak in public. These occasions gave every one an opportunity of talking about and laughing at such things; it was „good" for every one concerned, he said. Following up this extraordinarily interesting explanation, I discovered that it was also a recognised custom in olden times for any one with a grievance against a fellow villager, a chief, or even the King of Ashanti, to hold him up to thinly disguised ridicule, by exposing some undesirable trait in his character — greed, jealousy, deceit — introducing the af fair as the setting to some tale. A slave would thus expose his bad master, a subject his wicked chief. Up to a point the storyteller was licensed"1). Interessant ist hier also, dass durch Mittel der Profanerzahlungen die strenge Sitte durchbrochen wird. Es gibt eine von Seiten der Gemeinschaft zugelassene und geregelte Kritik der Götter, Hauptlinge und anderen Machte. Das bedeutet, dass eine Sitte, die eine mit magischer Sanktion verbundene Kraft besitzt, nicht so stark ist, wie viele Ethnologen oft anzunehmen geneigt sind. Gefühle der Auflehnung und Kritik schaffen eine neue Sitte, welche diese Gefühle reguliert. Ober die genaue Wirkung dieser Regulierungen wissen wir leider noch so gut wie gar nichts. 2. LIEDER. Die Lieder haben im Zusammenhang mit unserer Frage eine interessante Bedeutung. Sie erfüllen, wie die Marchen, eine soziale Funktion, was bei den kultischen Liedern, den Kriegsliedern und den Liedern, die bei den Spielen gesungen werden, besonders stark zum Ausdruck kommt. Aber, wie die Marchen, haben sie nicht nur eine soziale Funktion im Sinne einer gruppengebundenen, strengen Sitte, sondern sie bieten auch Gelegenheit für individuelle Ausserungen. Es kann sich natürlich auch hier nicht für uns darum handeln, die Lieder systematisch in ihrer Gesamtheit zu untersuchen. Wir wollen nur auf einige individualisierende Tendenzen hinweisen. Dabei wollen wir wieder: a. Personen, die Dichter oder Sanger der Lieder, und b. den Inhalt der Lieder getrennt behandeln. a. Personen. Die ethnographischen Berichte geben, wie im ») Rattray, Akan-Ashanti Folk-tales, Oxford, 1930, S. X, XI. allgemeinen, so auch in diesem Falie, nur sehr weniges über Individuen. Junod ist einer der wenigen Ethnographen, — wenigstens soweit es sich um Afrika handelt, — die einige Einzelheiten über die Liedersanger mitteilen. Über einen von ihnen, der seine Lieder in einer grossen Versammlung, bei Gelegenheit einer Beerdigung vortrug, schreibt er Folgendes: „He was on a literary tour, going from one village to another, singing his songs and dancing from one end of the land to the other. Tall, his face absolutely clean shaven, his eyes having a kind of absent, semi-conscious look, he at the same time appeared most contemptuous and remained in a state of olympic calm, as if he were a very superior kind of being. He was a man of the Manyisa clan, and all seemed to show him much consideration. When those officiating at the sacrifice were busy cutting open the victim, he appeared in the circle formed by the spectators, and began his performance. He had put on a skirt of milala palmleaves and imitated a lame man, assuming an air of intense suffering. Suddenly, with wonderful strength, he began to trample the ground with his feet. He had an assagai in his hand, and feigned to pierce his own side and his thigh. Then, lifting the weapon, he cast an authoritative look on the throng and those who had been laughing stopped and kept perfectly quiet. He remained immovable, regarding them with an air of supreme contempt, impassable.... And then he commenced his song. — The throng joined with him in the chorus, which was really very effective. The women clapped their hands in cadence to encourage him. Judging that they did not do this with sufficiënt vigour, he scooped up a handful of sand and threatened to throw it into their eyes. They clapped with renewed vigour. — This performance was indeed wonderful" x). Wichtig ist auch hier, wie bei den Marchenerzahlern, die Beziehung zwischen Sanger und Publikum. Aber wahrend der Marchenerzahler in grossen Zügen an einem traditionellen Inhalt der Erzahlungen gebunden ist, ist der Sanger freier. Er ist oft zugleich Dichter, und jedenfalls besteht hier nicht *) Junod, The Life of a South African Tribe, II, S. 185, 186. eine solche Kontrolle von Seiten des Publikums wie beim Erzahlen. Sehr bemerkenswert ist das überlegene Verhalten des Thonga-Sangers x). Uber einen anderen Sanger erzahlt Junod Folgendes: „I met later a blind minstrel, Mungomana, who earned his living in the neighbourhood of Lourengo Marqués by giving concerts in the yard of an important Native woman named Nwalanga, at which a number of boys from Inhambane and Chopiland used to stop bef ore leaving for Johannesburg. He accompanied their dances with his timbila (xylophone) and was paid 4.800 reis per month. He told me his story. When quite young he showed a quite unusual gift for music and dancing. He went everywhere where a feast was taking place and boys were trying to outdo each other in dancing and singing, and was always proclaimed first. A woman, impressed by his wonderful art, asked him to marry her, but he declined on the plea that he was still too young. Once as he was passing along a field where this woman was at work, she said to him: „If you do not marry me, you shall not live". Frightened by this threat, he fled to another country but soon one of his eyes began to swell. His elder brother told him: „You are bewitched by that woman", and his paternal aunt tried to heal him. She covered him with a piece of cloth, and made him expose his eye to the steam of a certain drug boiled in a pot below. She claimed to have succeeded, having found an ox-tail hair at the bottom of the pot when she poured out the water. This was however a lie. The eye complaint became worse, till he entirely lost his sight. He then devoted his life to music, and composed many songs to accompany the dances of the magayisa (boys going to work). These songs became popular; if a boy wished for one of them, his favourite, to be executed, he would willingly pay 200 reis!" 2). l) So wird von den Wanyamwezi-Sangern berichtet: „Die Dichter sind sich ihres Wertes wohl bewusst. Sembeïwe, die Hofsangerin König Mirambos, des „Napoleon von Unyamwezi" singt: „Ich bin der Zaubervogel, der schreit in der Nacht" und „Ich bin beauftragt von Gott". (E. M. von Hornborstel, Wanyamwezi-Gesange, Anthropos, Bd. IV, S. 786). ») a.a.O., S. 187, 188. Die Thonga haben berufliche Dichter, die nur von ihrer Kunst leben, und es gibt bei ihnen auch eine Anzahl Gelegenheitsdichter, die neue Lieder dichten und diese in ihrem eigenen Dorf singen, aber nicht danach streben, eine grosse Berühmtheit zu erlangen. Wenn ihre Lieder den Leuten getallen, dann werden sie im ganzen Land bekannt und werden bei allen festlichen Gelegenheiten gesungen. Allmahlich versinken sie dann wieder in Vergessenheit und werden durch neue ersetzt. Auf diese Weise besteht ein fortwahrenderWechsel im Liederschatz der Stammes. Interessant ist der individuelle Ursprung dieser Lieder und ihre spatere Verwandlung in einen Bestandteil der Stammestradition. So wird auch von den Haussa-Liedern berichtet: „Ursprünglich von einem fahigen Erfinder ausgehend, werden sie Gemeingut, dessen Urheber schnell vergessen werden" 1). Was die beruflichen Dichter anbetrifft, haben wir für WestAfrika schon auf die Bedeutung der „griots", die zugleich Marchenerzahler, Dichter und Sanger sind, hingewiesen. In Westafrika scheint das berufliche Dichten ziemlich stark ausgebildet. In einem Ewe-T)orie lebte vor einigen Jahren eine berühmte Dichterin. Die Leute kamen von weit her, ihre Lieder zu hören 2). So berichtet auch Talbot: „The composer of a new tune or dance is greatly honoured, and in most places any person or club which wishes to use it must obtain his permission and usually give him a present 3). b. Inhalt der Lieder. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass, obwohl die Lieder eine soziale Funktion erfüllen, oft ein individuelier Ursprung für sie nachgewiesen werden kann. Jedenfalls spielen persönliche Gefühle und persönliche Umstande als Motive ihres Entstehens eine bedeutende Rolle. „Ein realer, vom Sanger selbst erlebter Vorgang dient meist als Vorwurf" 4). In ahnlicher Weise schreibt Junod: „Quel- ») R. Prietze, Dichtung der Haussa, Africa, Bd. IV, S. 88 2) Mündlich von Prof. Westermann. a) The Peoples of Southern Nigeria, Bd. III, S. 808. ') E- M. v. Hornborstel, Wanyamwezi-Gesange, Anthropos, Bd. IV, o. 785. Schon Wündi hat auf den individualisierenden Charakter dieser Art qu'un a une peine de coeur, il lui arrivé tel ou tel accident, telle ou telle chance et il célèbre par un couplet de son invention son heur et son malheur" x). Und hinsichtlich der BasutoLieder wird berichtet: „On rencontre souvent des individus qui composent des louanges non seulement en 1'honneur du chef, mais aussi pour célébrer leurs propres exploits. D'aucuns vont même jusqu'a en composer en 1'honneur de leurs bceufs et de leurs chevaux de course" 2). Junod gibt ziemlich ausführliche Mitteilungen über den Inhalt der Lieder. Daraus geht erstens hervor, dass auch die Primitiven das Bedürfnis haben, ihre persönlichen Erlebnisse auszudrücken, ferner aber, dass sie dazu auch innerhalb des Gemeinschaftslebens Gelegenheit haben. Junod sagt nun zwar, dass die Gefühle, die in den Liedern ausgedrückt werden, im allgemeinen nicht sehr tief sind, und dass ihre lyrische Poesie eher Spiel ist als ein „painful cry of the heart" 3), aber das scheint mir doch schwer mit Sicherheit festzustellen. Genannter Verfasser hat sich übrigens in einem früheren Buch auch etwas anders dazu geaussert, wenn er namlich über die Trauerlieder schrieb: „Leur cris de deuil glacent le coeur et leurs chants plaintifs prés de la tombe des leurs font mal a entendre" 4). An derselben Stelle berichtet er auch: „Je ne peux oublier les accents déchirants qui soudain partirent du village de notre voisin Hamoude un certain jour du mois d'aoüt, 1893, lorsqu'une de ses femmes se noya dans la lac de Rikatla. Jamais, je crois, je n'ai entendu exprimer mieux la résignation douloureuse de l'homme sans espoir plongeant le regard dans des affreuses térrèbres: O ma mère! O ma mère! Tu m'as quittée, oü est-tu allée? criaient des voix de femmes trés, trés haut" 5). Dichtung, im Gegensatz zum Mythus, hingewiesen. „Die letzte Quelle dieser Unterschiede bleibt der Gegensatz zwischen individueller und zugleich in sich zusammenhangender Phantasietatigkeit und der allgemeinen, nur durch die gemeinsamen Anlagen und Lebensbedingungen übereinstimmenden, darum aber auch ihre Vorstellungen nur lose verknüpfenden Volksphantasie". (Völkerpsychologie, Zweiter Bd., Erster Teil, Leipzig, 1905 S. 604). ') Les Chants des Ba-Ronga, S. 40. 2) F. Laydevant: La poésie chez les Basuto, Africa, Bd. III, o. 52o, 524. a) The Life of a South-African Tribe, II, S. 185. *) Junod, Les Chants et les Contes des Ba-Ronga, Lausanne, 1897, o. 51. ') a.a.O., S. 51. Es ist überhaupt ein schwieriges Problem, die Tiefe der Gefühle messen zu wollen, und bei dem heutigen Stande des ethnographischen Materials und der ethnographischen Methoden ist es sicher unmöglich, etwas genaues über das Gefühlsleben der Primitiven auszusagen. Wenn wir indessen beachten, dass der Ursprung vieler Lieder ein individuelles Gefühl ist, oder mit persönlichen Erlebnissen verbunden ist, dann werden wir wohl nicht fehlgehen, wenn wir die primitive lyrische Poesie, ebenso wie unsere Poesie, als ein AusdrucksMittel des Innenlebens ansehen. Die Tatsache, dass die Lieder oft tragischer Art sind, wiederspricht ebenfalls einen durchgangigen Spielcharakter. Es ist sehr schade, dass Junod, der doch über eine so eingehende Kenntnis der Thonga verfügt und zudem Verstandnis für seelische Eigenart hat, nicht tiefer auf dergleichen Fragen eingegangen ist. (Wir müssen aber hinzufügen, dass fast durchgangig die psychologische Genauigkeit in der Ethnographie fehlt). Er teüt z.B. folgenden Vorfall mit: „Un jour, Matlarihane, un gargon des environs de Rikatla, me donna un petit concert sur sa harpe unicorde. II ne tarda pas a pencher la tête et a sucer le bois de 1'arc en prenant des airs méditatifs. Pourquoi fais-tu cela? lui demandai-je. C'est afin que ce que je dis dans mon coeur puisse passer dans 1'instrument, me déclara-t-ilx). Offenbar empfindet der Knabe das Bedürfnis, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Sein Spiel ist jedenfalls mit seelischen Regungen verbunden. Aber über die Tiefe dieser Regungen lasst Junod uns im Dunkeln. Seine Beispiele machen indessen den Eindruck, dass die Gefühle tiefer gingen, als er anzunehmen scheint. Nehmen wir zum Beispiel die Klage einer kinderlosen Frau, die nach einem Kinde verlangt. Sie hat schon andere Leute gebeten ihr eines ihrer Kinder überlassen zu wollen. Aber diese haben es abgelehnt und daher singt sie: ») a.a.O., S. 22. „They won't lend me a baby! — They lend me but a mortar and a plate! Were I an eagle! Were I a bird of prey! I would carry thee away!1)." Von einem anderen Lied erzahlt Junod: „Once when I was walking after sunset in the neighbourhood of a miserable village of two or three huts in Rikatla, I was attracted by a simple melody repeated again and again by a feminine voice. A young woman with a child on her shoulders and engaged in cooking her food was singing. She had just lost her father. Her husband was of a very bad character; she had been obliged to leave him and to take refuge in her father's' village, and lo! he had died! Feeling lonely and abandoned by all her natural helpers, she was expressing her grief in a low tone by the following words, sung to a tune full of sadness: „My father has left me! And I had no other except him! I remain alone on the earth! Where shall I go then, Alas!" 2). Liebeslieder gibt es auch. Hier ist ein Lied, wahrscheinlich von einem Madchen, dem es nicht erlaubt war, den Jüngling ihrer Wahl zu heiraten: „To-morrow, to-morrow, my mother, I will start, To-morrow, father, I will start, I will start with an axe; With this axe I will cut the stump, The stump on which my friend has hurt his leg, My friend whose belt of tails hangs from his waist, The one for whom I draw my long legs out of the way. (The stump is perhaps some ill-disposed person whose opposition the energetic maid is determined to overcome)" 3). Ein Gegenstück dazu ist die Klage eines Liebhabers, der •) Junod, The Life of a South African Tribe, II, S. 188. ') a.a.O., S. 189. s) a.a.O., S. 190. einen Korb bekommen hat und nun seinem Arger Ausdruck gibt: „Refuse me if you will, girl! The grains of maize you eat in your village are human eyes! The tumblers from which you drink are human skulls! The manioc roots you eat are human tibia! The sweet potatoes are human fingers! Refuse me, if you will, girl!"1) Meinhof bemerkt zu den Liebesliedern, dass diese in Afrika nicht ganz fehlen, allerdings entfernt nicht die Rolle spielen wie in der europaischen Lyrik 2). Auch PechuëlLoesche sagt, dass in keiner ihm bekannten Dichtung die Liebe eingehend behandelt und ausgemalt wird. „Die Leute, die mit wirklicher Teilnahme von allerlei berichteten Geschicken hören, die singen und sagen nichts von Liebe, geben Liebesgefühlen nicht öffentlichen Ausdruck, woraus aber keineswegs geschlossen werden darf, dass sie die Liebe nicht kennten. Nur der Erotik geben sie in allen ihren Liedern und Geschichten keinen Raum" 3). Dagegen schreibt Delafosse, dass bei den Sudan-Negern die Liebeslieder am meisten verbreitet sind. Sie werden vornehmlich von den Weibern gesungen, wahrend die epische und satirische Poesie von den „griots" vorgetragen wird 4). Wie es bei vielen afrikanischen Stammen der Fall ist, haben auch die grossen Thongahauptlinge ihre Dichter, die ihr Lob singen. Einem jungen Hauptling der nach West Afrika deportiert wurde, wurde von einem unbekannten Dichter ein Lied gewidmet, das seitdem sehr popular wurde: „Ndumakazulu! The glorious! Known as far as Zululand! He fought bravely! He was obliged to fly! He was caught and deported etc." 5). Westermann teilt einige Lieder der Ewe mit, z.B. das melancholische Klagelied eines Armen: J) a.a.O., S. 191. ') C. Meinhof, Die Dichtung der Afrikaner, S. 172. ') Volkskunde von Loango, S. 104. ') M. Delafosse, Haut-Sénégal-Niger, Paris, 1912, Bd. I, S. 381. •) The Life of a South African Tribe, II, S. 193. 14 „Ein Armer hat dich geboren, und du verleugnest ihn, Du sagst, du gehest zu den Reichen? Zu den Reichen gehst du und du sagst, du wollest die Handelslast der Reichen durchsuchen? Ein Armer hat dich geboren, und du verleugnest ihn, Du sagst, du gehest zu den Reichen? Ah, auf die Reichen richtest du deine Gedanken, und dann sagst du, du wollest den Fischkorb der Armen durchsuchen. (Zuerst hat der Armgeborene sich von den Seinen abgewandt und sich bei den Vornehmen eingeschmeichelt, dort anmassend geworden, sucht er nun seine ehemaligen Schicksalsgenossen zu bedrücken)" 1). Wir erlauben uns hier noch die Titel einiger Ewe-Lieder zu geben, um zu zeigen, wie sehr der Inhalt persönlichen Gefühlen Ausdruck gibt: „Lied der Anecho-Madchen, in welchem sie ihre Sympathie für einen jungen Mann ausdrücken. — Spottlied der Anecho-Madchen auf die schwarzen Diener, die „Stewards" der Weissen. — Lied der Anecho-Madchen, wenn sie einem Verehrer den Abschied geben. — Gesang des Sangers Kanyi in Adyido, in dem er die Undankbarkeit der Welt geisselt, nachdem er geblendet wurde. — Gesang des Sangers Kanyi in Adyido zum Preise seines verstorbenen Freundes Mesa. — Gesang des Sangers Akuesihu; er verhöhnt seine Feinde und spricht seine Zuversicht aus, noch langer leben zu können" 2). Diese Beispiele dürfen wohl einigermassen die Rolle der individuellen Gefühle in der afrikanischen Poesie beleuchtet haben. Ebenso wie das Marchenerzahlen scheint das Singen von Liedern die Bedeutung einer Ventilsitte haben zu können. Jedenfalls finden wir das bei den Azande bestatigt. Das Lied, sagt Evans-Pritchard, ist oft eine Waffe: „A clever and popular creator of songs is much respected both for his ') Westermann. Grammatik der Ewe-Sprache, Berlin, 1907, S. 151. ») P. Fr. Witte, Lieder und Gesange der Ewe-Neger, Anthropos, 1906, S. 65—91, 194—210. talent and for Iris ability to lampoon his enemies" x). Bemerkenswert ist was derselbe Autor über die weitere soziale Funktion des Liedes mitteilt: „... it chastises the man who has offened public opinion, praises those who have distinguished themselves, and lauds the chiefs" 2). Wir sehen hier wieder, wie stark die zwei Seiten des Gemeinschaftslebens, die soziale und die individuelle, verbunden sind. Eine soziale Funktion haben die Lieder, weil sie eine gewisse bindende Kraft im Gruppenleben bedeuten. Personen werden gelobt oder verurteilt je nach ihrem sozialen Werte. Zugleich aber bedeuten die Lieder, dass die Eingeborenen sich der Unterscheide zwischen den Menschen voll bewusst sind. 3. SPRICHWÖRTER. Die Sprichwörter nehmen im Leben der Eingeborenen einen grossen Raum ein. Man spricht noch viel mehr in Sprichwörtern wie bei uns. Deshalb sind sie, mehr als die Lieder, ein Niederschlag des allgemeinen Denkens. Gerade als kollektive Ausserung haben sie ihren Wert für unsern Gegenstand. Was sie ausdrücken, lebt ja in den meisten Menschen. Und sie drücken gerade ein starkes Gefühl für die Verschiedenheiten unter den Menschen aus. Teilweise geben sie Verhaltungsmassregeln, teilweise kritisieren sie Personen, aber immer zeigt sich ein starkes Gefühl für das Menschliche. Wir werden einige Beispiele von Sprichwörtern geben, um dies zu verdeutlichen: Ewe: „Die Zwergantilope zieht nicht die Hufe des Elefanten an. Anwendung: Ein Armer darf sich nicht benehmen wie ein Reicher. Einen schwachen Menschen entleidet das Leben nicht. Erklarung: Wenn jemand auch in kleinen, armseligen Verhaltnissen ist, so lebt er doch gerne. Der Löffel verrichtet seine Arbeit, die Schüssel tut die ihrige. Anw.: Jeder arbeitet nach dem Masse seiner Kraft und seines Verstandnisses. ') Africa, Bd. I, S. 449. ') a.a.O., S. 449. Der Rebhuhn sagt, es fresse auf dem Acker seines Freundes. Anw.: Ein Dieb freundet sich mit dem, den er bestehlen will, erst an. Nur der gesattigte Bauch lacht. Den Suchenden erkennt man am Auge. Anw.: Wenn iemand etwas reden will, merkt man es an seinem Gesicht. Der Arme verlasst sein Haus nicht. Erkl.: Der Arme besitzt keine schonen Kleider, in denen er sich ini der Stadt zeigen könnte, bleibt deshalb lieber zu Hause. Er beklagt in diesem Sprichwort seine Armut. Der iunge Leopard braucht das Laufen nicht zu lernen. Anw.: Die Kinder reicher Leute brauchen nicht schwer zu arbeiten, um sich schone Kleider und dergl. kaufen zu können; sie haben die Mittel schon dazu von ihrem Vater. Die Armut verderbt das Ansehen eines Mannes. Erk .. Wenn ein Armer auch schön und stark ist, geniesst er doe kein Ansehen. , , , Ein Sohn, der seinem Vater gleich sieht, kann deswegen nicht auch tun wie sein Vater. Anw.: Durch aussere A n- lichkeit ist noch nicht die Ahnlichkeit der Gesmnung e- dlMan kann nicht den Entschluss fassen, der Welt etwas Böses zu tun. Anw.: Der Schwache vermag mchts wider der Schlinge schreit der Vogel anders. Die Frucht fallt nicht weit vom Stamme. Hochmut purzelt uber den Grashalm. Jeder Bock rühmt seme Horner. Wer aüein wanderte hat gut erzahlen. Der Narr schmalt, der Kluge Tchwrigt 'Ein Narr gibt und hat selber nicht. Arme haben keine Freunde. Reichen fehlt es nicht an Gasten. Willst.du ein Madchen, lass es andere nicht merken. Den Zaghaften verlachen die Madchen. Magst du die Tochter, schau die M DscLgga: Der grossen Zahl von Sprichwörtern, welche vori Gutmann mitgeteilt werden, entnehmen wir einige, die sicfc auf „Arbeit und Mühe" beziehen. „Verfolgst du zwei Reb- ]|s««k;ango, s. 99, 100. hühner, so wirst du keines fassen". (Wer allzu gierig ist, greift fehl). Zahlreich sind die Sprichwörter, in denen die Faulheit gebrandmarkt wird. Der argste Vorwurf für einen Mann ist Furcht und Feigheit. Von einem Feiglinge sagen sie: „Ein Fürchtling hat 10 Speere". Das heisst, er findet immer noch einen Vorwand, um dem Kampfe auszuweichen. Gradunterschiede im Fleiss werden in Sprichwörtern charakterisiert. Die Dschagga sagen: „Ein Armer schafft seinen Schaden selber". Was er sich erwerbt, erweckt den Neid der Starken, die ihm das Wenige mit leichter Mühe abnehmen und selber geniessen. Und wo erst wenige fleissige Hande sich regten, finden sich auf einmal viele ein, wenn es gilt, die gewonnene Frucht zu geniessen. Sie sagen: „Derer, die das Brennholz sammeln, sind nicht so viele wie derer' die sich am Feuer warmen" 1). Ba-ila: „There is no chief who eats out of an impande shell". (The shell may show his wealth, but when it is a matter of eating the chief must do as ordinary people do — eat out of a dish. Nature is above social distinctions. That is a way of reminding an arrogant man that he is only human after all). Es gibt viele Sprichwörter über üble Nachrede: „The speaker may forget, but he who has spoken does not forget". (Youmay forget the insult, but the person you insult will not, it will rankle). In einigen Sprichwörtern wird empfohlen, sich in den verschiedenen Beziehungen des Lebens diskret zu verhalten: „Do not throw it into the fire". (We have often heard this quoted to a person who is about to commit a foolish action; it means: Be careful!). Eine andere Reihe Sprichwörter drückt aus, was Smith und Dale „The Ba-ila criticism of life" nennen. Viele zeigen eine etwas zynische Anerkennung gewisser unangenehmer Tatsachen, z.B. dass der Tod die Erinnerung an den Abgeschiedenen leicht verwischt: „That which is rotten goes to its owners" (only a few remember the dead). UnddieUngerechtigkeit des Lebens wird in manchen Sprichwörtern aus- *) Gutmann, Dichten und Denken der Dschagga-Neger, S. 114 116. gedrückt, z.B. „When a chief's wife steals, she puts blame upon her slaves". (A poor man is powerless against the rich and influential). Auch ein Gefühl für den Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit findet man in den Sprichwörtern, z.B. „We saw the houses as to the roofs" (We did not see the interior). Die peinliche Tatsache, dass Menschen nicht ohne Zwist zusammenleben können, wird ausgedrückt in: „Buttocks rubbing together do not lack sweat". Dass der Mensch seinen Neigungen folgt und dass es nutzlos ist zu versuchen, ihn in Richtungen zu leiten, denen er widerstrebt, wird in einigen Sprichwörtern anerkannt, z.B. „You have the body, but not the heart" 1). Hier folgen schliesslich noch einige 4s/ia«ft'-Sprichwörter: „All men would like to be chiefs, but when they cannot get what they want, that over to rule as a chief has its worries. — A wife is like a blanket; when you cover yourself with it, it irritates you, and yet if you cast it aside, you feel cold. — When a man is disliked, he is blamed for all kinds of things. — There is no medicine to cure hatred. — Among friends, there are some who are greater friends than others. — When a poor man makes a proverb, it does not spread abroad. The complaint a poor man brings is investigated briefly. When you are rich, you are hated; when you are poor, you are called a bad man" 2). Wir wollen es bei diesem Beispielen bewenden lassen; sie dürften genügend gezeigt haben, dass im Seelenleben der Eingeborenen, soweit es in Sprichwörtern wiedergespiegelt wird, ein starkes Gefühl besteht für Unterschiede zwischen Menschen, für menschliche Eigenart und Innenleben, für die psychischen Erscheinungen, die bei der sozialen Differenzierung auftreten, — kurz, dass sie eine primitive Cha- rakt er kunde bilden. Wir mochten nicht behaupten, dass die Sprichwörter eine bewusste, systematische Menschenkenntnis enthalten. Es verhalt sich mit ihnen, wie Shand allgemein dazu bemerkt: ') Smith und Dale. The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, II, S. a) Rattray, Ashanti Proverbs, Oxford, 1916, S. 114 152. „They are matters of advice, of warning, of exhortation, of reproof, of consolation, but seldom enunciate laws of character" x). Jedenfalls aber bedeuten sie eine durch Erfahrung gewonnene Menschenkenntnis. Die Weisheit, welche sie bergen, widerspricht der Existenz eines reinen Gruppengefühles, wobei die Mitglieder des Stammes sich als eine homogene Gruppe ansehen. Im Gegenteil scheinen die Unterschiede der Charaktere ziemlich stark erlebt zu werden. Dass die Sprichwörter Bedeutung für die Kenntnis der Eingeborenen haben, ist auch die Meinung Smiths und Dales: „To be familiar with them gives one a good deal of insight into their character and ways of looking at things, for they express the likes and dislikes of the people in certain directions in quite an unmistakable fashion. And, moreover, these proverbs are taken largely as a rule of life. They are truly „the wisdom of many" — maxims of discret conduct that have stood the test of ages; they are equally „the wit of one", showing a remarkably shrewd insight into motives, and expressed in a short, concise manner that reflects great credit upon their authors, whoever they may be" 2). In ahnlicher Weise schreibt Rattray: „These sayings would seem to be, to the writer, the very soul of this people, as of a truth all such sayings really are. They contain some thought which, when one, more eloquent in the tribe than another, has expressed in words, all who are of that people recognise at once as some thing which they knew full already, which all the instinct of their lives and thoughts and traditions tells them to be true to their own nature" 3). Was uns in den Erzahlungen, Liedern und Sprichwörtern an individuellen Ausserungen wertvoll scheint, können wir in Folgendem kurz zusammenfassen: 1. Es gibt in der primitiven Gruppe Personen, die durch ihre künstlerische Begabung und andere damit verbundene Eigenschaften eine hervorragende Stellung einnehmen. Das *) A. F. Shand, The foundations of character, London, 1920, S. 78. *) Smith and Dale, a.a.O., II, S. 311. ") Rattray: Ashanti Proverbs, Oxford, 1916, S. 12. zeigt nicht nur, dass es individuelle Differenzen gibt, sondern dass ausgesprochene Persönlichkeiten oder Ausserungen stark persönlicher Farbung ausserhalb des politischen und religiösen Gebietes wirksam sein können. Wenn von LévyBruhl u.a. auch zugegeben wird, dass es hervorragende Individuen gibt, so werden darunter besonders die Hauptlinge und Zauberer verstanden und das Individuelle im Bewusstsein der Eingeborenen wird stark mit dem Magischen vcrbunden gedacht. Hier haben wiraber den Fall, dass Personen auf Grund nicht-magischer Fahigkeiten, von welcher Art diese auch seien, hervorragen und Einflusshaben. DieTatsache, dass diese Fahigkeiten an einem Komplex sozialer Wirkungen teilhaben, kann hier weiter ausser Acht gelassen werden, da sie nicht ihrem Vorhandensein im Individuum widerspricht. 2. Die Marchen und Sprichwörter und besonders die Lieder geben Gelegenheit zur Ausserung persönlicher Gefühle, und zwar nicht nur den Verfassern selber, sondern auch dem Publikum und den Übermittlern der Dichtung. 3. Ein individuelier Ursprung der Lieder und Profanerzahlungen ist oft nachzuweisen. 4. Sie drücken ein Verstandnis für die Verschiedenheiten zwischen den Menschen, für die Kompliziertheit der menschlichen Natur und für eine relative Selbstandigkeit des Individuums aus. Besonders geht dies aus den Sprichwörtern und Erzahlungen hervor, was umso bemerkenswerter ist, da diese kollektive Phanomene sind. 5. Die primitive Dichtung zeigt, wie stark distanzierende Gefühle wie Neid, Eigennutz, Hass, Streben nach Macht, auch in der primitiven Gemeinschaft vorkommen. 6. Sie bedeutet in ihrer Kritik menschlicher Eigenschaften eine gewisse Stufe der objektiven Betrachtung des Menschen, eine Art seelischer Analyse. Wir sind hier auf einem Gebiet, welches einen weit rationelleren Charakter tragt als die magische Sphare. Diese Seite der primitiven Weltanschauung wird von den Theoretikern, welche die primitiven menschlichen Beziehungen vornehmlich als solidarisch, integriert und als mystisch bedingt ansehen, allzusehr vernachlassigt. SCHLUSSBEMERKUNGEN. Zum Schlusse sei auf einige Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchung hingewiesen. Allzu weitgehende Folgerungen müssen indessen dabei vermieden werden, und zwar einmal, weil unsere Fragestellung beschrankt war, zweitens aber, weil das von uns herangezogene Material, das unsere Fragestellung betrifft, lückenhaft war. Daher können hier auch Vergleiche mit anderen Kulturgebieten und Kulturstufen nicht durchgeführt werden. Die Kompliziertheit und Mannigfaltigkeit der sozialen und psychischen Erscheinungen, auch des primitiven Lebens, verbieten es ausserdem, voreilig zu verallgemeinern. Dies gilt, bei der oben erwahnten Sparlichkeit des Materials und vor allem angesichts der seelischen Distanziertheit seiner Bearbeiter besonders für die Ethnopsychologie. Wenn man diese Einschrankung im Auge behalt, lasst sich Folgendes erkennen: 1. Viele der bisherigen Untersuchungen über Individualitat und Differenzierung bei den Primitiven sind von falschen Gegensatzpaaren ausgegangen: a. Der Gegensatz Individuum-Gruppe, Individualismus-Kollektivismus ist unrichtig, weil das Einzelwesen nirgends rein als solches, sondern immer als Gruppenmitglied existiert und weil es andererseits nicht eine „Gruppe" gibt, sondern eine ganze Mehrzahl von Gruppen und Beziehungen, in denen auch der Primitive lebt. b. Die Behauptung einer bei den Primitiven herrschenden Gebundenheit, im Gegensatz zu unserer „Nicht-Gebundenheit , geht von einer unrichtigen Voraussetzung über den Charakter unserer eigenen Kultur aus. 2. Die Auffassung von einer nahezu völligen Homogeni- tat der primitiven Gruppen kann nicht aufrecht erhalten werden. Bei den von uns untersuchten Stammen, die für eine starke Auspragung der „Koüektivvorstellungen" charakteristisch sein dürften, konnten wir nachweisen, dass nicht nur eine psychische Differenzierung besteht, sondern dass diese Differenzierung auch im sozialen Leben zum Ausdruck kommt. Und umgekehrt begunstigt die sozial begriindete Differenzierung psychische Unterschiede. So ergibt sich ein sehr kompliziertes Zusammenspiel von psychischen und sozialen Faktoren im Differenzierungsprozess. 3. Das Individuelle tritt zwar am meisten bei den pohtischen und religiösen Führern hervor, indessen nicht nur bei ihnen. Einmal gibt es noch andere Berufe persönlicher Art, wie z.B. den des Erzahlers und Sangers, zweitens jedoch lassen die Institutionen und Brauche auch für Differenzierungsprozesse innerhalb des Volksganzen Spielraum. Ja, diese Prozesse bilden sogar mehr oder weniger einen wesentlichen Bestandteü der ebengenannten Institutionen und Brauche. Ausserdem zeigt sich das Persönliche und Differenzierte in „freieren" Beziehungen und spontanen Ausserungen. Im normalen Gruppenleben hat das Individuum zahlreiche Gelegenheiten, sich von seinen Gruppengenossen zu unterscheiden und sich selbstandig zu verhalten. ^ïcht jedes Verhalten ist durch feste Regeln „gebunden und festgelegt. Es zeigt sich, dass besonders die magischen und religiösen Spharen viel Gelegenheit für persönliche Handlungen bieten. Dies ist umso bemerkenswerter als bisher Religion und Magie sehr oft als die Gebiete der starksten Bindungen angesehen wurden. Die Unterschiede der Emzelnen werden von der Gruppe auch entschieden beachtet, gewertet und verwandt. 4. Das Einzelwesen geht nicht in seiner sozialen Umweit auf, sondern stellt sich ihr in verschiedenen Situationen entgegen, so z.B. in der Magie, in emotionellen Regungen, in der Beurteilung des Mitmenschen u.s.w. Freilich können diese Erscheinungen zugleich auch eine Abhangigkeit von der Umweit zeigen; ob und in welchem Masse das der rail ist, ist jedoch ausserst schwer zu sagen. (Diese Frage geht überdies leicht in Wertfragen über, die hier vermieden worden sind). Eine Bemerkung sei noch hinzugefügt über die Bedeutung der Differenzierungsfragen für die Individualitatsfrage. Die genannten Erscheinungen stellen einen Teil der Individualitatserscheinungen dar; sie umfassen also nicht das ganze Problem der Individualitat. Aus diesem Grunde können zwar unsere Folgerungen für die Frage der primitiven Individualitat nur eine beschrankte Geltung haben; das Eine indessen ist deutlich, dass, wo Differenzierung besteht, auch die Möglichkeit zur Auspragung der Individualitat stattfundet. Jedenfalls widerlegt die Existenz der Differenzierung die gelegentlich angenommene Identitat der Gruppenmitglieder. In welchem Masse diese Differenzierung und die Existenz der eigenen Individualitat bewusst erlebt wird und welche Bedeutung dieses mögliche Erlebnis für die Ausbildung von Persönlichkeitswerten in weiterem Sinne hat, sind Fragen, an die schwer heranzukommen ist und die wahrscheinlich mit rein wissenschaftlichen Methoden nicht zu lösen sind. Gerade hier liegen aber konkreter Untersuchung noch weite Gebiete offen, die sehr wohl zuganglich sind. Zu einer klareren Ubersicht über die hier vorliegenden neuen Möglichkeiten beizutragen, schien uns eine Hauptaufgabe der vorliegenden Untersuchung. Es gilt zunachst, mit Vorurteilen aufzuraumen und auf die Bedeutung der in primitiven Gruppen vorkommenden Prozesse und Situationen für die Individualitatsfrage hinzuweisen. Eine weitere Aufgabe muss es nun sein: 1) in derartigen Untersuchungen die Analyse immer mehr zu verfeinern und immer mehr Material heranzuziehen; 2) die Ethnographen in grösserem Masse für die hier behandelten Probleme und den Gebrauch psychologisch und soziologisch adaquater Methoden zu interessieren. LITERATURVERZEICHNIS Aldrich, C. R., The Primitive Mind and Modern Civilization, London, Allier3R., La Psychologie de la Conversion chez les peuples non-civilisés. Paris 1925 Le non-civilisé et nous, Paris, 1927. j:„_„ . Austin, Mary, Character and Personality among American Indians, in. Character and Personality, Bd. I, 1933. „ , Bartlett, F., Psychology and primitive culture Cambndge 1923. Beck, W., Das Individuum bei den Australiern, Leipzig, 1924. O as Individuum bei den Naturvölkern, (Bericht uber den VIII Kon- erress für experimentelle Psychologie, Jena, 1924). , Bendann, E„ Death Customs, an analytical study of burial rites, London, Bergson! H., Les deux sources de la morale et de la religion, Paris, 1932. Beth, K., Religion und Magie, 2. Aufl., Leipzig, 1927. Blondel, C., La Personnalité, (Traité de Psychologie, Bd. II, Paris, 1924). Boas, F.,'Kultur und Rasse, Berlin, 1922. Breysig, K., Persönlichkeit und Entwicklung, Stuttgart, 19z5. W. Brown, Science and Personality, Oxford, 1929. 1Q1o Burckhardt, Georg E„ Was ist Individual^mus Leipzig, 1913. Burckhardt, Jak., Kultur der Renaissance, X. Aufl. Leipzig,190. E Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, II, Berlm, 19f?t>. ' Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig, Cooley, C. H., Human Nature and the Social Order, New York 1912. Cureau A. L., Les sociétés primitives de 1 Afrique équatoriale, Paris, 1912. Delafosse, M., Essai de Manuel pratique de la langue Mandé, Paris, 1901. , Les Nègres, Paris, 1927. , Haut Sénégal-Niger, 1912. Dewey, John, Individualism Old and New, London, 1931. Deursen, A. van, Der Heilbringer Groningen, 1931. Dougall, James W. C„ Charactenstics of Afncan Thought, (Africa, Bd, V). Driberg, J. H., The Lango, Oxford, 1923. ( The Savage as he really is, London, , At Home with the Savage, London, 1932. . TWlin Dunkmann, K., Lehrbuch der Soziologie und Sozialphilosophie, Berlin, Durkheim, E.( De la division du Travail social, 4 Aufl., Paris, 1922. , Les formes élémentaires de la vie religieuse Paris, 192b. Essertier, D., Les formes inférieures de rcxplication l aris i g . Evans-Pritchard, E. E„ The Zande Corporation of Witch Doctors (Jour nal of the Royal Anthr. Inst., Bd. LXII, 1932). Evans-Pritchard, Sorcery and Native Opinion (Africa, Bd. IV). Fahrenfort, J. J., Dynamisme en logies denken bij natuurvolken, Groningen, 1933. Frazer, J., Folklore in the Old Testament, Bd. II. Geiger, Th., Die Gestalten der Gesellung, Karlsruhe, 1928. Gennep, A. van, La formation des légendes, Paris, 1920. , Une nouvelle écriture nègre (Revue des études ethnologiques et socio- logiques, I). Goldenweiser, A. A., Early Civilization, New York, 1926. Gollock, G. A., Sons of Africa, London, 1928. , Lives of eminent Africans, London, 1928. Gordon, R. G., Personality, London, 1928. Graebner, F., Das Weltbild der Primitiven, München, 1924. Gumplowicz, L., Grundriss der Soziologie, Wien, 1885. Gutmann, B. Amulette und Talismane bei den Dschagganegern am Kilimandscharo, Leipzig, 1923. , Dichten und Denken der Dschagganeger, Leipzig, 1909. , Das Recht der Dschagga, Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, herausgegeben von Felix Krueger, München, 1926. Th. L. Haering, Über Individualitat in Natur- und Geisteswelt, Leipzig, 1926. Hambly, W. D., Origins of education among primitive peoples, London, 1926. Hartland, E. Sydney, Primitive Law, London, 1924. Hauer, J. W., Die Religionen, ihr Werden, ihr Sinn, ihre Wahrheit— Erstes Buch, Das religiöse Erlebnis auf den unteren Stuf en, Berlin, 1923. Heiler, F., Das Gebet, München, 1918. Hobhouse, L. T., Social Development, London, 1924. Hornborstel, E. M. von, Wanyamwezi-Gesange, (Anthropos, Bd. IV). Hubert, H. und M. Mauss, Mélanges d'histoire des religions, Paris, 1929. James, W., Psychologie, Leipzig, 1909. Janet, P., Les obsessions et la psychasthénie, Paris, 1903. Jaspers, K., Psychologie der Weltanschauungen, Berlin, 1922. Jeruzalem, W., Einführung zu Lévy-Bruhls „Das Denken der Natur- völker", Wien und Leipzig, 1926. Jung, C. G., Psychologische Typen, Zürich, 1921. Junod, H. A., Les chants des Ba-Ronga, Lausanne, 1897. , La génèse des contes africains, (Folklore, 1924). , The life of a South African tribe, London, 1927. Kistiakowski, Th., Gesellschaft und Einzelwesen, Berlin, 1899. Kafka, G., Versuch einer kritischen Darstellung der Anschauungen über das Ichproblem, Berlin, 1914. Knabenhans, A., Die politische Organisation bei den australischen Einge- borenen, Berlin, 1919. Krause, F., Gegenwartsaufgaben der Völkerkunde, (Mensch en Maatschappij, Steinmetznummer, 1933). Koppers, W., Individualforschung unter den Primitiven (Festschrift P. W. Schmidt, 1928). Külpe, O., Vorlesungen über Psychologie, Leipzig, 1920. Labouret, H. et Moussa Travélé, Le Théatre Mandingue, (Africa, I). Lalande, A., Les illusions évolutionnistes, Paris, 1930. Lang, A., Myth, Ritual and Religion, New York, 1899. Laydevant, F., La poésie chez les Basuto (Africa, Bd. III). Lehmann, G., Sozialphilosophie, (Lehrbuch der Soziologie und Sozial- philosophie, herausgegeben von K. Dunkmann, Berlin, 1931). Leroy, O., La raison primitive, Paris, 1927. , Essai d'introduction critique a 1'étude de 1'économie primitive. Paris, 1925. Lévy-Bruhl, L., Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, 5. Aufl., Paris, 1922. , La mentalité primitive, 5. Aufl., Paris, 1925. , L'ame primitive, 2. Aufl., Paris, 1927. , Le surnaturel et la nature dans la mentalité primitive, Paris, 1931. Litt, Th., Individuum und Gemeinschaft, 3. Aufl., Leipzig, 1926. Lobagola, An African savage's own story, Leipzig, 1930. Loesche, E. Pechuël, Volkskunde von Loango, Stuttgart, 1907. Lowie, R. H., Primitive Religion, London, 1925. , Individual Differences and Primitive Culture (Festschrift P. W. Schmidt, Wien, 1928). Malinowski, B., Crime and Custom in savage society, London, 1926. , The Sexual Life of Savages, 3. aufl., London, 1932. , Myth in Primitive Psychology, London, 1926. , Magie, Science and Religion, in: Science, Religion and Reality, heraus- gegeben von J. Needham, London, 1926. , Baloma; the spirits of the dead in the Trobriand islands (Journal Anthr. Society, 1916). Marett, R. R., Anthropology, London, 1927. , Faith, Hope and Charity in primitive religion, Oxford, 1932. , The Beginnings of Morals and Culture, („An Outline of Modern Know- ledge", herausgegeben von W. Rose, London, 1931). Marty, P., Etudes sur lTslam en Cóte d'Ivoire, Paris, 1922. McDougall. W., The Group Mind, Cambridge, 1921. , An introduction to Social Psychology, 21. Aufl., London, 1928. Meinhof, C., Die Religionen der Afrikaner in ihrem Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben, Oslo, 1926. , Afrikanische Dichtung, Berlin, 1911. Meyer, Ed., Geschichte des Altertums, Bd., I, 2. Mofolo, Th., Chaka, London, 1931. Monteil, C., Les Bambara de Ségou et du Kaarba. Müller-Freienfels, R., Philosophie der Individu alitat, Leipzig, 1921. , Allgemeine Sozial- und Kulturpsychologie, Leipzig, 1930. Nioradze, G., Der Schamanismus bei den siberischen Vólkern, Stuttgart, 1925. Oesterreich, T. K., Einführung in die Religionspsychologie, Berlin, 1917. , Die Phanomenologie des Ich in ihren Grundproblemen, Leipzig, 1910. , Die Besessenheit, Langensalza, 1921. Oppenheimer, F., System der Soziologie, I., Jena, 1922. Posselt, F., Some notes on the Religious Ideas of the Natives of Southern Rhodesia (South African Journal of Science, 1927). Prietze, R., Dichtung der Haussa, (Africa, Bd. IV). Radin, P., Primitive Man as Philosopher, New York, 1927. Rattray, R. S., Akan-Ashanti Folk-tales, Oxford, 1930. , Ashanti, Oxford, 1923. , Ashanti Proverbs, Oxford, 1916. , Religion and Art in Ashanti, Oxford, 1927. , Ashanti Law and Constitution, Oxford, 1929. Raum, J., Versuch einer Grammatik der Dschaggasprache (Archiv für das Studium deutscher Kolonialsprachen, Bd. XI, 1909). Ribot, Th., Les maladies de la Personnalité, Paris, 1909. Richards, A. T., Hunger and Work in a savage tribe, London, 1932. Rivers, W. H. R., Medicine, Magie and Religion, London, 1927. , Social Organization, London, 1922. Ronhaar, J. H., Woman in primitive mother-right societies, Groningen, 1931. Roy, A. le, La religion des primitifs, Paris, 1925. Schafer, Dietr., Weltgeschichte der Neuzeit, 1907, Bd. I. Schmalenbach, Herman, Individualitat und Individualismus, (KantStudien, XXIV, 1920). Schmidt, Max, Grundriss der ethnologischen Volkswirtschaftslehre, Stuttgart, 1921. Schmidt, P. W., Die moderne Ethnologie, (Anthropos, Bd. i). , Völker und Kuituren, Regensburg, 1924. Schweitzer, A., Zwischen Wasser und Urwald, München, 1926. — , Aus meinem Leben und Denken, Leipzig, 1931. Shand, A. F., The foundations of character, London, 1920. Simmel, G., Soziologie, Leipzig, 1908. Small, A. W., General Sociology, Chicago, 1905. Smith, E. W. and A. M. Dale, The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, London, 1920. Söderblom, N., Das Werden des Gottesglaubens, Leipzig, 1922. , The Living God, Basal Forms of personal religion, London, 1933. Spannaus, G., Züge aus der politischen Organisation afrikanischer Völker und Staaten, Leipzig, 1929. Spencer, H., The Man versus the State, London, 1884. Spieth, J., Die Religion der Eweer in Süd-Togo, Quellen der ReligionsGeschichte, Göttingen, 1911. , Die Ewestamme, Berlin, 1906. Spranger, E., Lebensformen. 4. Aufl., Halle, 1924. Stayt, H. A., The BaVenda, Oxford, 1931. Storch, A., Das archaisch-primitive Erleben und Denken der Schizophrenen, Berlin, 1922. Steinmetz, S. R., De proletarische Moraal, Amsterdam, 1905. , Ethnologische Studiën zur ersten Entwicklung der Strafe, 2 Bd., 2. Aufl., Groningen, 1928. , Suicide among primitive peoples, The American Anthropologist, 1894, spater in Gesammelte kleinere Schriften, I, Groningen, 1928. , Kontinuitat oder Lohn und Strafe im Jenseits der Naturvölker, Archiv für Anthropologie, 1897, spater in: Gesammelte kleinere Schriften, I, Groningen, 1928. , Der Selbstmord bei den afrikanischen Natürvölkern, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 1907; spater in: Gesammelte kleinere Schriften, II, Groningen, 1930, , Über die Beschaffung des ethnographischen Materials, Travaux du Congrès international d'Expansion économique mondiale, 1905; spater in: Gesammelte kleinere Schriften, II, Groningen, 1930. , Fragen zur Erforschung des Wirtschaftslebens der Naturvölker, Gesammelte kleinere Schriften, II, S. 448 ff., Groningen, 1930. , Anleitung zu einer systematischen Ermittlung des Individuums bei den Natürvölkern (Ethnologische Studiën, Leipzig, 1929, Heft 1). Stout, G. F., A manual of Psychology, London, 1929. Talbot, P. A., The peoples of Southern Nigeria, Bd. III, London, 1923. Theal, G., Compendium of South African History, 2. Aufl., Lovedale, 1876. Thorsch, B., Der Einzelne und die Gesellschaft, eine soziologische und erkenntniskritische Untersuchung, Dresden, 1907. Tillich, P., Die Ueberwindung des Persönlichkeitsideals, (Logos, Bd. XVI, 1927). Vierkandt, A., Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Stuttgart, 1928. -—. Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie, in: Lehrbuch der Philosophie, herausg. von M. Dessoir; Die Philosophie in ihren Einzelgebieten, Berlin, Die genossenschaftliche Gesellschaftsform der Naturvölker, (Hand- wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 1931). Vierkandt, A., Naturvölker und Kulturvölker, Berlin, 1896. , Führende Individuen bei den Naturvölkern, (Zeitschrift für Sozial- wissenschaft, 1908). Voigtlander, E., Das Selbstgefühl, Leipzig, 1910. Volkelt, J., Das Problem der Individualitat, München, 1928. Walker, F. Deaville, Harris, le Prophéte noir, Frivas, 1931. Walther, Gerda, Ein Beitrag zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften, Halle, a.d. S„ 1923. Webb, C. C. J., Group theories of religion and the individual, London, 1916. Webe'r, Alfred, Begleitwort zu Hans Sxandingers Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins, Jena, 1913. Weeks, J. H., Among the primitive Bakongo, London, 1914. Werner, A., African Mythology, London, 1925. Werner, Heinz, Einführung in die Entwicklungspsychologie, Leipzig, 1926. Westermann, D., Die Kpelle, Göttingen, 1921. , Grammatik der Ewe-Sprache, Berlin, 1907. , Kindheitserinnerungen des Togonegers Bonifatius Foli, (Mitt. des Sem. f. Oriënt. Sprachen zu Berlin, 1931). Wiese, L. von, Allgemeine Soziologie, München, 1924 und 1929. Willoughby, W. C., The soul of the Bantu, London, 1928. Winthuis, J., Einführung in der Vorstellungswelt der primitiven Völker, Leipzig, 1931. Witte, P. Fr., Lieder und Gesange der Ewhe-Neger (Anthropos, 1906). Wundt, W., Völker psychologie, Leipzig, 1905, Zweiter Bd., Erster Teil. STELLINGEN. I. Het is onjuist om bij de Natuurvolken het bestaan van alleen collectieve verantwoordelijkheid aan te nemen. II In Lévy-Bruhl's theorie over het primitieve denken wordt niet scherp genoeg onderscheiden tusschen psychologische analyse en logische en metaphysische geldigheid der onderzochte verschijnselen. III. Onze kuituur is met het begrip rationeel niet voldoende gekarakteriseerd. IV. De uitspraak van A. Rühl: „Beim Orientalen existiert das Individuum nur gegenüber seinen Verwandten, es zahlt nur als Mitglied einer Grossfamilie, einer Religionsgemeinschaft, eines Stammes, einer Bruderschaft, und das Ideal wird nicht in der Behauptung und Durchsetzung der Persönlichkeit gesehen, sondern vielmehr gerade in der Aufgabe des Individuellen und in der Hingabe an etwas Allgemeines'' (Vom Wirtschaftsgeist im Oriënt, Leipzig, 1925, blz. 63) is onjuist. V. Het is een zwakke zijde van Heymans' en Wiersma's klassifikatie der temperamenten, dat het begrip eigenschap er niet onderzocht is. VI. Het is McDougall niet gelukt een klare voorstelling van het wezen en een aannemelijke theorie over de werking van een „group mind" te geven. (W. McDougall, The Group Mind, Cambridge, 1925). VII. In de z.g. kultuurhistorische richting in de ethnologie wordt niet voldoende onderscheiden tusschen sociale vorm en sociaal proces. VIII. Het is noodig, dat toekomstige studie van primitieve talen de beteekenis der woorden in verband met hunne functie in een sociale situatie onderzoekt. IX. O. Spann's opvatting van het causaliteitsbegrip en van de beteekenis van dit begrip voor de sociale wetenschappen is eenzijdig (Kategorienlehre, Jena, 1924, blz. 44 e.v.). X. Het is waarschijnlijk, dat de Islam in West Afrika meer invloed zal verkrijgen dan de christelijke godsdienst. XI. De objecten der wetenschappen van de samenleving zijn van psychischen aard. (cf. Prof. Steinmetz, Inleiding tot de sociologie, Haarlem, 1931, blz. 33). XII. De kennisname van andere kuituren werkt noodzakelijk een relativistische houding ten opzichte van de waarden der eigen kuituur in de hand.