BETRACHTUNGEN ÜBER PADAGOGISCHE UND ETHISCHETENDENZEN IN WIELANDS WERKEN C. SCHRAVESANDE KONINKLIJKE BIBLIOTHEEK GESCHE N K VAN 7133 • '32 \ BETRACHTUNGEN ÜBER PADAGOGISCHE UND ETHISCHE TENDENZEN IN WIELANDS WERKEN. Aan de nagedachtenis van mijn Moeder. SI BETRACHTUNGEN ÜBER PADAGOGISCHE UND ETHISCHE TENDENZEN IN WIELANDS WERKEN. ACADEMISCH PROEFSCHRIFT TER VERKRIJGING VAN DEN GRAAD VAN DOCTOR IN DE LETTEREN EN WIJSBEGEERTE AAN DE UNIVERSITEIT VAN AMSTERDAM, OP GEZAG VAN DEN RECTOR-MAGNIFICUS Mr. I. H. HIJMANS, HOOGLEERAAR IN DE FACULTEIT DER RECHTSGELEERDHEID, IN HET OPENBAAR TE VERDEDIGEN IN DE AULA DER UNIVERSITEIT OP DINSDAG 20 JUNI 1933, DES NAMIDDAGS 4 UUR, DOOR CORNELIS SCHRAVESANDE GEBOREN TE ALBLASSERDAM. DRUKKERIJ WARNIER JUNIOR - 1933 - HAARLEM VOORWOORD. Aan de vooravond van mijn promotie rust op mij de aangename plicht, U, Hooggeleerde Scholte, te bedanken voor Uw groote welwillendheid, mij als promovendus te hebben willen aannemen, ofschoon ik van U geen oud-leerling ben. De vriendelijke wijze, waarop U mij gedurende de arbeid aan mijn dissertatie hebt willen ter zijde staan, zal ik mij steeds met dankbaarheid herinneren. Tevens breng ik mijn dank aan de Gemeentelijke Universiteit te Amsterdam, die voor mij ten behoeve van mijn promotie, haar poorten wilde openen. U, Hooggeleerde Kapteyn, wiens colleges ik te Leiden mocht volgen, dank ik voor hetgeen U aan mijn vorming hebt bijgedragen. Slechts korten tijd mocht ik, Hooggeleerde Uhlenbeck, Uw colleges bezoeken, maar met de grootste dankbaarheid herdenk ik de invloed, die van Uw persoon en Uw onderwijs op mij uitging, evenals de welwillendheid, waarmede U mij steeds zijt tegemoetg'etreden. Met gevoelens van de hoogste waardeering en dankbaarheid, zij 't mij thans vergund, mij in 't openbaar tot U te richten Zeer geleerde Heeren Gosses en Polak. U, Dr. Gosses hebt door de humane en aanmoedigende wijze, waarmee U mij in eerste zwakke pogingen wilde steunen mijn loopbaan mogelijk gemaakt, terwijl Uw helder en grondig onderwijs mij in mijn geheele verdere ontwikkeling tot steun is geweest. U, Dr. Polak, mocht ik leeren kennen, nadat ik een gedeelte van mijn studieweg had afgelegd. Met groote dankbaarheid herinner ik mij de bezielende kracht, die van Uw literaire colleges als privaat-docent aan de Leidsche Universiteit uitging, welke colleges, evenals het particuliere onderwijs, dat ik daarnaast van U mocht ontvangen, voor mij eerst recht de hooge waarden, die in literatuur en kunst besloten liggen, onthuld hebben. Maar niet minder dankbaar ben ik U voor de steun en leiding bij het philologisch gedeelte van mijn studie. Ten slotte breng ik in 't openbaar mijn dank aan mijn vrouw, wier belangstelling in ethische en religieuse vragen mede tot de keuze van mijn onderwerp heeft geleid, die mij als vakgenoote trouw heeft bijgestaan en mij in menig opzicht tot groote steun is geweest. I. HUMANISTISCHE TENDENZEN. Von drei groBen Geistesströmungen ist Wielands Denken beeinfluBt worden, dem Pietismus, der Aufklarung und dem Idealismus der Goethezeit. Diese drei geistigen Strömungen treffen, ungeachtet ihres verschiedenartigen Charakters, dennoch in ihrem Streben nach Befreiung vom Dogmatischen in einem Punkte zusammen. Der Pietismus erlöst die innere. auf Gott gerichtete Empfindung aus dem Griff einer starren Orthodoxie, welche, staatlich geschützt, die geistige Oberherrschaft für sich beansprucht; die Aufklarung ringt um die Selbstherrlichkeit der Vernunft, wahrend der Idealismus der Goethezeit in gewisser Hinsicht eine Synthese zwischen dem Pietismus und der Aufklarung bildet, indem er in der Intuition eine Empfindung und Vernunft umfassende Lebensschau entdeckend, das Eigengesetz der Persönlichkeit betont. Wielands Erziehung bedeutet eine direkte Beeinflussung von den beiden erstgenannten Strömungen, von denen der Pietismus natürlich in einer vom Franckeschen Geist durchtrankten Bildungsanstalt vorlaufig den weitaus starkern EinfluB auf ihn ausübte, obwohl bekanntlich ein unmittelbar rationalistischer EinfluB der Aufklarungssphare nicht ganz fehlte. Dennoch beweisen seine Züricher Jahre zur Genüge, daB er völlig in dem Bann eines frömmelnden Pietismus war, einer Andachtelei, welche nichts gemein hatte mit jener Tiefe des Gotterfülltseins, aus der durch einen Klopstock, Hamann und Herder eine Neugeburt des geistigen Lebens hervorgehen konnte. Durch Kritik und Lebenserfahrung aufgerüttelt aus der selbstgefalligen Spiegelung in Richardsonscher tranenseliger mit falschverstandenen Klopstockschen religiösen Elementen vermischter Tugendverherrlichung, nehmen piëtistisch fundierte, auf Ermahnung und Erziehung gerichtete Seelentriebe nach und nach eine praktischere Richtung. Es nimmt nicht Wunder, daB er Bodmers Studierzimmer vertauschte mit dem Schulzimmer der Familie von Grebel. Was er von Bodmers Zimmer aus versuchte, war die Erziehung der Menschheit zur gottgefalligen Tugend, wie er glaubte im Geiste des verehrten Klopstock, etwa auf der Grundlage einer moralisch strengeren Lebenshaltung. Welchen andern Zweck verfolgt er aber nach seiner Züricher Schrift über eine neue Art der Privaterziehung. als einige jungen Leute durch Einsicht in die Wahrheit zu tugendhaften Menschen zu bilden? Zunachst gewiB dasselbe Ideal, nur auf wenige beschrankt. Es wird aber ein Kausalzusammenhang zwischen Tugend und Wahrheit hervorgehoben, der nicht als durch göttliche Gnade offenbart gedacht, sondern als von der denkenden Vernunft zu ergründen dargestellt wird. Obwohl uns aus der betreffenden kleinen Schrift Lockes Auffassung entgegentritt, nach der die göttliche uns im ,.Neuen Testament geschenkte Offenbarung schneller durch Erlösung aus allen Zweifeln zur Wahrheit führt als die menschliche Vernunft, das natürliche Licht, zu tun vermag, fallt uns dennoch auf, daB wir schon an dieser Stelle die dem rationalistischen Denken entsprechenden Faktoren Vernunft und Tugend in einer Kausalreihe vereinigt finden um sich in dem Begriff „Glückseligkeit" wie in einer Synthese zu verbinden. Diese Glückseligkeit hinwiederum erscheint als eine unmittelbare Folge der Tugend, sogar als deren Lohn. Dabei sollen wir uns aber zum BewuBtsein führen. daB wir bei diesem Begriff durchaus an einen irdischen Zustand zu denken haben, im Gegensatz zu dem nach der christlichen Heilslehre im Jenseits gewahrten Zustand der Glückseligkeit; eine van Korff nachdrücklich hervorgehobene die Aufklarung überhaupt charakterisierende Verdiesseitlichung.1) Diese Glückseligkeit in dieser Welt gewahrt der auf Grundlage der Vernunft aufgebaute ideale Staat. Die Synthese von Vernunft und Tugend als Glückseligkeit besteht darin, daB die Vernunft den Zustand der „Glückseligkeit" durchschaut und demzufolge verwirklichen will, welches Streben an und für sich schon als „Tugend" betrachtet werden darf. Die vernünftig begründete tugendhafte Gesinnung, die eine allgemeine Glückseligkeit bezweckt, bedeutet an sich schon die individuelle Glückseligkeit. Wie es scheint stehen nach Wielands Empfinden diese beiden Formen in einem sich gegenseitig fördernden korrelativen Verhaltnis. Die geistige, das Ideal der Glückseligkeit ins Diesseits verlegende Umwalzung des menschlichen Fühlens und Denkens bedingte jedoch eine vollstandige Reform der ethischen Anschauungen. ') Goldsp. Her./Le. Hp. XVU1/141 Vergl. Agth. III. Buch XVI/Cap. 3. Hp. UI/213. Wenn man versuchen will, die Entwicklung der ethischen Systeme des 17. und 18. Jhd. in einer knappen Formel zusammenzufassen, so dürfte diese etwa lauten: „Das ethische Denken bewegt sich im Verlauf dieses Zeitalters vomT heozentrischen zum Anthropozentrischen. lm Zentrum steht nicht langer der Gott der christlichen Offenbarung. sondern der von der Vernunft als erste Ursache aller physischen und psychischen Erscheinungen erkannte Gott. Der entscheidende Bruch zwischen der Aufklarung und allen dogmatischen Geistesrichtungen liegt wohl da. wo das dem Tertullian zugeschriebene „Credo quia absurdum" der Forderung weichen soll, daB es nichts gebe, was sich dem Richterstuhl der menschlichen Vernunft entziehen dürfte, welche bloB das VernunftmaBige anerkennt.1) Folgerichtig wird der Glaube, besonders wo dieser auftritt als der schon von Bacon bekampfte Autoritatsglaube, mit dem Bann belegt, derart, daB Wieland die Neigung zum Glauben als ein Unglück für das menschliche Geschlecht bezeichnet.2) Das orthodox dogmatische Christentum stellt Gott, wie er sich in der „Heiligen Schrift" offenbart. zentral, wahrend die glaubige Annahme seiner Offenbarung den Weg zu ihm bildet. Demzufolge soll für den Christen das Leben nur insoweit Bedeutung haben, als es zum Jenseits vorbereitet, eine psychische Einstellung, die zur Verneinung alles rein Menschlichen führen kann, ja sogar die Abtötung desselben zur heiligen Pflicht macht. Die Diesseitsreligion der Aufklarung dagegen stellt den Menschen in den Mittelpunkt. An die Stelle einer Vorbereitung zum jenseitigen Leben tritt die Entwicklung des Menschen zum relnen Menschentum. wobei die Vernunft gleichsam zum Mittler wird. Demzufolge wird die Ausbildung der Vernunft sowie die Unterwerfung aller Leidenschaften und aller menschlichen Institutionen unter ihre Herrschaft zum ethischen Gesetz. In welchem Grade man solches empfand, leuchtet ein, wenn wir darauf achten, daB der Abfall des Menschen von der Vernunft geradezu als Sündenfall gefühlt wurde. Kein Geringerer als Kant spricht es aus, indem er die Aufklarung als Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit definiert. Die Schuld der Menschheit besteht namlich darin, daB sie sich der den Menschen ') Vergl. Phil. Schr. Vgl. H.p XXXII bes. 336; weiter 214, 295, 328/29, 331. 2) Agathdm. 1/4. Hp XXIII/26. vor allen andern Geschöpfen auszeichnenden Vernunft1) entzogen hat, um sich in blinder Ergebenheit einer dogmatischen Gewalt auszuliefern, welche die Betatigung der Vernunft ausschalten möchte. Sowie Luther an die Stelle eines bedingungslosen Glaubens an die alleinseligmachende Kirche den Appell an das persönliche Gewissen setzte, fordert die Aufklarung anstatt einer vertrauensvollen Annahme autorisierter Anschauungen den Beruf auf die persönliche Vernunft.2) Aber genau wie Luther sich zu seiner Zeit die erbitterte Gegnerschaft der herrschenden katholischen Kirche zuzog, stieB nummehr die Aufklarung auf einen kaum weniger feindlichen Widerspruch. und zwar auf den der Kirchen beider Religionen, weil jeder anerkannten kirchlichen Gemeinschaft die Tendenz innewohnt sich zur Hüterin eines Autoritatsglaubens und dessen korrelativer Weltanschauung zu machen. Gegen die herrschende Orthodoxie wandten sich die Aufklarung wie der Pietismus. Es war demnach für diejenigen, die sich von dieser Orthodoxie abgestoBen fühlten, nur eine Frage der seelischen Veranlagung. in welche Richtung man getrieben wurde. Insoweit es zunachst das Gefühlsleben war, das in der herrschenden Orthodoxie keine Befriedigung fand, neigte sich der Unbefriedigte dem Pietismus zu. LieB die Kirche dagegen die Bedürfnisse der Vernunft unbefriedigt, so naherte er sich, etwa nach heftigen innern Kampfen infolge der möglichen Gefahr aus der Sphare des Christentums in die des Deismus oder gar des Atheismus zu geraten, der Aufklarung. Beide Richtungen aber, der Pietismus und die Aufklarung gingen teilweise gleiche Wege. Die gröBere Gemütswarme des Pietismus trieb dazu, daB die Pietisten sich emsiger den sozialen Aufgaben des Christentums widmeten. Man könnte es so ausdrücken: ,,Der Pietismus naherte sich der Humanitat, wahrend dieselbe für die Aufklarung zur eigentlichen Religion wurde".3) Die Humanitat der Aufklarung ist weder die Humanitat der Alten, noch dasjenige, was die Goethezeit darunter verstand. Wenn der Aufklarer von Humanitat redet, so meint er vor allem „Menschlichkeit", also jene Gesinnung, durch welche man alle ') Agth. III. B XVI/2. Hp 111/201 Verg!. Ph. Schr. Hp XXXII/36. 2) Vergl. Agth. III. B XIII/4. Hp III/118. 3) Vergl. Goldsp. 11/9. Hp XIX/95; Arist. 11/26 Hp XXVI/93. Menschen als „Mitmenschen", als „Brüder" fühlt.1) Dennoch soll man „Brüder" nicht in christlichem Sinne auffassen. Vielmehr heiBt es, daB man in jedem Menschen grundsatzlich zunachst den Menschen sehen will, den Angehörigen derselben Gattung, der.wes Standes.wes Berufes er auch sei.welchem Volke er auch angehören möge,2) prinzipiell dieselben Rechte und Pflichten mit allen andern gemein hat. Von diesem Prinzip aus ware die Erde zu einer menschlichen Gemeinschaft umzuschaffen, welche der Glückseligkeit aller dienen soll.3) Auf diese Weise versucht die Aufklarung ein groBes christliches Prinzip wiederherzustellen, das die herrschenden Religionen beider Kirchen bis in den Grund zerstörten, die Einheit des Menschengeschlechts. Man braucht den Kreis vorlaufig nicht allzu weit zu ziehen, und mag sich auf diejenigen, welche sich zum Christentum bekennen, beschranken. Jene geistige Macht, die allem Anschein nach die Einheit der abendlandischen Völker hatte begründen können, hat diese Möglichkeit im Kampfe um die materielle Weltherrschaft geopfert. Die wissenschaftliche Einheit in der Gestalt der an den groBen Weltuniversitaten gelehrten Scholastik wurde nicht nur durch die Vernichtung dieses Systems, sondern auch durch die Kirchenspaltung gesprengt. An die Stelle der internationalen Universitaten traten die Landesuniversitaten und die nationalen Gesellschaften der Wissenschaften und Künste, die zunachst im Dienste des absoluten Landesfürsten standen. Die Aufklarung strebt einen internationalen Betrieb der Wissenschaften an, in der Erwartung, die Errungenschaften derselben zur Erleuchtung der menschlichen Vernunft und damit zur Verbrüderung der Menschheit verwenden zu können.4) Im Falie einer Abwendung von der Orthodoxie gab es für Wieland zwei Möglichkeiten, die ihm gleich nahe lagen; er konnte sich enger an die pietistischen Kreise anschlieBen oder in die Reihen der Aufklarung treten. Da aber eine die Betatigung der Vernunft in die engsten Grenzen zurückdrangende piëtistische Erziehung und die aus derselben hervorgehende Lebensweise dem klaren Verstande auf die Dauer keine Befriedigung zu gewahren vermochten, so bedurfte es nur eines starken Erlebnisses ihn derart ') Abd. 1/4 Hp VII/29. Agathdm. 11/4. Hp XXIII/40. *) Vergl. Agth. III. Buch XVI/3. Hp III/214 ff. 3) Agth. III. Buch XII/9. Hp 111/75. Vergl. Agathdm. V/5. Hp XXIII/142 *) Vergl. Abd. 1/4 Hp VII/29. zum Verf echter der Aufklarungsideen zu machen, daB er geradezu als ein typischer Vertreter des 18. Jhts. vor uns steht. An andrer Stelle ist des Nahern zu erörtern, wie sich in seinem Geiste die Aufklarung mit dem Rokoko zu einer Einheit verbunden hat. Bekanntlich führte der Verkehr mit dem Grafen Stadion und dessen Kreis dieses entscheidende Erlebnis herbei. Er wurde hier angehaucht von der französischen Aufklarung mit ihrer materialistischen Tendenz und bekannte sich zu der sittlich freien literarischen Einsicht, nach der jede Richtung in der Literatur erlaubt sei, nur das Langweilige verpönt. Es ist nur selbstverstandlich, daB die damals neugewonnene Einsicht ihn dazu verführte, nach dem Beispiel der zeitgenössischen französischen Literatur vorzugsweise schlüpfrige Themata zu behandeln. Ubrigens kann man inseiner Neigung, seine Romane mit pikanten Szenen zu würzen, überhaupt den seiner Zeit gebührenden Tribut erblicken, die infolge einer tief eingerissenen Sittenverderbnis, sogar in ernsthafter, manchmal in polemischer Literatur, die Grenze zwischen dem Anstandigen und dem Unanstandigen nicht immer rein zu ziehen wuBte. Die groBenteils der Biberacher Periode angehörigen Vers- und Marchenerzahlungen sind moralisch gewissermaBen als ein Auswuchs zu betrachten, sowie die ausschlieBliche Bevorzugung dieser Gegenstande in seinem literarischen Schaffen eine vorübergehende Erscheinung gewesen ist. Dauernd aber war die an der französischen Literatur herangebildete Fahigkeit, die Ergebnisse seines ethischen und philosophischen Denkens in geschmackvoller Weise dem groBen Publikum darzubieten. Noch jetzt erregt die spielerische Leichtigkeit, mit der er ausgedehnte antike und historische Kenntnisse zu romanhafter Einkleidung seiner Gedanken verwendete, unser Erstaunen. In unsrem Zusammenhang ist es von gröBter Wichtigkeit, daB der klare und praktische Rationalismus der französischen Aufklarung mit der entsprechenden Seite des Wielandschen Geistes zusammentraf, wahrend die padagogische Tendenz des zeitgenössischen französischen Rationalismus Wielands schon im Pietismus wurzelndem erzieherischem Trieb entsprach. Seine orthodoxe, piëtistisch getrankte, die geoffenbarte Religion zentral stellende Form des Denkens gestaltete sich mit einer gewiBen selbstverstandlichen Leichtigkeit in ein ihm gemaBes rationalistisches Denken um, das die Vernunft in den Mittelpunkt steilte und demzufolge in religiöser Hinsicht eine ausgesprochen deistische Farbung aufweist.1) ') Agth. II. B. VII/3. Hp 11/20 Goldsp. II/6. Hp. XIX/66 ff. Wenn die Aufklarung sich des Wielandschen Denkens endgültig bemachtigt, hat sich diese gewaltige Geistesbewegung selbst dem gefahrlichen Moment genahert, da ihre Ideen sich verallgemeinern, in dieser Verallgemeinerung jedoch zugleich verflachen. Die erkenntnistheoretische Erörterung der sich auf die Natur, die Moral, die Religion und den Staat beziehenden Fragen, wich einer durchaus unphilosophischen Auffassung, als ware nur das der gemeinen Vernunft Entsprechende Wahrheit: mit andern Worten, anstatt daB man sich fragte, inwiefern die Phanomena vernünftig oder der Vernunft zuganglich sind, glaubte man die Wahrheit derart von der denkenden Vernunft abhangig machen zu dürfen, daB man nur das vernünftig Erkennbare als wahr betrachtete, dabei die Vernunft und den gesunden Menschenverstand nahezu identifizierend. In dieser an die Massen sich wendenden aber innerlich verflachten Aufklarung berühren sich Kant und Wieland vorübergehend, indem sie die Ausbildung der Vernunft zur allgemein menschlichen Pflicht machen. Allerdings beharrte der mit Kants Kritik der reinen Vernunft spöttelnde Popularphilosoph Wieland auf dem Standpunkt, welcher der theoretischen Vernunft vollstandige Erkenntnisfahigkeit beimiBt, obwohl er, wie sich herausstellen wird, sowohl unter dem durch „Sturm und Drang" vermittelten EinfluB des englischen Empirismus, als unter der Nachwirkung der piëtistisch gerichteten Erziehung von der Empfindung aus, dem Kant der praktischen Vernunft manchmal naher steht, als man auf den ersten Bliek erwarten dürfte. Der Philosoph aber, der in schwerer Gedankenarbeit sich der Pflicht bewuBt wurde, zunachst die Grenzen des vernünftigen Denkens zu bestimmen, bevor er den Aufbau eines metaphysischen Systems in Angriff nehmen durfte, war kaum berechtigt den Massen die Abhangigkeit ihrer Ansichten gleichsam zum Vorwurf zu machen, indem er von einer selbstverschuldeten Abhangigkeit derselben redet. Da seine Studiën ihn einsehen lieBen, daB der Bereich der theoretischen Vernunft zunachst genau zu umgrenzen ware, darf er ja von den Massen nicht die selbstandige Verwertung dieser von ihm noch nicht durchschauten geistigen Befahigung fordern. Dem gegenüber nimmt Wieland die sich auf das Wohl der Menschheit beziehenden Einsichten als unverrückbare, vernunftmaBige Prinzipien an, und da man es am Ende soweit gebracht habe, daB der Vernunft Freiheit gewahrt ist, so gebe es keine Entschuldigung mehr für solche, die sich diese Grundwahrheiten nicht aneignen.1) Demnach wurde das Streben nach vernünftiger Einsicht in eben dem MaBe zur sittlichen Forderung,-) wie es auf christlich religiösem Gebiet die Annahme der Heilswahrheiten geworden war. Wenn die Kirche sich zu dieser Forderung berechtigt fühlte, weil diese Heilswahrheiten im Katechismus fertig vorlagen, so glaubte die Aufklarung mit demselben Nachdruck das Ringen um vernünftige Einsicht als eine ethische Forderung stellen zu dürfen, weil sie nach ihrer Uberzeugung die Vernunftwahrheiten zu einem fertigen System von Maximen und Regeln ausgebildet hatte. Der bekannte Ausruf, nach dem man es so herrlich weit gebracht habe, ware wohl nicht ausschliesslich als die AuBerung eines iibertriebenen Selbstgefühls zu fassen. Mit gleichem Rechte könnte man sie empfinden als den Ausdruck einer sittlichen Befreiung, weil eine Menschheit, die ihr Heil in der Betatigung der eignen Vernunft finden sollte, die Elemente dieser Erkenntnis als zweifellose Wahrheiten fertig vorfand oder jedenfalls vorzufinden glaubte. Der von Goethe verspottete Glaube an die Möglichkeit, sein Wissen Schwarz auf WeiB nach Hause zu tragen, mag für den überzeugten Aufklarer eine trostreiche Sicherheit bedeutet haben. Ohne Zweifel beweisen derartige Empfindungen, daB die Ausdehnung des Rationalismus auf weitere Kreise dem rein philosophischen Denken zum Schaden gereichte. Das humanistische Element dieser Geistesbewegung wurde dadurch aber machtig gestarkt. Anfangs war die Verbindung von Aufklarung und Humanismus nur ein Ergebnis des Denkens, indem man, entweder wie die französischen Rationalisten deduktiv oder wie die englischen Empiristen induktiv, jedenfalls auf rein vernünftigem Wege die Erscheinungsformen zu ergründen hoffte. De aufgeklarte Humanismus bedeutete ursprünglich demnach nur die Zentralstellung der menschlichen Vernunft, weil die Anknüpfung an eine in irgendwelcher Form offenbarte Wahrheit dem aufgeklarten Erkenntnisprinzip zuwider war. Das Staatssystem Hobbes' beweist, daB die der Aufklarung eigene humanistische Tendenz sogar nicht notwendigerweise zur Toleranz zu führen brauchte, obgleich die beiden Begriffe „Auf- ') Ph. Schriften Hp. Bd. XXXII S. 296. 2) Göttergspr. Hp. IX/92; 12. a.a.O. 104; Vergl. Men. Glyc. Brief 39 Hp X/70. klarung"und „Toleranz'von uns fast als synonym empfunden werden. Erst dann, wenn die Ehrfurcht vor der menschlichen Vernunft diese gleichsam zum MaBstab aller Dinge macht, erwacht die fast religiös anmutende Verehrung des Menschen als eines Tragers dieser Vernunft.1) Im Verlauf aber der zweiten Halfte des 17. und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jhts. laBt sich sowohl bei den Religionen beider Konfession als bei der Aufklarung die Neigung beobachten, sich in den Dienst des absolutistischen Gedankens zu stellen. Hobbes bildet in seinem System diese Tendenz am konsequentesten aus. Die Stimmen jedoch, die sich in verschiedenen deutschen Landern, nicht zuletzt aus kirchlichen Kreisen, wegen der Verbesserung des Unterrichts zur Erhöhung der dem Fürsten frommenden bürgerlichen Produktivitat erhoben, sind von dem namlichen Gesichtspunkt aus zu würdigen. Erst als das englische Denken angefangen hatte, die vom Kontinent erhaltenen Impulse, nachdem es dieselben mit eignen in praktischen Errungenschaften erworbenen Anschauungen befruchtet hatte, zurückzugeben, traten die praktisch ethischen Seiten der Aufklarung immer kraftiger hervor. Die Toleranz wurde zur sittlichen Forderung,2) weil durch die Prüfung einer jeglichen Meinung das vernünftige Denken gefördert wird, wahrend die bürgerlichen Rechte eines parlamentarisch regierten GroBstaates sich in einer an christlichen Heilsvorstellungen und antiken Staatsideen genahrten rein theoretischen Kultur zu Menschenrechten umbildeten, deren höchstes und letztes das Recht auf Glückseligkeit bildet.3) Da der GenuB der Menschenrechte nur dem durch die freie Betatigung der Vernunft sich der menschlichen Würde bewuBt gewordenen Individuum zu gewahren ist, fühlt der Aufklarer die unabweisliche Pflicht, alle durch die Ausbildung der Vernunft gleichsam zu erwachsenen Menschen zu erziehen, wahrend er die vergangenen Epochen der Menschheit, wenigstens der nachklassischen Menschheit, historisch nur als einen naturgemaB notwendigen Zeitraum der Unmündigkeit zu würdigen verstand.4) Ebenso unsittlich, wie die Geisteshaltung derjenigen, die durch ') Vergl. PhÜ. Schr. XXXII/206; Agch. III Hp. III/213; Goldsp. 11/3 Hp. XIX/45. 3) Vergl. Goldsp. I Her./Les. Hp, XVIII/131; Phil. Schr. Hp. XXXII/347 ff. 3) Goldsp. II/9. Hp. XIX/85. Phil. Schr. Hp. XXXII/232, 279. *) Vergl. Goldsp. Her./Les. Hp. XVIII/136. die Nicht-Betatigung der Vernunft im Zustande der selbstverschuldeten Unmündigkeit beharren, ist das Benehmen derer, welche das Wachstum des menschlichen Geschlechtes hindern durch die Forderung eines blinden Gehorsams einer absoluten, keine Verantwortung schuldigen Autoritat gegenüber, wodurch der Mensch dem Kinde gleichgesetzt,1) oder zum blinden Werkzeug herabgewürdigt wird. Offenbar unterscheiden sich Kant und Wieland in dieser Beziehung nur im Ausdruck, wahrend das Denken beider praktisch zu einem ahnlichen Ergebnis gelangte. Es ist klar, daB sie sich berühren, wo es sich um das Selbstbestimmungsrecht der Individuen handelt. Wir sollen aber berücksichtigen, daB diese ethische Maxime, welche für Kant eine der entscheidenden Konsequenzen seiner praktischen Philosophie bedeutet, für den vom aufgeklarten Denken bestimmten Wieland die selbstverstandliche Basis seiner padagogischen Ansichten bildet. Richtiger ausgedrückt: diese Maxime bildet den Ausgangs- wie den Zielpunkt seines gesamten padagogischen Denkens. Als eine unumstöBliche Wahrheit stand bei Wieland im Vordergrund seines Denkens, daB die Menschheit ebenso wenig wie das Individuum ewig auf der Stufe der Kindheit beharre.1) Diese Überzeugung fand ihre Stütze in der Erfahrung, welche er aus den englischen Verhaltnissen schöpfte, wie in dem Vernunftstolz der Aufklarung überhaupt. AuBerdem hatte er einen sehr starken persönlichen Beweggrund zur energischen Verteidigung dieser Ansicht in den sich in Frankreich allmahlich zuspitzenden Meinungen und Zustanden. Es war gerade die Aufklarung, welche die Stufe des mannlichen Alters, der Reife, bedeutete. Wenn demnach die Periode der mannlichen Selbstandigkeit für die Menschheit angebrochen scheint, so soll es das Streben einer aufgeklarten Regierung sein, sich an der Verwirklichung dieses dem Menschen allein würdigen Zustandes nach Kraften zu beteiligen.2) Wieland empfindet als Aufklarer das allgemeine Erwachen der menschlichen Vernunft als das Ende der Periode, in der sie von fremder Autoritat geleitet werden sollte; sein padagogisches Denken, das gerade so wie dasjenige Lessings und eigentlich auch wie dasjenige Rousseaus sich mehr auf das Menschengeschlecht ') Vergl. Göttergespr. IX. Hp. IX/72 ff. 2) Agth III. Buch XVI/4. Hp. III/223; Goldsp. 1/7. Hp. XVIII/89. als auf das eigentliche Individuum richtet, bezweckt das Aufspüren derjenigen Wege, welche zur Befreiung der Menschheit zu führen vermogen. Gleichzeitig aber ist es ein Kampf für die Ideen der Aufklarung gegen feindliche oder auflösende Gewalten. Die französische Revolution, besonders die unter intellektuell humanistischer Führung stehende Periode derselben, war das eigentliche Aufleben, in christlich dogmatischer Sprache möchte man fast sagen ,,d i e F 1 e i s c hwerdung" der Aufklarungsideen im Volke.1) Es ist die letzte Entwicklung ihrer humanistischen Tendenz, von der oben geschilderten rein theoretischen, durch die Anschauungen des aufgeklarten Despotismus hindurch, zur Mitbestimmung des eignen Schicksals seitens der selbstandig gewordenen Massen. Allerdings konnte Wieland der aus den Tiefen der bürgerlichen und der Volksklassen aufkommenden Bewegung, ungeachtet seiner unter dem unmittelbaren Eindruck begeisterten Redewendungen in den Göttergesprachen, schwerlich beistimmen. Wenn er dennoch in diesem Werke2) die Versuche die Menschheit im Stadium der Kindheit festzuhalten, zum Verbrechen stempelt, bezweckt er eine Warnung an die Regierenden, welche sich Wieland, in eigentümlicher Umbildung naturphilosophischer Anschauungen, worauf wir spater zurückkommen, nur als Fürsten denken konnte. In der neuen, den Idealen der Aufklarung entsprechenden, Menschheit soll vor allem die Empfindung der Ehrfurcht eine wesentlich andere Richtung erhalten. Wahrend diese Ehrfurcht des von christlich dogmatischen Grundsatzen blind geführten Menschen sich theoretisch zunachst auf Gott, praktisch vorzugsweise auf das nach absolutistischer Anschauung von Gottes Gnaden eingesetzte Königtum richten sollte, ware sie nunmehr auf den Menschen selbst zu übertragen. Das Christentum zeigt uns den in seiner Sünde verlorenen Menschen. Die Erlösung erfolgt entweder durch die glaubige Hingabe an die Gnadenmittel der Kirche oder durch andachtiges sich Versenken in die „Heilige Schrift". Letztgenannte Handlung fand aber tatsachlich nur dann die volle Zustimmung der Kirche, wenn man sich den betreffenden kirchlichen Anschauungen, besonders mit Rücksicht auf Christus als den Mittler und Erlöser, rückhaltlos unterwarf. Als Belohnung einer christlichen Lebensführung werden die Seligkeit und die Vollendung im Jenseits in Aussicht gestellt. Die Gestalt Christi erscheint dem Glaubigen als der Mensch, in dem ') Göttergespr. X. Hp. IX/78. *) Hp. Bd. IX/72. sich das Göttliche vollkommen offenbarte. Wie das Christentum kennt nun auch die Diesseitsreligion der Aufklarung den vergöttlichten Menschen, dessen Anschauung das Individuum wie die Menschheit, indem man weit über das alltagliche Niveau emporgehoben wird, aus den engen Grenzen eines vielfach kummervollen und beschrankten Daseins erlöst. In diesem Menschen offenbart sich die Gottheit jedoch nicht als eine transzendente Macht, sondern es ist die als höchste Humanitat immanente Göttlichkeit des menschlichen Wesens, welche in diesem ideellen Menschen gipfelt. Beide, das Christentum und die Aufklarung, betrachten den Menschen als ein in seiner Tierheit verlorenes Wesen; für die Aufklarung ist er aber zu gleicher Zeit etwas uriendlich Höheres, als der Tiermensch, wie er auBerlich erscheint.1) Die Erlöserin aus der Tierheit ist die nicht umsonst in den Exzessen der französischen Revolution als sichtbare Göttin symbolisierte und profanierte Vernunft. Sie erlöst die Menschheit in einem diesseitigen Zustand der Glückseligkeit und weist als höchste Erscheinungsform des durch die Vernunft Erlösten auf den seelisch und körperlich vollendeten Menschen hin.2) Dieser wird selbst zum Erlöser, wenn Wieland den wirklichen Menschen als das Höchste und Herrlichste empfindet, was einer sein kann, der kein Gott ist.3) Es ist nur konsequent, wenn in der Diesseitsreligion der Aufklarung die Auffassung der Natur des Menschen zu derjenigen des dogmatischen Christentums einen absoluten Gegensatz bildet. Bekanntlich betrachtet dieses die menschliche Natur als derart durch die Erbsünde verderbt, daB die Vernichtung derselben in der ,,Abtötung des Fleisches" als die notwendige Bedingung, der göttlichen Gnade und Erlösung teilhaft zu werden, erscheint. Demgegenüber erblickt die Aufklarung in eben dieser menschlichen Natur die Anlage zum Höchsten und Edelsten,4) den durch die Vernunft zu entwickelnden Keim zum vollendeten Menschen, und in sofern wir der immanenten Pflicht gehorchen in unserm Dasein die hohe Würde eines solchen darzustellen, haben wir den Zweck unsres Lebens erfüllt. Wahrend die Verneinung des rein Menschlichen die höchste Aufgabe des orthodox dogmatischen Christen ') Agth. III. Buch XVI/3 Hp. III/213. 2) Phil. Schr. Hp. XXXII/67. 3) II. Gesprach in Elysium. Hp. IX/145. <) Vergl. Agth III. Buch XII/9 Hp. 111/73. ist, wird die Bejahung desselben diejenige jedes Aufklarers, der dem ethischen Ideal der Geistesrichtung, zu der er sich bekennt, huldigt. Die Formulierung dieser humanistischen Tendenz findet man in Wielands Mahnung, welche es dem mit der Anlage zu bewundernswürdigen Vollkommenheiten aus den Handen der Natur hervorgehenden Menschen*) zur Pflicht macht, nichts GröBeres, Edleres und Besseres als Mensch sein zu wollen.2) Bei alledem ist durchaus nicht nur an geistige und sittliche Eigenschaften zu denken. Der Begriff „edel", bezieht sich ebenso sehr auf den Körper3) als auf die geistige Haltung. Jede Geistesrichtung erschafft sich das Idealbild seines Typus. Das Mittelalter erkennt sich in den langgezogenen von Inbrunst gleichsam verzehrten Gestalten; die Aufklarung sucht durch einen Winckelmann das Ideal des diesseitig orientierten Menschen bei den. wenigstens der Auffassung der Periode gemaB, sinnenfrohen Griechen, so daB die van Shaftesbury als Ideal empfundene Harmonie der geistigen und körperlichen Schönheit4) auch den Vertretern des diesseitigen Geistes der Aufklarung als höchstes vorschwebt. Es versteht sich, daB dieses der griechischen Ethik entlehnte Ideal der Harmonie der innern und auBern Schönheit den aesthetisch Denkenden unter den Aufklarern eher zusagte als denen, die ausschlieBlich zu einer vernunftmaBigen Lebensbetrachtung fahig waren. Manner wie Shaftesbury und Winckelmann erleben die Welt mehr asthetisch als rationalistisch und Wieland ware nicht Künstler gewesen, wenn sich in seinem rationalistischen Denken nicht bestimmende asthetische Elemente nachweisen lieBen. In den philosophischen Abhandlungen redet freilich nur der Rationalist, der individuell und sozialethisch die Konsequenzen des aufgeklarten Denkens zieht und verteidigt. Wahrend der Lektüre seiner Romane empfindet man öfters, wie diese bloB ein auBerliches Gewand bilden, um diese Konsequenzen in möglichst weiten Kreisen zu verbreiten, wobei eine Vergleichung mit den popularwissenschaftlichen Schriften zeigt, daB die romanhafte Darstellung dieselben weit energischer in der Form von Forderungen vorbringt. Der Künstler Wieland verleugnet dennoch keineswegs den asthetischen Gefallen am Schonen. Die Helden der groBen Romane erscheinen durch ihr Streben nach Beherrschung der sinn- ') Goldsp. II/6 Hp. XIX/62; Goldsp. II Cap. 8 Hp. Bd. XIX/76. 2) Per. Prot. Einl. Hp. Bd. XXI/28; Arist. 11/26 Hp. Bd. XXVI/93. 3) Vergl. Goldsp. 1/4. Hp. XVII/63. *) Vergl. Goldsp. 1/4 a.a.O. lichen Triebe durch die Vernunft zweifelsohne zunachst als Trager des stoischen Ideals. Demgegenüber wird jedoch die rein körperliche Übung zur Ausbildung der Gestalt, besonders in den griechisierenden Romanen, deren Helden Verkörperungen des „Schonen und Guten" darstellen, als selbstverstandlich vorausgesetzt. Das volle Menschentum, das sich in der Gestalt des alten Goethe offenbaren sollte, entsprach nicht weniger dem Ideal der Aufklarung als dem des deutschen Idealismus. Zwar erscheint uns eine solche Gestalt, die Wieland in dem Apollonius van Tyana darstellenden „Agathodamon" zu zeichnen versucht, wie eine Gottheit. Hier laBt sich aber wiederum eine Parallele mit den christlichen Anschauungen ziehen. Christus, der einzige Mensch, in dem sich Gottes Geist vollkommen offenbaren konnte, erscheint dadurch im Vergleich zu den Menschen aller Zeiten wie ein Gott, weil der Mensch infolge des Sündenfalls der Gottahnlichkeit verlustig ging. Wenn aber der vollendete Mensch nur vereinzelt dasteht, und alle gleichsam wie eine Gottheit überragt, so ist auch dies nach Wieland bloB als eine Folge der allgemeinen Entartung zu betrachten.1) Diese Nebeneinanderstellung christlich-dogmatischer und rationalistischer Vorstellungen bildet einen Beweis dafür, wie der zwar in piëtistisch angehauchter aber überwiegend dogmatisch-christlicher Lehre erzogene Wieland, nachdem er einmal von den Ideen der Aufklarung ergriffen worden war, die christlichen Anschauungen vom Sündenfall und des vom göttlichen Geiste vollkommen erfüllten Menschen mehr oder weniger bewuBt zu der Vorstellung einer die Idee des reinen Menschen spiegelnden Idealgestalt umbildete, von welcher der gewöhnliche Mensch, wo nicht durch einen Sündenfall, dennoch durch die Schuld einer vernachlassigten Ausbildung der geistigen und körperlichen Anlagen getrennt wird. Das Christentum verspricht dem Glaubigen jedoch nicht nur die innere Heiligung, wodurch er sich gleichsam der in der Gestalt Christi vollendeten Offenbarung des Göttlichen nahert, sondern auch den Eintritt in einen Heilsstaat, in dem mit Beseitigung aller irdischen Mühseligkeiten, sich alle in geistiger Einigkeit und Freiheit der Kindschaft Gottes freuen sollen; ein Zustand der endgültigen Erlösung aller Mühseligen und Beladenen, welche das durch den Sündenfall verlorene Paradies wiedergewonnen haben. ') Agathdm. II/3 Hp. Bd. XXIII/37 ff.; V/I ebd. S. 117; Per. Prot. II/6. Bd. XXI/65. Auf ahnliche Weise kennt die Aufklarung nicht nur das Ideal des vollkommenen Menschen, sondern daneben den Zustand der Verbrüderung der Menschheit im Zeichen der Humanitat.^Allerdings bezweckt sie nicht auBerliche Gleichheit aller, obwohl kommunistische Ansichten ebenso sehr aus den Ideen der Aufklarung wie aus den Lehren des Christentums hervorgegangen sind. Was gefordert wird, ist die Anerkennung der innern Gleichberechtigung2) der Menschen in der menschlichen Würde : ,,Ehrt den König seine Würde, ehret uns der Hande FleiB". Dieser Ausspruch Schillers gehort im tiefsten Wesen zu der Aufklarung, denn er hebt die in~ nere Gleichsetzung des Königs mit dem Bürger hervor,3) indem beide durch das ihrer Stellung Eigentümliche geehrt werden. Die innere Gleichheit aller bildet die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung; zu etwas Höherm als zur Vollendung der dieser Gattung immanenten Krafte soll und kann es weder der Fürst noch der Bürger bringen.4) Wenn es aber auch eine innere Gleichheit und Gleichberechtigung geben mag, auBerlich herrscht die Ungleichheit. Diese gereicht der Menschheit nicht unter allen Umstanden zum Heil, zumal dann nicht, wenn sie den Volksmassen ganz besonders fühlbar gemacht wird. GroBe Perioden der Weltgeschichte können es bezeugen, und nicht zuletzt das Zeitalter des Absolutismus in den verschiedenen europaischen Staaten. Wollte man die fürstliche Gewalt nicht direkt angreifen, was einem Wieland gewiB fern lag, so war es dennoch unmöglich die Augen davor zu verschlieBen, daB die Herstellung einer irdischen Glückseligkeit eine radikale Umbildung des fürstlichen Denkens voraussetzte. Die sinnlose Auffassung manches absoluten Herrschers, Wieland bevorzugt für einen solchen den Namen „Sultan",5) daB Millionen Menschen nur um seinetwillen da waren,6) soll gründlich beseitigt werden. Nach biblischer Auffassung wird von demjenigen, dem vieles anvertraut worden ist, viel gefordert, wahrend im Reich Gottes, der, welcher am meisten zu dienen bereit ist, der Erste ist. In rationalistische Denkform übertragen heiBt dies aber: wenn der zu- ■) Vergl. Goldsp. 11/14 Hp. XIX/147; Danm. Cap. 13. Hp. XX/61; Agth. II Buch VIII/2 Hp. 11/59 ff. Arist. IV/3 Hp. XXIII/14. ') Nachl. Diog. Cap. XXX. Hp. XXIV/69. 3) Vergl. Danm. Cap. 43 Hp. XX/170. *) Goldsp. II/5 Hp. XIX/56; ebd. II/7. Hp. XIX/73. ®) Roman Goldsp. «) Goldsp. II Cap. V. Hp. XIX/58. fallige Umstand einer hohen oder sogar der höchsten Geburt, einen Menschen von vornherein zu einer führenden, ja zur höchsten Stellung unter seinen Mitmenschen beruft, so wird diesem gerade durch eine solche hervorragende Stellung die Verpflichtung auferlegt, zur Erlösung der Menschheit auf Erden nach seinem Vermogen beizusteuern. Weil der Fürst durch den Willen der Vorsehung oder des Schicksals, jedenfalls ohne persönliches Verdienst die höchste Stelle in der Gesellschaft innehat, soll er der erste Diener seines Volkes2) unter Berücksichtigung des Heiles der Menschheit sein, womit selbstverstandlich der Gedanke des aufgeklarten Despotismus ausgesprochen ist. Ohne Zweifel kann man im Verlauf des 18. Jhts. auf einige Fürstengestalten hinweisen, die dem eben formulierten Ideal der Aufklarung einigermaBen gerecht wurden; tatsachlich ist es jedoch niemals verwirklicht worden. Schon das Zufallige und Sporadische in der Erscheinung solcher Fürsten ist dem an der Mathematik geschulten Denken der Aufklarung zuwider. Dieses schlieBt das Zufallige aus, indem es eine lückenlose Ableitung aus unableitbaren aber evidenten Grundanschauungen zu einem in sich geschlossenen System fordert. Von hier aus liebt die Aufklarung auf allen Lebensgebieten das Systematische. Demnach soll auch der aufgeklarte Fürst nicht zufalligerweise, gleichsam als ein freundliches Geschenk des Schicksals, unter einer erlösungsbedürftigen Menschheit erstehen; vielmehr soll er ein gesetzmaBiges Glied im gesamten rationalistischen System bilden. Ausgang und Ziel des aufgeklarten Denkens bildet der „Mensch", woraus sich ethisch die Auffassung entwickelte, daB es nichts geben könne, was über die Würde des Menschen hinausgeht.3) Daraus ergibt sich ohne Weiteres, daB auch der höchste unter den Menschen, also der Fürst. zu nichts Höherm als zum vollkommenen Menschen ausgebildet werden kann.4) Ausbildung ist gleichbedeutend mit Erziehung. Nicht das ist das Entscheidende im aufgeklarten Denken jedoch, daB der Fürst erzogen werden soll; denn das haben alle Zeiten begriffen. Das Entscheidende aber ist, daB man ihn nicht zunachst zum Fürsten, sondern daB man ihn zum Menschen er- ') Vergl. Agth. II. Buch VIII/5 Hp. 11/75. Agth. III Hp. III/216; Goldsp. 1/4. Hp. XVIII/64; Danm. Cap. 29. Hp. XX/117; Abd. 1/12 Hp. VII/68. J) Vergl. Goldsp 1/7. Hp. XVIII/89. 3) Vergl. Per. Prot. Einl. XXI/28. ♦) Vergl. Goldsp. II/5 Hp. XIX/60. ziehen soll; ja. daB er nur insoweit einen guten Fürsten abgeben kann, als er ein guter Mensch ist, Gedanken, welche die Grundlage der Wielandschen Betrachtungen über Fürstenerziehung bilden.1) Der zum wahren Menschen erzogene Fürst durchschaut seine Würde nicht als die eines Fürsten, sondern als die eines Menschen; eine Einsicht, welche ihn dazu befahigt, diese Würde in andern zu ehren. Nach dem MaBe, wie er Ehrfurcht vor und Liebe zu der Menschheit zu empfinden vermag, wird ihn die Liebe seiner Mitmenschen beglücken. Es sind seine persönlichen Eigenschaften, nicht die auBerliche Stellung eines Fürsten, welche, wie bei allen übrigen Menschen, den Grund der Liebe bilden werden.2) Diesen Gedanken der von den auBerlichen Umstanden unabhangigen menschlichen Würde betont Wieland in dem griechisierenden Roman ,,Agathon",3) was schon auf den Ursprung desselben in der stoischen Lebensbetrachtung hinweist. Das Absolute der menschlichen Würde ist aber für die humanistische Ethik der Aufklarung evident, so daB an bewuBte Übernahme einer antiken Idee nicht gedacht zu werden braucht. Hier müssen sich zwei Strömungen berühren, welche die menschliche Glückseligkeit an das Erdendasein binden. Mit der christlichen Lebensauffassung ist sie insofern verwandt, daB auf die auBern Verhaltnisse, als auf etwas Unwesentliches verzichtet wird, um Dauerndes zu gewinnen. Für den Christen bedeutet dieses Dauernde die ewige Seligkeit im Jenseits, für den Stoiker wie für den Aufklarer die Behauptung des einzig Wesentlichen in der Flucht der Erscheinungen. der Empfindung der Würde des Individuums. Dennoch ist wohl zu berücksichtigen, daB der Stoizismus der Aufklarung durch das Christentum hindurchgegangen ist. Der Stoiker des Altertums erlebt die Würde des Menschen in der Empfindung, daB sein Wesen von keinem auBern Zufall oder Schicksal erschüttert werden kann, also darin, daB er sich über das Schicksal erhebt. Der Weise erringt diese stolze Höhe, ohne daB er sich irgendwie veranlaBt fühlt, eine ungebildete, solcher Einsicht unfahigen Masse zu dieser sittlichen Freiheit zu erziehen. Das Christentum aber erhob sich zu dem universellen Standpunkt, das Reich Gottes gehore allen, weshalb es sich getrieben fühlte den Glauben an Christus, von dem die endgültige Erlösung einer leidenden Menschheit allein abhangig ware, allen ohne Ausnahme. den Höchsten wie den Geringsten zu predigen. Diesen Ruf zur ') Goldsp. II Cap. 5 Hp. XIX/56, 86. 2) Goldsp. II Cap. 7 Hp. XfX/73. 3) Agth. III Buch XIV/3 Hp. III/116. Mission hat die Aufklarung übernommen. Jeder, der die Betatigung seiner Vernunft zu einem wahren Menschen machte, soll nach Vermogen seine Mitmenschen zu sittlicher Freiheit erwecken,1) um auf diese Weise zur Gründung des „Reiches Gottes" auf Erden mitzuwirken. Der wirklich groBe und gute Mensch liebt in jedem guten Menschen ein andres Selbst und betrachtet das gesamte menschliche Geschlecht als eine groBe Familie, für deren Wohl zu sorgen er als die Grundpflicht seines Daseins ansieht.2) Die ethische Pflicht des Fürsten ist demnach wesensgleich mit der seines geringsten Untertans; der Unterschied ist nur graduell. Wie einem jeglichen, so liegt auch ihm die Pflicht zur Selbsterziehung ob, welche durch eine richtige Erziehung vorzubereiten ist, deren Ergebnisse sich in dem hohen Grad seiner der Menschheit zum Heil gereichenden Humanitat offenbaren. Je mehr er seine Pflicht, alles zu beseitigen, was die Entfaltung der irdischen Glückseligkeit verhindert, erfüllt, um so mehr verdient er den Namen eines wirklich groBen Fürsten. Nach einem solchen sehnt sich das Zeitalter, dessen Menschheit sich unter der Herrschaft einander folgender absoluter Fürsten daran gewöhnt hatte, ihr Dasein, wohl oder übel, gleichsam aus der Hand des Fürsten zu erhalten, so daB der Gedanke an die Möglichkeit der Selbstbestimmung ihres Schicksals, nur in den Köpfen ganz vereinzelter, z. B. von Rousseau, leise aufdammert. Wieland, im völligen Einverstandnis mit der Aufklarung durchaus mit dem Bestehenden und dem sich daraus Entwickelnden zufrieden, weit entfernt von jeder umstürzlerischen Gesinnung, und nur auf die Verwirklichung der groBen Ideen der Epoche bedacht, erwartet dieselbe durch die Bemühungen einesvollkommen humanistisch gesinnten Fürsten. In der Wirklichkeit gibt es einen solchen nicht,3) aber als Traumbild lebt er in der Gestalt seines Tifan in seiner Phantasie, sowie in der Phantasie einer groBen Anzahl wohlmeinender oder durch die Bürde des Lebens gedrückter Zeitgenossen, ungreifbar und unwirklich, wie die Gestalt des Erlösers in alttestamentlichen Heilsprophezeiungen. Die Worte, mit denen Wieland seinen Idealfürsten schildert und sich davor verwahrt, daB diese für das Heil der Menschheit wie für die Ehre des fürstlichen Standes gleich notwendige Erscheinung nur ein ') Agathdm. VII Cap. 1 Hp. XXIII/195. 2) Goldsp. I Cap. 4 Hp. XVIII/64: Danm. Cap. 43 Hp. XX/170; Agathdm. II Cap. 4 Hp. XXIII/40. 3) Goldsp. II Cap. 9 Hp. XIX/88. Geschöpf seiner Phantasie ware, berühren nahezu wie eine messianische Verkündigung. Sowie der Pietismus den Messias nur als den liebevollen Tröster und Erlöser aller Leidenden zu sehen vermag, so erblickt der Aufklarer Wieland den idealen Fürsten in dem Herrscher, der sich uneigennützig und unermüdlich das Heil der Menschheit zu Herzen nimmt.1) Indem nun die Aufklarung an die Stelle der Erlösung im Jenseits durch Christus, die Erlösung in dieser Welt durch die menschliche Vernunft setzt, werden die biblisch religiösen Vorstellungen eigentlich ausgeschaltet. Nach diesen ist Gott der Mittelpunkt und das MaB aller Dinge, nach dem rationalistischen Denken ist es der Mensch. Die Konsequenz der Aufklarung ist demzufolge der Atheismus. wie die abschlieBenden, rein materialistischen, philosophischen Systeme der französischen Aufklarung und in letzter Instanz deren praktisch politische Ergebnisse dartun. Dennoch beherrschten rein religiöse Vorstellungen durch zu viele Jahrhunderte hindurch derart fast ausschlieBlich das menschliche Denken, als daB es möglich gewesen ware, durch Verdrangung aller dieser ererbten Ideen, die vernünftige Konsequenz des aufgeklarten Denkens allgemein Eingang finden zu lassen, noch abgesehen davon, daB rein vernünftig begründete Anschauungen nicht alle und für die gröBere Mehrheit der Menschen, sogar nicht die höchsten Bedürfnisse zu befriedigen imstande sind.2) Daher strebt man danach das menschliche Denken und die Vorstellung „Gott als Mittelpunkt des Weltalls", mit einander auszusöhnen. Die in Leibniz gipfelnden auf die moderne Naturwissenschaft sich gründenden metaphysischen Systeme finden die Lösung, indem sie Gott als erste Ursache der Schöpfung ponieren, ohne sich klar zu machen, daB man auf diese Weise Gott als Schöpfer des Weltalls eliminiert hat. Ahnlich verfahren die humanistisch ethischen Systeme. Die Erlösung der Menschheit kann sich nur durch die Erfüllung der Gesetze der Humanitat vollziehen. Diese Gesetze sind teilweise empirisch aus den bestehenden Verhaltnissen, teilweise auf dem Wege der rationellen Deduktion aus dem Begriff des menschlichen Wesens ableitbar. Aber genau wie die nach gleichen Methoden abgeleiteten Naturgesetze werden sie auf die Gottheit zurücktransponiert, indem man, wie Wieland, diese Gesetze der Hu- ') Goldsp. II Cap. VII Hp. XIX/84. Goldsp. II Cap IX Hp. XIX/88. 2) Agathdm. VII/1 Hp. XXIII/201 ff. manitat zugleich als Gottes Gesetze betrachten möchte.5) Wie das Streben eines wahren Christen darauf gerichtet ist. seine Mitmenschen, die, wie er. Kinder Gottes sind, zum ewigen Heil vorzubereiten, macht derjenige, der die Einheit göttlicher und humanistischer Gesetze erkannt hat, die Veredlung der Menschheit zum einzigen Geschaft seines Lebens.2) Die diesseitige Tendenz der Aufklarung bedeutet für die Menschheit einen in wissenschaftlicher und sozialer Hinsicht unendlichen Fortschritt, indem sie die Menschheit durch die Emanzipation der Vernunft von dem Druck vieler leicht zu miBbrauchenden, aberglaubischen Vorstellungen erlöste.3) Neben Kants Definition der Aufklarung können wir nunmehr in historischer Würdigung eine andre stellen: „Aufklarung heiBt die Geburt des westeuropaischen geistig freien Menschen, der im BewuBtsein der Selbstherrlichkeit des menschlichen Wesens sich berechtigt und verpflichtet fühlt zur Bestimmung des eignen Schicksals". Das Goethesche: „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, sich über Wolken seinesgleichen dichtet," kann nur das Lebensgefühl einer in der Aufklarung zur Selbstandigkeit erwachten Menschheit spiegeln. Es deutet aber auf eine in ihren Prinzipien erstarrende Periode, wenn die Aufklarung. wie sie es besonders in ihrer Popularphilosophie tut, den notwendig irgendwie diesseitig fundierten Ausgangspunkt unsres Denkens eigentlich gleichfalls zum Zielpunkt macht. Dahin aber gelangt sie, wenn sie sich, unter Verzicht auf eine Metaphysik, auf die Erscheinungsformen beschrankt. Diese geistig und seelisch gleich unbefriedigende Richtung des philosophischen wie des ethischen Denkens vertritt Wieland, wenn er die an sich berechtigte Hypothese einer Wesensgleichheit göttlicher und humanistischer Gesetze dazu verwenden möchte, den Versuch zum Aufschwung des menschlichen Geistes über sich selbst hinaus, schon von vornherein durch den Hinweis darauf, daB die Natur den Menschen bloB auf den Menschen beschrankt hatte, als zwecklos darzustellen. Unser Unvermögen über die nur durch Unzulanglichkeit unsrer Sinne beschrankte Sinnenwelt bis zum wirklichen Anschauen des Ewigen, Notwendigen und selbstandigen Unendlichen aufzuschwingen, sollte uns lehren, daB der Umkreis der Menschheit und ihrer mannigfaltigen und wichtlgen ') Goldsp. II/9 Hp. XIX/95. 2) Agathdm, III. Cap. 1 Hp, XXIII/70. 3) Vergl. Goldsp. I Hp. VIII/134 ff.; 144 ff. Angelegenheiten, der wahre, unsern Kraften angemessene Wirkungskreis ist, den die Natur uns angewiesen hat.1) Wer aber, wie Wieland durch diese Anschauung, den menschlichen Wirkungskreis auf die Erde beschrankt, soll folgerichtig die christliche Ethik durch Umdeutung nach zwei Seiten auf die weltlichen Verhaltnisse übertragen. Die christliche Ethik umfaBt ein Doppeltes, die Beziehung zum eignen Seelenleben sowie die zum Mitmenschen, welche insofern in einem kausalen Verhaltnis zu einander stehen, als nur der, dessen Seele wirklich göttliches Leben durchglüht, die nötigen Krafte besitzt den Mitmenschen auf den Weg zu Gott zu führen. Demnach fordert die christliche Ethik den religiösen Ausbau des innern Lebens mit Rücksicht auf die Umwelt; wobei natürlich der Grad der Religiositat der Umwelt und das individuell religiöse Leben sich korrelativ verhalten. Die prinzipiell auf das Irdische sich beziehende Ethik der Aufklarung, welche an die Stelle der Glückseligkeit nach diesem Leben, diejenige in diesem Leben setzen will, soll eine ahnliche Korrelation zwischen persönlicher und allgemeiner Glückseligkeit statuieren. Auf die Pflicht des Humanisten zur Förderung der allgemeinen Glückseligkeit wurde schon hingewiesen.2) Eine eigentümliche Wendung nimmt nun in dieser Hinsicht diese Verpflichtung mit Hinblick auf die eigne Person. Es ware namlich eine ethische Pflicht eines jeden glücklich zu sein, weil nur dieser Zustand dazu fahig macht, möglichst viel Glück um sich zu verbreiten, natürlich unter der Bedingung, daB dieses persönliche Glück nicht auf Kosten der Ubrigen erworben wird;3) denn Wieland stimmt ohne Weiteres Rousseau bei, daö jene seelische Haltung, welche in einer Art gesellschaftlicher Eifersucht dazu zwingt, in den Besitz andrer hinüberzugreifen, als die Grundursache des ganzen menschlichen Elends zu bezeichnen ware.4) In diesem Zusammenhang ist im Sinne der Aufklarung noch folgendes zu erwagen. Indem Wieland auf diese Weise die Empfindung des Glückes, der Lust, zum Ausgangspunkt des objektiven Wirkens setzt, wird eine Aussöhnung zwischen den beiden die ganze Moralphilosophie durchkreuzenden Prinzipien, dem hedonistischen Prinzip und dem energistischen, versucht. Von Wielands ') Agathdm. VI/2 Hp. XXIII/171. 2) Agth. III Buch XVI/2 Hp. III/200. Abd. 1/12 Hp. V11/68. Goldsp. II/7 Hp. XIX/70. 3) Danm. Cap. 6 Hp. XX/72. *) Vergl. Goldsp. II/3 Hp. XIX/41 ff.; 71ff.; ebd. 11/16 180ff. Standpunkt aus gesehen, kann man sagen, daB er die Aussöhnung zwischen dem Epikuraertum und dem Stoizismus sucht. Gleichzeitig möchte er diese aus der Antike auf uns gekommenen ethischen Richtungen erganzen und verstarken durch das im Christentum ausgebildete soziale Empfinden. Die individuelle Empfindung der Lust, welche nach epikuristischen Auffassungen ein Ergebnis des moralischen Handelns sein soll, wird in stoischem Sinne als eine Pflicht zum moralischen Handeln aufgefaBt; denn die von Epikur geforderte Empfindung der Lust als höchste seelische Verfassung soll die Folge der von der Stoa gefordertenlinabhangigkeit von auBern Verhaltnissen sein. Der Überzeugung der Aufklarung gemaB laBt sich dieser Zustand nur verwirklichen durch die in der Betatigung der Vernunft gewonnene Einsicht in die Erscheinungen des Lebens. Die Wielandsche Bezeichnung der Glückseligkeit als ethische Pflicht ware also nicht dahin zu deuten, alsob man sich zunachst irgendeinen Zustand irdischen Glückes schaffen sollte um sich erst dann um das Wohl der Mitmenschen zu kümmern. Vielmehr heiBt es, daB es eine menschliche Pflicht ist, Freude und Lust am Leben zu empfinden, die sich als jene Glückseligkeit offenbart, welche man andern mitteilen kann. Die Glückseligkeit ist dann also nicht ein als Belohnung unsrer moralischen Handlungen erworbener Zustand der innern Ruhe, sondern sie bedeutet als sittliche Pflicht ein sittliches, objektiv zu verwirklichendes Ideal.1) Indem Kant als sittliches Ideal die Übereinstimmung des individuellen Willens mit dem transzendenten Begrif f des Sittengesetzes stellt, rationalisiert er theologische Vorstellungen, erhebt sie aber dennoch in erneuter Annaherung an das christliche Dogma über die theoretische Vernunft. Wielands sittliches Ideal fordert die Übereinstimmung des menschlichen Wollens mit dem naturgemaBen Gesetz der Glückseligkeit,2) welche Auffassung aber ebenso wenig rein rationalistisch wie diejenige Kants ist. Die höchsten geistigen Strömungen werden eben dadurch immer wieder zur Religion, daB sie einem Endzweck zustreben, welches weder der sinnlichen Realitat angehört, noch als bloBe Möglichkeit rein vernünftig zu beweisen ist. Eine notwendige Konsequenz der Humanitatsreligion der Aufklarung ist der Kosmopolitismus.3) Sie bezweckt die Verbrüde- ') Vergl. Agth. III Buch XVI/2 Hp. III/200; a.a.O. Cap. 4. Hp. III/223. a) Vergl. Phü. Schr. Hp. XXXII/29: Goldsp. 1/4 Hp. XVIII/60; Abd. 1/2 Hp. VII/117. ') Abd. II/6 Hp. V1I/104 ff. rung aller Menschen und übernimmt damit eine von beiden Kirchen vernachlassigte Aufgabe. Durch diese Zielsetzung beweist sie ihre lebendige, reformierende, ja revolutionierende Kraft. Sie ist eine kampfende, nicht eine herrschende Religion. Die christliche Orthodoxie überlaBt die Elenden, wo es sich um das soziale Leben handelt, wesentlich ihrem Schicksal, indem sie, denselben eine Erlösung nach dem Tode predigend, sich mit den Machtigen der Welt zur Behauptung der irdischen Gewalt verbindet. Daher bedeutet der infolge der reellen Verhaltnisse vielleicht notwendige Bund jeder groBen Religion mit dem Staate zugleich den Untergang ihrer idealen Gedanken und Forderungen. Insoweit die Kirche, was leider öfters der Fall sein mag, eine verauBerlichte Form der Religion ist, kann der Staat, oder was in der altern Neuzeit etwa dasselbe heiBt, der Fürst, ihrer sittlichen Stütze in allen Unternehmungen versichert sein, sogar mit Unterdrückung ihres ersten und altesten Prinzips der Verbrüderung der Menschen als Kinder Gottes. Die herrschende Kirche bedarf eben nicht der Liebe der Brüder in Christus, sondern nur den Schutz der Machtigen, denen sie ihrerseits durch ihren Griff auf die Massen zur unentbehrlichen Stütze wird. Wenn die Kirche auch die breite Masse der nicht Privilegierten ihrem Schicksal überlassen hat, die brennende Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Glückseligkeit stirbt dennoch nicht. Zunachst fand diese dadurch Befriedigung, daB groBe Massen schon die irdische Verwirklichung einer ertraumten bessern Zukunft suchen in einem unter der unmittelbaren Herrschaft Gottes stehenden Leben durch den AnschluB an von der offiziellen Kirche mehr oder weniger getrennte Sekten, wie z. B. an den Pietismus. In dergleichen Sekten erlebt die Seele durch das unmittelbare Gerichtetsein auf Gott eine durch Inbrunst erhöhte religiöse Empfindung, die sich zugleich als innere brüderliche Zusammengehörigkeit in einer Art sozialer Gleichheit offenbart. Dennoch bieten solche Sekten durch haufige Beschrankung auf engere Ki eise mehr die Möglichkeit sich aus einer harten Realitat in ein ertraumtes Gottesreich zurückzuziehen, als daB sie einen durchgreifenden EinfluB auf die ge~ sellschaftlichen Anschauungen auszuüben vermocht hatten. Nur eine geistige Bewegung, die, wie einmal das Christentum die Erlösung verspricht aus einem Zustand, der im allgemeinen BewuBtsein der Menschheit als ein Verlust wesentlicher Güter empfunden wird, vermochte eine der spatern Gesellschaft ihr Geprage aufdrückende revolutionare Bewegung der Massen zu entfesseln. Dieser Verlust bedeutet in allen Perioden untergehender, allgemein gültiger Gesellschaftsformen der Fortfall inenschlich wertvoller und dementsprechend als unentbehrlich empfundener Lebensbedingungen. Die Menschheit der alten Welt fühlte diesen Zustand, als ware man völlig von Gott verlassen und die Welt der Bedrückten und Sklaven ergriff mit Leidenschaft die frohe Botschaft vom nahen Gottesreich, in dem alles Alte, was für den Bedrückten logisch nur alles Schlechte heiBen kann, erneuert werden und Gerechtigkeit und Gleichheit aller herrschen sollte. Das durch die von der Kirche verfolgte Arbeit der Aufklarung allmahlich zum BewuBtsein der menschlichen Würde erwachende 17. und 18. Jht. suchte die unentbehrliche Lebensbedingung in der Herstellung der von den Machtigen zertretenen Rechte der Menschheit. Rechtlos deren Willen preisgegeben, behandelt als Mittel,1) wodurch die Herrscher dauernd die Genüsse einer Welt, die ihnen ein Paradies schien, auskosteten, fühlte sich der Bürger, der infolge der unermüdlichen Arbeit der Aufklarung tatsachlich zum Trager der Kultur wurde, in seiner menschlichen Würde verletzt. Dieses überall gleichartige Verhaltnis eines zum BewuBtsein der eignen Würde erwachenden Bürgertums einer dasselbe bedrückenden Klasse von Privilegierten gegenüber muBte eine die Landesgrenzen durchbrechende Empfindung der Verbrüderung hervorrufen,2) da diejenigen, welche innerhalb der Grenzen ihres Landes für ihre Rechte kampften, die natürlichen Verbündeten derer sind, die in andern Landern denselben Kampf gegen die gleichen, die alte Ordnung verteidigenden Gruppen, auszufechten haben. Für die alten Christen war die Einheit diejenige der Kindschaft Gottes, die Erlösung die Gründung des Gottesreiches auf Erden; für den Aufklarer ist diese Einheit die Verbrüderung der Menschen als Angehörige derselben Gattung3) in einer auf den allgemeinen Menschenrechten aufgebauten und dieselben schützenden alle Menschen umfassenden Gesellschaft. Dieser Zustand bedeutet für den Aufklarer jedoch meistens nur ein Ideal, selten die ') Goldsp. 1/1 Hp. XVIII/32. Vergl. Abd. 1/2 Hp. VII/22. 3) Agathdra. II/4 Hp. XXIII/40; ebd. 142. höchste revolutionar idealistische Spannung, welche sich nur ganz vorübergehend in der Anfangsperiode der französischen Revolution offenbarte.1) Der Bürger, also der westeuropaische Mensch, der sich seit dem Ausgang des Mittelalters ausgebildet, und heutzutage zur weltbeherrschenden Machtstellung emporgeschwungen hat, ohne, genau wie dies einmal im Christentum der Fall war, ihre weltbeglückenden Ideale zu verwirklichen, suchte und sucht die Verwirklichung ihrer Ideen nicht durch Revolution, sondern durch Evolution. Der Begriff Evolution wurde vielleicht schon dadurch zu einer wissenschaftlichen Arbeitshypothese in den Naturwissenschaften, weil Evolution die eigentümliche Denkform der dieselben entdeckenden, pflegenden und zur höchsten Vollendung führenden bürgerlichen Klasse ist. Das nicht bürgerlich emotionell begründete Christentum schuf Theologien und Mythologien und war in Verbindung mit neuen Vólkern eine die Welt revolutionar bewegende Macht,2) die Aufklarung schuf zerebral die Naturwissenschaft und ethische Systeme, die teilweise auf derselben aufgebaut wurden, und versuchte in Anlehnung an das Bestehende, die Welt durch Evolution zu fördern. Man knüpft demnach an bestehende staatliche Verhaltnisse an,3) im Vertrauen, daB die internationale Verbrüderung der Menschheit sich von selbst ergeben werde, falls es gelingen dürfte, den Angehörigen eines jeden einzelnen Staates die entsprechende humanistische Gesinnung beizubringen.4) Diese Auffassung individualisiert gewissermaBen die Staaten, denn die Grundbedingung der erlaubten Wohlfahrt des einzelnen, die als Zustand einer gewissen Glückseligkeit zur Förderung des allgemein menschlichen Wohlseins notwendig ist, darf gerade wie beim Individuum, niemals auf Kosten der Ubrigen erworben werden. Solche Prinzipien vertritt Wieland in seinen Betrachtungen über das Verhaltnis von Staaten unter einander oder zu ihren Bundesgenossen (Koloniën) mit innerer Uberzeugung.5) Sein kosmopolitisches Denken, die notwendige Konsequenz seiner in der Aufklarung wurzelnden Ideenwelt, fordert von jedem Staate eine ') Vergl. Götterspr. 10 Hp. 1X178; ebd 98; 12 Hp. IX/107; Goldsp. II/l Hp. XIX/29. Nachl. Diog. XXX Hp. XXIV/70 : Per. Prot. VIII Hp. XXIIV/57; Agth. II Buch X/4 Hp. 11/153. 2) Vergl. Pergr. Prot. Hp. XXII/64. s) Vergl. Agathdm. V/5 Hp. XXIII/143. 4) Vergl. Göttergspr. 10 Hp. IX/81. ») Agth. II Buch VIII/11 Hp. 11/59. 3 politische Haltung, durch welche er das Zutraucn und die Licbe der Nachbarstaaten zu gewinnen vermag. Eine derartige Politik bildet die Grundbedingung zur Verwirklichung des humanistischen Ideals einer allgemeinen Verbrüderung der Menschheit.1) Genau wie beim Individuum ist die Freiheit des Staates ein Zustand, welcher dessen Würde gemaB ist; aber auch der Staat kann sich in dieser Würde nur dann behaupten,2) wenn er sie in den andern achtet. Der Mensch, der unvernünftigerweise die Würde seiner Mitmenschen verletzt, straft sich selbst, indem er sich der Herrschaft seiner Vernunft, welche Freiheit bedeutet, entzieht, um sich der Willkür der Verhaltnisse zu unterwerfen. Ein gleiches Schicksal bereitet sich aber derjenige Staat, der sich gewaltsam über andre zu erheben versucht. An die Stelle der Liebe und des Zutrauens treten HaB und MiBtrauen, so daB ein solcher Staat in den auBern Veranstaltungen zur Behauptung einer unvernünftigen Herrschaft bald sich selbst die gleichen Fesseln wie den andern zu schmieden, genötigt wird.3) Nur in dem edeln Kampf zur Mehrung der Künste und Wissenschaften, welcher Kampf die Grundbedingung der menschlichen Glückseligkeit, die Herrschaft der Vernunft, befestigt, soll jeder Staat danach streben an die Spitze aller übrigen zu treten .*) Wenn Wieland dann neben diesem ideellen Wettkampf einem Staat die Verpflichtung auferlegt sich durch einen möglichst ausgedehnten Handel um die Herrschaft über die Nachbarstaaten zu bemühen, so ist diese Auffassung aus dem individualistischen Prinzip seiner politischen Betrachtungen zu erklaren, nach dem der Staat es, gerade so wie das Individuum als Pflicht empfinden soll, den auf diese Weise gewonnenen Wohlstand bewuBt zum allgemeinen Besten zu verwenden.5) Übrigens spiegelt sich in dieser Darstellung eine bürgerliche Auffassung vom Handel als Mittel zum Erwerb einer redlichen Wohlfahrt, wodurch dieser sich stark von den modernen Formen des Handels und der Industrie unterscheidet, die vielmehr an einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Individuen und Staaten erinnern. Eine notwendige Folge der kosmopolitischen Weltbetrachtung ist das Zurücktreten des Staatsbürgers hinter den Weltbürger. ') Agth. II Buch VIII/2 Hp. U/59. 2) Vergl. Agth. II Buch VIII/5 Hp. II177. 3) Arist. IV/3 Hp. XXVIII/14. «) Agth. II Buch VIII/2 Hp. 11/60. B) Agth. II a.a.O. Wieland vertritt diese durch eine Gesinnung, nach welcher alle Menschen, unabhangig von den zufalligen unter ihnen bestehenden Unterschieden Anspruch auf unsre brüderlichen Empfindungen erheben dürfen.1) Eine solche Gesinnung fand ihren Ausdruck in den gewissermaBen internationalen, die Staatsgrenzen durchbrechenden Brüderschaften, wie z. B. in dem Freimaurerverein, Brüderschaften, die die mittelalterlichen Zünfte, die einen internationalen Charakter hatten, aber infolge der neuzeitlichen Staatenbildung ihre Bedeutung einbüBten, zu ersetzen suchten. Solche Vereine bilden als mögliche Erfüllung des aufgeklarten Humanitatsideals einen geistigen Staat über dem wirklichen, zu dem sie etwa in demselben Korrelativverhaltnis stehen sollen, wie der aufgeklarte Staat selbst zu seinen erziehungs- und aufklarungsbedürftigen Angehörigen. Wieland selbst denkt zu wiederholten Malen an das verborgene der Menschheit dienende Wirken von internationalen Orden,2) wie er auch einmal eine an die christliche Idee der unsichtbaren Kirche erinnernde unorganisierte geistige Einheit wirklicher Humanisten erwahnt.3) Für den durch christliche Vorstellungen genahrten Geist des Aufklarers des 17. und 18. Jhts. werden die Naturgesetze zu in der Natur sich offenbarenden Gesetzen Gottes. Ahnlich werden die Gesetze der Humanitat letzten Endes als göttliche empfunden. Daher ist es selbstverstandlich, daB bei einem aus orthodox christlichen Kreisen hervorgegangenen Denker wie Wieland, die dichterische Phantasie die erlöste Menschheit als eine Art auf Erden zu verwirklichendes himmlisches Jerusalem gestaltet; so daB er die ganze Menschheit als eine einzige groBe Familie sieht, welche von dem allgemeinen Geiste nach den ewigen Gesetzen der Natur, was dasselbe heiBt wie nach den Gesetzen Gottes, regiert wird.4) Wenn die Welt dargestellt wird als die Realisierung der Ideen eines unbegrenzten Verstandes, so kann man darin ein Beispiel der sich in der westeuropaischen Kultur erneuerten Verknüpfung von christlichen und platonischen Vorstellungen erblicken.s) Natürlich fehlt solchen aus christlichem Denken und Empfinden ge- ') Nachl. Diog. XXX Hp. XXIV/72. 2) Agathdm. II/3 Hp. XXIII/42 ff. ebd. V/3 Hp. XXIU/122. ebd. V/4 Hp. XXIII/139. ebd. V/6 Hp. XXIII/147. ebd. VI/3 Hp. XXIII/177. 3) Abd. U/6 Hp. VII/105. *) Agathdm. V/5 Hp. XXIII/142. ») Agth. III Buch XVI13 Hp. III/213, nahrten Utopien eines humanistischen Gottesreiches auf Erden die der christlichen Religion immanente Idee des O p f e r s nicht. Gerade so, wie der wahre Christ auf irdische Ehre und Güter verzichtet und sogar um Christi willen den irdischen Machten den Gehorsam verweigert, sobald sie Anforderungen stellen, welche seinem Gebot zuwider sind, wird der Mensch, dessen kosmopolitische Gesinnung zur Religion wurde, dem eignen Staat den Gehorsam kündigen, sobald dieser von ihm Handlungen verlangt, welche sich an dem Wohl der Menschheit versündigen und mit dieser Weigerung alle daraus hervorgehenden Folgen übernehmen.1) Die auf dem Verhaltnis der Individuen wie auf dem der Völkerschaften unter sich beruhende, humanistische Erhebung und Erlösung der Menschheit, setzt die Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und der Nachstenliebe voraus. Die Rechtsempfindung erwacht im Menschen zugleich mit dem aufkommenden BewuBtsein von der Bedeutung des Individuums, so daB erst das römische Volk, bei welchem sich in Kampfen um die individuelle und staatliche Freiheit das SelbstbewuBsein machtig entwickelte, zum Schöpfer des Rechtes werden konnte. Die altasiatischen Völker kannten den Begriff Gerechtigkeit nicht, in dem sklavischen Abhangigkeitsverhaltnis zu den Herrschern vermochte sich nur das Gefühl der Vergeltung2) im Guten oder im Bösen zu entwickeln. Zwar gibt es vereinzelte Ansatze zur Gesetzgebung, wie das Mosaische Gesetz, jedoch haben solche vorwiegend den Charakter von Sammlungen ritueller, hygiënischer und empirisch notwendiger sozialer Vorschriften, welche bei den Juden jedenfalls als direkter Wille Gottes dargestellt werden und von deren Übertretung die Androhung von Strafen, welche wir nur als barbarische Racheakte bezeichnen können, abhalten soll. Gesetze in eigentlichem Sinne darf man sie schon deshalb nicht nennen, weil sie bloB die rücksichtslose WillensauBerung eines absoluten Herrschers, mag man sich diesen als Gott oder als einen über unbeschrankte Gewalt verfügenden irdischen Despoten denken, darstellen. Wenn das israelitische Volk von der Gerechtigkeit seines Gottes redet, so bezieht dieses sich zunachst auf die frohlockende Erwartung einer von diesem Gott geübten graBlichen Vergeltung an den Stammesfeinden, oder auf in zerknirschter Angst getragene oder erwartete, schlimme, als Offenbarung des göttlichen Zornes gefaBte Verhaltnisse. Der Gott Israels ist ein Gott der Rache. Die Rache ist allerdings, als AuBe- ') Agth. III Buch XVI/3 Hp. IH/214. 2) Vergl. Goldsp. 1/2 Hp. XVIII/35. rung des verletzten Selbstgefühls andern gegenüber, eine Form der Gerechtigkeit. Zur wirklichen Gerechtigkeit wird sie erst dann, wenn sie auch die Motive der Gegenpartei in Betracht zieht. Die Schöpfung des Rechtes setzt demnach eine, wenn auch unbewuBte Achtung vor der Würde des Menschen voraus. Wenn im „Neuen Testament" der altisraelitische Gott der Rache und Vergeltung zu einem Gott der Gerechtigkeit und der Liebe wird, so ist das ein Beweis dafür, daB in der Menschheit allmahlich ein Verstandnis für die notwendige Korrelation von Gerechtigkeit und Liebe aufzudammern beginnt, denn der Gott des ,,Neuen Testamentes" will in seiner Gerechtigkeit die Schwache des Menschen berücksichtigen, wozu übrigens auch in gewissen Stellen des „Alten Testamentes" die Ansatze nicht fehlen. In höchster Instanz erscheint die Gerechtigkeit nicht als Rache oder Vergeltung, sondern als Rettung, welche Instanz die Identifizierung der göttlichen Gerechtigkeit mit der göttlichen Liebe ausdrückt. Die Entwicklung der christlich westeuropaischen Menschheit in ihrer Rechtsauffassung wird gekennzeichnet durch einen bis auf den heutigen Tag fortdauernden Kampf zwischen der Auffassung des Rechtes als Rache an dem Verbrecher und dem Recht als Schutz der Gesellschaft vor ihm, wobei in einem höher ausgebildeten Rechtsgefühl in nicht geringerm MaBe der Schutz des Verbrechers vor Erscheinungen im Leben der Gesellschaft, die seiner Veranlagung zuwider sind, in Betracht kommt. Das Mittelalter, mit seiner Geringschatzung des Menschen als Persönlichkeit, kann das Recht nur ausüben in der Form der Rache; Zeuge dafür ist sowohl die juridische Auffassung des Versöhnungsaktes auf Golgatha bei Anselm von Canterbury als die in spatmittelalterlichen Gesetzessammlungen festgelegten und noch bis ins 19. Jht. fortlebenden barbarischen Strafandrohungen. In diesen Kampf um die Ausbildung einer wirklichen Gerechtigkeit muBte die Aufklarung energischer eingreifen, je nachdem sie einerseits zu höherer Würdigung der menschlichen Persönlichkeit gelangte und ihr andrerseits durch die vertiefte Einsicht in die Kausalitat der Affekte und die Umstande, unter denen sie auftreten,1) eine Ahnung von der Relativitat der guten wie der bösen Handlungen aufging. Manches in der Gestalt Christi zeigt uns den Gott des Alten Testamentes als einen Gott der erbarmenden Liebe. •) Agth. III Buch XII/11 Hp. 111/92; ebd. Cap. 9 Seite 77. Agth. III Buch XIII17 Hp. III/132. Goldsp. 1113 Hp. XIX/40; ebd. 89. Die christliche Kirche abcr hat in ihrer Vcrweltlichung gleichsam die Rolle des alttestamentlichen Gottes der Vergeltung übernommen, indem sie sich mit dem Staate zur Rache gegen alle die staatliche oder die eigne Macht bedrohenden Elemente verband; aber wahrend sie den Verbrecher mit der gleichen unbarmherzigen Harte verfolgte wie der Staat, rettete sie die göttliche Liebe und Barmherzigkeit, indem sie dem ihre Gnadenmittel annehmenden reuigen Verbrecher die göttliche Gnade verhieB. Auf diese Weise wurde seitens der Kirche die sich in Christus als Nachstenliebe offenbarende göttliche Liebe, welche er von seinen Jüngern durch ein unzweideutiges Gebot als höchstes Wahrzeichen ihrer göttlichen Sendung forderte, wo nicht völlig vernachlassigt, so doch keineswegs als erstes praktisches Prinzip ihrer Handlungen be~ trachtet. Diese Forderung des Christentums übernahm die Aufklarung in ihrem Kampf um die Erlösung der Menschheit zu einer höhern Form der Humanitat. Wie das alte Christentum forderte sie Gerechtigkeit, jene Gerechtigkeit, die die Verbindung mit der Nachstenliebe eingeht. Aber sie soll nicht von einem göttlichen Gebot, sondern vielmehr von der menschlich vernünftigen Einsicht abhangig gemacht werden. Gerechtigkeit und Menschenliebe sollen sich gegenseitig erganzen, indem letztere dazu führt das von der Vernunft als gerecht Erkannte zu verwirklichen. Der Zweck dieser Gesinnung ist die Herstellung einer Form des gesellschaftlichen Lebens, welche einem jeglichen die vollstandige Gelegenheit zur Entwicklung seiner Persönlichkeit bietet, was nach der Uberzeugung des Aufklarers auf die Gesellschaft hinwiederum nur fördernd wirken könnte. In diesem Sinne betrachtet auch Wieland die durch die Vernunft begründete, von der Menschenliebe gelauterte Gerechtigkeit als das Ziel und die Vollkommenheit des edelsten Teiles der menschlichen Natur,1) dessen Ausbildung die Aufklarung wie die Erziehung bezwecken.2) Nicht zufallig wurde das 18. Jht., in dem die geistige Bewegung der Aufklarung ihren höchsten Gipfel erreichte, zum Jahrhundert der Padagogik. Was einmal für das alteste Christentum die Verbreitung der erlösenden Lehre Christi über die ganze Welt gewesen war, das ist für die Aufklarung die Erziehung. Erziehung nicht nur als Jugenderziehung, was nichts Absonderliches ware, ') Arist. IV/5 Hp. XXVIII/40. 2) Agth. UI Buch XVI/4 Hp. UI/222. weil jede groBe Bewegung instinktiv oder bewuBt die Notwendigkeit, zu versuchen die Jugend zu gewinnen, eingeschen hat. In dem Zeitalter der Aufklarung bildet jedoch die Erziehung der Jugend bloB einen Teil der Erziehung des menschlichen Geschlechtes.1) Sie bedeutet dasselbe, was für spatere fortschrittlerische Strömungen die Propaganda, oder was für den Protestantismus, in der Periode des gewaltigen völkischen Aufschwungs, das neu erfundene, fast ausschlieBlich von Protestanten getriebene Handwerk der Buchdruckerkunst war, das Mittel ihre Ideen unter allen Kreisen, besonders unter den breiten Massen der nicht Privilegierten zu verbreiten. Wielands Romane, seine popularwissenschaftlichen Schriften, nicht weniger seine imponierende Ubersetzungstatigkeit klassischer Autoren, dienen dazu die groBen Gedanken der Aufklarung, ihre Kontroverse, ihre Polemik gegen alles, was der freien Entfaltung der menschlichen Vernunft entgegenwirken dürfte, daneben auch die Weisheit und die GröBe der Antike, durch angenehme leichtverstandliche und wo möglich allen zugangliche Form zu einem allgemeinen geistigen Besitz zu machen. Man erinnere sich bloB, daB die meisten seiner Werke und Schriften in seinem „Teutschen Merkur" veröffentlicht wurden, auf diese Weise die ungeheure Arbeit der moralischen Wochenschriften erganzend und weiterführend. Verschiedenartig ist die Wahl des Stoffes, wie die Form in welche er gegossen wurde, aber e i n Geist durchzieht all seine Werke, den jeder zu empfinden vermochte und von welchem er alle zu durchdrangen hoffte, jene Anbetung der menschlichen Vernunft,2) durch deren immer höhere Ausbildung unter gegenseitiger Anregung und Belehrung eine Menschheit aus ihrem Verfall, ihrer Gebundenheit, ihrer geistigen Verfinsterung sich zur geistigen Freiheit, zur vernünftigen Einsicht ihrer Verhaltnisse unter sich und zu den göttlichen in Natur und Sitte sich offenbarenden Gesetzen, erheben sollte.3) Das Christentum ermahnt zu der in pietistischen Kreisen eifrig geübten Ermunterung zum frommen, gottgefalligen Leben, die Aufklarung, hierin auch von Wieland vertreten, zu einem Leben, das in fleiBiger Betatigung der erst zum wirklichen Menschen bildenden Vernunft im Dienste der gesamten Menschheit steht. Wie jede reformierende Bewegung sieht die Aufklarung alle ') Agathdm. III/l Hp. XXIII/70. J) Vergl. Agth. III Buch XVI/2 Hp. III/203; ebd. Cap. 3 Hp. III/213. 3) Agth. III Buch XVI/4 Hp. III/222. Ubelstande bloB als eine Folgc der Vernachlassigung ihrcr Prinzipien. Die weltabgewandte Seele des Christentums erblickt in der Sünde der Menschheit das Ergebnis der nach irdischen Genüssen trachtenden menschlichen Natur, und von dieser darin begründeten Verderbnis ist die Erlösung nur möglich in einer geistigen Einheit mit Gott. Daher gürtete sich das alteste Christentum zum Kampf gegen die tiefe Sittenverderbnis der untergehenden antiken Welt, und von diesem Kampf gegen die Sittenlosigkeit in jeder möglichen Gestalt hat die Kirche, bald in wahrem Eifer um das Seelenheil der Menschen, bald als Betatigung einer auBerlichen Pflicht, nie abgelassen. Wahrend die Aufklarung sich nunmehr im Gegensatz zum Christentum der Erde zuwandte, konnte sie sich dennoch nicht vor der tiefen moralischen Verderbnis der zeitgenössischen Welt verschlieBen und muBte dieselbe auch ihrerseits als eine wesentliche Bedrohung des menschlichen Heiles empfinden. Da sie gleichfalls den in allen Kreisen sich in verschiet denster Form offenbarenden sittlichen Verfall als die Folge der Vernachlassigung ihrer Grundsatze erklarte, predigte sie die Freiheit und die Aufklarung der Vernunft und versprach sich eine Zunahme der Menschheit an innerer Güte und an Sittenreinheit nach dem MaBe, daB die Einsicht in die auf natürlichen Gesetzen beruhenden sittlichen und sozialen Gesetze wuchs.*) Diese Einsicht vermag die Bedingungen zur Erlösung der Menschheit zu schaffen, welche die aufgeklarte Vernunft zu höhern Stufen der Glückseligkeit führen wird.2) Das alteste Christentum suchte die Erlösung in der Abtötung des Fleisches und in dem Verzicht auf das vernünftige Denken, sowie manche spatern weltabgewandten Sekten in der Abtötung des Fleisches und in dem Verzicht auf das verBetatigung der Vernunft, jedenfalls insofern ihre Ergebnisse der biblischen Uberlieferung widersprachen, in ganzlicher Ubergabe an den Geist Gottes, der sich einmal in Christus offenbarte. Die Aufklarung dagegen fand in einer rein menschlichen Freude an der, als herrliche Offenbarung von Gottes Güte und Allmacht gedachten Welt, die Erlösung der Menschheit in einem reinen Men schentum als die Folge der Beherrschung der menschlichen Natur ') Vergl. Agth. II Buch VI/3 Hp. 11/20. Goldsp. 1/4 Hp. XVIII/56; ebd 57, 59. Goldsp. II/10 Hp. XIX/97. Phil. Schr. Hp. XXXII/29. 2) Vergl. Agth. Buch XVI/4 Hp. III/223. Goldsp. Her./Les. Hp. XVIII 139 ff; 141. durch die Vernunft. Ausbildung der Vernunft und Erziehung sind demzufolge wesentlich dasselbe, so daB Wieland die Erziehung als Schöpferin der Sitten1) bezeichnen konnte als Ausdruck seiner Überzeugung, daB die Aufklarung zu moralischer Besserung führen soll.2) Es ist aber wohl zu beachten, daB Wieland, wenn er auch die Aufklarung der Vernunft, oder was in seinem Sinn nahezu dasselbe heiBt, die Erziehung als die Schöpferin der Sitten bezeichnet, damit dennoch nicht behaupten will, daB es möglich ware dem Menschen durch die Erziehung gleichsam wie durch eine auBere Macht eine ethische Lebensform beizubringen. Mit Rücksicht auf das Verhaltnis von Erziehung und Sitte gehen die Ansichten der aufgeklarten Denker aus einander, wobei man zwei Hauptrichtungen unterscheiden kann; eine Richtung, welche eine ursprünglich, zum mindesten amoralische, nur das eigne Wohl bezweckende, seelische Haltung und eine zweite, welche angeborene sittliche Ideen im Menschen voraussetzt. Für jene bedeutet Erziehung bloB das Beibringen einer vernünftigen Einsicht, die den Menschen dazu befahigen soll, Verhaltnisse zu schaffen, welche ihm einen möglichst hohen Grad des persönlichen Wohlbefindens mit Sicherheit gewahrleisten, wahrend diese unter Erziehung die Entwicklung der schon in der menschlichen Natur vorhandenen sittlichen Anlagen versteht. Es ist bemerkenswert, daB die wesentlich verschiedene Ansicht über die ursprüngliche Natur des Menschen mehr oder weniger mit den beiden Hauptströmungen der Aufklarung, dem Empirismus und dem Rationalismus, zusammenfallt. Der Empirismus, der die Wirklichkeit aus der vernünftigen Beobachtung des Tatsachlichen aufbauen will, wird zwar wissenschaftlich zu einem Bruch mit den kirchlich dogmatischen Anschauungen getrieben, aber durchaus nicht mit derselben Konsequenz im ethischen Denken; eine vorurteilslose Beobachtung der sozialen Realitat im menschlichen Verhaltnis wird bei dieser Denkrichtung die pessimistische Auffassung einer völligen Verderbnis der Natur des Menschen sogar eher bestatigen als verneinen. Der Rationalismus aber fand durch Descartes in der Vernunft den Ausgangspunkt einer deduktiven Bestimmung der Wirklichkeit in der Überzeugung, daB die Vernunft als Emanation der göttlichen Vernunft nicht zu tauschen vermöge, weder erkenntnistheoretisch noch ') Goldsp. H/3 Hp. XIX/40; 11/15 Hp. XIX/150. 2) Agth. III Buch XVI/4 Hp. 1111222. ethisch. Sie setzt jedoch eine strenge geistige Disziplin und eine daraus hervorgehende geistige Zucht der materiellen Begierden voraus.1) Geulinkx und Spinoza haben gezeigt, wie der strenge Rationalismus sich zu einer an die Mystik erinnernden Versunkenheit in Gott zu steigern versuchte. Die GröBten unter den Rationalisten, wie die eben Erwahnten, scheinen den GröBten unter den Mystikern, wie Eckart dadurch verwandt, daB eine überragende Kraft des Geistes und des Willens sie dazu befahigte und antrieb persönlich, ohne irgendwelche Vermittlung vermöge dessen, was sie als göttlich in sich zu erkennen glaubten, den Weg zu Gott zu suchen. Die Aufklarung hat aber in ihrem weitern Verlauf gezeigt, daB nur diejenigen, welche in der als Vernunft bezeichneten geistigen Eigenschaft die höchste Energie des Denkens wie der Moralitat verbanden, den Rationalismus in seinen tiefsten Ausdrucksformen als Religion erlebten. Sobald man in der Vernunft nur eine allgemein menschliche Veranlagung zur Einsicht in das Verhaltnis der Erscheinungen zu erblicken anfangt und damit die menschliche Glückseligkeit von der Ausbildung der Vernunft durch eine entsprechende Erziehung abhangig macht, hat die Aufklarung das Verstandnis für ihre tiefste Eigenart verloren. Descartes, die Systeme des Occasionalismus wie Spinoza haben in höchster Denkenergie den Rationalismus i r r a t i o n a 1 fundiert, weil die menschliche Vernunft als Emanation der göttlichen Vernunft als prinzipicll zum Irrtum unfahig betrachtet wird, wenn der Mensch als Trager derselben sie ungetrübt zu halten vermag. Diese Geisteshaltung entspricht der Spannung des Barockmenschen, der überhaupt dadurch charakterisiert wird, daB er seine Persönlichkeit in einer als Widersacher empfundenen Welt um jeden Preis zur absoluten Geltung zu bringen bestrebt ist; mit dem Unterschied, daB im Rationalismus als religiöse Form der Mensch die als sein Wesentliches empfundene Vernunft zur absoluten Herrschaft über eine innere Welt der Widerstande erheben will, damit zugleich in einer Hinwendung zum Ursprung aller Dinge die Welt überwindend. Die Lösung der Spannung zwischen dem Individuum und der Umwelt bedeutet der allmahliche Ubergang des „ Baroc k" in das „Rokoko", welche zwei Perioden die Aufklarung umfaBt. Für die Aufklarung war das Rokoko im GroBen und Ganzen eine ■) Vergl. Agathdm. 11/3 Hp. XXIII/38; V/3 Hp. XXIII/121. Arist. 1/41 Hp. XXV/186; U/26 Hp. XXVI/91. Lockerung des streng wissenschaftlichen Denkens; an die Stelle des gewaltigen geistigen Ringens des Einzelnen trat eine bequeme Mitteilung des Überlieferten an die Vielen, womit die starren Systeme des philosophischen Denkens einem Streben nach ciner Mitteilung der durch die vernünftige Besinnung eroberten Anschauungen in gefalliger, möglichst allgemein verstandlicher Form Platz machten. Die Vernunft verlor die irrationale Begründung in der göttlichen Vernunft und wurde, indem sie aufhörte über sich selbst hinaus auf das Ewige hinzuweisen, gleichsam zum Symbol der bürgerlichen Weltordnung. Der vernünftige Mensch ist der gute Mensch, oder vielmehr der gute Bürger, welcher der segensreichen Folgen des tugendhaften Handelns und der bösen Folgen des Lasters eingedenk, sich bewuBt der Tugend befleiBigt.1) Richardsons Tugendhelden und Heldinnen mit ihrer unendlichen Gefolgschaft, unter denen ein Jane Grey und Panthea in Wielands Jugendwerken, sind Idealbilder einer solchen bequemen Tugend, die ohne den geringsten Kampf den schwersten Versuchungen zu widerstehen vermag. Bürgerliche Tugendhaftigkeit ist aber noch etwas andres als Humanismus.2) Denn Humanismus deutet auf etwas Edles, Hohes, der Gattung Mensch Eigentümliches, das in reiner Offenbarung zwar keiner Periode angehört, als Ideal aber zu allen Zeiten über den Menschen hinausweist,3) ein Glaube an die Hoheit des Men*schen,4) der diesen, etwa in unbewufiter Berührung mit der christlichen Vorstellungswelt, gewissermaBen zum Tempel Gottes macht. Für die Begründer der rationalistischen Systeme ware der humanistische Mensch derjenige, der seine Vernunft als einen Abglanz der ewigen Vernunft empfand, indem im Ringen um Klarheit das göttliche Denken sich in möglichster Reinheit in dem seinigen zu offenbaren vermochte, so daB sein Denken, worauf es sich auch bezöge, am Ende ein „Denken des W ahren" ware. Auch die spatere Periode der Aufklarung verstand, daB die Vernunft als „Einsicht in die Verhaltnisse", niemals zum Humanismus in dem höchsten Sinne des Begriffes zu führen vermochte. Dazu ware erforderlich eine Einsicht in einen edeln und ewigen Besitz ') Vergl. Goldsp. 11/14 Hp. XIX/142. Goldsp. 11/11 Hp. XIX/112; 11/12 ebd. 128. 2) Vergl. Arist. 1/19 Hp. XXV/111, 112; II/9 Hp. XXVI/32. 3) Phil. Schr. Hp. XXXII/119. *) Vergl. Agathdm II/3 Hp. XXIII/37 ff. ebd. VII/7 Hp. XXÜI/242. der menschlichen Gattung, der aber gleichfalls ein irrationales Moment enthielt, das als ein solches nicht durch ein bloB vernünftiges Denken zu erfassen ware, und letzten Endes auf cinem Glauben beruhte. Für eine gröBere Masse kann dieses Edelste nicht der hohe Aufschwung der Vernunft bis zur Berührung mit dem göttlichen Denken sein, sondern vielmehr eine glaubige Empfindung, welche Wieland durch sein wiederholt ausgesprochenes Vertrauen auf die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur vertritt. Diese ist eine angeborene Humanitat, und wo sie fehlen sollte, was nach Wielands Uberzeugung nicht möglich ist,1) ware jede Erziehung vergebens.2) Sie soll darin bestehen, daB die angeborene Humanitat in Grundsatze verwandelt wird. Die Lösung der geistigen Spannung fallt auf. Anstatt eines in schwerem Ringen gewonnenen Glaubens an ein Göttliches in sich, bedeutet die Vernunft hier die Einsicht in eine ziemlich leichthin angenommene Humanitat als ursprüngliche Güte. An die Stelle der scharfen Analyse des menschlichen Denkens und Erkennens trat die Empfindung, oder vielmehr die empfindsame Seele. Die sich als Empfindsamkeit der Seele, ohne welche keine Nachstenliebe denkbar ist, offenbarende ursprüngliche Güte der menschlichen Natur laBt sich selbstverstandlich nicht einwandfrei dartun; wer sie poniert, spricht damit ein Glaubensbekenntnis mit Bezug auf den Menschen aus. Wieland beobachtete sie etwa bei sich selbst und ohne Zweifel in den Kreisen der Pietisten, bei denen eine Neigung zur Schwarmerei und Empfindelei nicht zu verkennen war, Indem er aber das tatsachliche Elend der groBen Masse, sowie die Verwirrung des sittlichen Empfindens seines Zeitalters auf sich wirken lieB, verstand Wieland recht gut, daB diese Güte nicht nur eine oft als Schwache zu deutende Eigenschaft vereinzelter sein dürfte, sondern ein wesentliches Gut der Menschheit, das, falls es die Hemmungen überwinden sollte, eine wirkliche Erlösung bringen würde. Auf rationellem Weg ist dieser Charakterzug des Menschen nicht nachzuweisen, aber Wieland glaubt das Vorhandensein desselben eben aus den obwaltenden Verhaltnissen gleichsam experimentell aufdecken zu können, namlich durch den Hinweis auf die Tatsache, daB eine so groBe Masse sich zu allen Zeiten von wenigen hat unterdrücken lassen.3) Dies sprache, ') Gespr. in Elysium III Hp. IX/156. ') Agth. II Buch V/1 Hp. 11/135. Goldsp. II/6 Hp. XIX/62 ff. 3) Goldsp. II/l Hp. XIX/29. nach Wielands Meinung überzeugend für die ursprüngliche Güte des menschlichen Geschlechtes und berechtigt zu der allgemeinen Annahme, daB unser Herz uns wider Willen unsrer Köpfe zu bessern Leuten mache.1) Es ist dieser Optimismus mit Rücksicht auf die angeborene Natur des Menschen, der die Aufklarung zu seinem Kampf um die Freiheit der Vernunft innerlich berechtigt. Es stehen so manches Überlieferte, so viele Wahnvorstellungen und solche Unmengen falscher Vorstellungen der freien Entwicklung des Edelsten im Menschen im Wege, daB es zu den ersten Rechten und Pflichten der Menschheit gehort, die Vernunft frei walten zu lassen, so daB überhaupt keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freibrief gegen die uneingeschrankteste Untersuchung gestattet wird. Es gebe kein andres Mittel die Masse der Irrtümer und schadlichen Tauschungen, die den menschlichen Verstand verfinstert, zu vermindern als eben dieses.2) Die Betatigung der Vernunft führt zur Wahrheit, welche die Erlösung bedeutet.3) Wieland kennt nicht die gewaltige Spannung des Denkens, in der die Vernunft in sich selbst zu einem übervernünftigen Ursprung emporsteigt, indem sie gleichsam zum Organ der göttlichen Vernunft wird. In der Popularisierung des Rationalismus wurde die Vernunft überhaupt zu dem zuweilen frechen und vorlauten, gesunden Menschenverstand. Demgegenüber steilte Wieland die Vernunft prinzipiell in korrelative Verbindung mit dem nicht vernünftigen Prinzip der ursprünglichen Güte der menschlichen Natur, wodurch er sich den Weg zu einer wesentlich religiösen Vertiefung seiner Anschauungen frei machte. Durch den Hinweis auf die angeborene Güte wird die Vernunft zugleich auf das eigne Seelenleben zurückgewiesen und wird in der Versenkung in sich selbst mit der Güte diejenige Schönheit und GesetzmaBigkeit finden, die sie in der Umwelt zu schauen vermag, sodaB der Mensch sich als Glied eines Ganzen zu ahnen anfangt und sich als vernünftiges Geschöpf, als Bürger der nach allerlei Gesetz regierten Stadt Gottes, erkennt, womit ihm die Pflicht auferlegt worden ist nach Vollkommenheit zu streben.4) Wieland entdeckt demnach das Göttliche in der sich im ') Goldsp. II/l Hp. XIX/18. 2) Phll. Schr. Hp. XXXII/196. 3) Göttergspr. 8 Hp. IX/65. «) Agth. III Buch XVI/3 Hp. III/213 ff. Weltall sowie in der mcnschlichcn Seelc offenbarenden Weish e i t und GesetzmaBigkeit. Der Weg zur Glückseligkeit führt durch deren vernünftige Erkenntnis und durch ein dieser Erkenntnis entsprechendes Handeln, wahrend die Gesinnung, welche dem Menschen diese Lebenshaltung als Pflicht vorschreibt, von Wieland dem Wortgebrauch seiner Zeit gemaB als T u g e n d bezeichnet wird. Die Erziehung zur Tugend durch die Aufklarung der Vernunft erkannte Wieland als den einzigen Weg zur notwendigen Erlösung des menschlichen Geschlechtes. II. TUGEND. Das Zeitalter der Aufklarung steilte die drei Begriffe, Vernunft, Tugend, Glückseligkeit.i) zu einer Kausalreihe zusammen, und vergaB, im fortwahrenden Kampf gegen den Aberglauben,2 dieses Wort in Bacons Sinn als Kollektivum aller falschen oder wenigstens ungeprüften Vorstellungen gefaBt, den eignen Prinzipien zuwider, die ursachliche Verbindung dieser Glieder auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen. Es laBt sich durchaus nicht einsehen, weshalb Vernunft zur Tugend führen sollte. Wie im vorhergehenden Kapitel erörtert, war für Descartes die Vernunft als das reine Denken, die Grundtatigkeit der menschlichen Seele. Allein, die Vernunft mag in diesem Sinne zu einer die Erkenntnis und die Ethik umfassenden Wahrheit führen, indem sich die menschliche Vernunft zum Organ der göttlichen Vernunft gestaltet; der Tugend in der üblichen relativen Bedeutung des Wortes ist diese seelische Haltung nicht gleichzusetzen. Die Ethik Descartes' und zumal diejenige Spinozas ist als eine fast mystische Versenkung in eine der Modi der Gottheit, geradezu als a m o r a 1 i s c h zu bezeichnen und als solche wie alle Mystik für verwandte Geister eine Offenbarung, für die Gesellschaftsformen der Menschheit, wenigstens direkt, unfruchtbar. Die Vernunft als Urteilskraft dagegen wird niemals zur Tugend im absoluten Sinne des Wortes führen, höchstens zu einer die Gesellschaftsbildung fördernden, auf Einsicht in die notwendige Einordnung in die Gesamtheit beruhenden, relativ ethischen Lebenshaltung, wofür das System Hobbes' den Beweis liefert.3) Wenn die Aufklarung auch wie Windelband festsetzt, die Tendenz den Mechanismus der Triebe auf die Vorstellungen zurückzuführen.der Cartesianischen Philosophie entlehnte, so hat sich dennoch ein wesentlicher Unterschied in der Auffassung vom Verhaltnis zwischen dem Denken und den Trieben herausgebildet. ') Agth. III Buch XIII/4 Hp. m/119. Agth. III Buch XVI/4 Hp. III/223. 2) Vergl. Goldsp. I Her./Les. Hp. XVin/139. 3) Vergl. Agth. III Buch XVI/4 Hp. IH/223; Goldsp. 11/10 Hp. XIX/100; 11/12 ebd. 128; 11/14 ebd. 142; 11/16 ebd. 162. Das Cartesianische Denken hebt den Trieb im Prinzip a u f, wahrend das Denken nach der Vorstellung der Aufklarung K 1 a rheit in die Triebe bringt. Klare Einsicht in die Triebe verbürgt aber keineswegs die schon von den Stoikern geforderte Beherrschung derselben; höchstens eine Auswahl, indem man die schadlichsten Triebe bekampft. Wenn man in diesem Sinne die Triebe der Führung der Vernunft unterstellt, so hat man ethisch betrachtet nur wenig gewonnen; der höchste Erfolg ware eine epikuristische Lebenshaltung mit ihren die Glückseligkeit einer unmittelbaren Umgebung zufallig fördernden Begleiterscheinungen, wie Wieland sie, wahrscheinlich unabsichtlich, im Lebenslauf seines Aristipp trefflich geschildert hat. Dennoch möchte Wieland, wenn er die Vernunft als Grundlage der menschlichen Glückseligkeit annimmt, dem mathematischen Denken der Aufklarung gemaB, das Zufallige ausschlieBen. Weil für ihn nicht, wie für Descartes oder Spinoza die Vernunft ihren Zweck in sich selbst hat, sondern vielmehr Einsicht, Urteilskraft heiBt, so ist es notwendig, daB die Vernunft bei der Zergliederung der Triebe auf einen bei jedem vorhandenen, die Glückseligkeit der gesamten Menschheit fördernden Grundtrieb trifft. Dieser ist eben die von ihm als unzweifelhafte Tatsache vorausgesetzte ursprüngliche Güte der menschlichen Natur, in deren Annahme er mit Rousseau zusammentrifft und die er wie jener bei der nicht von der stadtischen Kultur berührten landlichen Bevölkerung zu finden glaubt.1) Übrigens deckt sich die Annahme der Güte der menschlichen Natur vollstandig mit der allgemein von Leibniz übernommenen These der besten der möglichen Weiten, denn wenn Gott diese Welt ungeachtet ihrer augenfalligen Mangel in seiner Güte als die bestmögliche geschaffen hat, so kann man daraus mit Recht die SchluBfolgerung ziehen, daB auch der Mensch als vernünftiges Geschöpf in seinem innersten Wesen „Güte", ist. Dieser Glaube aber schlieBt ebensowenig bei Wieland wie bei den sonstigen Aufklarern den Kampf um die Freiheit des Denkens aus, wenn auch bloB infolge der Erwagung, daB die Besinnung auf sich selbst eine in der Freiheit des Denkens geübte Geisteskraft voraussetzt.2) Im Einklang mit seinem Zeitalter betrachtet denn auch Wieland das selbstandige Urteil als das notwendige ') Goldsp. I Cap. 3/4 II Cap. 5. Danm. Cap. 1. Hp. XX/17. 2) Gebrauch der Vernunft1 in Glaubenssachen. Mittel, die Menschheit auf dem Weg zur höhern Vollkommenheit weiter zu führen, sodaB bei ihm, wie bei Lessing und Voltaire die Spitze des Kampfes sich richtet gegen die vorzugsweise als Priesterschaft bezeichnete bildungsfeindliche Macht einer konservativen Orthodoxie.1) Gegen diese wendet er sich auch, wenn er die Ansicht ausspricht, daB nicht die Gegenstande, sondern unsre Meinungen von denselben die Ursache unordentlicher Leidenschaften sind.2) In dieser These, welche an sich den Kampf um die Denkfreiheit rechtfertigen würde, ist richtiges Denken und richtiges Handeln in engste Verbindung gebracht, ohne daB hier, wie sonst, nur einen Augenblick die Möglichkeit erwogen wird, mit Ausschaltung des Tugendbegriffes das ethische Prinzip in die Vernunft selbst zu verlegen. Dieser von Wieland wie in der gesamten Aufklarungsliteratur zwischen Vernunft und Glückseligkeit immer wieder eingeschaltete Tugendbegriff führt bei ihm zu einer manchmal verwirrenden Einführung von Prinzipien, welche die auch seinerseits gern betonte kausale Reihenfolge Vernunft, Tugend, Glückseligkeit nur zu einer Fiktion machen. Wenn Wieland überdies davon überzeugt ist, daB jede Erziehung ohne die angeborene Humanitat vergeblich ware,3) so soll für ihn die Erziehung nicht an erster Stelle die Bildung der Vernunft, sondern C h a r a kterbildung sein, wobei es sich nicht zunachst um die Ausbildung des vernünftigen Denkens handelt. Sittliches Handeln im praktischen Leben erscheint nicht als eine Folge des vernünftigen Uberlegens; vielmehr ist es der Ausdruck einer durch die Gewohnheit und Ausübung zum Habitus gewordenen ethischen Le~ benshaltung. In der Jugend wird dieser Habitus weniger durch die vernünftige Belehrung als durch das Beispiel andrer entwickelt,4) wobei das in den vorliegenden Lebensverhaltnissen als sittlich Anerkannte stillschweigend als Norm betrachtet wird. Wieland ist allerdings in soweit Rationalist, daB Erziehung für ihn theoretisch an erster Stelle das Beibringen einer vernünftigen Einsicht in die Affekte, in der Absicht den Affekt der Vernunft unterzuordnen, bedeutet.5) Seine innere Überzeugung aber, daB im Wesen des Menschen der Keim zur Humanitat vorhanden sei, ') Agathdm. 1/4 Hp. XXIII/27; Agathdm. IV/2 Hp. XXIII/98. Per Prot. IV Hp. XXI/152. ') Abd. 1/10 Hp. VII/57. 3) Goldsp. II/6 Hp. XIX/62 ff. *) Vergl. Agth. III Buch XVI/1 Hp. III/192. ») Vergl. Phil. Sehr. Hp. XXXII/252; Per. Prot. Hp. XXI/65. 4 der sich vor allem in geeignetcr Umgebung ungestört entwickeln soll,1) gewahren sowohl Locke als Rousseau, die sich in der Ansicht, daB bei der Erziehung eines Kindes die Charakterbildung der Vernunftbildung voranzugehen hat, berühren, groBen EinfluB auf sein padagogisches Denken. Wie Rousseaus Emil so zu sagen das Prototyp des zu erziehenden normalen Menschen d a r s t e 111, ist Wielands Tifan das Prototyp eines nach den Idealen der Aufklarung zum wahren Menschen zu erziehenden F ü r s t e n. Die erste Handlung des Fürstenerziehers ist wie die von Emils Mentor, daB er den Zögling in eine Gegend führt, wo er den verderblichen Einflüssen der Umgebung, in der er geboren ist, nicht ausgesetzt ist. Die ersten Keime der Humanitat sollen sich demnach nicht zunachst durch die Ausbildung der denkenden Vernunft entwickeln, was Wielands in den allgemeinen Ideen der Aufklarung wurzelnder Theorie entsprechen würde, sondern durch den unbewuBt wirkenden EinfluB von rein menschlichen Verhaltnissen.2) Solche werden nach dem allgemeinen Glauben, zu dem sich auch Wieland bekennt, besonders unter denen gefunden, welche weit von den Stadten wohnen und somit von den verderblichen Einflüssen des die egoistischen Triebe fördernden Luxus unberührt bleiben. Dieser Glaube muB folgerichtig zu der Ansicht führen, daB das Bedürfnis einer Erziehung zur Tugend mit der gröBern Annaherung an die Natur abnahme. Zu dieser Konsequenz wird Wieland, vielleicht wider Willen, gedrangt, denn in begeisterten, ohne Zweifel von Rousseaus Naturevangelium angeregten Schilderungen der landlichen Unschuld gelangt er dahin, Tugend und Vernunft vollstandig zu trennen, indem die Tugend als dem in direktem Kontakt mit der Natur lebenden Menschen immanent dargestellt wird3), welche Tugend schon durch die praktische Abwesenheit des entgegengesetzten Prinzips mit gröBerm Rechte als unerprobte Unschuld zu betrachten ware.4) Dennoch führt Wielands Glaube an die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur, in welcher ebengenannte als Unschuld sich zeigende Tugend wurzeln soll, ihn zu der Annahme, daB diese allgemein menschliche Veranlagung den Menschen gleichfalls im tatigen Leben ohne ') Vergl. Agth. III Buch XII/9 Hp. 111/77. *) Goldsp. 1/6 Hp. XVIII/80; Oanm. Cap. 1 Hp. XX/17; Cap. 2 ebd. 18. 3) Danm. Cap. 1 Hp. XX/16; Goldsp. II/5 Hp. XIX/57. *) Danm. Cap. 50 Hp. XX/212. tiefere vernünftige Besinnung auf sein Handeln, mit einer Art innerer GesetzmaBigkeit das VernunftgemaBe und somit das ethisch Richtige ergreifen laBt. Eben infolge der angeborenen Güte wird dann der allgeraeine Menschensinn zur Grundlage der Tugend. In solcher Verbindung hebt Wieland richtig hervor, daB dieser allgemeine Menschensinn das am wenigsten trügliche „Gefühl" des Wahren und Guten ware,1) oder er redet von einem bloBen Anteil des gemeinen Menschenverstandes, der zu ahnlichen Ergebnissen wie die vernünftige Einsicht der aufgeklarten Köpfe, gelangen dürfte.2) Anstatt von der vernünftigen Einsicht ist demnach die Rede von Gefühlen, von Trieben. Bekanntlich war besonders dem jungen Wieland eine gewiB durch die Erziehung in pietistischen Kreisen bestarkte Neigung zur Empfindsamkeit, sogar zur Schwarmerei, eigen. Durch die Berührung mit ursprünglich aus dem englischen Denken hervorgehenden, in gewisser Hinsicht die Empfindung als Fundament des Ethischen darstellenden Strömungen, welche durch Rousseaus nachdrückliche Betonung der Prioritat des tief innerlichen Fühlens machtig gefördert wurden, gelangte Wieland dahin in dem seelischen Enthusiasmus eine Kraft zu erkennen, die zur Tugend führt. Er entfernt sich dadurch weit von dem rein rationalistischen Denken, wenn er Affekte und Leidenschaften als die ursprünglichen Triebfedern des menschlichen Handelns begriffen wissen will,3) und die Ansicht ausspricht, daB die Menschheit alles, was noch an Vernunft, Tugend und Freiheit auf der Welt ist, den Enthusiasten verdanke, die ohne irgendwelche Nebenabsicht das Gute tun.4) Wer als ethischer Denker auf diese Weise die Prioritat der Empfindung poniert, kann zum Ergebnis gelangen, daB die Tugend weniger von der Vernunft als von einem intuitiven Ergreifen des Sittlichen abhangig ware. Da Wieland jedoch zu sehr Rationalist war, um auf diese Weise den Erkenntniswert der Vernunft auf eine niedrigere Stufe herabzudrücken, sucht er eine Art Aussöhnung zwischen der Empfindung und der Vernunft als Voraussetzung der Tugend herbeizuführen, und zwar derart, daB am Ende die Vernunft wiederum als die höhere Instanz erscheint. In dieser Bevorzugung der Vernunft erkennen wir den EinfluB ') Aflth. III Buch XIII/4 Hp. III/119. 2) Göttergespr. 10 Hp. IX/80. 3) Agathdm. II/l Hp. XXIII/33. *) Darnn. Cap. 14 Hp. XX/65. der Aufklarung auf Wielands Denken. Mit ihr betrachtet er dieselbe als diejenige Geisteskraft, welche den Menschen von allen andern Geschöpfen unterscheidet, sodaB er die Überzeugung teilt, daB nur die Ausbildung der vernünftigen Einsicht eine durch Überlieferung und Autoritatsglauben gebundene Menschheit zu erlösen vermag, indem sie dadurch zu einer höhern Stufe der Humanitat erzogen wird. Wenn er also die Affekte und Leidenschaften als treibende Krafte anerkennt, sogar für unentbehrlich halt, so ist es unter der gewiB richtigen Einschrankung, daB die Vernunft dieselben lenken soll.1) Unter dieser Bedingung wird aber die „Verbindung von Kopf und Herz," wie Wieland es wohl ausdrückt, die einzige Gewahr der Tugend.2) Im Gegensatz zu Locke und Rousseau bleibt also die Ausbildung der Vernunft für Wieland die Hauptaufgabe der Erziehung, was die soziale Tendenz seines padagogischen Denkens mit zur Folge hat. Bei den erstgenannten ist die Erziehung individuell orientiert. Locke schildert bloB diejenige eines jungen „Gentlema n", bei dem es vor allem gilt den Charakter im Einklang mit dem Geist und den Auffassungen der gesellschaftlichen Kreise, zu denen er gehort, auszubilden. Infolgedessen kommt der wissenschaftliche Unterricht erst an letzter Stelle, denn als die vornehmste Aufgabe erscheint das Beibringen von jenen auBern Fertigkeiten,welche sein Stand von ihm fordert. Rousseaus Zögling soll zwar nicht zit einem bestimmten Stand erzogen werden, sondern zu einem Menschen, der innerhalb einer verderbten Kulturwelt, dem Ideal des Naturmenschen möglichst nahe kommt. Er soll als selbstandiger Mensch von den auBern Zufalligkeiten des Lebens möglichst unabhangig werden. Indem er dadurch in allen Lebenslagen im stande ware, sich zu behaupten, ware er gewappnet gegen die Verlockungen einer Kultur, die sich nach Rousseaus Überzeugung am verderblichsten in dem durch die Angst wegen der persönlichen Sicherheit veranlaBten Trieb nach Luxus auBert. Von einem bewuBten Streben sich einer leidenden Menschheit anzunehmen ist bei Emil nicht die Rede, das Ergebnis seiner naturgemaBen Erziehung ist bloB, daB er sich durch die natürliche Güte seines Herzens zu den Menschen hingezogen fühlen wird, und wo nötig, infolge eines natürlichen Gerechtigkeitsgefühls den Schwachen voi den Übergriffen eines Starkeren zu schützen versuchen wird. ') Danm. Cap. 14 Hp. XX/65. 2) Agth. III Buch XVI/1 Hp. III/194; Vergl. Goldsp. II/5 Hp. XIX/60 ff; Danm. Cap. 14 Hp. XX/66. Der wesentliche Unterschied zwischen Rousseau und Lockc einerseits und Wieland andrerseits liegt, was ihr padagogisches Denken betrifft in dem Umstand, daB die beiden erstgenannten das Individuum zum Mittelpunkt ihrer Erziehung machen, wahrend Wieland immer das Individuum und die Gemeinschaft in ihrer gegenseitigen Beeinflussung berücksichtigt.1) Demzufolge hat bei ihm die Tugend weniger einen rein persönlichen als einen vorzugsweisen sozialen Akzent2) womit natürlich keineswegs behauptet sein soll, daB dieser soziale Akzent bei Locke oder gar bei Rousseau vermiBt wird. Ohne Zweifel tritt der soziale Akzent aber bei Wieland neben dem durchaus nicht fehlenden persönlichen3) von vornherein mehr in den Vordergrund. Wieland verbindet Tugend kausal mit jener als Glückseligkeit bezeichneten Form der irdischen Erlösung. Den ersten Schritt dahin bildet die Empfindung des persönlichen Wohlbefindens, obwohl dieselbe an und für sich mit Tugend nichts gemein hat. In Ubereinstimmung mit der Naturbetrachtung seines Zeitalters ist Wieland jedoch, hierin mit Rousseau zusammentreffend, davon überzeugt, daB der Wunderbau des menschlichen Körpers nur einen solchen Zustand des Wohlbefindens, oder wie er sich ausdrückt, des „V ergnügen s", beabsichtigen kann. Zu der Vollkommenheit dieser menschlichen Natur gehore vor allem, daB sein Gehirn ihm den richtigen Weg zeige, wie der von der Natur gewollte Zustand zu verwirklichen ware.4) Das tatsachlich im normalen Menschen waltende Prinzip der Selbsterhaltung hat Wieland wahrscheinlich als eine Art intuitive Wirkung der Vernunft betrachtet. Es ware die Aufgabe einer den natürlichen Verhaltnissen zunachst stehenden Gesellschaftsform, die Wieland sich als eine nach patriarchalischen Grundsatzen geleitete Kolonie denkt, eine solche Intuition zum vernünftig ethischen als von der Gottheit gegebenen Gesetz zu erheben.5) Mit Hobbes urteilt Wieland, daB die Vernunft die Grundlage jeder Gesellschaft sei; aber infolge der Verbindung mit der natürlichen Güte des Menschen gewinnt der Begriff Tugend, die bei Hobbes nur die vernünftige Einsicht in die das persönliche Interesse am besten fördernde Staats- ') Vergl. Agth. III Buch XVI/4 Hp. III/222. 2) Vergl. Goldsp. II/9 Hp. XIX/96; Arist. IX/2 Hp. XXIII/159. 3) Vergl. Agth. II Buch VIII Hp. 11/71; Agth. UI Buch XII Hp. 111/92. *) Goldsp. 1/4 Hp. XVIII/60. s) Goldsp. 1/4 Hp. XVHI/59 ff. form bedeutet, bei Wieland eine Farbung reiner Humanitat. Die vernünftige Einsicht in die Elemente, welche eine Gesellschaft bilden, betrachtet auch Wieland für das einer Gesellschaft angehörige Individuum als eine Form der Tugend, aber mit dem Verstande, daB sie die notwendige Grundbedingung zur Förderung der allgemeinen Glückseligkeit darstellt, welche die einzige Grundlage der individuellen abgeben darf. Die Korrelation aber zwischen der Gesellschaft und dem Individuum zwingt die Vernunft sich mit dem Individuum als Trager derselben zu befassen, bei dem sie an erster Stelle als eine Art die Affekte kontrollierendes Prinzip auftritt. Nach auBen hin wirkt sie derart, daB sie, den Affekten gegenüber, welche den Menschen aufzurütteln und anzutreiben vermogen,1) ihn vor einer unbestimmten Schwarmerei schützt, so daB der Mensch, wofern er den tatigen Beruf in sich fühlen sollte zur Verbesserung der menschlichen Verhaltnisse, jener unumganglichen Vorbedingung zu höhern Formen der Humanitat, zu arbeiten, dabei die Notwendigkeit gründlicher Kenntnisse und Geschicklichkeiten einsieht, damit er die seelischen Krafte nicht in leerer Tandelei vergeude. Nach innen gerichtet soll die Vernunft hinwiederum mit unerbittlicher Strenge den Ursprung auch des auf den ersten Bliek als höchste Tugend sich darstellenden Affekts aufzuspüren suchen,2) denn der französische Materialismus hat Wielands Auge geöffnet für den entscheidenden EinfluB, welchen physische Zustande auf das Psychische zu üben vermogen.3) Durch diese Förderung aber macht er den sittlichen Wert einer Handlung von der Gesinnung abhangig, hierin mit dem Christentum zusammentreffend. Reine Tugend kann nur aus dem Ringen um die sittlich reine Gesinnung geboren werden,4) wobei die sich in das innere Leben des Menschen versenkende Vernunft ihm die eigne Seele offenbart, auf diese Weise zur höchsten Erkenntnis, namlich zur Selbsterkenntnis5) führend. Diese Versenkung in sich selbst soll den Menschen dahin bringen, sein Wesen, seine Idee zu ergründen zu suchen, wodurch er ') Agth. II Buch IX/4 Hp. 11/101; ebd. Cap. 5 Hp. 11/109. 2) Agth. II Buch VII/4 Hp. 11/22. Agth. III Buch XII/9 Hp. 1111177; ebd. XII/11 91, 94. 3) Vergl. Agth. II Buch X/3 Hp. 11/144. «) Vergl. Danm. XXIV Hp. XX/179, 205. ») Agth. UI Buch XVI/3 Hp. III/216. seinen Zusammenhang mit der Welt der Ideen*) empfindet, welche nach platonischen Vorstellungen die absolute Schönheit und Güte bedeutet. Das Streben, die eigne Idee zu erkennen ist nicht nur ein analysierendes sich Versenken in die Tiefen des Seelenlebens, sondern drangt gleichzeitig zu der Offenbarung dieser Idee in der Erscheinung. Nach dem MaBe, in dem es dem Menschen gelingt in seinem Leben die Idee zu verwirklichen, erhebt er sich zur sittlichen Freiheit,2) die ihn, weil sie ihn die Erfüllung seines Wesens in sich selbst zu finden lehrt, unabhangig von den niedern Begierden macht, wahrend er, weil die eigne Idee zu gleicher Zeit der Idee „Mensch" entspricht, auf diesem Wege der Welt die Würde des Menschen überhaupt zu offenbaren vermag. Damit wird die vernünftige Arbeit an der Ausbildung der eignen Person zur höchsten Tugend, wie Wieland sich einen Menschen, dem es in energischer Selbstbildung gelungen ware, die menschliche Erscheinung in der höchsten Vollendung darzustellen, als einen Erlöser der Menschheit, dessen Gestalt nach seiner Ansicht dem gewöhnlichen Menschen, wie die eines Gottes erscheinen soll, denken kann.3) Die Rolle, welche die Vernunft in der Entwicklung der Menschheit nach Wielands Ansichten spielen soll, wird durch seine Heranziehung von auBervernünftigen Faktoren ziemlich verwickelt. Wir bemerkten schon, daB er mit Vorliebe die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur als einen entscheidenden Faktor hervorhebt. Soweit er die Vernunft, nach der Auffassung der spatern, durch die englische und die materialistisch orientierte französische Philosophie beeinfluBten Aufklarung, als bloBe „Einsicht", oft als identisch mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet, ist diese Herzensgiite einerseits eine Gewahr dafür, daB das für die Gesamtheit als richtig Erkannte auch verwirklicht wird, andrerseits bedeutet die Vernunft eine Art Kontrolle der Regungen des Herzens, daB sie nicht zu unvernünftigen Handlungen veranlassen. In dem am klassischen Denken geschulten Wieland ist aber diese „angeborene Güte" eine Verbindung mit der platonischen und neuplatonischen Idee der Kalokagathia4) eingegangen, wodurch die Idee der natürlichen Güte zum Ausdruck der Idee des ') Agth. III Buch XII/11 Hp. 111/94; ebd. XVI/3 Hp. III/213, 214 ff. 2) Agth. III Buch XII/11 Hp. III/92. Per. Prot. Hp. XXI/45. 3) Agathdm. 1/4 Hp. XXIII/19 ff. Per. Prot. II/6 Hp. XXI/65, 88. *) Vergl. Agth. II Buch VIII/4 Hp. 11/21. Menschen wurdc, wclchc der Mensch in seiner Vernunft und durch dieselbe erkennt. In diesem Sinne kann auch für Wieland die höchste Entfaltung der Vernunft zur höchsten Form der Tugend werden, jedoch nicht als eine Abspiegelung der göttlichen Vernunft, des göttlichen Denkens, sondern als die Emanation dei platonischen Ideenwelt, deren Wesen Schönheit und Güte ist. Wahrend für Denker wie Descartes und Spinoza der Begriff der Tugend rationalistisch bedingt ist, haben Wielands Tugendbetrachtungen, insofern er sie in seinen Werken philosophisch fundiert, vorzugsweise einen asthetischen Charakter. Somit trifft Wieland zusammen mit der von Shaftesbury unter dem EinfluB der Antike erneuerten, der westeuropaischen Kultur zugeführten asthetischen Auffassung der Tugend. Auf diese Weise berühren sich aus der Lektüre Platos gewonnene Anschauungen mit einer, von Shaftesbury aus, sich durch die westeuropaische Kultur verbreitenden asthetisch ethischen Geistesströmung, Für Wieland aber bedeutet dies das psychologische Moment, sein Bedürfnis nach einem gesteigerten Empfindungsleben, das sonst in der Sphare der Aufklarung zu verkümmern drohte, zu befriedigen. Die seelische, sich in pietistischen Kreisen öfters als eine schwarmerische Verehrung J e s u auBernde Empfindsamkeit, verbunden mit einer von den AuBenstehenden nicht selten als Liebelei verspöttelten, gegenseitigen Liebe unter den Angehörigen der Brüdergemeinden, offenbarte sich in dem jungen Wieland als eine unduldsame Schwarmerei für das Ideal der christlichen Tugend. Nachdem sich sein Geist durch intensives Erleben der groBen Aufklarungsideen von der orthodoxen Richtung des Christentums endgültig abgewandt hatte, hatte sich seine angeborene, im Verkehr mit den pietistischen Kreisen verstarkte Neigung zur Belehrung zu einem bewuBten Streben zur Popularisierung des aufgeklarten Denkens und zur ethischen Erziehung des menschlichen Geschlechtes umgebildet, wobei die empfindsame Seite seiner Seele dem vernünftigen Denken gegenüber eine gewisse Entschadigung in dem gern übernommenen Glauben an jene ursprüngliche Güte des Menschen fand. Unbefrisdigt blieb aber die in pietistischen Kreisen als Höchstes erlebte liebevolle Hingabe an Jesu, wobei dieser als Brautigam der Seele erscheint und in aufgelöster Empfindung alles vernünftige Denken aufhört. Dieses auch in Wieland waltende Liebesbedürfnis, dessen möglicher ErguB auf Jesu durch die Vorherrschaft seines rationalen Denkens behindert wurde, verwandelte sich infolge der Versenkung in platonische Vorstel- lungen zu einer rcincn Licbc zum Schonen und Gutcn, die besonders, wenn eine natürliche und angeborene Richtung der Seele daraufhin angenommen wird, jedes ausschlieBlich vernünftige Element ausschaltet. Wir können in dieser Beziehung in Wieland eine Parallele zu den christlichen Anschauungen über das Ve»hëltnis der menschlichen Seele zur göttlichen Gnade beobachten. Das Christentum weiB, daB es Menschen gibt, welche die Heilswahrheiten, in denen die Gnade Gottes dem sündigen Menschengeschlecht, sowie dem individuellen Sünder verheiBen wird, erst nach schwerem Ringen mit widerstrebenden Elementen ihres seelischen wie geistigen Lebens annehmen können, Menschen, denen das Evangelium ein zu bewaltigendes Problem ist. Diesen gegenüber trifft man gleichfalls auf Naturen, für welche das Evangelium gleichsam ein selbstverstandlicher Ausdruck der persönlichen, vertrauensvollen Hingabe an die Gottheit ist. Es sind solche, die sich mit einer religiösen Innigkeit der Seele der Gottheit zuwenden. In pietistischen Kreisen, welche anstatt Gott die Gestalt Christi in den Mittelpunkt der Verehrung steilten, sind es diejenigen, welche ohne innern Kampf die Vereinigung der Seele mit Jesu, als ,,der Seele Brautigam" erleben und infolgedessen auch innerhalb der Brüdergemeinde ohne Kampf als reine Offenbarung christlicher Gesinnung gelten können, Naturen, wie sie Wieland unter den Pietisten ohne Zweifel kennen lernte. Für den Aufklarer Wieland ist die Tugend diejenige Gesinnung, welche die Erlösung der Menschheit zu einer die reine Humanitat darstellenden Lebensform herbeizuführen vermag. Die Tugend erscheint aber dem einen Menschen als Problem, die Erfüllung ihrer Gesetze als Kampf der Vernunft mit den Trieben, der Pflicht mit den Neigungen, ja sogar als ein Kampf von sich widersprechenden Pflichten.i) dem andern jedoch als eine natürliche Richtung des Geistes,2) was Wieland leicht an die im Pietismus erlebte selbstverstandliche Darstellung der christlichen Tugend erinnern dürfte. Wenn er nun zu der Definition der Tugend als,,reine Liebe zu allem Schonen und G u t e n" gelangt war, so ist es bloB konsequent, daB er in der Erscheinung der „Schonen Seel e", welcher die Natur die Lineamente der Tugend eingezeichnet hat, und welche sie mit der zartesten Empfindlichkeit für das schone und Gute begabt hat, ') Vergl. Arist. II/9 Hp. XXVI/33; ebd. 44 Hp. XXVI/160; Krates und Hipp. Brief 18. Hp. X/126. 2) Vergl. Agth. III Buch XIII/6 Hp. III/132; Damn. Cap. 14 Hp. XX/67. so daB sic mit angcborencr Leichtigkeit jcde gesellschaftliche Tugend auszuüben imstande ist,*) den höchsten, oder jedenfalls begnadetsten Zustand der Seele, den er sich in pietistischer Gesinnung vorstellen konnte, auf seine ethischen Anschauungen übertrug. Bei der Umschreibung der „Schonen Seele als einer seelischen Beschaffenheit, welche dem Menschen jede gesellschaftliche Tugend mit Leichtigkeit zu erfüllen gestattet, scheint Wieland an erster Stelle zu denken an die mühelose Erfüllung der Alltagspflichten. Wieland dürfte bei dieser Formulierung des Begriffes an ahnliche Erscheinungen, die alle religiösen Gemeinschaften aufweisen, wie er sie in pietistischen Kreisen wohl öfters erblickte, gedacht haben, und zwar an diejenigen, die kraft angeborener Frömmigkeit, ihre religiösen und kirchlichen Pflichten nach jeder Richtung hin mit selbstverstandlicher Leichtigkeit ausüben. Genau erwogen ist nach der von Wieland gegebenen Definition bei dem von ihm als „Schone Seele" bezeichneten Menschen die Tugend kein streng ethischer Begriff mehr. Irgend ein vorhergehender Kampf oder eine bewuBte Gesinnung, welche Schiller in der Anwendung desselben Begriffes voraussetzt, liegt bei Wieland durchaus nicht vor, so daB es am Ende den Eindruck macht, als ware die „Schone Seele", nur derjenige Mensch, bei dem unter günstigen Verhaltnissen — Wieland redet unbewuBt immer von (Jer Voraussetzung einer gebildeten, wohlsituierten Mittelklasse aus —■ die angeborene menschliche Güte dauernd zum Durchbruch gekommen ist, welche ihn lehrt, in den kleinern Widerhelligkeiten des Alltagslebens soviel wie möglich nach Ausgleich und Versöhnung zu streben; eine gefallige Gesinnung, die, insofern sie in wirklicher Herzensgüte ihren Ursprung hat, oft mit Tugend in ethischem Sinne verwechselt wird. In den Schriften seiner eignen vorrationalistischen Periode decken sich daher die Begriffe „T u g e n d und „Schone Seele" derart, daB die Tugend in denselben in einem solchen Umfang als ein irrationaler Faktor auftritt, daB die Trager derselben, wie ein „Cyrus", bloB als leuchtende Vorbilder dargestellt werden können, jedoch eine Erziehung zur Tugend, wie sie Wieland mit seinen Schweizer Zöglingen beabsichtigte, eigentlich von vornherein ausgeschlossen war, weil das zu Erreichende als im Schüler schon fertig vorhanden, dargestellt wird.2) i) Agth. III Buch XIII/6 Hp. III/132. ») Goldsp. II/9 Hp. XIX/94; Uil Hp. XIX/17. Wieland scheint sich in jener Zeit, wie sein Roman „Cyrus" beweist, die höchste Offenbarung der „Schonen Seele", nur in der Gestalt der schwarmerisch verehrten Frau denken zu können, wobei die durch eigne Verehrung hervorgerufene ehrfurchtsvolle Scheu auf die Frau als eine überragende natürliche Tugend, infolge deren sie sich mühelos über jede, geschweige über die sinnliche Leidenschaft, erhebt, übertragen wird. Im Verlauf seiner Entwicklung erhalt für Wieland der Begriff der „Schonen Seele" eine andre Schattierung, sie wird eine paralIele Erscheinung zu jener von Wieland in jedem Menschen anwesend gedachten Empfindsamkeit der Seele, ohne welche die Erziehung zur Tugend nicht möglich ware.1) Wir sollen dabei, wenn wir einen Vergleich mit weniger Bevorzugten anstellen, nicht sowohl an einen W e s e n s- als an einen G r a d unterschied denken, wobei nach Wielands Ansicht die angeborene Empfindsamkeit solcher Menschen, die er als „Schone Seelen" bezeichnen würde, sich bis zu einer solchen Höhe entwickelt hatte, daB sie als geborene Leiter der Menschheit zu humanistischer Vollendung gelten dürften. Natürlich sollen auch sie zu der Stellung, zu der sie kraft ihrer Anlage berufen scheinen, erzogen werden; aber die glanzenden Erfolge einer derartigen Erziehung soll man nicht zunachst auf den Erzieher zurückführen, sondern auf die seelische Beschaffenheit, durch welche jede Tugend, jede Fahigkeit, deren edler Gebrauch den groBen Mann macht, sich bei der kleinsten Veranlassung entwickelt.2) Von der Allmacht der Erziehung ist Wieland nur unter der Bedingung überzeugt, daB die seelische Empfindsamkeit vorhanden ist, so daB die Erziehung zur Tugend bloB auf der Grundlage der vernünftigen Einsicht, seiner Meinung nach geringen Erfolg haben dürfte. Wenn demnach Friedrich der GroBe glaubte von dem Menschen machen zu können, was ihm beliebte, bei welcher Ansicht etwa eher an Tugend in der etymologischen Bedeutung des Wortes als an den weitern humanistischen und kosmopolitischen Sinn, den die Aufklarung diesem Begriff beimaB, zu denken ist, so würde Wieland Friedrichs Ausspruch, falls er sich auf den Geist der eignen Schriften besinnen sollte, kaum beistimmen können. Das Heil, das er für die gesamte Menschheit von der Erziehung erwartet, beruht auf der optimistischen Uberzeugung, daB ') Goldsp. II/l HP. XIX/13. 2) Goldsp. II/9 Hp. XIX/83. die Anlage zur Tugend in allen da ist,1) so daB er den Menschen nicht zu dem, was er will, erziehen kann; vielmehr zu dem, was der Mensch wesentlich schon ist, indem die latente Tugend in bewuBt tatige Kraft umgesetzt wird. Nach Wieland ist demnach ein tugendhafter Mensch derjenige, dessen Gesinnung und Handeln seinem Wesen, das er durch die vernünftige Besinnung auf sich selbst erkannt hat, gemaB ist; und da diese Wesensform der „Idee Mensch" entspricht, so ist für Wieland die Erziehung zur Tugend gleichbedeutend mit der Erziehung zur Humanitat. Demzufolge kann der Begriff für Wieland keineswegs individuell oder national, — was in gewisser Hinsicht dasselbe heiBt — beschrankt sein, sondern derselbe umfaBt immer eine sich auf die gesamte Menschheit ausdehnende Gesinnung. Die Tugend erscheint aber in Wielands Schriften in einer fast standigen Verbindung mit der ,,G lückseligkeit , ein Wort, das einen von uns zunachst als individuell emptundenen Zustand andeutet. Diese Glückseligkeit wird nicht nur als eine Folge oder eine Begleiterscheinung der Tugend gedacht, sondern auch als ein durch eine tugendhafte Gesinnung zu erstrebendes Z i e 1.2) In solcher Lebensauffassung wird die Tugend zu einem weisen und vorsichtigen Gebrauch der körperlichen und geistigen Krafte, durch den jede Gegenwart als ein Zustand zufriedenen Behagens anmutet,3) und die vernünftige Einsicht in die dem Wohl angemessene Lebensform zu wirklicher Weisheit wird, in der Erkenntnis, daB böse Erinnerungen unser Behagen storen, welche Erkenntnis «—< im Grunde ein verfeinerter Egoismus die Vermeidung des Lasters zur Folge haben wird. Wenn man diese Lebenshaltung als tugendhaft zu empfinden vermag, so verdankt sie dies nicht zuletzt jener sicher feinsten Konsequenz. die sich aus der Sehnsucht nach einem behaglichen GenuB des Daseins ziehen laBt; aus welchem Umstand die psychologisch leicht verstandliche Wendung des Verhaltnisses dahin stattfindet, daB die Glückseligkeit als die gebührende Belohnung dessen, der dem Laster flieht, erscheint. Auf diese Weise entsteht die gut bürgerliche Auffassung der Glückseligkeit als belohnte Tugend, die sich ') Vergl. Agth. II Buch IX/2 Hp. 11/93: ebd. Buch X/l Hp. U/135: Goldsp. II/l Hp. XIX/18; Abd. V Hp. VIII/107. Gespr. Elys. III Hp. IX/156. 2) Agth. III Buch XVI/4 Hp. III/223 Arist. IV/17 HP- XXVIII/189. 3) Arist, IV/17 Hp. XXVIII/182. praktisch auBert in der Gewissensruhe, womit der Bürger, nach redlicher Erledigung der Alltagspflichten, sich die Annehmlichkeiten des Lebens zu gönnen pflegt, wahrend diese als selbstverstandlich empfundene Belohnung der Tugend durch einen Zustand der Glückseligkeit weiterhin den Beweis einer notwendigen Fortdauer der bewuBten Existenz nach dem Tode abgab. Darf man eine solche Gesinnung auch nicht als Tugend in ethischem Sinne betrachten, als praktisch tugendhafte Geistesrichtung ist sie dennoch zu würdigen. Eine gewissenhafte Anwendung ihrer Prinzipien halt ohne Frage davon zurück, in die Lebensweise andrer gewaltsam hinüberzugreifen, führt sogar konsequenterweise wohl dazu, daB man sich um das Wohlbefinden derer, die man in ihren Verhaltnissen gefahrdet glaubt, zu kümmern verpflichtet fühlt, weil die Erinnerung an vorsatzlich übersehene Leiden der Mitmenschen die behagliche Ruhe, die man im BewuBtsein seiner guten Handlungen genieBen möchte, storen dürfte. Wenn Wieland behauptet,1) daB derjenige, der andern nützlich sein möchte, damit anfangt, das eigne Leben möglichst behaglich zu gestalten, drückt er die eben skizzierte, echt bürgerliche Mentalitat nur etwas positiver akzentuiert aus. Wielands praktische Lebensführung zeigt uns, daB seine eigne Moral diese Mentalitat spiegelt, was nicht im Widerspruch zu den Prinzipien eines Jahrhunderts steht, das in einer gewissen geistigen Nüchternheit zunachst nach dem praktischen Nutzen fragte. Jenes Zeitalter ist gleichsam die Jünglingsperiode unsrer bürgerlichen Gesellschaft, in welcher der Bürger mit andern Machten um seine Lebensform zu kampfen hat; einen Kampf, in dem er die aufdammernde Möglichkeit einer seine Rechte anerkennenden Gesellschaftsordnung,2) die seine Ideale verwirklichen würde, zugleich als die Periode einer fortgeschrittenen Humanitat begrüBte. Die Moral dieser emporkommenden Burgerklasse richtete sich besonders auf die Praxis des Lebens, ohne daB man sich dabei ausschlieBlich um die eignen Interessen gekümmert hatte. Es ist die gleiche praktische Einstellung der Moral, die unsre Zeiten bürgerlicher Kultur und Herrschaft kennzeichnet, nur daB nunmehr das Vollgewicht manchmal zu sehr auf das persönliche Interesse gelegt wird, so daB sie richtiger mit der von ethischem Standpunkt nicht in jeder Beziehung zu würdigenden ,,m odernen Sachlichkeit" ange- ') Danm. Cap. II Hp. XX/18. *) Goldsp. II/6 Hp. XIX/62 ff.; Danm. Cap. 7 Hp. XX/76, Phil. Schr. Hp. XXXII/232, 279. deutet wird. Übrigens scheint die nach unserm Empfinden einigermaBen naive Gemütlichkeit, mit der Wieland die individuellen Interessen mit denen der Umwelt verknüpfen möchte, der unbewuBte Versuch zu einer etwas nüchtern praktischen Lösung der Lehre Shaftesburys, nach der ein Ausgleich der egoistischen und altruistischen Triebe eine ethische Lebenshaltung ermöglichte. Un~ willkürlich erinnert uns obige Theorie Wielands an Hobbes' Lehre, welche zu beweisen sucht, daB die auf den ersten Bliek altruistisch scheinenden Handlungen sich bei naherer Analyse als klug berechneten Egoismus herausstellen. Hobbes System ist ein E rzeugnis des Barocks, eines Zeitalters, dessen gewalttatiger Geist seinen Ausdruck in dem Kampf willensmachtiger Persönlichkeiten findet, die in ihrem Willen zur Macht die Umwelt als zu bewaltigendes Objekt empfanden. In diesem Kampf galt die bei jedem vorausgesetzte, kluge Berechnung des Vorteils, so daB nur diese, nicht etwa weiche Regungen, das Individuum dahinbringen konnte, auf den unbeschrankten persönlichen Vorteil zu verzichten. Das Individuum fühlte sich als Mittelpunkt der Welt, es war nur Klugheit, die innerhalb einer Gesellschaftsform, die man als die vorteilhafteste erkannt hatte, anscheinend ethische Handlungen gebot. Das Moment der klugen Berechnung hat sich bei Wieland, wenn auchin bis zur Unkenntlichkeit abge mildeter For m, behauptet. Das R o k o k o kennt nicht die heiBe, oft brutale Leidenschaft des vorhergehenden „Bar o c k"; das durch erschöpfende Kampfe ermüdete Menschengeschlecht ist milder und empfindsamer geworden. Wenn man auch vor allem den eignen Vorteil ins Auge faBt, wagt man es dennoch nicht, diesen kaltblütig zum Mittelpunkt aller Handlungen zu machen, und wo bei Hobbes die Gesellschaftsform gleichsam die Erfüllung des Individuums bedeutet, wird sie für den um den eignen Vorteil nicht weniger bekümmerten Rokokomenschen zum Zweck seiner Handlungen. Die Gewissen sind zarter geworden, man ist bestrebt das Egoistische in den menschlichen Absichten und Handlungen da durch zu entschuldigen. daB man es sozial zu begründen sucht. Das an und für sich übrigens ziemlich unbestimmte Ideal der Glückseligkeit bedeutet nach ^fteland, wie aus den betreffenden Schilderungen in „Danischmend" und „Aristipp" hervorgeht, mit Rücksicht auf das Individuum den Zustand einer gewissen wohl situierten Behaglichkeit, wobei jedenfalls dem Gebildeten die freiwillige Anerkennung seiner Vorzüge seitens der Umwelt nicht unwesentlich erscheint. Man könnte darin symbolisch das Ideal des emporkommenden dritten Standes erblicken, der nicht nur um gesellschaftliche und politische Anerkennung, wozu der hohe Bildungsgrad ohne Zweifel berechtigte, sondern selbst um das einfache Recht der persönlichen Unverletzbarkeit und gerichtlichen Gleichberechtigung mit den an Macht und EinfluB weitaus überlegenenHof-undAdelskreisen zu kampfen hatte. In diesem Sinne konnte Wieland den persönlichen Trieb nach Glückseligkeit ohne weiteres auf die Gesamtheit übertragen und den betreffenden Zustand als das höchste Recht der Nation bezeichnen1). Man mag mit Paulsen die hedonistische Tendenz, von der Wielands ethische Betrachtungen manchmal zeugen, tadeln; man soll dabei jedoch keineswegs übersehen, daB er angesichts der in brutalen Machtsübergriffen sich auBernden sittlichen Verderbnis der zeitgenössischen, herrschenden Kreise2) eine Gesinnung, welche den Machtigen bewegen dürfte, den Vorzug seiner gesellschaftlichen Stellung zum Vorteil oder wenigstens nicht zum Schaden der minder EinfluBreichen zu verwenden, mit einem gewissen Rechte als tugendhaft bezeichnen durfte; obwohl wir in diesem Falie mit AusschluB jeder ethischen Terminologie lieber von einer wohlwollenden Beschrankung reden mochten. Wir haben die Aufklarung im Gegensatz zu dem sich auf das Jenseits richtenden Christentum als Diesseitsreligion bezeichnet. Wenn nun die irdische Glückseligkeit als Belohnung, oder wie man es, soll der Gedanke an eine bewuBte Absicht vermieden werden, auch ausdrücken dürfte, als die nach auBen gerichtete Seite der tugendhaften Gesinnung betrachtet wird, so liegt hier die Verirdischung eines christlich religiösen Empfindens vor, nach dem das Reich Gottes, das transzendent gefaBt nur den Gesamtbegriff höchster Glückseligkeit bedeutet, als Belohnung der christlichen Tugend dargestellt und als ein Recht gefordert wird. Nichtdestoweniger lehrt uns die Bibel als höchste Religiositat, die sowohl von jüdisch als christlich tief religiös empfindenden Seelen durchlebte Gesinnung kennen, welche nicht das Individuum sondern Gott in den Mittelpunkt stellt. Diese höchste religiöse Forderung wird von Wieland auf die als Streben nach wirklicher Humanitat sich darstellende Diesseitsreligion der Aufklarung übertragen, indem er die Begriffe Tugend und Glück- ') Goldsp. II/9 Hp. XIX/85. J) Vergl. Goldsp. 11/11 Hp. XIX/114; Göttergspr. 11 Hp. IX/94. seligkeit aus ihrer kausalen Verbindung löst. Die Ergriffenheit der individuell interesselosen Gottesanbetung hat Wieland, wie die jugendliche Begeisterung für Klopstocks Messias beweist, durchlebt oder zum mindesten aufs starkste nachempfinden können, sodaB wir die Forderung einer interesselosen Tugend, zu deren Formulierung allerdings die Aneignung sokratisch-platonisch ethischer Ideen mit beigetragen hat, als die Abwalzung christlich oder biblisch religiöser Seelenbedürfnisse auf das Gebiet der humanistischen Ethik fassen sollen. Und gerade so, wie ein Leben, dessen Mittelpunkt Gott bildet, in der Welt gewöhnlich keine Anerkennung, sondern, wofern die Interessen des gesellschaftlichen Lebens dadurch unberührt bleiben, höchstens verstandnislose Bewunderung findet und wenn es zu denselben im Widerspruch steht, haufig HaB und Verfolgung nach sich zieht, soll nach Wielands Überzeugung die reine Tugend nichts Besseres erwarten, als daB* sie sich die Feindschaft der Welt aufbürdet.1) Reine Tugend fordert jedoch keinen auBern Lohn, indem sie vielmehr ihre E rfüllung in sich selbst findet,2) sowie derjenige, dessen Leben in Gott aufgeht, nicht lebt in der H o f fnung auf eine Belohnung in irgendwelcher Form der ewigen Glückseligkeit nach dem Tode. Der Gedanke an das Leiden um der Tugend willen hat für Wieland zur Folge, daB er noch eine verwandte Ideenverkettung der christlichen Vorstellungs- und Empfindungssphare auf das Ethische übertragt. Das Leiden, sowie das Ausschalten der eignen Persönlichkeit widerstrebt dem natürlichen Antrieb des normalen Menschen. Demnach erscheint dem Frömmsten das Wesentlichste in der Erfüllung von Gottes Willen als ein Handeln wider das persönliche Wollen, also als ein K a m p f. Sobald aber die Tugend zur absoluten Forderung wird, wird die Erfüllung ihrer Gesetze zu einem Sollen, zu einer P f 1 i c h t, die der Tendenz des individuellen Willens entgegengesetzt ist. In diesem Sinne wird für Wieland die Tugend zu einem transzendenten Begriff, namlich zu der Wesensform des „Ich", das demgemaB der Erscheinungsform gegenüber als Gesetzgeber auftritt.3) Hier ist der Punkt, wo bei Wieland ins Ethische umgebildete, ') Agth. II Buch VIII/4 Hp. 11/71. 2) Agth. II a.a.O. 3) Vergl. Agth. III Buch XII/11 Hp. 111/94; Agathdm. 1/3 Hp. XXIlIil5; Artst. UI/31 Hp. XXVIII/155; Phil. Schr. Hp. XXIII/314. christliche Vorstellungen sich mit platonischen und neuplatonischcn Ideen verbinden. Nach dieser Denkweise hat das „Ich" Anteil an der Welt der Ideen, von der das ,,A 11" als Emanation erscheint. Derjenige, der also das Gesetz des „Ich" erfüllt, arbeitet mit zur Förderung des allgemeinen Endzwecks des „AH", welches nur die Verwirklichung einer Welt der absoluten Güte und Schönheit sein kann.1) Die Forderungen des „Ich" aber sind absolut, schlieBen sogar das Wohlgefallen an unsern guten Handlungen aus, welche vielmehr erst wirklichen Wert erlangen, wenn sie als O p f e r erlebt werden.2) Mit Kant, nach dem moralisches Handeln heiBt, „tun, was man nicht gern tut", findet Wieland auf diese Weise einen W iderspruch zwischen Tugend und Neigung, was uns trotz der unendlichen Verschiedenheit ihrer Naturen nicht so sehr zu befremden braucht, als wir auf den ersten Bliek zu tun geneigt waren, weil die Seelenerfahrungen oder die eingepragten Wahrheiten einer christlichen Erziehung beider Denk- und Empfindungsleben zu Grunde liegen. Mehr als eine auBere Berührung ist er aber nicht. Kants gewaltige Arbeit, die intelligibele Welt, deren Wesensform Sittlichkeit ist, als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft darzustellen, bedeutet das Ringen einer Seele, die den Grundlagen der Religion, für welche es sich herausgestellt hatte, daB die theoretische Vernunft keinen Beweis zu erbringen vermochte, dennoch eine nicht nur den Glauben, sondern auch die Vernunft befriedigende Grundlage schaffen will. Kants Sittengesetz erscheint in der Form des Absoluten, die eher an die Gottesvorstellung des Alten als an die des Neuen Testamentes erinnert, und die Wielands Denken durchaus fremd ist. Der Empfindsamkeit von Wielands Seele gewahrt jedoch auch die praktische Nüchternheit der allgemeingültigen aufklarerischen Tugendauffassung, wofür die von Helvetius proklamierte, bloB durch die Erziehung gezüchtete Tugend typisch ist, keine Befriedigung. Es mag für ihn demnach einen seelischen GenuB bedeutet haben, unter dem EinfluB der Antike ein Tugendideal zu schaffen, das, jeden Gedanken an den praktischen Nutzen ausschlieBend, zur Anbetung der Tugend stimmte, wie es ihm als Jüngling ein Bedürfnis gewesen sein mochte, sich in Klopstockscher Exaltation a n b e t e n d in die Gestalt des Erlösers zu versenken. Ungeachtet der Auffasung der Tugend als ein „S o 11 e n", wird ') Vergl. Agth. III Buch XVI/3 Hp. III/217. ») Vergl. Agth. III Buch XV/3 Hp. III/190. 5 er schon dadurch, daB mit seinem Tugendbegriff immer der Gedanke an Erlösung verknüpft ist, durch eine unüberbrückbare Kluft von Kant, der die sittliche Forderung an sich der Welt kategorisch vorhalt, getrennt. Kants Rigorismus, der jeden Versuch zur Relativierung des Ethischen prinzipiell ausschlieBt, durchbricht die Grenzen der Aufklarung und zugleich jede menschliche Begrenzung in der Ponierung eines Sittengesetzes, das sich der Natur des Menschen gegenüber als ein „G a n z Andres darstellt. Obwohl der seelische Schwung seines Denkens ihn hoch uber die durchschnittliche, sachliche Nüchternheit der Aufklarung emporhebt, bleibt Wieland dennoch zu sehr ein typischer Vertreter des Rokoko, urn einen Begriff tatsachlich absolut zu stellen. Wenn wir auf die Verbindung des Tugendbegriffs mit der Vorstellung der Erlösung verzichten, wobei man am Ende noch annehmen kann, daB reine Tugend die Erlösung involviert, - wie z. B. die absolute Hingabe an die Gottheit die Erlösung aus der menschlichen Begrenzung, ohne daB eine solche beabsichtigt ware, - so können wir bei Wieland auch da, wo er sich zu einer wirklich rigoristisch sittlichen Forderung aufrafft, beobachten, wie wider seinen Willen irgendeine verkappte Form der Glückseligkeit als Folge der als absolute Pflicht gedachten tugendhaften Handlung auftaucht. Zwar dünkt es ihm selbstverstandlich, daB man ïm Kampf zwischen „Neigung und Pflicht", der Pflicht gehorchy) aber der Sieg wird als Verdienst empfunden; wie auch die Iugend durch die GröBe des Opfers einen höhern oder geringern Wert erhalt,2) in welchen Fallen natürlich die Empfindung des Sieges oder des Wertes der tugendhaften Handlung als Formen der Glückseligkeit" erscheinen. Nicht wesentlich anders liegen^ die Verhaltnisse, wenn etwa die „Schönheit" einer Tat nach dem Mali der Selbstüberwindung und Aufopferung beurteilt wird.3) Kant würde jede, auch die schönste Handlung als unmoralisch qualifizieren, sobald für den Handelnden andre Motive als die Erfüllung des Sittengesetzes bestimmend waren. Der abstrakte Begriff der Pflicht ist Wieland vollstandig fremd. In ethischem Sinne kennt er die Pflicht nur als Tugend, die sich auf andre richtet 4) wie er den Begriff Tugend auch definieren mag. Nach dem MaB seiner Krafte war Wielands Leben durch seine Werke und ') Krates und Hipp. Brief 22/23 Hp. X/135, 136. 2) Arist. II/9 Hp. XXVI/33. ») Arist. 11/44 Hp. XXVI/160; IV/12 Hp. XXVIII/159. *) Agth. III Buch XVI/3 Hp. UI/206. Schriften ein Kampf für eine Gesellschaftsordnung, welche nach seiner Überzeugung nur eine möglichst weit verbreitete tugendhafte Gesinnung zu verwirklichen vermag. Seine Ansichten über die psychologischen Gründe der Tugend widersprechen sich öfters. Bald ist die Tugend blofi die rückwirkende Gesinnung eines auf die Glückseligkeit gerichteten Systems, bald wird sie als eine Forderung des höhern „Ich" empfunden. Eins aber ist notwendig, namlich, daB die Menschheit in ihren breitesten Schichten z u r Tugend erzogen wird,1) denn erst unter dieser Bedingung entsteht die Möglichkeit für alle gesellschaftlichen Schichten Verhaltnisse zu schaffen, welche durch ihre Ubereinstimmung mit der menschlichen Würde die Grundlage zur wirklichen Humanitat bilden können. Aber auch derjenige, bei dem der Hauptakzent seines padagogischen Denkens, wie bei Wieland, auf das ganze Menschengeschlecht gerichtet ist, wird sich darüber klar sein, daB das Objekt der Erziehung zunachst das Individuum ist, so daB Wieland dasselbe mit vollstem Recht als den Ausgangspunkt aller padagogischen Versuche betrachtet. Der Erfolg von dessen Erziehung wird jedoch wesentlich bedingt durch den Kreis, in welchem es die Jugend verbrachte. Wieland ware nicht der Vertreter einer unsre bürgerliche Gesellschaftsform einleitenden, geistigen Bewegung, wenn er dabei an einen andern Kreis als an den der Familie gedacht hatte. Dann aber bedeutet der Anfang der Erziehung des Menschengeschlechts die Einsicht, die an und für sich mit Tugend nichts gemein zu haben braucht, daB Verhaltnisse geschaffen werden sollen, die ein ungestörtes und glückliches Familienleben ermöglichen. ') Vergl. Goldsp. 11/11 Hp. XIX/112; 11/14 Hp. XIX/142; 11/15 Hp. XIX/150. III. INDIVIDUUM UND UMWELT. Die modernstcn psychologischen Strömungen sind sich daruber einig, daB die seelischen Erfahrungen in der Jugend, sogar die der frühesten Lebensjahre, für den weitern Verlauf des Lebens eines Menschen, wo nicht von entscheidender, dennoch von weittragender Bedeutung sind. Diese von der Psychologie in epochemachender Forschung gewonnene Erkenntnis bedeutet zum Teil nur die wissenschaftliche Fundierung einer Tatsache, welche von allen, die sich nur ïrgendwie einen Gedanken über das Verhaltnis des Individuums zur Umwelt, und ware es bloB über das von den Kindern zu den hltem, gebildet haben, mit einer Art Intuition als unanfechtbar dargestellt wurde, was schon daraus hervorgeht, daB sich die sprichwörtliche Weisheit ihrer bemachtigt hat. Wo jede bewuBte Erziehung ein gewisses Ideal voraussetzt, wird immer die erste Frage auf das Verhaltnis der Umgebung in der das Kind die ersten Lebensjahre verbringt, zu diesem Ideal gerichtet sein. Jedermann, der sich die Erziehung zur Aufgabe macht, soll demnach vor allem die hausliche Sphare in Betracht ziehen und dabei folgendes erwagen. An erster Stelle wird er s.ch fragen wie die Sphare innerhalb dieses engsten Familienkreises beschaffen sein soll mit Hinblick auf die gedeihliche Entwicklung des Zöglings, und wofern er sich nicht auf die hausliche Erziehung beschrankt, sondern dieselbe als eine Vorbereitung zur Einordnung in einen weitern Kreis, die Nation, oder sogar die gesamte Menschheit faBt, wird er das Verhaltnis des Hauses zu diesem weitern Kreis, den er sich möglicherweise gleichfalls als den Trager ïrgendeines Ideals denkt, zu bestimmen suchen. Wenn man wie Locke seine padagogische Tatigkeit auf den Zöqling der vornehmen Gesellschaft beschrankt und es sich zum Ziel setzt, ihn zum würdigen Trager der in derselben herrschenden Traditionen zu bilden, so ist, wie Lockes Schrift über die Erziehung beweist, der Kreis des Zöglings schon bestimmt durch die sorgfaltige Abgrenzung desselben von allen übrigen, ganz besonders von solchen, denen die untergeordneten Schichten des mensc - lichcn Zusammenlebens angehören. In seinem speziellen Fall konnte er sich beschranken auf strenge Absonderung von den Bedienten, wahrend das Verhaltnis zu einem gröBern Kreis schon durch die gegebene Begrenzung bestimmt wurde. Indem Rousseau seinen Emil nicht zu irgendwelchem Stande, sondern zum Menschen überhaupt erziehen möchte, ware die Milieufrage für ihn bedeutend schwieriger gewesen, wenn er sich derselben nicht auf geschickte Weise durch Ausschaltung eines jeglichen bestimmten Kreises entzogen hatte in der Fiktion, daB der Zögling immer in seiner Nahe ware und er es in seiner Gewalt hatte, ihm die Welt stets in der zum augenblicklichen Zweck geeigneten Gestalt zu zeigen. Im padagogischen Denken Wielands handelt es sich nicht wie bei Locke um die Erziehung eines jungen „Gentleman", vielmehr wie bei Rousseau um die Ausbildung zum Menschen, aber in dem Begriff „tugendhaft", den er hinzufügt, liegt zugleich die korrelative Bestimmung zur Gesellschaft.1) Genauer, es handelt sich bei ihm nicht zunachst um das Individuum an sich, sondern um die Erziehung des menschlichen Geschlechtes als Ganzes. Das Ideal, das er sich von der Gesamtheit gebildet hat, soll die Erziehung des Einzelnen bestimmen. Die Bestimmung des Verhaltnisses der direkten Umwelt eines Individuums zur Gesamtheit war für Wieland eine logische Unmöglichkeit, da es sich bei ihm darum handeln sollte, innerhalb einer durchaus verderbten Gesellschaft das Individuum zu einem tugendhaften Menschen zu erziehen, der einmal seine Gesinnung, soviel es ihm möglich ware, der Menschheit weiterzugeben hatte.2) Besondere Schwierigkeiten boten sich dar, wenn man zur Erziehung der breiten bürgerlichen Klassen einen festen Ausgangspunkt gewinnen wollte. Allerdings lag es auf der Hand von der Familie auszugehen. Für das Ganze war aber damit recht wenig gewonnen, weil es keine Anstalten gab, die als Vermittler zwischen Haus und Gesellschaft, die Erziehung auf breiterer Grundlage zu übernehmen vermochten, da das niedere Schulwesen noch recht unentwickelt war. Die Möglichkeit eines fördernden Zusammenwirkens zwischen der Erziehung seitens der Gesellschaft und derselben innerhalb des hauslicben Kreises war dadurch sehr erschwert. Einerseits konnten etwaige Ideale, welche die hausliche ') Vergl. Agth. II Buch VIII/5 Hp. 11/74, 75; Goldsp. II/3 Hp. XIX/40; Goldsp. II/9 Hp. XIX/92, 96. *) Goldsp. 1/4 Hp. XVIII/64. Erziehung erstrebte, durch das Fehlen gröBerer auf dicser Basis aufgebauter Anstalten nicht oder wenigstens nur beschwerlich weitergegeben werden, wahrend andrerseits durch dieselben Ursachen die Ideale oder Prinzipien einer Gemeinschaft das Haus kaum erreichten. Es mangelte demnach an einer lebendigen Verbindung zwischen Haus und Gesellschaft. Vielleicht bot die Kirche eine solche Vermittlung, aber der autoritative Charakter dieser mit dem Staat gewöhnlich aufs engste verbundenen Macht hinderte eine wirkliche Einsicht in die etwaige Notwendigkeit der Verhaltnisse, weil sie bloB einen unbedingten Gehorsam forderte. Die Erziehung der bürgerlichen Klassen bedeutete unter diesen Umstanden nicht viel mehr als die Erziehung zu einem ergebenen Untertan, bei welchem der Schrecken vor dem irdischen und nicht weniger vor dem göttlichen Gericht eine wesentliche Rolle spielte. Darf man auch nicht in Abrede stellen, daB manchmal auf diese Weise tüchtige und brauchbare Menschen herangebildet werden können, so kann man ebenso wenig die Augen davor verschlieBen, daB eine Erziehung des Menschengeschlechtes nach den Vernunftprinzipien der Aufklarung angesichts der Lage, in der sich der Bürgerstand befand, nur eine auBerst geringe Aussicht auf Erfolg hatte, Um das Heil der Untertanen kümmerte sich der Staat gewöhnlich nur insoweit, als eine verbesserte, besonders gewerbliche Erziehung des Bürgers die Einkünfte der Fiirsten, die in den meisten Fallen zu ihren Bedürfnissen ungeheure Summen brauch- ten.1) steigern dürfte. Trotz alledem war Wieland der Ansicht, daB nur ein glückliches Familienleben den Ausgangspunkt zur Verwirklichung seiner Ideale, die denen der Philanthropen entsprachen.2) zu bilden vermochte. Was die Entwicklung der im Kreise der Familie etwa gelegten Keime innerhalb der Gesellschaft hinderte, war nicht nur die absolute Isolierung der bürgerlichen, von den Herrschern in noch höherm MaBe als die übrigen, mehr als Mittel denn als Zweck betrachteten Klassen, sondern unter den bestehenden, in Wielands Werken, wenn auch zeitlos, geschilderten und scharf getadelten Verhaltnissen nicht weniger die Tatsache, daB ein ruhiges. ungestörtes Familienleben durchaus nicht gesichert erschien. Wenn Wieland, sowohl die Wehrlosigkeit sogar des hochgebildeten und emporstrebenden Bürgertums den rohen Eingriffen der herrschenden Kreise gegenüber, — von welchem tragischen Erlebnis die •) Goldsp. II17 Hp. XIX/71. 2) Vergl. Agth. II Buch IX/7 Hp. 11/123. Hochblütc des bürgerlichen Dramas von Lessing bis Schiller zeugt, — als die gleichfalls in die bürgerlichen Kreise tief eingerissene Sittenverderbnis1) beobachtete, muBte er zu dem Ergebnis gelangen, daB alle Verhaltnisse, welche eine wirklich gedeihliche Erziehung, sogar innerhalb des Kreises der Familie, ermöglichten, erst geschaffen werden sollten. Obschon sein padagogisches Denken sich tatsachlich mit der Erziehung des Menschengeschlechtes befaBte, wird es uns nach obigen Erwagungen ohne weiteres klar, daB die Erziehung eines Fürsten im Mittelpunkt seines Interesses stehen muB,2) weil er nur von einem tatkraftigen, zu einem reinen Menschentum erzogenen Herrscher Rettung aus der unentwirrbaren Verstrickung jener die Entwicklung der auf tugendhafter Gesinnung beruhenden Humanitat hindernden Umstande erwartete. Ein solcher durfte jedoch nicht unmittelbar aus der Gesellschaft, deren Makel ihn von vornherein beflecken würden, hervorgehen, sondern muBte derselben gleichsam von auswarts geschenkt werden. Der grofie Fürst als Erlöser einer verderbten und leidenden menschlichen Gesellschaft ist demnach das Idealbild, das den Fürsten als Spiegel vorgehalten werden soll, an welcher Phantasiegestalt er im Gewande eines Romans die nach seiner Ansicht vorzunehmenden, gesellschaftlichen Reformen schildert. Um die Erwagung einer Erziehungsmethode des auBerhalb der Gesellschaft in landlicher Einsamkeit zu einem reinen Menschen auszubildenden Fürsten vereinigen sich aus der antiken wie aus der zeitgenössischen Padagogik gewonnene Ideen mit dem allgemeinen Glauben seines Zeitalters an die ursprüngliche Güte des Menschen. Sowohl die Kyropadie wie Rousseaus Emil konnten ihn dazu veranlassen, den Zögling aus dem Kreis, dem er durch die Geburt angehörte, zu entfernen, wahrend der obenerwahnte Glaube ihn auf den folgerichtigen Gedanken führte, den jungen Fürsten unter eine landliche Bevölkerung zu versetzen. Auf diese Weise bezeichnete Wieland den Kreis, von dem die Verbesserung der Sitten eines jeglichen Individuums und bei sonstiger Veranlagung eventuell der Fürst, der als wirklich groBer Mensch eine sittliche Umwalzung des gesellschaftlichen Lebens bewirken könnte, ausgehen dürfte. Es versteht sich, daB man ') Vergl. Goldsp. II/3 Hp. XIX/41 ff; 11/11 Hp. XIX/1H. 2) Vergl. Agth. II Buch XI1 Hp. 134, 136; Goldsp. II/l Hp. XIX/7; 11. die natürliche Güte des Menschen zunachst bel denen suchte, die der Natur am nachsten leben1) und man erkennt in der bei Wieland an Rousseau erinnernden, begeisterten Schilderung der landlichen Einfalt das den Perioden einer mit einem übersteigerten Luxus verbundenen Sittenverderbnis charakteristische Bedürfnis auf landlich einfache Verhaltnisse zurückzugreifen.2) Wenn wir hier ^Vieland und Rousseau nebeneinander stellen, möge beilaufig darauf hingewiesen werden, daB man an der bezeichneten Stelle Rousseaus eine im Gegensatz zur stadtischen Kultur zum begeisterten Lob erhobenen Beschreibung realer Verhaltnisse findet, wahrend diejenige Wielands hier wie sonst mit rokokomaBiger Pikanterie verknüpft ist. Wie dem auch sei, im landlichen Zusammenleben entdeckt Wieland diejenige Heiligkeit des Familienlebens, die wie eine Art Reaktion gegen den sittlichen Verfall der Zeit, besonders in Frankreich, in Kunst und Literatur, sowie in ökonomisch wissenschaftlichen Schriften hervorgehoben wird, die Rousseau unter dem einfachen Volk überhaupt, namentlich aber in den Kreisen der Bauern zusammen mit Reinheit und Einfachheit der Sitten zu finden hoffte. Wieland seinerseits weiB das Bild eines ungetrübten und glücklichen Familienlebens nicht treffender zu schildern als dadurch, daB er in der Beschreibung die Erinnerung an eines der sich damals einer allgemeinen Bekanntschaft und Begeisterung erfreuenden Gemalde Greuzes wachruft.3) Sollte aber, wie der monarchisch gesinnte Wieland hofft, durch die Bemühung eines nach den Ideen des Philanthropinismus erzogenen Fürsten im Prinzip Verhaltnisse geschaffen werden, welche eine gedeihliche Erziehung ermöglichen, so erblickt Wieland darin mit dem die gesamte Aufklarung kennzeichnenden Optimismus die wahre Schöpferin der Sitten.4) Aus Wielands Umschreibung der Aufgaben der Erziehung lieBe sich etwa folgendes padagogisches Programm entwickeln, über dessen einzelne Punkte er sich an den verschiedensten Stellen seiner Schriften verbreitet und dessen Verwirklichung tatsachlich eine völlige Umwalzung in den staatlichen Verhaltnissen voraussetzt, welche das 19. Jht„ Wielands Ideen^) mehr oder weniger realisierend, hervorgebracht hat. ') Goldsp. II/3, 5 Hp. XIX/44 ff. (Vergl. La nouvelle Hél. I Brief 23). 2) Vergl. Goldsp. 1/4 Hp. XVIII/57. 3) Danm. Cap. XX (Fusznote.) Hp XX/69. 4) Vergl. Goldsp. 11/20 Hp. XIX/150. s) Vergl. Göttergspr. 10 Hp. IX/78; Goldsp. 1/7 Hp. XVIII/89. 1. Jedes mannliche oder weibliche Individuum ware der spezifischen Anlage entsprechend zu eriiehen;1) 2. Mit Rücksicht auf die Gesellschaft ist das Milieu ein ausschlaggebender Faktor;2) 3. Der engere Kreis des Individuums soll als der Teil eines gröBern Ganzen gedacht werden; etwa des Vaterlandes, des Staates oder der Menschheit, so daB jedes Mitglied einer be~ stimmten Gruppe sich „in edlem Nationalstolz", als notwendiges Mitglied der Gesamtheit fühlt; 4. Die Erziehung soll Liebe zur Einfalt, sowie zum Natürlichen erwecken,3) womit in direkter Verbindung Abscheu vor allem Geschminkten, Gekünstelten und Kleinfügigen erregt wird; 5. Es werden Wege angedeutet, welche diese Zwecke herbeizuführen vermochten, wie: Erregung des Gefühls für das Schóne,4) der Gewohnheit zur Ordnung wie des Geschmacks zur Tugend. Die Grundlage zu alledem bildet aber nur die Familie, deren innere Unverletzbarkeit aufrecht zu erhalten, die vornehmste Aufgabe des Staates ware.5) Zumal die landliche Bevölkerung bedürfe des Schutzes, damit sie durch Harte und Unterdrückung nicht boshaft und von dem bösen Vorbild des stadtischen Lebens nicht angesteckt werde.6) Wieland glaubt in Übereinstimmung mit seinem Zeitalter, das in die Einfachheit und in die Sittsamkeit des Ackerbauers ein unbeschranktes Vertrauen setzte, die Erneuerung der Sitten teilweise von diesem Stande ausgehen lassen zu können. Er selbst bedarf nach Wieland keiner speziellen Erziehung,7) eine Auffassung, in der wir den Glauben an die ZweckmaBigkeit der Natur in ihrer Wirkung auf diejenigen Lebensgebiete erkennen, die ihr unmittelbar überlassen werden. Auf diese Weise hoffte Wieland mit den Physiokraten die Grundlage einer ausgedehnten Gruppe der Gesellschaft zu bilden, welche diese Neigung auf andre Kreise übertragen dürfte, wahrend die Wohlfahrt dieser gröBten Gesellschaftsgruppe, eine Wohlfahrt, die ihrer Natur gemaB, bloB ein UberfluB des Notwendigen ware,8) eine erhöhte Gesamtwohlfahrt erzeugen dürfte. ') Vergl. Goldsp. 11/15 Hp. XIX/150, 152. 2) Vergl. Agth. III Buch XII/9 Hp. 111/77. 3) Vergl. Göttergspr. 11 Hp. IX/91; Goldsp. 1/4 Hp. 56, 57, 59. 4) Vergl. Agth. III Buch XVI/4 Hp. III/223, 5) Goldsp. 11/15 Hp. XIX/152, 154 ff. 0) Goldsp. 1/6 Hp. XVIII/80 ff. 1) Goldsp. 11/13 Hp. XIX/132; 11/15 Hp. XIX/153, 154 ff. ») Vergl. Goldsp. II/l Hp. XIX/25. Obwohl Wieland ein glücklichcs Familienleben als die Grundlage für die Erziehung zum tüchtigen Mitglied einer wohlgeordneten Gesellschaft voraussetzt, hat er nirgends speziell von der hauslichen Erziehung geredet. Als eine Folge der Auflösung des Familienlebens bei den höhern wie bei den geringern Standen erklart es sich, daB er im Gegensatz zu dieser Erscheinung mit einer gewissen Vorliebe in verschiedenen Werken1) das harmonische Zusammenleben innerhalb der Familie schildert, der Neigung des Zeitalters gemaB, gewöhnlich in der Form landlicher Einfachheit, nach dem Ideal, das er im eignen Leben zu verwirklichen versucht hat. In solchen Schilderungen setzt er das glückliche Familienleben als eine Tatsache voraus und verbreitet sich im Sinne Rousseaus2) über den heilsamen EinfluB, der sich von da aus an erster Stelle auf die nachste Umgebung erstreckt und sich in einer gewissen Milderung der sittlichen Roheit,3) welche als die Folge der Entartung des Familienlebens erscheint, offenbart. Die Tatsache, daB er sich um die hausliche Erziehung an sich nicht kümmert und nur ihre Bedeutung für die Gesamtheit als zweifellos hinstellt, findet darin eine Erklarung, daB er ungeachtet seiner padagogischen Veranlagung und der entsprechenden Tendenz seines Denkens, niemals ein Padagoge im engern Sinne war. Soweit er sich als direkter Erzieher junger Leute denkt, handelt es sich in seinen Erörterungen mehr um die Methode des Unterrichts als um die eigentliche Erziehung, um so mehr, als durch eine konsequente Durchführung des rationalistischen Prinzips die wissenschaftliche und die Charakterbildung sich decken. Sein padagogisches Denken ist soziologisch orientiert und umfaBt die Auseinandersetzung mit allen geistigen Strömungen der Aufklarung und mit den Machten, die ihr feindlich gegenüberstehen, unter Rücksichtnahme auf das Heil der gesamten Menschheit. Es ist jedoch zunachst als Dichter, daB er die Ergebnisse seines alle Gebiete der Wissenschaft streifenden Denkens der eignen Zeit darbietet. Mit dichterischer Phantasie schafft er Utopien-, in welchen seine reformatorischen Gedanken verwirklicht werden; aber indem er philanthropische Fürsten in ihrer Tatigkeit vorführt, schlagt er indirekt den zeitgenössischen Fürsten die nach seiner Ansicht notwendigen Reformen vor. Er geht dabei im Grunde von dem Familienleben aus, das er sich in landlichen Verhalt- ') Agth. Goldsp. Danm. Per Prot. Arist. 2) La Nouvelle Hél. II Brief X. 3) Agth in Buch XIII/2 Hp. 111/108. nissen als eine Realitat dachte. Wie schon erwahnt, erblickt er unter diesen Bedingungen in der Erziehung durchaus kein Problem. Der enge AnschluB an die Natur macht hier jede Form der Erziehung überflüssig, eine Annahme, welche den Stadter der Aufklarung verrat. Pestalozzi, der die landlichen Zustande wirklich kannte, und die ganze Kraft seines padagogischen Denkens tatsachlich auf die Schöpfung einer hauslichen Volkserziehung gerichtet hat, beweist gerade dadurch, daB Wielands Voraussetzungen bloB eine Ubernahme von sich auf das Leben der Bauern beziehenden Phantasien des ausgehenden Rokoko sind, das, innerlich durch übertriebenen Luxus und überspannten GenuB erschöpft, in solchen einfachen Verhaltnissen Erholung und neue Reize suchte. Eine gewisse pikante Pointe, die manchmal Wielands ernstlich als Vorbild gemeinten Schilderungen der landlichen Unschuld anhaftet,1) laBt vermuten, daB auch ihm diese in der Landschaftsmalerei des Rokoko so treffend zum Ausdruck kommende Zeitstimmung nicht fremd war. Nur über das Ergebnis der hauslichen Erziehung kann man aus Wielands phantastischen Schilderungen2) einiges herauslesen. Das Verhaltnis der Altern den Jüngern gegenüber, sowie des Familienvaters zu den Seinigen, berührt stark patriarchalisch. Die hauslichen Angelegenheiten und die hinzugedachten landwirtschaftlichen Arbeiten werden mühelos, ohne die geringste Reibung, sogar ohne direkte Befehle der natürlichen Leiter erledigt.3) Hervorgehoben wird der freie und sittsame Anstand, die Munterkeit und der Wetteifer, womit die Pflichten erfüllt werden.4) Wieland glaubt dies anscheinend zu erreichen, indem man den Untergebenen, unter den en natürlich an erster Stelle den Kindern, vertrauensvoll entgegenkommt. Den Vorgang hat er sich möglicherweise wie folgt gedacht. Durch Belehrung oder Erfahrung, — in einer landlichen Umgebung wird letztere nach Wielands Ansicht wahrscheinlich die gröBere Rolle gespielt haben — wird zunachst in die Natur des Zusammenlebens und dessen Gesetze eine vernünftige Einsicht erworben. Wenn diese einmal da ist, so erregt man durch unbedingtes Vertrauen in die ergebene Gesinnung eines jeden Angehörigen den Ehrgeiz, ohne irgendwelchen auBern Zwang seine Pflichten aufs gewissenhafteste zu erfüllen. ') Vergl. Danm. Cap. XXX und XXXII. 2) Agth. III Buch XIII/1 Hp. III/104 ff.; Goldsp. I. Cap. III und V Danm. 3) Vergl. Goldsp. II/5 Hp. XIX/58. *) Agth. III Buch XIII/2 Hp. III/108. Diescs Prinzip entsprache durchaus dem Gcist der Aufklarung, nach welchem es der Würde der menschlichen Natur gemaB ist, sich durch die Einsicht der Vernunft zur Freiheit zu erheben. Auf diese Weise ware der Mensch innerhalb des hauslichen Kreises zur Freiheit erzogen, weil er sich daran gewöhnt hatte, das als notwendig Erkannte zu verrichten, ohne daB er eine andre Triebfeder braucht, als eben diese, seine vernünftige Einsicht. Infolge einer derartigen Erziehung dürfte man sowohl individuell als sozial als ein tugendhafter Mensch betrachtet werden. Individuell, indem sich darin die angeborene Güte der menschlichen Natur in der Praxis betatigt, sozial in der antiken Bedeutung des Begriffs „Tugend," weil ein derartiger Mensch ein nützliches und brauchbares Mitglied einer Gesamtheit ist. Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, daB wir diese dem Geiste der Aufklarung entsprechenden Anschauungen gleichfalls bei Rousscau nachweisen können, denn auch er denkt sich die Erziehung innerhalb der Familie wie Wieland wesentlich in landlichen Verhaltnissen. Bei ihm haben die Kinder, welche ein Alter erreicht haben, das sie zur selbstandigen Betatigung der Vernunft befahigt — 1'age de raison — in jeder Hinsicht dieselben Rechte wie die Vater, wahrend die Bedienten eher als Hausgenossen denn als Untergebene betrachtet werden.1) Rousseau stellt die Familie, in der dieselbe Freiheit wie in einer R e p u b 1 i k herrscht, nachdrücklich als Abbildung dieser Staatsform dar. Hieraus geht hervor, daB nach Rousseaus Empfinden ein solches hausliches Leben eine direkte, praktische Vorbereitung zum republikanischen Staatsbürger ist. Wenn man Wielands Beschreibungen des hauslichen Lebens der phantastischen und antiken Gewandung entkleidet, so erübrigt sich eine Familie, in welcher der Vater die absolute Herrschaft führt, ohne daB dies infolge seiner Erziehung als Zwang empfunden würde. In dieser Gestalt tritt auch bei Wieland die Familie, wenn er es auch nicht direkt erwahnt, als Abbild einer Staatsform und zwar der monarchischen auf. Nirgends behauptet er die Gleichberechtigung der Kinder ihren Vatern gegenüber. Im Gegenteil, die vaterliche Autoritat ist absolut; nur darf diese nicht als Begrenzung empfunden werden. Denn die Kinder übernehmen den vernünftig durchschauten, vaterlichen Willen als Pflicht, in deren Erfülling sie ihre E h r e setzen. Die Ehre er- ') La Nouvelle Hél. I/II, scheint bei Montesquieu in „Esprit des Lois" als treibendes Motiv einer monarchischen Staatsordnung, wie er eine solche nennt, in der die absolute Herrschaft des Fürsten wenigstens durch gewisse Rechte der Untertanen beschrankt wird. Der „Goldene Spiegel" zeigt, daB das monarchische System Wieland als Ideal vor Augen stand, wahrend diejenigen, welche den Gesetzen wiederholt den Gehorsam verweigern sollten ,mit Ehrenstrafen bedroht werden.1) Diese Auffassung des Verhaltnisses zwischen Vergehen und Strafe deckt sich mit den Prinzipien des Strafrechts, wie sie Montesquieu für die Monarchie darstellt. Wenn Wieland diese Staatsordnung demnach als die einzig richtige betrachtet, so würde man in einem nach seiner Anschauung glücklichen Familienleben die Kinder auf natürlichem Wege zu wirklichen Staatsb ü r g e r n erziehen und somit würde eine organische Verbindung zwischen den Gliedern und dem gesamten Körper hergestellt sein. Schon diese Tatsache sollte einer vernünftigen Staatsverfassung den Schutz des Familienlebens als die vornehmste Pflicht nahelegen. Das glückliche Familienleben ist ein Menschenrecht, weil nur dieser Verband die Erziehung zum glücklichen Menschen ermöglicht. Das Staatsinteresse zwingt die Obrigkeit, die Möglichkeit einer solchen das Glück des Einzelnen bezweckenden Erziehung nach Kraften zu fördern, denn es ist Wielands feste Überzeugung, daB derjenige, der im hauslichen Kreis seine Glückseligkeit finden kann, den Staat niemals gefahrden wird.2) Bei Wieland erscheint aber Glückseligkeit nicht nur als ein Recht der Menschheit, sondern zu gleicher Zeit als eine Pflicht des Einzelnen.3) Die hausliche Erziehung zum „G 1 ü c k" ware demnach die Vorbereitung zu einer mit Rücksicht auf die Menschheit zu erfüllenden Aufgabe. Die persönliche Glückseligkeit bedeutet keineswegs einen auBerlichen Zustand, vielmehr eine durch Arbeit an sich selbst gewonnene seelische Beschaffenheit, welche den Menschen dazu fahig macht, ein möglichst groBes Quantum an Glück um sich zu verbreiten, was nichts andres heiBt, als an der Erlösung der Menschheit durch eine humanistische Gesinnung mitwirken. Wenn das hausliche Glück auch vom Staate in Schutz genommen werden soll, so liegen die Bedingungen doch zunachst in den ') Goldsp. 11/12 Hp. XIX/129. 2) Danm. Cap. VI Hp. XX/30. 3) Danm. Cap. II Hp, XX/18. innern Verhaltnissen der Familie selbst. Entscheidend ist in dieser Hinsicht die Lebenshaltung des Familienvaters; aber nicht geringern Wert legt Wieland auf die Art und Weise, wie die Frau ihre Aufgaben auffaBt und sich derselben entledigt;i) so daB er schon deshalb der weiblichen Erziehung, wie im nachsten Kapitel des Nahem zu erörtern ist, seine volle Aufmerksamkeit widmet. ') Agth. III Buch XVI/2 Hp. III/200. IV. FRAU UND GESELLSCHAFT. Im vorhergehenden Kapitel wurde darauf hingewiesen, daB man die Familie nicht nur als ein in sich abgeschlossenes Ganzes betrachten darf, sondern daB sie als eine kleinere Gemeinschaft zu einer gröBern in einem mehr oder weniger organischen Zusammenhang steht, wodurch sie sich für ihre Entwicklung gegenseitig bedingen. Der Mittelpunkt des Familienkreises ist in Wielands Augen die Frau. Demzufolge wird die Erziehung der Frau zu einem Gegenstand seiner Erwagungen, womit er eine Reihe von Problemen berührt, die im Verlauf der beiden letzten Jahrhunderte an Bedeutung und Umfang immer zunahmen und welche bis auf den heutigen Tag ihre Lösung noch nicht gefunden haben. Natürlich war das Zeitalter der Aufklarung nicht die erste Periode, in der man die Aufmerksamkeit auf die weibliche Erziehung gerichtet hat, aber in jener Periode entstand für die betreffenden Fragen ein gewisses allgemeines Interesse, das nicht mehr nachlieB und aus dem die modernen Fragen mit Bezug auf die Madchenerziehung sich allmahlich entwickelt haben. Die Schwierigkeit der Lösung hat sich seitdem unendlich zugespitzt. Im Prinzip handelt es sich aber bis in unsre Gegenwart um die namlichen Probleme, mit denen Wieland sich befaBt. Man dürfte sogar behaupten, daB sie eben den gleichen Ursprung haben, wie zur Zeit der Aufklarung, und zwar in dem grundsatzlich mannlichen Prinzip unsrer gesellschaftlichen Ordnung. Dieses hat zur Folge, daB man die Erziehung fast nur mit Rücksicht auf den M a n n erwagt. Das Wort Erziehung ohne Zusatz ist gleichbedeutend mit mannlicherErziehung und umfaBt diejenige Vorbereitung, welche die Lösung seiner spatern gesellschaftlichen Aufgabe erfordert. Die weibliche Erziehung ist denn auch durchaus kein besonderes Problem in einem Zeitalter wie das 16. und auch das 17. Jht; welche Jahrhunderte durch den Kampf des mannlichen Machtwillens gekennzeichnet wurden. Die Frau ist da fast ausschlieBlich die Gebarerin der Kinder, über deren Erziehung es Locke nicht notwendig urteilt auch nur ein Wort zu verschwenden. Es ist be- zeichnend, daB Rousseau, der am Eingang eines cntsprechend kriegcrischen Zeitalters lebt, die weibliche Erziehung im Grunde nur als den AbschluB der mannlichen Erziehung behandelt. In Wielands Erziehungsvorschlagen treten zwei die Aufklarung charakterisierende Elemente hervor. Die Frau, die im Hauswesen solch eine wichtige Stellung einnimmt, soll sich dessen durch ihre Erziehung bewuBt werden. Neben den Vorschlagen aber zur Erziehung der Frau mit Rücksicht auf ihre hauslichen Pflichten, stoBen wir auf Erwagungen einer direkten Erziehung zum öffentlichen Leben. In allen Zeiten hat man namlich beobachten können, daB die Frau. ungeachtet ihrer untergeordneten Stellung, auf den Mann öfters einen unberechenbaren EinfluB zu üben vermag, der wenn der Mann eine hervorragende Stellung einnimmt, für die Gesamtheit von entscheidender Bedeutung werden kann. Den EinfluB der Frauen auf die Fiirsten kannte das Zeitalter aus Erfahrung. In einer solchen Stellung sollte die Frau sich aber nicht weniger als in dem kleinern Kreis des Hauswesens, ihrer Pflichten der Gesellschaft gegenüber bewuBt werden. Um gerade in Fallen, wo die Frau einen direkten EinfluB auf das Geschick des Volkes erhalten dürfte, den Z u f a 11 möglichst auszuschlieBen, erscheint eine gediegene Erziehung durch die Ausbildung der vernünftigen Einsicht dringend geboten. In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, daB im Zeitalter Ludwigs XIV., in welchem man die Gelegenheit hatte den bedeutenden EinfluB der Frau, sogar auf die höchsten Staatsamter, kennen zu lemen, zum ersten Mal in Fénélons ,,E d ucation des Filles", die zielbewuBte Erziehung junger Madchen befürwortet wurde. Wahrscheinlich hat dieser eine Stellung, welche der Frau einen entscheidenden StaatseinfluB gewahren dürfte, als einen Übergriff empfunden, wahrend eine gezierte Beschaftigung mit wissenschaftlichen Fragen in den Salons, welche als Praziösentum Molières Spott hervorrief, ihn angewidert haben mag. Er will deshalb die Frau auf ihr eignes Gebiet, die Führung des Hauswesens, beschranken, bemerkt jedoch mit Nachdruck, daB diese Stellung eine padagogische Vorbereitung erford e r t, welche die Frau vor lacherlichen Übergriffen in fremdes Gebiet schützen soll; denn die Unwissenheit eines Madchens sei Ursache, daB sie es nicht versteht, sich auf unschuldige Weise zu besch&ftigen. Die Erzlehung lehrt sie das richtige Verstandnis für die Verantwortung, welche ihr durch die Leitung des Hauswesens zufallt. Fénélon empfand die Familie als Grundlage der menschlichen Gesellschaft, deren Geist wesentlich von der im SchoB der Familien wakenden Gesinnung bedingt wird, so daB er davon überzeugt ist, daB eine Frau, die von ihrer Aufgabe ein klares BewuBtsein hat und sich derselben als fromme Vorsteherin des Hauses widmet, als solche nicht nur die zeitlichen Güter richtig verwalten, sondern auch über das Heil der Seele wachen wird. Indem er sich der Erziehung der Frau annahm, hatte Fénélon die egoïstisch mannliche Auffassung zu bekampfen, welche die Frau als Mittel zu ihren Zwecken betrachtet. Diese offenbart sich sowohl in der Ansicht, daB es genüge, wenn die Frau ihrem Hauswesen vorzustehen und ihrem Gatten zu gehorchen weiB, als in der von Wieland getadelten Gesinnung, welche bei der Frau bloB geschlechtliche Befriedigung sucht.1) In der Erziehung zu einer persönlichen Aufgabe wird die Frau in ihrer rein menschlichen Würde wieder hergestellt, was Fénélon als christliche Pflicht bezeichnet, durch den Hinweis darauf, daB die Frau die eine Halfte des durch Jesu Blut losgekauften menschlichen Geschlechtes bildet. Daher soll nach Fénélon die weibliche Erziehung eine vorzugsweise religiöse sein, weil durch sie die Religion Christi, welche von ihm als die einzige, die menschliche Sittlichkeit fördernde Macht erlebt wurde, im Kreise der Familie gepflegt werden sollte. Fénélon erwartete als Priester und frommer Christ die Erlösung der Menschheit von der christlichen Religion. In den vorigen Kapitein wurde darauf hingewiesen, wie die Aufklarung diese der christlichen Kirche zugewiesene aber von ihr teilweise vernachlassigte Aufgabe übernommen hatte. Die geistige Bewegung der Aufklarung sollte natürlich in den das Bedürfnis nach Erlösung am starksten empfindenden Bürgerkreisen die zahlreichsten Anhanger gewinnen, wobei selbstverstandlich zunachst an solche zu denken ware, denen die Lehren der Aufklarung die Befriedigung eines wirklich seelischen Bedürfnisses bedeuteten. In höhern Kreisen haben die aufgeklarten Ansichten entschieden früher Eingang gefunden, als in denen, wo sie sich zu einer geistigen Macht entfalteten; die höchsten gesellschaftlichen Schichten empfanden die geistigen Errungenschaften des Rationalismus jedoch als eine <) Agth. 01 Buch XIV/4 Hp. m/150. 6 bequeme, exklusive, eigentlich nur den Mannetn zustehende Lebensphilosophie, welche ihrer Frivolitat sowie ihrem zügellosen Egoismus freien Spielraum IieB, wahrend dagegen die Religion den untern Schichten gegenüber ein bequemes Bandigungsmittel abgab. In dem MaBe wie die Aufklarung die bürgerlichen Schichten eroberte, und diese anfingen den in ihrer Form erlebten Familienkreis als Grundlage einer die menschliche Glückseligkeit verbürgenden, wohlgeordneten Gesellschaft zu empfinden, muBte bei ihnen das Bedürfnis nach einer zweckmaBigen Erziehung der Frau erwachen, welche aber nicht a u f christlichen Prinzipien, sondern auf denen der Aufklarung beruhen sollte.1) Dennoch verbreitete sich die Überzeugung von der Notwendigkeit einer solchen Erziehung nur langsam, wie aus der Klage hervorgeht, welche der Verfasser einer kleinen diesbezüglichen Schrift noch 1781 hören laBt. Er beschwert sich sowohl über die Tatsache, daB in Deutschland so recht wenig über dieses Thema geschrieben wurde, als darüber, daB die Erziehung der Töchter als eine Art Nebensache behandelt wird, alsob die Frau nicht Anspruch auf Ausbildung derHerzensunddes Verstandes erheben und an den Vorteilen, die der Menschheit aus auf geklarten Zeiten zuflieBen, teilhaben dürfte.2) Er will demnach der Frau Anteil an dem gewahren, was er als den wertvollsten Besitz des menschlichen Geschlechtes betrachtet, an der höhern Bildung, deren Tragerin zu sein, sich die Aufklarung mit Stolz bewuBt ist. Daher hat er wie Fénélon zu kampfen mit dem ^/Iderstand von seiten des Mannes, der sich in dem Zweifel an der Notwendigkeit einer wissenschaftlich begründeten Erziehung der Frau wie an deren Befahigung aus derselben wesentlich Nutzen zu ziehen, auöert. Auf den letztern Einwurf antwortet Fénélon nur mit der Mahnung, daB sie in diesem Falie um so mehr der Annahme bedürfe, wahrend unser Verfasser der „Schrift über die Erziehung junger Frauenzimmer aus mittlern und höhern Standen" die Frage auf sich beruhen laBt, obwohl er nicht umhin kann als seine persönliche Ansicht hervorzuheben, daB er die gleiche Veranlagung der beiden Geschlechter als wahrscheinlich betrachte.3) ') Krates und Hipp. Brief 18, Hp. X/125. 2) B. S. Walther. Berlin 1781. 3) Vergl. Arist. 1/14 Hp. XXV/87. Wichtiger kommt ihm der Zwcck der Erziehung vor, denn er tadelt eine wissenschaftliche Bildung, deren einzige Absicht ware mit dem gelehrten Töchterchen zu prunken. Wie Fénélon erblickt er den Zweck der Erziehung darin, die Frau zu ihrer künftigen Bestimmung als Vorsteherin des Hauses, Genossin des Mannes und Mutter der Kinder vorzubereiten,1) denn als auf eine selbstverstandliche Grundwahrheit weist er darauf hin, daB der Mann mehr für die öffentlichen Geschafte und gerauschvollen Auftritte des menschlichen Lebens, die Frau vorzugsweise für das stille, hausliche Leben geschaffen sei. Im 18 Jht. war die weibliche Erziehung an erster Stelle eine Frage der Moral, weil man sich des sittlichen Wertes des Familienlebens für die Gesamtheit bewuBt geworden war. Ein wohlgeordnetes und gesittetes Familienleben erschien nicht nur als ein fester Punkt in der allgemeinen sittlichen Zerrüttung, sondern der Bürger empfand einen solchen in sich selbst festgeschlossenen Kreis als eine Ordnung, die eine in sich zusammenbrechende Welt überdauern sollte. Daher ist das Neue nicht sowohl die Frau als Hausfrau, sondern vielmehr, daB diese Stelle alseinehoheWürde und als ein verantwortungsvoller Posten empfunden wird. Obwohl dem Bürger im öffentlichen Leben kein EinfluB gewahrt wurde, empfand er dennoch seine höhere Bildung und seine allmahlich zunehmende Wohlfahrt als Macht. Die wirtschaftliche Aufgabe der Frau war diese hausliche Wohlfahrt durch kluge Führung der Wirtschaft zu schützen und zu fördern. Daher die notwendige, gründliche Vorbereitung zur richtigen Einsicht in dieselbe, wozu manche Kenntnisse gehören, manche Übung angestellt werden muB, ehe der Verstand so weit geübt wird, daB er hier in allen vorkommenden Fallen dasjenige leiste, was das beste ist. Es kommt noch das Bedürfnis hinzu, in den Kreis des ziemlich engen bürgerlichen Lebens Anmut und Schönheit zu bringen. Das Leben des Bürgers war auf seine Geschafte oder auf seine amtlichen Verpflichtungen beschrankt, so daB in den, verglichen zu dem vorhergegangenen Jahrhundert, verhaltnismaBig ruhigen Zeiten das Band zum hauslichen Kreise immer enger wurde. Infolgedessen entstand für den Mann auf natürlichem Wege ein gesteigertes Bedürfnis in der Frau nicht nur die Verwalterin der Wirtschaft, sondern zugleich eine G ef a h r t i n zu besitzen. Und je nachdem die Bildung in den Bürgerkreisen zunahm, empfand man es in höherm MaBe als eine Not- ') Vergl. Goldsp. 11/15 Hp. XIX/151. wendigkeit, dem jungen Madchen eine Erziehung angedeihen zu lassen, wodurch es zwar an erster Stelle zur einsichtsvollen Wirtschafterin ausgebildet wurde, welche aber daneben den wissenschaftlichen und asthetischen Unterricht in sofern mit umfaBte, daB sie zur Hoffnung berechtigte, die Frau zum M i 11 e 1 p u n k t eines geistig angeregten, hauslichen Lebens zu machen.1) Sitte und Anmut der gut erzogenen Frau gereichen der Gesamtheit ebenso sehr zum Heil, wie das schlecht erzogene Frauenzimmer überhaupt einen verderblichen EinfluB ausübt. Das Familienleben als Stütze der Gesellschaft, die einsichtsvolle, zweckmaBig und nach Bedürfnis wissenschaftlich wie asthetisch gebildete Frau als Mittelpunkt desselben, vertritt einen Wert, dessen sich die Aufklarung durchaus bewuBt war. Das veranderte Verhaltnis der Frau zum hauslichen Kreis und infolgedessen zur Gesellschaft, bedeutete ein Erlebnis des Zeitalters, das Wieland zu seinen in der Form von Romanen dargestellten Erörterungen und Lobpreisungen drangte, wahrend es sich bei Schiller in den bekannten Versen des „Lied von der Glocke" zu der idealisierenden Verherrlichung der innerhalb ihres Kreises in tüchtiger Anmut waltenden Haus- frau verdichtete. Wie die Zeitgenossen empfindet Wieland demnach aufs lebhafteste das Bedürfnis einer bessern weiblichen Erziehung. Es befremdet uns nicht, wenn alles, was er in dieser Beziehung vorbringt, durch den etwas herablassenden Ton den zu der Frau sich niederbeugenden und sie in seinen Schutz nehmenden Mann verrat. Es ware schwer, eine Entwicklungslinie seiner Auffassungen zu Gunsten der Frau herauszuarbeiten. Wir haben es bei ihm, wie es in solchen Fallen gewöhnlich geht, nicht mit einem regelmaBigen Fortschritt zu tun, etwa ausgehend von dem Standpunkt, daB die Frau als bloBes Objekt zur Befriedigung sinnlicher Lüste oder bestenfalls als Mittel zur Fortpflanzung des Geschlechtes, allmahlich zur Gleichberechtigten des Mannes aufsteigt; vielmehr fallt uns auf, daB altere und neuere Anschauungen sich kreuzen. Sowohl die Begründung der notwendigen, bessern Erziehung durch die Behauptung, als sollte deren Vernachlassigung sich gerade bei der Frau in der Neigung ausschliefilich ihren sinnlichen Trieben zu leben, offenbaren,2) als das Lob, nach welchem eine Frau nebst einem Gemüt, das die Keime aller Tugenden in sich tragt, gerade ') Vergl. Arist. 111/24, Hp. XXVII/122. ') Agathdm. II/8 Hp. XXIII/51. so viel Verstand und Witz zum Anteil bekommen hat, als sie im Kreise des hauslichen Lebens verwenden kann,1) weisen darauf hin, daB Wieland sich unter Umstanden seiner mannlichen Uberlegenheit der Frau gegenüber, zur Genüge bewuBt war. Wenn mit einer gewissen Geringschatzung auf die Neigung der Frau, ihren sinnlichen Trieben zu leben, hingewiesen wird, müssen wir darin vielleicht den unbewuBten Versuch des Mannes erblicken, die Sittenverderbnis des Zeitalters groBenteils auf die Frau abzuwalzen. Diesen vorausgesetzten sinnlichen Neigungen der Frau soll eine Erziehung steuern, derzufolge die immanente Tugend ganz besonders durch die Ablenkung des weiblichen Interesses auf den hauslichen Kreis, ausgebildet wird. In sofern er die Frau nur als Hausfrau und Mutter erblickt, scheint Wieland eine tüchtige Bildung des Verstandes, sogar mit Rücksicht auf die Erziehung zur Tugend, kaum nötig zu urteilen. Die eben hervorgehobenen Worte scheinen wenigstens darauf hinzudeuten, daB Wieland zur Führung der Wirtschaft eine erweiterte Geistesbildung nicht als notwendig empfand, so daB er die Tugend der Frau wahrscheinlich eher von der Richtigkeit des Empfindens als von der vernünftigen Einsicht abhangig machte, wie denn auch schon darauf hingewiesen wurde, daB er sich die Verwirklichung der „Idee der Schonen Seele", besser in weiblicher als in mannlicher Erscheinung denken konnte. Dennoch bringt die Tatsache, daB er den Wert des Familienlebens sowohl für das Individuum wie für die Gesamtheit hoch einschatzt, mit sich, daB er eine gewisse Vorbereitung zu der Stellung einer Ehegattin und Mutter unumganglich urteilt, so daB er die Gründung von vorbereitenden Anstalten, worin die Madchen in den einfachen Disziplinen wie in den Tugenden, die ihre künftige Bestimmung erfordern, erzogen werden, befürworten möchte;2) Anstalten, wie sie praktisch schon versucht waren durch die 1698 erfolgte Gründung einer höhern Madchenschule durch August Hermann Francke. Wieland betrachtet also eine auf die engsten Pflichten der Ehefrau als Vorsteherin der Wirtschaft abzielende Erziehung als eine unabweisliche Forderung. Aber gerade mit Rücksicht auf den für diese Stellung erforderlichen Bildungsgrad schwanken seine Ansichten. Wahrend er in „Aristipp" die obenerwahnte, einigermaBen gutmütig geringschatzende Meinung ausspricht, hören wir an einer andern Stelle des namlichen Romans einen völlig abweichenden >) Arist. n/15 Hp. XXVI/50. 2) Goldsp. 11/15 Hp. XIX/151. Ton. Es wird zurückgewiesen, daB die Fraucn so schnell wie . möglich zu Ehefrauen crzogen, — man ware versucht zu sagen „abgerichtet", — werden sollen. In seiner etwas überschwenglichen J Redeweise betont er, man berücksichtige zu wenig, daB auch die Frau eine Seele habe, welche geschlechtlos sei,1) womit er natürlich ausdrücken will, daB die Frau vorlaufig ohne spezielle Berücksichtigung des Geschlechtes erzogen werden solle. Hier berührt eine andre Empfindungssphare sein Denken, welche mit der infolge der Erweichung der starren Orthodoxie zu Anfang des 18. Jhts. einsetzenden Humanisierung des Familienlebens im Verlauf der nachsten Jahrhunderte allmahlich an EinfluB zunahm, namlich das schon oben bezeichnete Verlangen in der Frau eine Freundin zu besitzen, eine geistig gleichberechtigte Lebensgefahrtin, der man die tiefsten Regungen der Seele offenbaren konnte. Wielands geteiltes Verhaltnis entspricht den beiden Formen, wie er die Frau erlebt hatte. Sein Hauswesen war gut bürgerlich, seine Gattin eine tüchtige Hausfrau und treue Mutter. Ihre wissenschaftliche Bildung war aber auBerst beschrankt, so daB er sich inmitten eines anheimelnden Familienkreises manchmal nach einem Verhaltnis intimerer und regerer geistiger Gemeinschaft gesehnt haben mag. Denn auch von dieser Seite hat er die Frau kennen und lieben gelernt. War es doch die geistig angeregte, hochgebildete Sophie Gutermann, die spatere Sophie La Roche, gewesen, die ihn in den Jünglingsjahren aus der Beschrankung eines engen, bürgerlich en Lebens hinausgeführt hat. Nach Wielands Empfinden kann der Mann sich des höchsten Glückes im hauslichen Kreise nur dann erfreuen, wenn er in der Gattin die geistig Ebenfürtige findet. Als Konsequenz dieser Auffassung soll er für die Frau eine Erziehung fordern, welche wie die des Mannes an erster Stelle die Ausbildung der Vernunft bezweckt. Diese Vorbereitung würde mit der in der oben erwahnten kleinen Schrift über die ,.Erziehung junger Frauenzimmer übereinstimmen, deren Verfasser es als seine Überzeugung ausspricht, daB die geistige Freundschaft zwischen dem Mann und der Frau einen erhabenen Zweck der Ehe bedeute, der nicht durch die verganglichen, bloB auBern Vorzüge erreicht werden könne. Deshalb besteht dieser auf die Ausbildung des Verstandes und des Herzens, weil edle Freundschaft darin ihren Grund habe.2) ') Arist. 1/14 Hp. XXV/87. 2) B. S. Walther. S. 15. Wenn Wieland in Danischmend1) auf eine gegenseitige Erganzung der Ehegatten hinweist, welche jedcnfalls die Empfindung des menschlich völlig Gleichwertigen aufs starkste betont, so benutzt er den Briefwechsel zwischen Krates und Hipparchia dazu, das Ideal voll ins Licht zu rücken. In demselben wird das Verhaltnis edler Freundschaft gleichsam analysiert, indem die Frau sich als Freundin, Geliebte, Gattin, Mutter der Kinder, Teilnehmerin an der Lebensweise des Mannes, wie an allen seinen Freuden und Leiden, Genossin aller seiner Vorzüge und Vertraute aller seiner Gedanken,2) bezeichnet. Auffallig ist, daB hier sogar die Bezeichnung Freundin und Geliebte zuerst genannt wird. Abgesehen von der Empfindung der menschlichen Gleichberechtigung scheint auch das BewuBtsein einer charakteristischen Erscheinung im 17. und 18. Jht. mitzureden. Wir denken an die hochgebildete Frau, wie sie in den Pariser Salons in den Vordergrund trat, die das Leben des Mannes weniger als Gattin denn als Freundin verschönerte. Diese für Wieland ohne Zweifel gewissermaBen verlockende Lebensform sollte er wegen der Gefahr, womit sie das Familienleben bedrohte, ablehnen, wahrend er auf der andern Seite die Augen nicht vor dem humanisierenden EinfluB, den die wirklich geistig feingebildete Frau auf die mannliche Welt auszuüben vermag, verschlieBen konnte.3) Es macht daher den Eindruck, als wollte er die Lebensform der Salons für das hausliche Leben retten, indem dieselbe Frau, die einerseits Freundin und Geliebte ist, sich andrerseits als die treue Gefahrtin in allen Schicksalen des Lebens zeigt. In derselben Gedankensphare bewegt sich Wieland, wenn er glaubt, als Grundlage für eine glückliche Ehe vollstandige Übereinstimmung der Gemüter, des Geschmacks und der Art, die Erscheinungen des Lebens zu betrachten und zu beurteilen, fordern zu dürfen, was die gleiche Ausbildung der Vernunft beider Geschlechter voraussetzt. Wir erkennen, daB auf diese Weise Gedanken, wie sie Fénélon mit christlichem Akzent aussprach, zu den humanistischen Ideen der Aufklarung umgebildet werden. Wielands padagogisches Denken beabsichtigt, wie schon erwahnt, keineswegs die Ausbildung eines wissenschaftlich ausgearbeiteten Erziehungssystems, sogar nicht, wo er von der Fürstenerziehung redet. Er will, genau wie die moralischen Wochenschrif- ') Danm. Cap. XX/20; Vergl. Goldsp. II/6 Hp. XIX/64. 2) Krates und Hipp. Brief 16, Hp. X/118. 3) Vergl. Agth. in Buch XIV/6 Hp. DI/168. ten, die Ideen der Aufklarung durch eine gefallige Form In die weitesten Kreise verbreiten und auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf jede Möglichkeit zur Förderung der Humanitat im Leben der Gesellschaft lenken. Eine Bedingung, dahin zu gelangen, ware allerdings, daB nicht die eine Halfte des menschlichen Geschlechtes infolge eines durch den Verlauf der Ereignisse hervorgerufenen, auBerlichen Verhaltnisses sich berechtigt fühlt, die als anders geartet empfundene andre Halfte, deshalb auch ohne weiter es als die Minderwertige zu betrachten.*) Diese Verteidigung der völligen menschlichen Gleichstellung des mannlichen und des weiblichen Geschlechtes entspricht den Idealen der Aufklarung derart, daB Wieland sich nun auch zur Beschaftigung mit Fragen wegen der weiblichen Erziehung, welche die Ehe nicht unmittelbar berühren, gedrangt fühlt. In diesem Zusammenhang sollen wir uns daran erinnern, daB der EinfluB, den das Zeitalter der Frau öfters auf die öffentlichen Angelegenheiten gewahrte, dazu unmittelbar aufforderte, zumal weil dieser EinfluB sich in weitaus den meisten Pallen als verderblich zeigte, wie denn auch Wieland nicht müde wird, die infolgedessen gezeitigten MiBverhaltnisse in grellen, aber der Realitat entlehnten Farben zu schildern. Mit der Befürwortung einer vernünftigen Erziehung der Frau, besonders wenn dabei ihre Bestimmung als Gattin vorlaufig unberücksichtigt bleibt, berührt er Fragen, die sich Fénélon ebenso wie dem Verfasser der „Schrift über die Frauenerziehung aufdrangten und die bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört haben, den mannlichen Teil der Menschheit in vielleicht noch höherm Grade als den weiblichen zu beunruhigen. Zunachst fragt man sich, ob die geistige Veranlagung der Frau der des Mannes gleichzusetzen sei, oder ob sie über geringere Geisteskrafte verfügt. Eine andre, die Gemüter nicht weniger bewegende Frage bezieht sich auf das MaB an Freiheit, das der Frau zu gewahren sei, wobei der Mann nur zu geneigt ist, den bisher zu seinen Gunsten bestehenden Unterschied fortdauern zu lassen. Man könnte beide Fragen zu der ethischen Frage vereinigen, ob das Verhaltnis, wie es im Verlauf der menschlichen Entwicklung zwischen dem Mann und der Frau entstanden ist, von humanistischem Standpunkt aus betrachte t, tatsachlich als gerecht zu bezeichnen ware, oder ob man hier nur mit einer gewissen Usurpation des Mannes zu tun hatte, wie ') Vergl. Agth. III Buch XIV/6 Hp. UI/162; Arist. 1/20 Hp. XXV/117. Wieland persönlich anzunehmen gcncigt ist.1) Wëre es möglich, zweifellos darzulegen, daB die geistigen Anlagen der Frau wirklich denen des Mannes nachstehen, so enthielte diese Tatsache gewissermaBen einen Rechtsgrund zur Verteidigung einer Gesellschaftsform, in der das mannliche Geschlecht immerfort bestrebt ist, dem Ganzen sein Geprage aufzudrücken. Die Tatsache, auf welche die moderne Psychologie der Frau hinweist, daB der weibliche Geist in der Anlage dem des Mannes weniger nachstehe, als daB er anders gerichtet ist, wird von Wieland ebenso wenig wie von seinen Zeitgenossen erwogen. Von dem Moment an, wo er die vernünftige Erziehung der Frau ohne Rücksicht auf die Ehe zu befürworten unternahm, glaubt er auch die völlige Ubereinstimmung der beiden Sexen in der geistigen Veranlagung annehmen zu müssen. Es ist die Übertreibung eines Prinzips, die man bei jedem für die Menschheit epochemachenden Gedanken beobachten kann, wie man in Perioden, wo die Naturwissenschaften einen tiefern Einblick in die Naturgesetze gewahren, immer wieder glaubt, bis in die letzten Geheimnisse des Daseins vordringen zu können. Wieland hat in seiner liberalen Auffassung der weiblichen Erziehung schon einen Vorganger gehabt, der, wie Wielands obenerwahnter Zeitgenosse nicht abgeneigt war, die Veranlagung der beiden Geschlechter prinzipiell als eine gleiche zu betrachten. Es war ein Franzose, mit Namen Poulain, der schon 1679 in Paris ein Werk über die Erziehung der Frau unter dem Titel „De 1'Education des Dames pour la Conduite de 1'Esprit dans les Sciences et les Moeurs", erscheinen lieB. Ungeachtet dieses Titels handelt es sich bei dem mit der Gedankenwelt des Cartesianismus anscheinend vertrauten Verfasser durchaus nicht speziell um die weibliche Erziehung; vielmehr wird, in Gesprachform zwischen Vertretern beider Geschlechter, die richtige Methode zur wirklichen Aneigung von Kenntnissen erwogen. Die Unterredungen, so behauptet er mit Nachdruck, seien den Mannern nicht weniger nützlich als den Frauen, denn beiden gebühre eine gleiche Unterrichtsmethode, mit denselben Absichten, weil sie zu der gleichen Gattung gehören (conune estans de mesme espèce). Die Absicht der Erziehung entspricht dem aufgeklarten Ideal einer in der eignen Vernunft fundierten Einsicht in die Verhaltnisse. Er fordert die gleiche erzieherische Sorgfalt für die beiden Geschlechter aus gesellschaftlichen Gründen. Die wohlerzogene Frau !) Arist. 1/20 Hp. XXV/117. ware nicht nur besser für ihre speziellen Pflichten vorbereitet, sondern sie ware, durch ihre tiefere Einsicht in die individuellen Verhaltnisse imstandë die eignen Angelegenheiten zu ordnen. Die weibliche Erziehung soll demnach die Befreiung der Frau von der mannlichen Oberherrschaft beabsichtigen. Unstreitig wird in diesem Werke eine bis in unsre Zeit ungelöste Frage berührt. Es handelt sich darum, die Frau auch mit Rücksicht auf die sozialen Verhaltnisse aufs sorgfaltigste zu erziehen, ohne daB ihr mit einer jedenfalls vorlaufig mannlich orientierten Ausbildung der Vernunft zu gleicher Zeit die mannliche Welt- und Lebensbetrachtung aufgenötigt wird. Zwar wird heutzutage mit der Verschiedenheit der Veranlagung, wodurch eine idealistische Gesinnung sicher nicht beeintrachtigt zu werden braucht, in höherm MaBe gerechnet. Praktisch auBert es sich aber gewöhnlich in einer Bildung, welche entweder bloB als eine Vorbereitung zu der künftigen, engern weiblichen Bestimmung erscheint, oder wenn dieses Prinzip schon durchbrochen wird, so bleibt die Bildung an Gediegenheit in vielen Fallen hinter der des Mannes zurück. Wenn Wieland die Frage nach der Gleichwertigkeit der weiblichen Veranlagung mit der mannlichen erhebt, so erfahren wir mit einigem Erstaunen, daB er manchmal nicht abgeneigt ist, der Frau in dieser Beziehung den Vorzug zu gewahren.1) An und für sich ist diese Einstellung ebenso einseitig wie die gewöhnliche. Zu erklaren ist sie aus seinem Erlebnis mit Sophie Gutermann, wie überhaupt aus der Tatsache, daB er dem weiblichen EinfluB sehr zuganglich war. Die Art und Weise, wie er im allgemeinen über die Frau schreibt, sowie die Tatkraft, mit welcher er sie in Schutz zu nehmen bereit ist, beweisen, daB er dem andern Geschlechte in der Frau als einer geheimnisvollen Erscheinung mit einer gewissen staunenden Ehrfurcht entgegentritt. Seine Hetarengestalten atmen zwar eine Pikanterie, die uns an die rokokomaBigen Frauengestalten der entsprechenden Malerei erinnert, aber daneben eine Feinheit des Geistes und der Intuition, welche sie dazu befahight, sich neben die bedeutendsten Manner zu stellen, sogar sich über sie zu erheben. Wir dürfen annehmen, daB die feingeistigen Vorsteherinnen der verschiedenen Pariser Salons, in denen öfters ein reges kulturelles Leben herrschte, so daB sie unter der Leitung ') Agth. in Buch XIV/6 Hp. UI/163. solchcr Frauen gewissen Kreisen ein Geprage gcistiger Bildung aufdrücktcn, Modell gestanden haben.1) & Obwohl er theoretisch die höhere Begabung der Frau voraussetzen will, kann er dennoch nicht verneinen, daB die Praxis ein ganz andres Bild darbietet, welche Beobachtung für seine Zeit jedenfalls ohne Zweifel richtig war. Die bedeutendsten Kulturgüter sind im Besitze des Mannes, und wir dürfen darauf hinweisen, daB die Welt gewiB bis in unser Jahrhundert ihre leider oft zweifelhaften Fortschritte eher dem mannlichen als dem weiblichen Geiste verdankt. Dennoch betrachtet Wieland diesen reellen Tatbestand keineswegs als einen Beweis gegen seine These; vielmehr erklart er denselben als eine Art Usurpation seitens des Mannes, die er vor allem seiner körperlichen Uberlegenheit zuzuschreiben habe.2) Diese Einseitigkeit in seiner Auffassung kann man neben seinem Erlebnis mit Sophie Gutermann nur auf die Tatsache zurückführen, daB er eine mögliche Andersgeartheit des weiblichen Geistes vollstandig auBer Betracht laBt. Es kann solches ihm aber um so weniger zum Vorwurf gereichen, als die Frau in unsern Tagen, wo sie wenigstens in einem bedeutenden Teil Westeuropas diejenigen Rechte und Freiheiten erworben hat, die den diesbezüglichen idealsten Forderungen Wielands teilweise entsprechen, im groBen und ganzen selbst noch nicht zu der Einsicht gelangte, daB ihre wesentlichen Anlagen sie zu der Verteidigung einer andern als der ausschlieBlich mannlichen Gesellschaftsform berufen. Und so lange die Frau sich dessen nicht klar bewuBt wird, ist es kaum anders möglich, als daB sie ungeachtet etwaiger Bildungsgleichheit in der Offentlichkeit praktisch zurückgesetzt wird und ihr ein wesentlicher EinfluB auf den Lauf der Ereignisse verwehrt bleibt. Wieland bewundert in der Frau groBe Gaben des Herzens und der Vernunft, dermaBen, daB er sich fragt, ob der Mann den Muthatte zu tun und zu leiden, was eine Frau zu tun und zu leiden fahig ist.3) Unter solchen limstanden versteht es sich ohne Weiteres, daB er in dem bestehenden Verhaltnis zwischen den Geschlechtern eine Ungerechtigkeit erblickt, die dem vornehmsten Gesetz wahrer Humanitat, der grundsatzlichen Anerkennung der ') Vergl. Krates und Hipp. Brief 33 Hp. X/151; Per. Prot. Hp. XXI/83; Arist. 11/20 Hp. XXVI/70. *) Arist. 1/20 Hp. XXV/117. 3) Agth. in Buch XIV/6 Hp. ÜI/162. Wesensgleichheit aller Menschcn, zuwider ist. So lange ein Teil der Menschheit sich für berechtigt halt, über den andern nach Belieben zu verfügen, bedeutet dies einen Widerspruch zu den Prinzipien der Aufklarung. Wenn Wieland auf dieses MiBverhaltnis, das sich sogar bis in unsre Zeit in nicht wesentlich geanderter Form zwischen den Geschlechtern behauptet hat, hinweist, ist er vollstandig im Rechte. Man mag einraumen, daB das zu Wielands Tagen wie in der Gegenwart bestehende Verhaltnis sich historisch ausgebildet hat und zwar besonders durch groBe Perioden der Menschheitsentwicklung hindurch, in denen die führende Stellung des Mannes zur Sicherung der Gesellschaft geboten erschien, man wird demgegenüber daran festhalten müssen, daB dieses Verhaltnis mit dem von Wieland verwendeten Ausdruck „Usurpation des Mannes"1) bezeichnet werden darf, sobald eine ausschlieBlich mannliche Vorherrschaft als eine zwingende Notwendigkeit empfunden zu werden, aufgehört hat. Demnach ist die Anklage berechtigt, daB die Frau, deren menschliche Würde der des Mannes gleich ist, und der die Aufklarung demnach ihren Anteil an der geistigen Bildung nicht vorenthalten will, dennoch unter der Herrschaft von Gesetzen leben soll,2) welche ausschlieBlich vom mannlichen Gesichtspunkt aus erlassen worden sind, ohne daB man je daran gedacht hatte, sie selbst deswegen zu befragen. Infolgedessen verliert die Frau das rein menschliche Recht über ihre eigne Person zu verfügen,3) wahrend andrerseits etwaige ungesetzliche, nur vom mannlichen Standpunkt aus beurteilte Handlungen dadurch einer unrechtmaBigen Beurteilung ausgesetzt sind. Die Befürwortung einer prinzipiell mildern Behandlung der Kindesmörderin ist ein Beleg dafür, wie Wielands Empfindung, nach welcher die Gesetzgebung der Frau nicht unter allen Umstanden gerecht werde, in den humanistischen Ansichten seines Zeitalters wurzelte. Daher entspricht es Wielands Arbeit an der Erziehung der Menschheit zu einer höhern Humanitat, wenn die Frau dazu aufgefordert wird, ihre Vernunft energisch auszubilden, damit dem unwürdigen Verhaltnis, in das sie versetzt worden ist, ein Ende gemacht werde.4) Das Licht der Philosophie soll sie aus der be- ') Arist. 1/20 Hp. XXV/117. *) Agth. III Buch XIV/6 Hp. III/162. 3) Vergl. Arist. 11/15 Hp. XXVI/51; Danm. Cap. XIV Hp. XX/185; Krates und Hipp. Brief 1 Hp. IX/79. *) Agth. m Buch XIV/6 Hp. III/165. taubenden Dumpfheit, worin die Seelchen der meisten ihr Dasein vertraumen, erlösen und sie zum Gefühl der Würde ihrer Natur erwecken.1) Er fordert somit für die Frau die Erziehung zu einer vernünftig denkenden Persönlichkeit, die selbstandig urteilend den Erscheinungen des Lebens gegenübersteht und sich vom Uberlieferten ebensowenig wie der Mann, der sich einer wirklichen Vernunftbildung befleiBigt, bevormunden laBt. An sie richtet er als Aufklarer dieselbe Forderung wie an den Menschen überhaupt, wahrend seine Betonung der groBen Gaben des Verstandes und des Herzens der Erwagung Raum laBt, ob er etwa von einer wissenschaftlichen Erziehung der Frau, welche der des Mannes nicht nachstehen würde, eine kraftige Förderung der Humanitat erwartete. Es gab aber gewiB keine schlimmere Beeintrachtigung des weiblichen BewuBtseins ihrer sittlichen Würde, als das noch energischer als dem Manne gegenüber geltend gemachte Recht, überdie Ehe der Kinder zu verfügen. Die Willkür, mit welcher die Vater sich berechtigt glaubten über die Hand der Töchter verfügen zu dürfen, mag der Ehe gerade für Frauen mit einem stark ausgepragten sittlichen Empfinden einen unmoralischen Charakter erteilt haben, wie dieses Bündnis, dessen Sittlichkeit auf der innern Harmonie beruht, dem Wesen nach nur als unsittlich betrachtet werden darf, wenn es durch irgendwelchen Zwang geschlossen oder aufrecht erhalten wird, falls diese Harmonie entweder niemals gewaltet hat, oder im Verlauf der Ehe schwindet. Die erste mit Rücksicht auf die Ehe zu stellende Anforderung ware die absolute Freiheit der Frau über ihre Hand zu verfügen. Das gilt für sie in noch höherm MaBe als für den Mann, weil die Ehe für sie, wo nicht nach Rechtsgründen, jedenfalls dadurch, daB dieses Verhaltnis in ihr Leben tiefer eingreift, praktisch bindender ist. Die sittliche Forderung der weiblichen Selbstbestimmung ist von Wieland als Recht der Frau anerkannt worden, weil nur unter dieser Bedingung dem Ehebündnis das für sie Erniedrigende genommen wird. Grundgesetz für sie ist die höchste Achtung vor dem Manne ihrer Wahl und ein berechtigtes Zutrauen zu seinem Zartgefühl, denn nur dadurch ist er imstande die Frau im Besitze des VollbewuBtseins ihrer menschlichen Würde zu erhalten.2) ') Krates und Hipp. Brief 18 Hp. X/125. ') Krates und Hipp. Brief 29 Hp. X/143; Men. Glyc. Brief 21 Hp. X/40; Arist. n/15 Hp. XXVI/51. In solchen Auffassungen Wielands darf man cincn Beweis für die Tatsache erblicken, daB im Verlauf des 18. Jhts. wohl infolge der verhaltnismaBigen Ruhe des auBern Lebens die Frau in höherm Ansehen stand als im stark militaristisch einsetzenden 19. Jht., welche Gesinnung wiederum eine gewisse Geringschatzung der Frau zur Folge hatte, wie sie Rousseau durch seine Theorie über die weibliche Erziehung unbewuBt zum Ausdruck brachte. Dieselbe ungewollte Geringschatzung verrat er, wenn er uns in seinem Roman „La nouvelle Héloise" glauben lassen will, daB eine Frau, wenn sie einem Manne mit der vollen Glut einer leidenschaftlichen Liebe zugetan ist, imstande ware, auf den Befehl ihres Vaters einen Freund desselben, der also wahrscheinlich ihr Vater sein könnte, nicht nur zu heiraten, (denn daB die vaterliche Gewalt von dem Flehen der Mutter und der Angst für das Leben derselben unterstützt, ein junges Madchen dazu vermogen, ist allerdings nicht unannehmlich) sondern sogar an der Seite dieses Mannes ein verhaltnismaBig glückliches Leben, das innere Befriedigung gewahrte, zu führen. Im Zusammenhang mit der Erörterung von Fragen über das Verhaltnis der Frau zur Gesellschaft, legt Wieland den Finger noch auf eine andre wunde Stelle, namlich auf die öffentlich verteidigte oder stillschweigend anerkannte doppelte Moral. Die Konsequenz seines Denkens forderte natürlich deren unbedingte Ablehnung, weil sie direkt in die Menschenrechte der Frau eingreift, wahrend sie auch ethisch durchaus anfechtbar ist. Wenn auch eine gewisse Relativitat der Ethik, wenigstens insofern sie als empirische Erscheinung betrachtet wird, an und für sich nicht ausgeschlossen ist, so ware eine Relativitat der Ethik unter den gleichen Kulturverhaltnissen nichts weniger als eine Auflösung derselben. Zwar wird diese doppelte Moral oft mit einem sozusagen ehrenvollen Seitenblick auf die Frau verteidigt, nach dem Grundsatz, daB man gerade von ihr, die man gewissermaBen als das Ideal der menschlichen Erscheinungsform empfindet, eine Abweichung von dem als ethisch Anerkannten noch weniger als vom Manne dulden kann. Dies ware an sich recht ansprechend, vorausgesetzt, daB diese angebliche Ehrfurcht vor der Frau unter allen Umstanden eine gesellschaftliche Realitat ware, was man mit Recht bezweifeln darf. Eine schlimme Konsequenz dieses Empfindens ist aber, daB es weibliche Handlungen gibt, die nicht nur von der öffentlichen Meinung, sondern auch vom Gesetze oder von amtlicher Seite nach einem andern MaBstab als die entsprechenden des Mannes beurteilt werden. Der Ursprung der doppelten Moral liegt ebenso sehr im Gefühl der Herrschaft, kraft deren man sich dem Untergebenen gegenüber zu Anforderungen berechtigt glaubt, die man sich selbst nicht stellt, als im Streben diese Herrschaft zu behaupten, indem man gewisse Gebiete des Lebens nur für sich auffordert, unter dem Motiv, daB sie für die Frau als unmoralisch zu bezeichnen waren. Es ist schon eine Ungerechtigkeit, worauf Wieland nachdrücklich aufmerksam macht, daB derselbe Mann, der nicht die Kraft oder den Willen hat die eignen Triebe zu bezahmen, dennoch grundsatzlich von der Frau eine Lebenshaltung fordert, als ob ihr von vornherein alles Menschliche fremd ware, oder wie Wieland es in seiner Sprache sagt: „Mit welchem Rechte können wir Unholde mit allen unsern mannlichen Unarten und Lastern von diesen lieblichen Wesen verlangen, daB sie ebenso viele eingefleischte platonische Ideen, ohne alle Mangel seien."1) Als Abart der doppelten Moral ist eine gewisse Selbstüberschatzung des Mannes der Frau gegenüber zu betrachten, die sich besonders dann offenbart, wenn der Mann durch den Brautstand oder die Ehe zu ihr in intimste Beziehung getreten ist. Die Selbstüberschatzung liegt eben darin, daB man es nur zu leicht als die natürlichste Sache der Welt betrachtet, daB die Frau die endgültige und vollstandige Lebenserfüllung im Manne, in der Heirat und eventuell daneben in den Kindern finden sollte. Man behauptet die persönliche Bewegungsfreiheit, wahrend der Frau die Pflicht aufgebürdet wird, sich auf die engsten Kreise zu beschranken. Selbstverstandlich berühren wir hiermit angesichts der gröBern Bewegungsmöglichkeit und des weitern Wirkungskreises der modernen Frau Fragen, die für uns bedeutend dringlicher als zu Wielands Zeiten sind. Dennoch hat er dieselben prinzipiell erwogen auf dem Gebiet, wo mannliche und weibliche Interessen auf natürliche Weise zusammentreffen und zwar mit Bezug auf die Anteilnahme an der uns umringenden Welt wie am geselligen Leben. Die Schönheit und das Interessante der Welt und des vollen Lebens kennen zu lernen, dazu war damals dem Manne weitaus bessere Gelegenheit als der Frau geboten, aber es galt als selbstverstandliche Forderung, daB die Frau sich möglichst aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen sollte, wahrend der Brautigam oder der Gatte seinerseits in vollen Zügen des Lebens ') Men. Glyc. Brief 8 Hp. X/20. genoB, wie Schiller es in den bekannten Versen im Lied von der Glocke fast epigrammatisch ausdrückt. Wieland empfindet diese Forderung als eine ungerechte Verteilung der Rechte und Pflichten unter die beiden Geschlechter, so daB seiner Ansicht nach die Frau keineswegs gebunden ware, ihr Leben zu vertrauern, wahrend der Mann, den sie liebt, entfernt von ihr, das seinige interessant und wechselvoll zu gestalten weiB.1) Übrigens lage hier bloB ein Einzelfall der ethischen Haltung der Bescheidenheit vor. Der gesellschaftliche Anstand will von der Frau als erste Tugend eine gewisse Zurückhaltung; ein sich irgendwie aufdrangendes Wesen wird sofort als Verletzung der Moral gefühlt, welche manchmal sogar von den Frauen selbst harter als vom Manne getadelt wird. Wieland ist damit einverstanden, daB die Bescheidenheit als eine ethische Lebensform zu betrachten ware, jedoch gezieme dieselbe nicht nur der Frau.2) Durch diese Bemerkung wird im Grunde jeder Anspruch, den der Mann auf eine andre Beurteilung seiner Handlungen als die der Frau glaubt erheben zu dürfen, zurückgewiesen, und als ethisch unstatthaft bezeichnet. Wenn wir Wielands Gedanken über die weibliche Erziehung erwSgen, so fallt uns auf, daB er, wie bei allen von ihm berührten padagogischen Fragen, weniger den Weg zur weiblichen Erziehung andeutet, als daB er das Ergebnis der verschiedenen Methoden derselben vor Augen führt. AuBer in seinen Jugendverhandlungen,3) redet er niemals direkt von der Methode, die er den berufsmaBigen Padagogen überlaBt. Er selbst fühlt sich berufen der Mitwelt, soviel wie möglich in künstlerischer Form, das Ideal vorzuhalten. Was die Frau betrifft, fordert dieses Ideal unter Berücksichtigung der weiblichen Anlagen, ihre Ausbildung zum selbstandig urteilenden und handelnden Menschen, wodurch sie die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes schon sehr zu mehren fahig ware, weil ihr Wesen im Gegensatz zu dem des Mannes weniger auf Eroberung und Kampf, als auf die stille Behauptung des Besitzes und den Ausgleich der Gegensatze gerichtet ist. ') Men. Glyc. Brief 21. Hp. X/39. 2) Krates und Hipp. Brief 12 Hp. X/105. s) Plan einer Akademie zu Bildung des Verstandes und Herzens Junger Leute. Hp. XL/729 ff. V. FREUNDSCHAFT. Wahrend des Verlaufs unsrer Untersuchungen hatten wir schon einige Male die Gelegenheit darauf hinzuweisen, wie verschiedene Erscheinungen und Auffassungen innerhalb unsrer Gesellschaft sich aus dem vorwiegend mannlichen Charakter derselben erklaren lieBen. Im Zusammenhang hiermit wird unsre Aufmerksamkeit auf die Tatsache hingelenkt, daB die Empfindung der „Freundschaf t", dieses Wort natürlich in seiner tiefsten Bedeutung gefaBt, vorzugsweise eine spezifischmannlicheGefühlsbindung hervorhebt.1) Es unterliegt keinem Zweifel, daB dieses ganz besondere Verhaltnis in den kriegerischen Perioden der Menschheitsentwicklung seinen Ursprung hat, wie denn in den verschiedenen Sagen aus dem Heldenzeitalter der Völker Freundschaftspaare oder Grappen vorwiegend besungen werden. Wir können beobachten, daB unter ahnlichen Verhaltnissen übereinstimmende Gefühlskomplexe entstehen.2) Obwohl die Entwicklung der europaischen Kultur durch ein Zurücktreten des Krieges als Gewerbe und ausschlieBliche Betatigung des Mannes gekenzeichnet wird, hat sich dennoch in den neuentstandenen Gesellschaftsformen nicht nur die in langen, kriegerischen Zeitraumen befestigte Vorherrschaft des mannlichen Geschlechtes behauptet, sondern es haben sich auch die ursprünglichen Verbande in modifizierter Form fortgesetzt. Denn bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, als der Frau in unsrer westeuropaischen Welt im öffentlichen Leben allmahlich offiziell ein umfangreicheres Arbeitsfeld eingeraumt wurde, betrachtete man alle Gruppenbildung, welche irgend einen öffentlichen Zweck verfolgte, sei es wirtschaftlicher, idealistischer oder auch bloB geselliger Natur, als ausschlieBliches Vorrecht des Mannes. Die Verbande, mögen es die mittelalterlichen Zünfte, die seit dem Anfang der Neuzeit aufkommenden, machtigen Handelsbünde, oder einfluBreiche, ideale Absichten verfolgende Ver- ') Vergl. die Auffassung der Freundschaft bel Jean Paul. 2) Wahrend des Krieges wurde dieses Verhaltnis sogar religiös umgestaltet. 7 eine, wie der Freimaurerbund sein, sie alle bildeten eine durchaus mannliche Welt, der die besten Krafte des Mannes gewidmet waren.1) Daneben war auch das gesellige Leben, insofern es sich in festen oder zufalligen Verbanden auBerhalb des Hauses offenbarte, bis auf den Klub und die Kneipe, dein Manne vorbehalten. Nur religiöse Verbande kann man etwa ausnehmen, weil die Frau auf diesem Gebiet in christlichen Landern auch im öffentlichen Leben neben dem Manne mehr hervorgetreten ist, so daB neben den Mönchsklöstern immer die Nonnenklöster bestanden haben, wahrscheinlich eine Folge der im Christentum prinzipiell anerkannten Gleichheit zwischen Mann und Frau, wenigstens mit Rücksicht auf die unsterbliche Seele. Jedoch auch auf diesem Gebiet wurde das mannliche Vorrecht der Gruppenbildung nicht vollstandig durchbrochen, was aus der Tatsache hervorgeht, daB die Nonnenklöster immer der mannlichen Oberaufsicht unterstellt waren, nicht nur in der Gestalt des Bischofs als einer kirchlichen Behörde, sondern sogar in dem Beichtvater, der in der kirchlichen Hierarchie eine niedrigere Stufe als die Abtissin des Klosters innehaben konnte. Bisher wurde das ^Vort ,,Freundschaft auf das Verhaltnis von Gruppen unter einander angewandt, welche unter irgendwelcher Leitung gemeinschaftlich irgendeinem Ziel nachstrebten. In der gewöhnlichen Bedeutung verwendet man das Wort für jenes natürlich bis auf die Gegenwart vorkommende, aber im Verlauf des 18. und 19. Jhts. nachdrücklicher hervortretende, eigentümliche Verhaltnis von Mannern, die zusammen in irgendwelchem wissenschaftlichen, literarischen oder allgemein idealistischen Streben verbunden waren. Man mag hier an zahlreiche mehr oder weniger berühmt gewordene literarische Vereine denken, von der Kürbishütte bis auf die Enzyklopadisten, oder an die gemeinschaftliche Arbeit von Mannern wie Hume und Smith, Goethe und Schiller und Jacob und Wilhelm Grimm. Wenn wir daneben erwagen, daB vor der im vorhergehenden Kapitel hervorgehobenen Humanisierung der Familie dem Nflanne innerhalb des hauslichen Kreises die Mitteilung seiner innigsten Empfindung entweder durch die sehr beschrankte, weibliche Bildung verwehrt war, oder dadurch, daB er eine solche Haltung nicht als seiner Würde als Familienvater gemaB betrachtete, so dürfte man Bacon, der das Lob der Freundschaft auf die Erwagung gründete, daB er zu seinem >) Agathdm. II/3. Hp. XXIII/42 ff. V/4, ebd. 139; VI/3. ebd. 177. Sohne nur als Vater, zu seiner Frau nur als Gatte sprechen könne,1) einigermaBen verstehen. Wenn die Freundschaft in einer der oben beschriebenen Formen, wobei natürlich noch Kombinationen möglich, sogar wahrscheinlich sind, auftritt, ist sie nicht nur ein wesentlicher Faktor im Leben des Mannes, sondern sie mag manchmal für die Gesellschaft als Ganzes von weittragender Bedeutung gewesen sein. Dieser Umstand muB dieselbe zu einem Gegenstand jeder ethischen oder padagogischen Betrachtung machen. Weil man zu Wielands Zeiten, bei derVerwendung dieses Wortes weit eher als in der Gegenwart, ausschlieBlich an das Verhaltnis zwischen Erwachs e n e n denken muBte, so war Wieland urn so mehr veranlaBt, die Bedeutung der Freundschaft für das moralische Wesen des Einzelnen oder der Gesellschaft zu erwagen, als sein padagogisches und ethisches Denken überhaupt sozial orientiert war. Bei seinen Erwagungen denkt er selbstverstandlich nur an den wirklichen Freund, mit dem auch nach Wielands Empfinden eine ganz besondere Gefühlsbindung b e s t e h t, denn nur der Freund sei imstande eine geheime Sehnsucht des Herzens zu befriedigen.2) Hier liegt mit dem im vorigen Kapitel Erörterten kein Widerspruch vor, da die Frau ja erst durch eine vernünftige Erziehung zu einer Gattin ausgebildet werden sollte, die imstande ware den Freund zu ersetzen. Es wird sicher immer im Verhaltnis zum Freunde ein andres Gefülsmoment hervortreten als in dem zur Frau (eventuell als Gattin); ein Gefühlsmoment, das viele nicht entbehren können. Für Wieland hat das Wort Freund einen ernsten Klang, so daB er die Zeitgenossen vor der leichtsinnigen Verwendung des Wortes „Freundschaft" warnt, in soweit es nach seiner Ansicht oft nicht viel mehr als ein Übereinkommen ist, einander gewogen zu sein, so lange es das Interesse zu fordern scheint.3) Ebensowenig wie Locke und Rousseau behandelt Wieland die Freundschaft als einen ernsthaften Faktor im Leben der Jugend, was bei der absoluten Unfreiheit der damaligen Jugend infolge der ausschlieBlichen Leitung seitens der Erwachsenen, nur selbstver- ') Vergl. L. L. Schücking: Die Familie als Geschmackstrager in England, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1926 Heft 3. Seite 450. 2) Agth. n. Buch VIM. Hp. 11/21. 3) Agth. II Buch 1X12. Hp. 11/89. standlich ist. Als Jugendfreundschaft wurde nicht viel andres betrachtet als das zufallige Zusammentreffen und der möglicherweise daraus hervorgehende, mehr oder weniger intime Umgang zwischen annahernd Gleichaltrigen. Zu jeder Zeit mag man empfunden haben, daB innerhalb einer gröBern Gemeinschaft, wobei für die Jugend an erster Stelle eine Erziehungsanstalt in Betracht kommt, unter kleinern Gruppen von Gleichgesinnten eine eigentümliche Atmosphare entstehen kann, welche groBe Perioden des weitern Lebens zu beeinflussen vermag. Die Biographien fast aller bedeutenden Manner bezeugen es, aber dessenungeachtet ist mit der padagogischen Verwertung der Jugendverbande erst in unserm Jahrhundert einer relativen Freiheit des Kindes Ernst gemacht worden, lïber die Freundschaft von Kindern unter einander denken Wieland und Rousseau im Grunde genommen übereinstimmend; indem sie diejenigen als Freunde bezeichnen, welche als Mitspielende zur Vergleichung und zum Wetteifer aufforderni) Wir dürfen uns um so weniger deswegen wundern, als wir bei dem die Bedürfnisse des kindlichen Gemüts in hohem MaBe berücksichtigenden Padagogen Hinrich Joachim Campe noch derselben Auffassung begegnen. Freunde sind bei dem letztgenannten die unter seiner Leitung und der seiner Gattin allerhand geistige oder moralische Übungen vornehmenden Angehörigen einer Gruppe von Zöglingen. Rousseau, bei dem der Werdegang eines jungen Menschen vom ersten Kindesalter an besser ausgearbeitet ist als bei Wieland, gewahrt dadurch eine tiefere Einsicht in die Auffassung der Jugendfreundschaft als Wieland selbst. Es fallt bei Rousseau die Behauptung auf, daB erst der Jüngling, dessen Gefühlsleben zu erwachen anfangt, das Bedürfnis empfindet sich einem andern anzuschlieBen. In solcher Ausdehnung ist diese Bemerkung unrichtig; besser ware es gewesen, wenn Rousseau sich auf das „bewufite Bedürfnis sich einem oder mehreren dauernd anzuschlieBen, beschrankt hatte. AnschluBbedürfnis haben kleine Kinder gleichfalls; nur ist es ein völlig unbewuBter Trieb und demzufolge oft wechselnd und grillenhaft. Natürlich wird, wie Rousseau mit Recht behauptet, ein spaterer, engerer AnschluB zunachst an solche stattfinden, deren Umgang einem durch die Gewohnheit teuer geworden ') Vergl. Jugenderinnerung in Araspes und Panthea. ist; aber daB man dabei an erster Stelle an den Erzieher zu denken habe, kann Rousseau nur deshalb behaupten, weil derselbe nach seinem Ideal einen und denselben Zögling bis zur Heirat durch das Leben begleiten soll. Das Kind besitzt in dem Erzieher den Leiter, auch wenn es solches nicht spürt, und dieser Erzieher benützt die Gleichaltrigen nur dann, wenn es ihm nötig dünkt, zu irgendeiner Ubung zu reizen.1) \Vieland geht auf solche Verhaltnisse nicht naher ein, wozu er sich um so weniger veranlaBt fühlte, als sein padagogisches Denken sich kaum mit einer rein individuellen Erziehung, am wenigsten mit der Erziehung von Kindern beschaftigt. Dennoch wird für ihn die Jugendfreundschaft nur von dem ebenerwahnten, rousseauischen Standpunkt von Bedeutung gewesen sein, wie das Zusammenleben seines imaginaren, fürstlichen Zöglings mit den Gleichaltrigen zeigt.2) Es macht den Eindruck, daB er sich wie Rousseau eine wirkliche Gefühlsbindung nur bei der reifern Jugend vorstellen kann und er stimmt mit diesem auch darin überein, daB das Gefühl der Freundschaft sich dann vorzugsweise auf den Mentor zu richten hat, weshalb er sich in der Jugendschrift über eine neue „Art von Privaterziehung" das Verhaltnis der Zöglinge zum Erzieher wesentlich als ein freundschaftliches denkt. Sowohl bei Rousseau wie bei ^Vieland,3) wird das Freundschaftsbedürfnis des jungen Menschen zu einem padagogischen Faktor. Daher wird in ernsthafter Behandlung eines solchen Verhaltnisses, dasjenige zwischen einem Altern und Erfahrenern, und einem Jüngern, Unerfahrenen, vorausgesetzt. Der Zweck der Erziehung durch die Freundschaft ist ein vorwiegend sozialer, und zwar bei Rousseau und Wieland wesentlich derselbe, namlich die Ausbildung der humanistischen Empfindungen. Bei Rousseau ist in dem Augenblick, daB dieser Zweck erfüllt ist, und zwar dann, wenn der Schüler als unabhangiger Mensch inmitten der Gesellschaft steht, der Zweck der Erziehung überhaupt erfüllt. Wielands erzieherische Absichten aber reichen weiter; sein Schüler soll nicht nur zu einem fertigen Menschen gebildet werden, sondern sich zu gleicher Zeit der Pflicht bewuBt werden, eine rein humanistische Gesinnung unter seinen Mitmenschen nach dem MaBe seiner Krafte zu fördern, um auf diese ') Emile II (Bibl. Larousse pg. 100). 2) Goldsp. n/5. Hp. XIX/59. 3) Agathon: Archytas. Weise tatig zur Glückseligkeit der Menschheit mitzuwirken.1) In Wielands erzieherischem Denken waltet die Rücksicht auf andre vor; er beabsichtigt die Verbreitung einer möglichst groBen Summe von Glück, zu der jedes Individuum und jede Gruppe oder Gemeinschaft beizutragen hat, so daB der Endzweck seiner Erziehung im Einklang mit den Idealen der Aufklarung zuletzt kosmopolitisch ist. Dagegen bildet Rousseau im Zögling die Selbstliebe aus, d.h. eine Gesinnung, welche den künftigen Mann dazu veranlassen soll, zunachst auf die S e 1 b s t e r h a 11 u n g bedacht zu sein, was aber bei Rousseau bedeutet, daB er ebensowenig geneigt sein soll in das Lebensgebiet der andern zu seinem eignen Vorteil einzugreifen, als daB er selbst solche Eingriffe dulden würde. Denn das Hinübergreifen in andrer Lebensgebiet ist nicht eine AuBerung der „Selbstliebe", sondern des „Ego is mus" (nicht amour dc soi sondern amour propre) und hat all diejenigen Laster zur Folge, welche sowohl Rousseau als Wieland unter dem Namen „L u x u s" zusammenfassen.2) In diesem Zusammenhang sei noch einmal betont, daB Rousseaus padagogischer Endzweck nicht kosmopolitisch, vielmehr nationalistisch bedingt ist; wobei die Form der Nation als Republik gedacht wird, weil der rousseauische Mensch in dieser Staatsform seine Vorzüge am besten zu zeigen vermag. Die Verschiedenheit der Ideale bringt eine verschiedene Einstellung im Freundschaftsverhaltnis zu dem Schüler mit sich. Man könnte es in einer Formel so ausdrücken : „das Freundschaftsverhaltnis ist bei Rousseau die Vollendung der Erziehung, bei Wieland zunachst die Probe auf eine schon fertige Erziehung zum tugendhaften Menschen und schlieBlich die Fortbildung zum Menschheitsbeglücker . "Wielands monarchische Gesinnung3) legt es ihm nahe, diese Erziehung in der Form einer Fürstenerziehung, obwohl nur andeutend, auszuarbeiten. Daneben ist die Grundverschiedenheit ihres Geistes wohl zu berücksichtigen. Wieland erwartet als Aufklarer am Ende alles Heil von der menschlichen Vernunft,4) wahrend Rousseau die auf dieser Vernunft beruhende Kultur für wertlos erklart hatte und dieselbe, weil sie den Menschen von der ') Vergl. Danm. Cap. 13. Hp. XX/61; Agathdm. III/l. Hp. XXIII/70. 2) Vergl. Goldsp. II/3. Hp. XIX/41. 3) Vergl. Agth. III Buch XI/1. Hp. 111/15. *) Phil. Schr. Hp. XXXII/300. Natur entfernt, sogar eher als eine Depravation denn als eine Weiterentwicklung empfand. Seinem vernünftigen Denken gemaB konstruierte Wieland einen gewissen Zustand der Glückseligkeit, welche zu verwirklichen ware. Demzufolge wird sein Vorgehen didaktisch und rasonierend. Bei ihm ist der tugendhafte Mensch innerlich fertig in dem Augenblick, da er ihn in die verderbte Welt einführt.1) Rousseau, der auf die rein konstruktive Vernunft keinen Wert legt, kann das wirkliche Leben mit seinen Gefahren nicht wie Wieland als eine Gesamtheit von Erscheinungen betrachten, über der sein Zögling infolge seiner vernünftig fundierten Tugend von vornherein erhaben ware, sondern nur als eine Praxis, deren Gefahren er in der Absicht den Zögling dagegen zu rüsten, demselben zeigt, wahrend er sie mit ihm teilt. Rousseaus Verwerfung der konstruktiven Vernunft als Grundlage der Kultur, veranlaBte ihn für den AbschluB der Erziehung ebenso wie für die Erziehung in den Kinderjahren grundsatzlich empirische Methoden zu befürworten. In dem freundschaftlichen Verhaltnis, das Wieland zwischen einem künftigen Fürsten und seinem Erzieher schildert, empfinden wir den in ihm wie in vielen hervorragenden Zeitgenossen lebendigen Wunsch auf irgendeinen Fürsten einen derartigen EinfluB zu gewinnen, daB er diesem das Elend der Untertanen zeigen1) und ihm Mittel vorschlagen dürfte, diesem abzuhelfen. Es ist die befreiende Tendenz der Aufklarung, welche sie der Genieperiode weitergegeben hat und welche in dem Briefwechsel zwischen Enzyklopadisten wie Grimm und Diderot mit europaischen Fürsten, sogar mit der Kaiserin von RuBland, ihren Ausdruck fand. Diese Tendenz zur Befreiung und Beglückung einer leidenden Menschheit spiegelt sich in der Wahl des Zöglings als dessen spatern Freund der Erzieher sich denkt. Denn von einer Wahl darf man gleichfalls bei Wieland reden, wenn er dieselbe auch nicht wie Rousseau nachdrücklich hervorhebt. Dieser setzt sich die Erziehung zu einem unabhangigen Menschen zum Ziel, ohne weitere soziale Absichten, weshalb er sich als Zögling ein gesundes Kind von durchschnittlicher Begabung wahlt. Wieland schildert das Verhaltnis zwischen dem Erzieher und seinem Zögling nach denselben Prinzipien, welche die Grundlage zu Rousseaus Theorien bilden, so daB auch er sich die Verbindung zwischen dem Erzieher und dessen Zögling als eine lebenslangliche ') Goldsp. II17. Hp. XIX/70. 2) Vergl. Goldsp. 1/5. Hp. XVIII/74. denkt, wobei der Erzieher sogar die Sorge für die Heirat des Zöglings übernimmt.1) Seine Welterlösungssehnsucht drückt sich aber ganz besonders darin aus, daB er sich einen jungen Fürsten zum Zögling wahlen möchte, dessen glanzende Begabung sich bei der leisesten Anregung seiner schonen Seele offenbarte,2) so daB er, vom Mitleid mit den Bedrückten und Leidenden ergriffen, diesen gleichsam zu einem Messias der Humanitat werden sollte. Bisher war nur von der Freundschaft zwischen dem Zögling und seinem Mentor die Rede. Nicht nur in dieser Form erwahnt Wieland dieselbe, sondern auch als eine Gefühlsbindung zwischen Gleichaltrigen.3) Sie interessiert uns nur in soweit, als sie irgendwelche padagogische Tendenz vertritt, womit der ethische Wert einer Freundschaft, die sich ohne irgendwelche erzieherische Pratension, bloB um das gegenseitige Verhaltnis und die daraus entspringenden Pflichten kümmert, keineswegs in Abrede gestellt sein soll. Es ist diese Seite der Freundschaft, welche Wieland wie jeder normale Mensch, obgleich mit einer nach unserm Geschmack zu sehr betonten Empfindsamkeit, pflegte, so daB der Ausdruck derselben,4) mit Ausnahme der Uberschwenglichkeit des Gefühls, durchaus natürlich anmutet. Die padagogische Tendenz der Freundschaft offenbart sich bei Wieland darin, daB die Freunde sich bewuBt zu moralischer Stütze werden. Man kann hier zunachst an eine Form der Selbsterziehung denken, indem die Freunde sich gegenseitig an die ethisch en Lehren derer, die sie in ihren Bildungsjahren leiteten, erinnern, wahrend sie gemeinschaftlich einem ethischen Ideal der Lebensgestaltung zustreben. Dieses Moment darf in einer ernsten Freundschaft natürlich nicht fehlen. Nur ist es klar, daB ein derartiges Verhaltnis wirklich ethische Charaktere voraussetzt, eine Eigenschaft, welche sich zunachst in einer zurückhaltenden Bescheidenheit zeigen soll. Ohne diese ist es prinzipiell unmöglich, weil das eigentümliche Geprage eines solchen auf ethischem Enthusiasmus beruhenden Bandes erst dann recht klar wird, wenn bei der einen Partei seelische Konflikte entstehen, die zu einem Kampf um das ethische Ideal, oder wie Wieland es ausdrücken würde, um das Tugendideal, führen. Demjenigen, der ') Goldsp. II/6. Hp. XIX/64. 2) Vergl. Goldsp. II/9. Hp. XIX/83. 3) Krates und Hipp. Araspes und Panthea. 4) Vergl. Krates und Hipp. Brief 27 Hp. XI140 ff. diesen Kampf nicht zu bestehen hat, gebührt ein feiner Takt, damit er durch ein frühzeitiges Urteil, unter Umstanden möglicherweise durch ein Vorurteil, den psychischen Konflikt nicht verscharfe, da er in diesem Falie die Möglichkeit zur Abwalzung desselben verhindert. Dann wird der Taktlose zum unertraglichen Mahner wie in dem betreffenden uns von Wieland geschilderten Verhaltnis.1) In einem seelischen Kampf, wo es zur Befreiung des Freundes vor allem galt, auf dessen Ergüsse zu hören und ihm zur Aussprache vollauf Gelegenheit zu bieten, werden an den Kampfenden immerfort sittliche Mahnungen und Bedrohungen gerichtet. Der Freund wird zum Moralprediger.2) Vieles Reden, nach unserm Empfinden überhaupt die Schwache der Wielandschen Schriften, ist auch in der geschilderten Lage der notwendige Ausdruck einer Überzeugung, nach der man durch die vernünftige Belehrung jedem zu dem Sieg der Vernunft über die Triebe verhelfen könnte. Dieses sonderbare Freundschaftsverhaltnis konnte jedoch von Wieland nur unter zwei Bedingungen gezeichnet werden. Zunachst sollte in ihm die Tugend zur kardinalen Bedingung zur Erlösung der Menschheit geworden sein, und als solche die spezifisch christliche Vorstellung verdrangt haben, wahrend gewisse Erscheinungen innerhalb der christlichen Welt gleichfalls ins Ethische umgebildet wurden. Der Freund, der als moralischer Mahner neben dem Freund steht, ist an die Stelle des „Bruders" innerhalb der pietistischen Kreise getreten, der es wie der Freund in Wielands Jugendroman sicher nicht an leitenden Winken hat fehlen lassen, wenn er den „Bruder" (oder die „Schwester") auf schüpfrigen Wegen gleiten sah.3) Und in jenen Kreisen wird bis zum ÜberdruB jener Geist des innern Hochmuts geherrscht haben, den der ermahnende Freund in Wielands Werk, wohl gegen des jungen Verfassers eigne Absicht, zur Schau tragt, wahrend er voller Selbstgerechtigkeit aufs strengste die menschlichen Schwachen und Fehler des Freundes tadelt und dabei ohne es sich einzugestehen von seiner persönlichen Makellosigkeit überzeugt ist. Aber man darf hinzufügen, daB der zur Zeit der Vollendung des betreffenden Fragments schon innerlich fertige Übergang vom dogmatischen Christentum zum Deismus den christ- ') Araspes und Panthea. 2) Für Wielands Haltung den Moralisten gegenüber. Vergl. Abd. 1/10. Hp. VII/61; Phil. Schr. XXXII/144. 3) Araspes und Panthea. II Abt. Hp. XL/42. lichen Geist Wielands, wie selbstverstandlich, nicht im Geringsten beeintrachtigt hat. Es ist dieser Geist des Christentums, der Wieland gelehrt hat, daB nur unter der Bedingung einer groBen und einsichtsvollen Liebe ein Freund unter Umstanden das Recht erhalt, die ethische Führung zu übernehmen. Erst dann mögen die Versuche zur Lösung der seelischen Konflikte Erfolg haben. Kaum wird man diesen Zweck erreichen durch bloBe Ermahnung, oder gar durch Bedrohungen und noch weniger durch die Bestrafung in der Form einer zornigen Abwendung. Die einzige Aussicht auf Erfolg gewahrt das tatige Mitleid, wodurch man versucht die erregten Triebe auf andre Gegenstande abzulenken. Die psychische, erst in unserm Jahrhundert wissenschaftlich formulierte Notwendigkeit, seelische Konflikte durch eine Ubertragung der Empfindung zu lösen, war dem reifern Wieland1) wohl bekannt; aber schon damals als junger Schriftsteller hat er sie geahnt. Denn in seiner Cyrusgestalt schildert er den feinsinnigen Menschen, der verstandnisvoll den Weg zur Erlösung in der anstrengenden, einer hohen Aufgabe gewidmeten Tatigkeit zeigt.2) Es ist für Wielands Empfinden bezeichnend, daB hier schlieBlich wiederum der F ü r s t als Erlöser erscheint; was der Ausdruck seiner unverrückbaren Überzeugung ist, daB nur von einem solchen genial veranlagten. wohlerzogenen und demzufolge menschenfreundlichen Fürsten die Erlösung erwartet werden kann. Cyrus ist gleichsam das Symbol eines solchen wie denn die Erziehung Tifans die des Cyrus wiederspiegelt. Die allmahlich zunehmende geistige Bildung der Frau lenkte die Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Möglichkeit eines rein freundschaftlichen Verhaltnisses zwischen den beiden Sexen, wie es, worauf wir schon hinwiesen, zu Wielands Zeiten im Pariser Gesellschaftsleben eine bedeutende Rolle spielte. Erst mit der Goethezeit aber (im Sinne Korffs) wurden solche Verhaltnisse ebenfalls in Deutschland ein Kulturerlebnis. Dennoch wies schon Basedow darauf hin, indem er in seiner Sittenlehre bemerkte : ,,Bey einer Freundschaft zweyer Personen aus verschiedenem Geschlecht muB die Ehrbarkeit auf das allergenaueste beobachtet werden. Denn sonst erwacht der Geschlechtstrieb und wird ein wahnsinniger Affekt."3) Diese Warnung beweist, daB er eine solche Freundschaft als Grenzgebiet betrachtete und somit ') Danm. Cap. 6. Hp. XX/31. Cap. 45. ebd. 190. 2) Araspes und Panthea. V. Abt. III. Hp. XL/103 ff. 3) Elementarbuch II. S. 31. Dessau 1774. in gewisser Hinsicht als eine Gefahr ftir die Sittlichkeit. Eine zu bewuBte Anwendung dieser ethischen Vorschrift würde wahrscheinlich die sittliche Gefahr erst recht heraufbeschwören, weil das Ungezwungene ira Verhaltnis dadurch gestort wird. In soweit hat aber Basedow unbedingt Recht, daB ein Freundschaftsverhaltnis zwischen einem Mann und einer Frau zu jeder Zeit einen gewissen Takt erfordert. Ohne Zweifel hat eine solche Freundschaft einen andern Charakter als diejenige zwischen Mannern. Die Freundin wirkt auf die Leistungen des Mannes öfters anregend, was sich manchmal als eine gesteigerte Produktivitat auBert, welche in manchen Fallen bloB eine unbewuBte Sublimierung erotischer Erregung bedeuten mag, zumal wenn die Freundin, wie es bei verheirateten Mannern wohl vorkommt, durch geistige Ebenbürtigkeit eine in der Ehe empfundene Leere ausfiillt. Wieland selbst hat die ethische Seite des auch von ihm berührten Problems1) nicht behandelt. Welch eine Fülle von Anregungen ein freundschaftliches Verhaltnis zu einer geistig hoch veranlagten Frau zu erwecken vermag, hat er in seinem Verhaltnis mit Sophie Gutermann und Julie Bondeli erfahren, ein Erlebnis, das von ihm noch im Aristipp verwertet wurde. Er versteht es nicht ein solches Verhaltnis ohne erotischen Beigeschmack zu schildern, benutzt es gern zur Ausmalung ziemlich pikanter Situationen, wie er selbst wohl kaum imstande gewesen ist, es erotisch ganz unberührt zu erleben, was bei den wenigsten Mannern der Fall sein dürfte. Es erscheint kaum zweifelhaft, daB er im tiefsten Herzen an die Möglichkeit eines rein freundschaftlichen Verhaltnisses zwischen den beiden Geschlechtern nicht glaubte; denn wenn er solche Freundschaftspaare vorführt, kommt immer der Augenblick, wo die Grenzen der Freundschaft an sich weit überschritten werden, obwohl er überall dennoch zugleich durchblicken laBt, daB seiner Ansicht nach eine gewisse Erweichung des mannlichen Empfindungslebens die Folge solcher durch Freundschaft gelauterten Erotik ist. Seine eigentliche Meinung wird aber jene Stelle in ,,Menander und Glyceria" wiedergeben, in welcher die Heldin behauptet, daB die Freundschaft allein bestandig sein könne, niemals die Liebe.1) Weil Wieland sie aber erst nach persönlichen Erlebnissen zu dieser weisen Einsicht ge- ') Vergl. Menander und Glyceria; Aristipp. 2) Men. Glyc. Brief 32. Hp. X/154. langen laBt, so wird das nicht viel anders heiBen, als daB er zwar die Möglichkeit eines treuen Freundschaftsverhaltnisses zwischen den Sexen annehmen will, aber erst nach der Befriedigung der erotischen Triebe. Ohne Zweifel hat Wieland die wissenschaftliche Ausbildung des weiblichen Geistes aus humanistischen Gründen verteidigt, aber soll sie infolgedessen dem Manne den Freund ersetzen, so ist es für eine auf der Würde und Unverletzbarkeit des Familienlebens aufgebaute Gesellschaft seiner Ansicht gemaB ethisch betrachtet nur dann absolut sicher und segensreich, wenn sie ihm Gattin und Freundin zugleich ist. VI. STAAT UND ERZffiHUNG. Nach dem MaB, in dem das Denken der Aufklarung sich vom positiven Christentum entfernte und damit, zumal wo es sich dem Materialismus naherte, auf die Vertröstung einer Erlösung im Jenseits zu verzichten anfing, wurde es gezwungen auf Mittel und Wege zu sinnen, das diesseitige Leben derart zu gestalten, daB es der Menschheit ein möglichst groBes Quantum an Glück zu gewahren vermochte.1) Natürlich kann man hier direkt einwenden, daB die Aufklarung in ihrer hedonistischen Tendenz sich von der wesentlichen Tiefe des Christentums kaum bewuBt gewesen ware, wenn sie geglaubt hatte durch die Schöpfung eines Zustandes der irdischen Glückseligkeit die tiefsten Bedürfnisse des menschlichen Herzens zu befriedigen und durch die Transponierung eines jenseitigen Zustandes der Glückseligkeit auf Erden mehr als nur ziemlich beschrankten Vorstellungen und Bedürfnissen entgegenzukommen. Es ist allerdings sicher, daB es sich im Christentum an erster Stelle keineswegs um die Herstellung eines auBern Zustandes der Glückseligkeit in dieser oder in jener Welt handelt; aber es ist nicht weniger richtig, daB die höchsten sozialen Forderungen der Gerechtigkeit und Humanitat dem Geiste des Christentums durchaus entsprechen.1) Soweit wir es abzusehen vermogen, ist die hohe Bedeutung des lebendigen Christentums diese, daB es immer wieder das Leben der Menschen in all seinen AuBerungen unter das Licht des Geistes Christi stellt,2) und allem, was diesem Geiste nicht entspricht, entgegenzutreten gezwungen wird. Im Grunde ist es einerlei, ob ein solcher Kampf im Namen Christi gekampft wird, oder daB man sich mehr oder weniger ausgesprochen von einer Religion abwendet, welche Zustande und Verhaltnisse nicht nur duldet, sondern sogar manchmal in ihren Schutz nimmt, welche ') Vergl. Agth. II. Buch VIII/5. Hp. 11/77; Goldsp. 11/12. Hp. XIX/128; II/14. Hp. XIX/142. 2) Vergl. Per. Prot. Einl. Hp. XXI/31; ebd. Hp. XXI/145; ebd. Hp. XXII/54. Agathdm. VII/6. Hp. XXIII/123; ebd. 236. 3) Vergl. Agathdm. VII/7. Hp. XXUI/140. dem einfachen Gefühl der menschlichen Gerechtigkeit entschieden zuwider sind. Ohne Zweifel hatte die offizielle Kirche aller Konfessionen im Verlauf des 17. und 18. Jhts. die innere Fühlung mit der groBen Masse des Volkes verloren, indem sie haufig zu nicht viel mehr als zu einem politischen Instrumente in den Handen der Obrigkeit entartet war, welches vorzüglich dazu taugte, die Leidenschaften des Volkes durch den Hinweis auf göttliche Belohnungen oder Strafen zu zügeln,1) wodurch sie zu gleicher Zeit eine wertvolle Stütze der irdischen Gerechtigkeit war. Diese Ansicht über die Kirche als nützliches, politisches Institut2) in den Handen der Behörde wurde sogar von aufgeklarten Köpfen vertreten, wobei man nicht nur auf den darauf hindeutenden, frivolen Ausspruch eines Bolingbroke hinzuweisen braucht. Ein Mann, wie Hume, der ein von der christlichen Lehre unabhangiges ethisches System geschaffen hatte, gab sich keine Mühe die groBe Masse in dieser Hinsicht aufzuklaren und damit der Zwangsvorstellung einer notwendigen Verbindung eines ethischen Lebens mit dem Glauben an die kirchlichen Lehren entgegenzutreten. Man würde nach seinem Dafürhalten dem Aberglauben der Menge zu viel Respekt erweisen, wenn man sich mit Hinblick darauf mit Offenheit qualte. Die Auffassung, daB die Gesetze, indem man sie auf den Willen Gottes zurückführt, den Charakter der Unverletzlichkeit erhalten, finden wir ebenfalls bei Wieland, wenn er bemerkt, daB die Weisen zu allen Zeiten die gefaBten Beschlüsse auf die Gottheit zurückgeführt hatten.3) Zugleich mit dem in den GroBstaaten von Westeuropa sich befestigenden Absolutismus wurde das Königtum von Gottes Gnaden zu einem lebendigen Begriff. Wir erblicken darin den Versuch die regierende Gewalt als AusfluB der göttlichen Weltherrschaft darzustellen, was leicht zur Folge hat, daB die HerrschaftsmaBnahmen der Fürsten als die Emanation einer göttlichen Erleuchtung kritiklos akzeptiert werden. Es leuchtet ein, daB die Kirche von dem Augenblick an, da sie das Streben nach der weltlichen und geistigen Herrschaft als ihre höchste Aufgabe empfindet, dem Volke gegenüber jede Handlung eines absoluten Fürsten sanktionieren wird, indem die Vorstellungen König und Gott fast identifiziert werden, wie schlieBlich eine Staats- ') Vergl. Agathdm. IV/4. Hp. XXIII/105; II/6 Hp. XXIII/45. 2) Vergl. Agathdm. V/4. Hp. XXIII/139. 3) Göttergspr. 3. Hp. IX/30. kirche, die zum politischen Institut geworden ist, Staat und Gott für das VolksbewuBtsein vereinheitlicht. Mit Rücksicht auf das Volk ist es gleichgültig, ob der Fürst die Kirche, oder was öfters vorgekominen sein mag, die Kirche den Fürsten beherrschte. In beiden Fallen bezweckte sie das eigne Interesse, wenn sie die Lintertanen zum kritiklosen Gehorsam erzog. Im erstern Falie war ihr daran gelegen, sich mit einem Machtigern nicht zu überwerfen, wahrend man die Periode einer gröBern Selbstandigkeit ruhig abwarten konnte, da die Kirche langer lebt als der energischste absolute Herrscher, wenn es ihr durch günstige Umstande schon nicht bei seinen Lebzeiten gelingt, einen entscheidenden EinfluB auf ihn zu gewinnen. Im zweiten Fall befestigt sie die eigne Herrschaft direkt. Dogmatisches Kirchentum und absolute Herrschaft sind auch in der Beziehung natürliche Bundesgenossen, daB beide einen unbedingten Gehorsam fordern. Damit soll natürlich nicht be~ hauptet werden, daB beide Prinzipien an sich ungünstig waren. Sie mogen recht heilsam wirken, so lange sie imstande sind, das Heil der Gesamtheit über den persönlichen Vorteil zu stellen, sowie die ersten Regierungsjahre eines Ludwig XIV. erwiesen haben, in welchem Umfang gerade der absolute von den hohen Pflichten seiner Würde durchdrungene Monarch, heilsam und klarend einzugreifen vermag. Jedoch ist die Regierung eben dieses Königs ein Beleg dafür, bis zu welcher Gewaltüberhebung die absolute Monarchie von dem Moment an entartet, da der Fürst in seinen Untertanen bloB das Mittel zu den individuellen, herrschsüchtigen Zwecken erblickt. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, wie die Regierung Ludwig XIV. für Wieland die Ursache alles Elends, wovon ein Volk sich zu erlösen sucht, symbolisierte, indem es die Gewalt an sich reiBen will. In den „Göttergesprachen" wird seine Regierung durch die spöttisch ablehnende Weise, in der von dem König geredet wird, zum Typus einer MiBherrschaft gepragt. Da der groBartigste Versuch einer absoluten Herrschaft einen vollstandigen MiBerfolg gezeitigt hatte, wurde das Denken des Zeitalters auf natürlichem Wege auf andre Herrschaftsformen gelenkt, welche Verhaltnisse zu schaffen imstande waren, die der Menschheit zum Wohl gereichen dürften. Verschiedene Ursachen drangten zur Erwagung dieser Frage. Zunachst wurden in Frankreich nach dem Tode des Sonnenkönigs die Zustande allmahlich unleidlich, was auf andre europaische Staaten, besonders auf die deutschen Kleinstaaten zurückwirkte, deren Fürsten es sich teilweise zum Gesetz machten in Versailles das nachahmenswerte Vorbild zu erblicken.1) Überdies sind die Tendenzen des Absolutismus denen der Aufklarung prinzipiell zuwider. Der Absolutismus fordert k r i t i k 1 o s e Unterwerfung, wahrend die Aufklarung sich immer mehr zu einer bürgerlich sozialen Bewegung entfaltete, welche die Erlösung der Menschheit durch die Aufklarung derVernunft und die Berechtigung zu einer uneingeschrankten Anwendung dieser aufgeklarten Vernunft bezweckte. Durch dieses Streben hat sich die Aufklarung der Sache der nicht Privilegierten und damit der Bedrückten angenommen. Ohne Zweifel setzte sich die Aufklarung im Verlauf der Entwicklung stets mehr in Widerspruch zum offiziellen Christentum, aber dennoch bedeutet sie in ihrem Kampfe um die Menschenrechte eine Weiterbildung der im Christentum vorhandenen Tendenzen. Denn sowie die christliche Lehre vom Anfang an die Würde des Menschen hoch eingeschatzt hat, so war es immer wieder der Geist des Christentums, der die Bande der Menschheit sprengte, einerlei, ob die Befreiung sich offenbarte als eine kirchliche Reformation, oder wie die Aufklarung als eine auf wissenschaftlichen Einsichten beruhende Evolution der Vernunft. War für den Absolutismus der Staat gleichsam der Besitz des Fürsten, oder wenigstens ein Mittel zu seinen Zwecken,2) so wurde für die Aufklarung der Staat selbst zum Mittelpunkte der Betrachtungen, der Staat als eine Korporation, welche die Interessen der Gesamtheit des Volkes umfaBte und somit die Oberhoheit der Gesamtheit über das Individuum bedeutete. Staatsverfassung und Gesetz entwickeln sich zum Problem der Gesellschaft, denn sowohl eine Staatsverfassung in Übereinstimmung mit den Wünschen eines Volkes oder wenigstens einer Majoritat desselben, als die Herrschaft des Gesetzes,3) bilden die Bedingung, unter welcher Freiheit und Autoritat sich decken. Im Staate lag zugleich eine neue ethische Objekt i v i t a t. HeiBt Tugend für das Christentum die Erfüllung des in Christus verkündeten, göttlichen Willens, indem als Lohn ein Zustand der jenseitigen Glückseligkeit in Aussicht gestellt wird, so wird die Tugend für ein Denken, das den Staat zum allgemeinen Wohl zentral steilte, eine solche Richtung des Wollens, welche ') Vergl. Goldsp. II17. Hp. XIX/71. 3) Vergl. Agth. III. Buch XII/7. Hp. 111/64. f) Vergl. Goldsp. 11/10. Hp. XIX/99. im Einklang ist mit den Interessen des Staates, oder was vorlaufig dasselbe bedeutete, mit denen der Gesellschaft.1) Nachher soll darauf hingewiesen werden, wie ein solches relatives Tugendideal zu einem absoluten werden kann, insofern man die GesetzmaBigkeit als ein Symbol des Göttlichen faËt. Es wird klar sein, daB ein derartiges Tugendideal eine praktische Erziehung zur Tugend bedeutend erleichterte, weil es sich dabei am Ende nur darum handelt, den Zögling durch vernünftige Einsicht zu lehren, die egoistischen Triebe zum Wohle einer Gesamtheit zu unterdrücken, deren Gesetze derart sind, daB ihre Befolgung das geeignetste Mittel ware, die egoistischen Triebe zu befriedigen. Es ist konsequent, wenn man versuchte mit der strengern Ausbildung der Staatsidee Einsicht in die Natur der Gesetze zu gewahren, wie Voltaire in seinen „Lettres sur les Anglais" und ganz besonders Montesquieu in „De 1'esprit des Lois". Denn erst mit einer Staatsverfassung darf man in eigentlichem Sinne von Gesetzen reden; in der absoluten Monarchie ist das Gesetz bloB die Bezeichnung für den an alle gerichteten Befehl. Und so lange der Staat noch irgendwie den Charakter einer die gemeinschaftlichen Interessen der Gesellschaft vertretenden Korporation behauptet, wird eine gewisse Einsicht in seine Verfassung und in die sie schützende Gesetzgebung erforderlich sein. Unter diesen Bedingungen wird Wielands Behauptung, daB der Unterricht die erste Angelegenheit des Staates ware2) zur Wahrheit, weil der Staat Bürger braucht, die durch eine allgemeine Befahigung zum Gebrauch der eignen Vernunft, zunachst eine selbstandige Einsicht in seine Entwicklung erhalten. Es ist denn auch zuerst der Staat als Volksgemeinschaft gewesen, welcher tatsachlich Ernst damit machte, der Kirche die Oberaufsicht über den Unterricht zu entziehen. Für die absolute Monarchie gab es dazu keinen wesentlichen Grund, so daB wir beobachten können, wie gelegentliche Versuche in dieser Richtung, wenn sich ihnen das Interesse der Fürsten anscheinend zuwandte, dennoch immer wieder in den Hintergrund gedrangt wurden. Sie brauchten eben einen Unterricht, der mit der dogmatisch fundierten Unterwerfung unter den göttlichen Willen zu gleicher Zeit die absolute Machtsvollkommenheit des Königs von Gottes Gnaden verkündete. Jedenfalls wird die Obrigkeit, so lange der Staat als der Ausdruck des Gesamtwillens eines Volkes empfunden wird, eifrig darüber wachen, den ') Vergl. Goldsp. U/14. Hp. XIX/141. ») Goldsp. 11/15. Hp. XIX/150, 8 auf frei wissenschaftlichen Ergebnissen beruhenden Untcrricht möglichst in der Hand zu behalten. Anders wird man sich diesem gegenüber etwa dann prinzipiell verhalten, wenn man unter Umbildung Hegelscher Ideen im Staate eine Art Emanation Gottes zu erblicken anfangt, wodurch der Staat gleichsam an die Stelle des absoluten Monarchen tritt. Vielleicht ist es von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, nicht unbedenklich, wenn ein Staat es mit einer gewissen Ruhe hinnimmt, oder es sogar nicht ohne Wohlgefallen sieht, daB der Unterricht und die Erziehung von groBen Gruppen seiner Angehörigen wieder in die von der Kirche verwalteten Unterrichtsanstalten übergeht. Je weiter die Aufklarung um sich griff, urn so mehr erschien die Volkserziehung als eine Staatsauf gabe.i) da die Kirche niemals aus eignem Antrieb den Prinzipien dieser Geistesbewegung zustimmen wiirde. Es ist sicher eine zu optimistische Beurteilung der Wirklichkeit, wenn Cramer 1759 in der Vorrede zum „Nordischen Aufseher" konstatierte, daB die Distanz zwischen Gelehrten und Ungelehrten sich betrachtlich verringert hatte.2) Schon der durchschnittliche Inhalt der moralischen Wochenschriften, welche diesem Zustand vorgearbeitet hatten, beweist es, denn derjenige, für den die Erörterungen in diesen Wochenschriften eine Art vernünftige Befriedigung bedeuten, ist von wirklicher Geistesbildung noch weit entfernt. Übrigens war es auch kaum notwendig, daB die Aufklarungsarbeit den von Cramer bezeichneten Zustand zum Ergebnis hatte. Es wird wohl nie möglich, sogar nicht einmal notwendig sein, die Kluft zwischen den Gelehrten und nicht Gelehrten zu überbrücken. Wirkliche Gelehrsamkeit, als ein Ergebnis von Anlage und Charakter, ist der geistige Besitz der ganz Wenigen, welche auf ihrem Gebiete fördernd und anregend zu wirken vermogen. Vorlaufig hatte die Aufklarung genügend geleistet, wenn sie es durch ihre unermüdliche Arbeit in den moralischen Wochenschriften, welche durch die der Enzyklopadisten kraftigst unterstützt wurde, soweit gebracht hatte, daB man es nicht mehr als selbstverstandlich betrachtete, die Ansichten der wirklichen oder der vermeintlichen Autoritaten ohne irgendwelche selbstandige Untersuchung zu übernehmen. Zwar ist es nicht jedem gegeben, die Aussagen und Ansichten andrer zu prüfen, aber das Verlangen konnte erregt werden, daB dem künftigen Geschlechte die Wege zum selbstan- ') Goldsp. 1/7. Hp. XVIII/89; Goldsp. 11/10. Hp. XIX/100. 3) Geschichte des „Teutschen Merkur". digen Denken durch eine zweckmaBige Erziehung geebnet werden sollten. Die Freiheit und die Betatigung der Vernunft aber sind Menschenrechte,1) so daB die Erziehung zum vernünftigen Denken nicht das Vorrecht einer Gruppe von Privilegierten, sondern ein Recht, wo möglich eine Pflicht, für die Gesamtheit bilden soll. Es ist die kulturhistorische GroBtat der Enzyklopadie gewesen, daB sie durch die Forderung „Wissen und Rechenschaft geben" der Vernunft prinzipiell das Recht erobert hat, alle Meinungen zu untersuchen.2) Wenn Wieland sich in popularer Form durch philosophische Abhandlungen und durch regelmaBige politische Nachrichten in seinem „Merkur" an die Gesamtheit wendet, so wurde er damit für Deutschland der bedeutendste Vertreter dieser in Frankreich an die Massen appellierenden Gedanken der Aufklarung. Indem man den freien Gebrauch der Vernunft verkündete, hat man dem Menschen eine schwere Verantwortlichkeit auferlegt, weil man ihn zum Herrn seines Schicksals machte. Mit Rücksicht auf die Vernunft hat die Aufklarung eine befreiende Tat verrichtet, welche man mit derjenigen der Reformation vergleichen kann. So wie die Reformation das Gewissen des Menschen von der kirchlichen Oberherrschaft erlöste, indem sie seinen persönlichen Anteil an der göttlichen Gnade verkündete, so befreite die Aufklarung von der Autoritat der einmal gegründeten Anschauu n g, damit natürlich noch einmal die absolute kirchliche Autoritat durchbrechend. Aber genau wie die Reformation die volle Verantwortung seines Lebens der Gottheit gegenüber auf den Menschen zurückwalzte, bürdete die Aufklarung der Gesamtheit die Verantwortung für die eignen Handlungen auf. Wir dürfen bezweifeln, ob die französischen Aufklarer, mit Namen die Enzyklopadisten, sich in dieser Beziehung von der Tragweite ihrer Handlungen vollstandig bewuBt gewesen sind, denn kaum einer von ihnen hat auch nur geahnt, daB die gewaltige Volksbewegung der Revolution zum Teil als eine Folge der halbverstandenen Lehren, welche sie dem Volke brachten, zu betrachten ist. Ubrigens standen die Enzyklopadisten, gerade so wie Wieland, vor einer kaum zu lösenden Schwierigkeit. Sollte das Denken der ganz Vielen einigermaBen zum wirklichen Heil der Gesamtheit gereichen und die neuen Gedanken eine Evolution der Verhaltnisse bewirken, so ware vor allem eine Staatsform notwendig ge- ') Vergl. Goldsp. UIL Hp. XIX/3. Hp. XIX/37. JV J. Reinach. Dlderot. wesen, die sich die Heranbildung des Volkes in allen Schichten zu möglichst urteilsfahigen Individuen zur Aufgabe gemacht hatte. Und gerade diese Staatsform sollte noch geschaffen werden. Es macht den Eindruck, alsob Wieland sich innerlich mehr davon bewuBt gewesen ware, welche Konsequenzen die Aufklarung der Vernunft nach sich zog. Er setzt dieselbe zwar als ein Recht der Menschheit voraus, aber fügt gleich hinzu, daB vom richtigen Denken ihr Wohl und Weh abhangt.i) Weil der Zweck des Denkens die Ausbildung zur Humanitat ist, so entsteht durch die Pflicht, für ihre Erziehung Sorge zu tragen, für den Staat gleichzeitig die eigentümliche Aufgabe, seine Angehörigen gewissermaBen unabhangig von sich zu machen. Denn der Mensch ist mehrals der Bürger. Ein Bürger wird der Mensch zunachst, um durch diese Stufe hindurch zu wahrer Humanitat zu gelangen.2) Weil es aber noch keinen Staat gab, der in dieser Weise für die Erziehung seiner Bürger sorgen möchte, mag Wieland sich bei solchen Überlegungen wie in einem Kreise herumgetrieben gefühlt haben. Die vernünftige Einsicht der Gesamtheit soll sich Verhaltnisse schaffen, unter denen eine gedeihliche Entwicklung der Menschheit möglich wird, zunachst aber soll der Staat so eingerichtet sein, daB er die individuelle Erziehung seiner Angehörigen als seine vornehmste Aufgabe betrachtet.3) Wie solches ohne irgendwelche gewaltsame Durchsetzung des Willens der an erster Stelle Interessierten erfolgen könnte, laBt sich nicht absehen. Wieland hat dies richtig empfunden, was seine Warnung vor einer unabwendbaren Revolution in Frankreich, wo die Zustande durchaus unhaltbar geworden waren, beweist. Dennoch hat auch Wieland nicht gewuBt, wie die eben erwahnte Verquickung der Verhaltnisse zu lösen ware, es sei denn, daB einer, der die Gewalt mit einer erhabenen Einsicht in sich vereinigte, sich freiwillig der Menschen annehmen sollte, um von oben herab die erforderlichen Reformen durchzuführen. Der F ü r s t als E r 1 ö s e r ist ihm denn auch als die einzige Mög- lichkeit erschienen. Für die von ihm gezeichnete Idealgestalt hat die Wirklichkeit durch den „aufgeklarten Despotismus" ihren Beitrag geliefert. Die Idee des aufgeklarten Despotismus wird von Wieland auf den Staat übertragen. Denn es ist in seinen Gedanken über das Ver- 1) Phil Schr. Hp. XXXII/300. 2) Arlst. 1/19. Hp. XXV/111, 112. 3) Goldsp. 117. Hp. XVIU/87. haltnis des Staates zu den Bürgern auffallig, daB er niemals dahin gelangt, zu erwagen, ob die Bildung des Staates nicht etwa die Aufgabe der Bürger ware.1) Weil er sich im Hintergrund nur die staatenbildende Gewalt eines genialen und philanthropischen Monarchen denkt, ist ihm die Staatsform das von vornherein Gegebene. Und gerade so, wie der Vertreter des aufgeklarten Despotismus sich, wenigstens theoretisch, bloB als den ersten Diener des Staates betrachtet, wird in Wielands Erwagungen der Staat zum ersten Diener der Bürger, natürlich unter derselben Bedingung, unter welcher der Fürst der erste Diener des Staates sein wollte, namlich, daB die Bürger sich seine Dienste ohne den leisesten Widerspruch gefallen lieBen. Dennoch würde es den Grundprinzipien der Aufklarung zuwider sein, wenn 'Wieland an einen sklavischen Gehorsam gedacht hatte. Dem Menschen, als einem denkenden Wesen, soll der Gehorsam zur selbstverstandlichen Pflicht gemacht werden, indem er die Notwendigkeit der Staatsgesetze durchschaut;1) damit ware ethisch die Freiheit begründet. Der Staat wird demnach dann am besten für die ethische Erziehung seiner Angehörigen Sorge tragen, wenn er es sich angelegen sein laBt, ihnen die Einsicht in seine Verfassung und Gesetze beizubringen. Unter solchen Bedingungen ware man einigermaBen berechtigt, mit den Aufklarern von der Allmacht der Erziehung die höchsten Erwartungen zu hegen, vorausgesetzt, daB der Staat in der Tat die Glückseligkeit der Bürger beabsichtigt und von solchen verwaltet wird, die durch ihre idealistische Gesinnung auf den leicht zu befriedigenden, persönlichen Vorteil völlig zu verzichten, fahig waren.2) In sofern diese Voraussetzung verwirklicht wird, lage es nicht auBer dem Bereich der Möglichkeit eine groBe Mehrheit davon zu überzeugen, daB die Staatsfürsorge auch dem persönlichen Interesse am besten zu dienen vermag. Die aufgeklarten Ideen über die Erziehung zum Staatsbürger sind im Verlauf des 19. Jhts. teilweise in Erfüllung gegangen und man kann nicht leugnen, daB es gelungen ist, wofern man die Staatsethik als Norm betrachtet, die übergroBe Masse ') Unter dem Eindruck der revolutioneren Bewegung in Frankreich scheint er diese Möglichkeit dennoch zu berücksichtigen. Vergl. Göttergspr. X. Hp. 1X178; XI Hp. IX/88. 2) Goldsp. 11/10. Hp. XIX/100. 3) Vergl. Goldsp. UIL Hp. XIX/7; II/3. Hp. XIX/35; Göttergspr. X. Hp. IX/80. der westeuropaischen ^Velt auBerlich betrachtet 211 ethischen Persönlichkeiten zu bilden, wobei das Ein2ige, was fehlt, vielleicht bloB die Persönlichkeit1) ist. Wenn Wieland die Theorie verkündet, es sei nicht genügend 211 befehlen, man solle den Menschenverstand auch davon über2eugen, daB die Befehle recht und billig seien,2) so spricht uns so recht die Sphare der französischen Aufklarung, wie sie von Helvétius vertreten wird, an. DaB diese Empfindung sich nicht auf die Aufklarung beschrankt hat, beweist der bekannte, goethische Vers, nach welchem es sich einem edeln Herrn leicht gehorcht, der überzeugt, indem er uns befiehlt. Genau betrachtet werden Wielands Theorien in demselben auf die kürzeste Formel gebracht, wobei selbstverstandlich „edel" als eine Charaktereigenschaft, nicht an erster Stelle als eine Standesbe2eichnung gefaBt werden soll. Aber wenn es sich nun als unmöglich 2eigt, jedermann von der ethischen Notwendigkeit der vom Staate verkündigten und somit in der Gesetzgebung ausgedrückten Prin2ipien 2U über2eugen? Das freie Urteil ist ein Menschenrecht und eine Pflicht; es ware demnach nicht ausgeschlossen, daB kleinere oder gröBere Gruppen in prin2ipiell ethischen Fragen in direktem Widerspruch zu der Staatsethik stünden. Soll es nun die Aufgabe der Staatser2iehung sein, die Bürger derart 2ur Freiheit der Vernunft aus2ubilden, daB sie es als ihre höchste Pflicht empfinden, alle MaBnahmen des Staates dem ethischen Urteil 2U unterwerfen und ein abweichendes Urteil unter allen Umstanden 2um Ausdruck 2U bringen? Und wenn ein Widerspruch laut wird, ware es dann die Aufgabe eines Staates, der vorgibt, die Er2iehung 2ur freien Betatigung der Vernunft 2U fördern, den individuellen Einspruch gegen seine Handlungen, sofern er seinerseits die vernünftige Berechtigung anerkennen soll, zu berücksichtigen, oder .verwandelt in einem solchen Fall der Versuch zur Über2eugung sich in den direkten Befehl? Wenn dies tatsachlich die letzte Konsequenz im Verhaltnis zwischen dem Staat und seinen Angehörigen bedeutet, so hat die Erziehung 2ur freien Betatigung der Vernunft und damit 2ur ethischen Freiheit einen geringen innern Wert, da unter solchen Umstanden der Staatsdespotismus an die Stelle des fürstlichen getreten ist, wovon man manchmal nicht gar so weit entfernt scheint. Basedow beweist, daB auch für den aufgeklarten Padagogen ') Vergl. Arist. 117. Hp. XXV/106. 2) Goldsp. 11/14. Hp. XIX/141. Einsicht in die Landesgesetze nichts weiter zu bedeuten braucht als ein widerspruchsloser Gehorsam. Ja bei ihm wird das Verhaltnis zwischen der Sittlichkeit und der Gesetzgebung, wie das nicht selten geschieht, geradezu umgekehrt, indem nicht eine ethische Norm für die Gesetzgebung entscheidend ist, sondern diese als Norm für die Sittlichkeit und das ethische Urteil auftritt. Er fordert namlich für jede Familie die wöchentliche Vorlesung einer kurzen Tugendlehre mit einem Auszug aus den Landesgesetzen und der Religion, wodurch die Beweggründe zur Ausübung gestarkt werden.1) Die Landesgesetze (und die religiösen Vorschriften) dienen hier sicher eher zur Erklarung der Tugendlehre, als daB ein umgekehrtes Verhaltnis vorwaltete. Wenn man will, kann man jedoch auch an eine gegenseitige Erganzung denken, so daB man schlieBlich die Tugendlehre als das Mittel, wodurch man eine Einsicht in die Landesgesetze gewinnt, auffassen mag. Aber für den, dessen Kopf nicht aufgeklart genug sein sollte, immer die Notwendigkeit und Vortrefflichkeit der Landesgesetze zu durchschauen, bleiben die mit fast liebevoller Andacht geschilderten Schrecknisse barbarischer Strafen, über welche die Obrigkeit verfügt, um den aus irgendeinem Grunde Widerspenstigen zu zwingen. Was wir hier bei Basedow beobachten, ist das gewöhnliche Verhangnis einer Ethik, die auf auBern Normen beruht; zuletzt wird die ethische Haltung durch die Aussicht auf eine Belohnung oder die Furcht vor der Strafe abgezwungen. Nur wenn irgend eine innere Norm entscheidend wird, vermeidet man diese Gefahr; was z.B. Montesquieu darlegt, der, indem er innerhalb der Monarchie die E h r e als ethisches Prinzip voraussetzt, behaupten zu dürfen glaubt, daB bei einer solchen Staatsform barbarische und entehrende Strafen vermieden werden können; eine Ansicht, welche Wieland für ahnliche Verhaltnisse prinzipiell teilt.1) Wielands Staatsauffassung ist, wie wir schon hervorhoben, idealistisch gefarbt. Wahrend Helvétius im Staate bloB eine Korporation erblickt, welche den Egoismus zwingt sich nach der Gesamtheit zu richten, da eine zweckmaBige Erziehung den Angehörigen lehrt, daB er eben dadurch seinem wahren Vorteil entsprechend handelt, und Basedow im Staate nur die Obrigkeit erblickt, die über die guten Sitten der Untertanen wacht, weist Wieland dem Staat eine ideale Aufgabe zu. Diese ist nicht zu- ') Elementarbuch. Dessau 1774 S. 335. *) Goldsp. 11/12. Hp. XIX/129. nachst die Selbstbehauptung; für ihn ist der Staat Mittel, nicht Zweck. Der Staat soll die bewuBte Absicht hegen, die Bürger zu Menschen zu erziehen. Gehen wir noch einen Schritt weiter, so raöge schon hier darauf hingewiesen werden, daB für Wieland der Staat bloB eine Stufe auf dem Weg der Menschheit aufwarts zur allgemeinen Humanitat und der daraus ohne weiteres hervorgehenden Verbrüderung aller Völker bedeutet. In Wieland ist das kosmopolitische Denken der Aufklarung lebendig, so daB für ihn der einzelne Staat nur insoweit einen Sinn hat, als er dazu mitwirkt die Menschheit aus einem Zustand blutigen Ringens zur Befriedigung der egoistischen Triebe zu erlösen, wodurch die Welt von einem Schauplatz immer wiederkehrender Kriege und sich erneuernden Hasses zu einem Sitz des Friedens, der Gerechtigkeit und der Menschenliebe werden kann. Wenn Wieland also den Staatsunterricht fordert, so soll natürlich die Einsicht in die Gesetze und die Notwendigkeit der Verfassung auf dem Programm stehen, denn es soll sich das Individuum freiwillig einer zu höhern Zwecken notwendigen Gemeinschaft unterordnen; daneben soll dieser Unterricht in weitestem Umfang bezwecken, den Menschen zudem freien Gebrauch der Vernunft zu erziehen. Diese Forderung enthalt die unabweisliche Konsequenz, daB der Unterricht von der K i r c h e auf den Staat zu übertragen ware, weil die Kirche, zumal als Tragerin orthodoxer Glaubensansichten, eine selbstandige, vernünftige Untersuchung der letzten Lebensfragen unter keiner Bedingung gestatten wird. Dennoch übersieht Wieland in seinen Ausführungen durchaus den Unterschied zwischen dem Staat, wie er sich diesen in idealer Gestalt denkt, und dem Staat als praktischer Organisation. Es hat noch keinen Staat gegeben, der sich einer freien Untersuchung nicht widersetzt hatte, sobald diese zu Erkenntnissen zu führen schien, welche nicht vollstandig mit den augenblicklichen Interessen im Einklang waren, nicht nur mit solchen der Gesamtheit, was etwa der Fall sein dürfte, wenn die Erkenntnis sich auf das Verhaltnis zu den Nachbarstaaten richtete, sondern auch schon dann, wenn die vernünftige Einsicht zu einem Widerspruch mit den Interessen der herrschenden Gruppen führte, welche nicht selten eine Neigung haben sich praktisch als identisch mit dem Staate zu betrachten. Und ungeachtet der freien Staatserziehung hat der Staat niemals unterlassen eine Stütze zu suchen bei dem orthodoxen Klerus, wenn es galt, den nach seiner Auffassung zu sehr einreiBenden, freien Gedanken zu steuern. Wcnn der Staat sich tatsachlich seiner Aufgabe und Pflicht der gesamten Menschheit gegenüber bewuBt ware und dies um so mehr nach dem höhern Grade seiner effektiven Machtstellung, dann erst würde er sich auch nicht dagegen strauben eine in jeder Beziehung freie Entfaltung der menschlichen Vernunft zu gestatten und in diesem Falie könnten sogar die religiöse und die staatliche Erziehung gemeinschaftlich an der groBen Aufgabe der Menschheitsbildung arbeiten, weil man dann nicht mehr vor der Einsicht zurückschrecken würde, daB wahre Religiositat sich nur als tiefe, echte Humanitat zu offenbaren vermag. In dieser Richtung denkt Wieland, wenn er die Erziehung des Volkes zur Vernunft sowohl als eine staatliche wie als eine religiöse Aufgabe bezeichnet, indem er die Geistlichen — er bevorzugt den Namen Priester — zu dieser Aufgabe unter der Aufsicht des Staates heranziehen möchte. Er hofft von einer solchen MaBnahme, eine stufenweise Umbildung der Gemüter,1) was bei ihm im Sinne der Aufklarung nur heiBen kann, Befreiung von aberglaubischen Vorstellungen und infolgedessen die Bildung einer Grundlage zu höhern Formen der Humanitat. Wielands Staat ist eine ideale Form des menschlichen Zusammenlebens nach dem Modell der von ihm geschilderten U t op i en,2) wie denn ein Staat, der irgendwie nach den Prinzipien der Aufklarung aufgebaut ware, im Gegensatz zu den der absoluten Monarchie entsprechenden vorhandenen Staatsformen überhaupt als ein ideales Institut zur Förderung der menschlichen Glückseligkeit empfunden werden sollte.3) Nur von hier aus ist zu verstehen, daB die Aufklarung vollkommen in innerm Widerspruch zu den eignen Prinzipien, dem Staat im Einklang mit Hobbes Ansichten zuletzt das Recht einraumt, die Religion zu bestimmen. Man vergaB, daB ein solches Recht des Staates, wie sehr es auch die Einheit desselben fördern dürfte, dennoch der geforderten Freiheit der Vernunft direkt zuwider ist und der Staat zu einer in sich beruhenden, nur den eignen Zwecken dienenden Gewalt würde. Demnach ist dieses Prinzip angesichts der Theorien Rousseaus sicher zu verteidigen, denn für ihn bedeutet der Staat bloB den Ausdruck des von der Majoritat vertretenen Volkswillens, dem ein jeglicher sich zu unterwerfen hat, auch wenn er nicht damit einverstanden ware, weil diese Tatsache ') Nachl. Diog. XXXII. Hp. XXIV/75. 2) Agathon. Goldsp. 3) Diog. XXXII, Hp. XXIV/75. nur seinen Irrtum bekunden würde. Daher hat sein als eine Republik gedachter Staat nur Verpflichtungen gegen sich und seine Bürger, was wesentlich dasselbe heiBt, wahrend die Erziehung des Bürgers vollendet ist in dem Moment, wo er imstande ware, bewuBt seinen Platz in der vom Volke gewollten Staatsordnung einzunehmen. Darüber hinaus beruht auf dem Staate keineswegs die Verpflichtung zum Wohle der menscftlichen Gesamtheit mitzuwirken, wenigstens nicht bis zu dem Grade, daB er sich als die Vorstufe zu einer die Menschheit umfassenden, kosmopolitischen Staatsordnung betrachten sollte.1) Letzteres entspricht aber vollstandig dem kosmopolitischen Denken ^Vielands. Um so auffalliger ist deshalb bei ihm die Zeitgebundenheit einer Ansicht, nach welcher der Fürst seines samtliche Menschenrechte anerkennenden und fördernden Staates dennoch den Untertanen seine religiösen Ansichten als Norm auferlegt. Fast in noch starkerm MaBe als bei Rousseau tritt bei ihm Hobbes' Auffassung wieder in Kraft, daB die Religion der Fürsten die der Untertanen sein soll. Diese Zeitgebundenheit bekundet sich bei Wieland in der vorherrschend statischen Form seines Denkens, welche die deutsche Aufklarung im GroBen und Ganzen kennzeichnet. Es ist jene Ehrfurcht vor der Vernunft, wodurch die Überzeugung entstand, daB das einmal als vernünftig Erkannte eben dadurch einen unverander- lichen Bestand hatte. Rein vernünftig sollte denn auch sein Staat als typische Vernunftschöpfung dauerhaft sein und als Symbol der siegenden Macht der Vernunft alle Widerstande beseitigen. Dennoch laBt Wieland diesen Staat wieder zu Grunde gehen,2) wahrend alle Übel, mit denen einmal aufgeraumt worden war, von neuem aufkommen; ein notwendiges Zugestandnis an die empirische Wirklichkeit, welche zeigt, daB auch das Schönste dem Untergang geweiht ist. Wielands Roman wiederspiegelt gerade darin die von Leibniz bis auf Kant die deutsche Aufklarung charakterisierende, innere Unausgeglichenheit zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus. Da dem Staate als wichtigste Aufgabe die Bildung des Geistes zufallt, gehort die Gründung wie der Unterhalt von Schulen selbstverstandlich zu seinen ersten Verpflichtungen. Für die Einrichtung derselben haben Wieland wahrscheinlich schon bestehende Anstalten, wie die Franckeschen Stiftungen, 1) Vergl. Arist. IV/3. Hp. XXVIII/M. Goldsp. 11/11 Hp. XIX/117. 2) Goldsp. II Hp. XIX/162 ff. oder gar die berühmte Pflanzschulc Karl Eugens vor Augen gestanden, da er letztere Bezeichnung in seinen romantischen Abhandlungen übernimmt.1) Ganz besondern Wert legt er auf die hygienische Einrichtung, wodurch für eine gesunde Körperpflege Sorge getragen werden soll.2) Es scheint ihm sogar empfehlenswert, daB solche, als Pensionate gedachten Unterrichtsanstalten unter der Oberaufsicht eines Arztes stünden. Diese Aufmerksamkeit hinsichtlich der Körperpflege beruht begreiflicherweise auf der schon bei den Alten gefestigten Uberzeugung, daB im Allgemeinen die geistige Entwicklung von dem körperlichen Zustand abhangig ist; eine Einsicht, die von den materialistischen Systemen, welche in den geistigen Fahigkeiten bloB ein Ergebnis der Gehirntatigkeit, somit einer körperlichen, wenigstens materiellen Funktion erblicken wollten, wesentlich gefördert wurde.3) Wie sich spater zeigen wird, war Wieland, gerade wie nachher Schiller, von der Abhangigkeit der seelischen Zustande von den körperlichen dermaBen überzeugt, daB er sich in dieser Beziehung der empirischen Psychologie nahert. Seine Bemerkungen über die Körperpflege, die sich bis auf hygienische Vorschriften betreffs der Kleidung und der Nahrung erstrecken, bedeuten eine notwendige Erganzung der diesbezüglichen Theorien Lockes und Rousseaus. Letztere, die bloB die Privaterziehung zum Gegenstand ihrer Forschung machten, konnten, von dem Prinzip ausgehend, daB die gesunde Entwicklung des Geistes die Gesundheit des Körpers voraussetzt, sich auf die Betonung der Notwendigkeit einer körperlichen Ausbildung durch Bewegung und Abhartung im Freien beschranken, wahrend sie nach ihren Voraussetzungen wegen des gesellschaftlichen Standes ihres Zöglings, die Befolgung sonstiger hygiënischer Bedingungen wohl als selbstverstandlich betrachten durften; obwohl hier gleich einzuwenden ware, daB Rousseaus Theorie einer sich aufs engste an die Natur anlehnenden Erziehung ihn wenigstens zu einer bis ins Einzelne gehenden, die zeitgenössischen Methoden kritisierenden Theorie der hygienischen Kinderpflege wahrend der frühesten Lebensperiode veranlaBte. Wielands eingehende Beschaftigung mit den Fragen der Gesundheitspflege ist die notwendige Folge der sozialen Tendenz seines padagogischen Denkens. Die ausgedehnte Behandlung derselben in der romantischen ') Vergl. Goldsp. 11/15. Hp. XIX/119. *) Goldsp. a.a.O. 3) Vergl. Agth. II. Buch X/3 Hp. 11/144. Einkleidung ist nur dem rokokomaBigen Bestreben zuzuschreiben, diese Fragen einem möglichst zahlreichen Publikum ungezwungen und in gefalliger Form vorzulegen. Wir wollen seine Theorien demnach ungeachtet ihrer Form durchaus Ernst nehmen, wie denn auch der „gebildete Leser ", gewohnt war, sich durch den Roman belehren zu lassen, was ganz im Einklang mit dem uns nüchtern anmutenden Utilitatsprinzip der Aufklarung ist. Übrigens hat Wieland einmal einen Versuch gemacht, dieselben Fragen publizistisch zu behandeln, namlich in dem 1758 geschriebenen „Plan einer Akademie zur Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute."1) Seine Schilderungen im Roman berühren wie eine Ausarbeitung der in genannter Abhandlung gemachten Angaben über Umfang und Einrichtung einer solchen Anstalt; wobei jedenfalls auf die erforderliche gröBere Ausdehnung und Heiterkeit der Gebaude hingewiesen wird. In diesen mehr praktisch gemeinten Verhandlungen konnte natürlich von idealistischen Forderungen wie von einer arztlichen Oberaufsicht nicht die Rede sein; diese passen vorlaufig besser in eine Utop i e, wie sie uns der „Goldne Spiegel", beschreibt. Was die Aufsicht betrifft, beschrankt sich die Abhandlung zu der Festsetzung einer erwünschten, fortwahrenden Uberwachung der Zöglinge im Geiste Franckes, nach dem die Schüler so wenig wie möglich sich selbst überlassen sein sollen. Aber auch in seiner Utopie tragt Wieland den reellen Verhaltnissen möglichst Rechnung. Er verlangt allgemeine Bildung der Vernunft, aber unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Gliederung, wie hervorgeht aus der Erwahnung von Schülern, die nur Kinder von Tagelöhnern und armen Leuten waren, sowie man überhaupt dafür Sorge zu tragen hatte, daB jede Klasse des Staates zu dem, was sie sein soll, gebildet werde.1) Die Bemerkung bekundet Wielands wesentlich konservativen Geist, der ihn dazu treibt, das Bestehende möglichst aufrecht zu erhalten und nur zu versuchen Mittel und Wege anzudeuten, wie Ubelstande zu beseitigen waren. Der geistig fein gebildete Mann empfand die freie Betatigung der Vernunft gewiB als ein allgemeines Menschenrecht, hat aber dabei wahrscheinlich unbewuBt zunachst an die eigne Klasse des gebildeten Bürgerstandes gedacht. Seine Forderung samtlichen Klassen der Gesellschaft, also auch den niedrigsten, zu einer gewissen Vernunftbildung zu verhelfen, wird in ') Vermischte Schriften Hp. XL/753 ff. 2) Goldsp. 11/15. Hp. XIX/150. gleichem MaBe eine Folge seiner humanistischen Gesinnung als seines praktisch politischen Blicks gewesen sein. Es lag die Bedrohung einer gewaltsamen Umgestaltung des Bestehenden, das ungeachtet aller Mangel als wertvoll empfunden wurde, in der Luft. Dieses zu verteidigen, war es ebenso sehr notwendig, die Regierenden auf die vernünftige Beschrankung ihrer Willkür hinzuweisen, als diejenigen, von denen man in unbestimmter Furcht die Möglichkeit irgendwelcher revolutionaren Versuche ahnte, von der Notwendigkeit einer ihr wirkliches Wohl bezweckenden Staatsordnung zu überzeugen. Von einem Manne, der theoretisch die Gleichwertigkeit aller Menschen verkündete, mutet uns der Ausdruck ,,n u r von Tagelöhnern und armen Leuten" sonderbar an. Man kann daher annehmen, daB hier bei Wieland jene Verachtung des vierten Standes zum Durchbruch kam, welche praktisch dazu führte ihr Dasein zu übersehen und ihre wesentlichen Rechte zu vernachlassigen, was zur Folge hatte, daB die bürgerliche Revolution in Frankreich zunachst durch die plötzliche Offenbarung ungeahnter, mobil gemachter Krafte überrascht wurde, aber nachher über dieselben hinwegschritt, so daB sie für den vierten Stand keine wesentliche Verbesserung bedeutet hat. Das praktische Vorbild der von Wieland bezeichneten Schulen waren die 1695 von Hermann Francke gestifteten Armenschulen, in denen der Unterricht sich auf die notwendigste Vorbereitung zu irgendeinem Handwerk beschrankte. Ein derartiger Unterricht der armsten Klassen fand immer den Beifall der regierenden Fürsten, weil man davon eine Zunahme der Produktivitat des Landes erhoffte. Wielands Überzeugung von der hohen Wichtigkeit eines geordneten Hauswesens für das Staatsgefüge und von der vornehmen Rolle, die der Frau als Mittelpunkt der Familie im hauslichen Kreis zufallt, führte ihn von selbst dazu, neben den Knabenschulen die Notwendigkeit der Gründung von Madchenschulen zu betonen.i) Soll der Staat aber die gesamte Bevölkerung von seiner VernunftmaBigkeit, demnach von seiner Notwendigkeit überzeugen, sei es bloB um der Selbsterhaltung willen oder in der Absicht, von dem im Staate geschaffenen Zentrum aus bewuBt an der weitern Ausbildung der Humanitat zu arbeiten, was Wielands Geist entspricht, so ist der Schulzwang eine notwendige Konsequenz. Wieland würde denselben, zu dem gröBere und kleinere deutsche Staaten schon vor ihm Veran- i) Goldsp. 11/15. Hp. XIX/150. staltungen getroffen hatten, sicher zur Erziehung der Staatsangehörigen zu guten Bürgern und geselligen Menschen befürwortet haben, wobei er an erster Stelle an die Bewohner der Stadte gedacht hatte, und ware es nur mit Bezug auf die wenigen Disziplinen, welche er, um dem Bürger das Verhaltnis zurn Staate klar zu machen, als unumganglich betrachtet. Er hebt zu diesem Zwecke ganz besonders den Unterricht in der Geschichte, der Verfassungi) und der Sittenlehre hervor, von denen er nachdrücklich betont, daB sie allen Bürgern gemein sein sollen.2) Der Gedanke scheint richtig, denn auf diese Weise wird eine gemeinschaftliche Basis zur Bildung gelegt, die das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu starken vermag, weil diese Bildungsgrundlage sich direkt auf die Gesamtheit bezieht. Es versteht sich, daB Wieland in seinen Erwagungen der für die Weiterbildung unvermeidlichen Spezialisierung Rechnung getragen hat, so daB er Pflanzschulen empfiehlt, worin dem Gemeinwesen nützliche Mitglieder von allen Arten zu bilden waren.3) Wie schon bemerkt, denkt er dabei an Anstalten, wie die Militarpflanzschule Karl Eugens; sie bedeuten demnach die Sorge des Staates für die Heranbildung seiner höhern Beamten. Wenn wir daneben berücksichtigen, daB Wieland dem Staate gleichfalls die Sorge für die Erziehung der Volkskreise zuweist, so sollen wir gestehen, daB er seine grundlegenden Disziplinen sorgfaltig wahlte. Durch den Unterricht in- der Verfassung wird der Staat allen als notwendige Einheit dargestellt, wahrend die Kenntnis der Geschichte dazu beitragen könnte, die Ehrfurcht vor dem Bestehenden zu erhöhen; obwohl, worauf spater einzugehen ist, dies für Wieland sicher nicht der erste Zweck der Geschichte war. Die Sittenlehre schlieBlich eignete sich dazu, nicht nur das Verhaltnis zum Staate als zur Gesamtheit darzustellen, sondern diese dürfte auch hinweisen auf die rein menschlichen Verpflichtungen der Angehörigen des Staates unter einander,*) so daB, wie weit man sich nachher im praktischen Leben von einander entfernen mochte, gerade durch die ethische Besinnung das rein menschliche Band erhalten bliebe, was auch den höchst Gestellten veranlassen soll in den Angehörigen aller andern Schichten seine Mitmenschen zu erblicken, mit denen er wesentlich durch dieselben ') Arist. IV/2 HP. XXVIII/11. a) Goldsp. 11/15. Hp. XIX/154. 3) Goldsp. 11/15. Hp. XIX/119. 4) Agth. II Buch VIU/5. Hp. 11/75. Bande, wie diese mit ihm, verknüpft ist. Vorausgesetzt wird bei solchen Betrachtungen das unerschütterliche Vertrauen auf die menschliche Vernunft, die das einmal als richtig Erkannte als absolut festhalt, so daB es durch etwaige Verschiebungen im auBerlichen Verhaltnis unbeeintrachtigt bleibt. Nur der Adel nimmt für Wieland eine absonderliche Stelle ein. Ungeachtet der vernünftigen Uberzeugung von der Wesensgleichheit aller Menschen, ist es Wieland anscheinend nicht möglich, sich von der Empfindung, als gehore der Adel a priori einer bessern Menschenklasse an, ganz zu befreien.1) Nicht nur die Verhaltnisse des wirklichen Lebens mogen in dieser Hinsicht bestimmend gewirkt haben, sondern nicht weniger die Lektüre von Montesquieus rechtsphilosophischem Hauptwerk. Wenn dieser als ethisches Prinzip in einer Monarchie das Ehrgefühl hervorhebt, so ist doch bei ihm der Adel die Versinnbildlichung desselben, wodurch dieser tatsachlich ein Beispiel für die Nation ist. Eine ahnliche Aufgabe, der Gesamtheit zum Vorbild zu dienen, wird ebenfalls von Wieland dem Adel zugewiesen, nur mit einer Umbildung ins Praktische und Nüchterne. Allerdings eignet sich die eigentümliche Mittelstellung des Adels, der einerseits praktisch dem Volke nahersteht und andrerseits nach standischer Gliederung mit dem Fürsten nur gradverschieden ist, ganz besonders zu Wielands Auffassung, als solle dieser Stütze des Thrones, Beschützer des Ackerbaues, Beförderer der nützlichen Künste und alles in allem ein Vorbild der übrigen Stande sein.1) Wielands Zeitgebundenheit in dieser Beziehung wird aber besonders dadurch bezeugt, daB er in idealisierter Form tatsachlich vorliegende Verhaltnisse übemimmt, von denen er nicht zu empfinden scheint, daB sie prinzipiell von den Anschauungen der Aufklarung, welche seinen im Bilde dargestellten Theorien zu Grunde liegen, abweichen.2) Die wirkliche und notwendige Stütze der Staatsform bildet nach diesen Theorien die vernünftige Einsicht aller in die Notwendigkeit des Staates, so daB derselbe und mit ihm der Thron als ein wesentlicher Teil des Ganzen, die ') Goldsp. II/3. Hp. XIX/36. II/9 Hp. X1X/94. 2) Vergl. dagegen Goldsp. 11/16. Hp. XIX/63. Denn wie konnte er erwarten, dasz ein Volk, das durch eben diese Staatseinrichting zu der höchsten Stufe der Ausbildung, deren die Menschheit fahig scheint, gelangen muszte, ein so unbilliges Vorrecht einer verhaltnismaszig kleinen Anzahl in der Lange dulden, oder dasz diejenigen, die im Besitze desselben waren, sich dessen gutwillig begeben würden. Stütze nicht in cincm Teil der Gesamtheit, sondern in dieser selbst finden soll. Innerhalb der Gesellschaft könnten eigentlich nur diejenigen in den Vordergrund treten, indem ihnen die direkte Sorge für dieselbe übertragen wird, deren vernünftige Einsicht sie in höherm MaBe als die lïbrigen dazu befahigt, was aber mit dem Zufall der Geburt nicht als kausal zusammenhangend gedacht werden darf. Mit Rücksicht auf die höchste Stelle raumt Wieland dies selbst ein, wenn er behauptet, daB es wenigstens ordentlich keine geborenen Könige gebe,1) nur solche, welche zu dieser Würde erzogen worden sind. lm Adel hatte man jedoch nach seinen Ausführungen eine Menschengruppe, die a priori zu der Leitung der Gesamtheit berufen und fahig ware. Diese Klasse ware demnach eine besondere Erscheinungsform des Menschen. In diesem Widerspruch zu der vernünftigen Überzeugung von der menschlichen Wesensgleichheit tritt aber die Zuversicht auf die Allmacht der Erziehung vermittelnd auf. Diese soll den Adel, wie den Fürsten, der seine bevorzugte Stellung gewöhnlich zunachst der Geburt verdankt, zu seinem hohen Beruf vorbereiten und zwar unter der speziellen Oberaufsicht des Fürsten, den eine sorgfaltigste, von den bedeutendsten Mannern geleitete Erziehung vor allen die wirkliche Einsicht in jegliche Verbindlichkeit seiner hohen Würde gelehrt hat.2) Diese spezielle Erziehung des Adels zu seiner bevorzugten Stellung hat praktisch zur Gründung von den seit dem Anfang des 18. Jhts. blühenden Ritterakadem i e n geführt, welche Wieland an der Stelle, wo er die spezielle Adelserziehung befürwortet, vorgeschwebt haben mögen. Der Endzweck des staatlich überwachten Unterrichts bedeutet natürlich die Befreiung der menschlichen Vernunft von falschen Vorstellungen, sowie von dem Autoritatsglauben,3) denn erst den selbstandig Denkenden und Urteilenden darf man als einen vollwertigen Menschen betrachten. Zwei groBe Gebiete sind dabei zu berücksichtigen, das Ethische und das der freien Wissenschaften, welche ihre Synthese in dem humanistisch gebildeten Geist finden sollen. Die Grundlage zur ethischen Erziehung soll der Unterricht in der Sittenlehre, in der Staatsverfassung und in der Geschichte legen. Hier erscheint es angebracht, zunachst mal hervorzuheben, von welchen Gesichtspunkten aus Wieland den ') Goldsp. 1/7. Hp. XVIII/90. *) Goldsp. 11/15 Hp. XIX/160. 3) Goldsp. I. Her./Les. Hp. XVIII/134 ff; Phil. Schr. Hp. XXXII/196; ebd. 198. Geschichtsunterricht erteilt wissen will. Dabei fallt auf, daB nach seiner Ansicht die -Geschichte einen Teil der Sittenlehre, man ware versucht zu sagen, eine Art praktische Sittenlehre darstellt. Die Geschichte ist für ihn Geschichtsphilosophie, aber durchaus mit Hinblick auf den Nutzen, den sie dem Beobachter der Begebenheiten nach ihren Kausalverhaltnissen gewahrt. In Wielands diesbezüglichen Ausführungen treffen zwei Tendenzen der Aufklarung zusammen; das Utilitatsprinzip, das immer wieder den Nutzen als Norm stellt und die Neigung die mathematische Methode prinzipiell auf andre Disziplinen zu übertragen. Sofern es Wieland betrif ft, soll man selbstverstandlich nicht an die straffe Form der mathematischen Begründung denken. Vielmehr übernimmt er aus den mathematischen Wissenschaften bloB die Forderung, daB die Geschichte nicht nur eine Aufzahlung der frühern Ereignisse sein darf, sondern daB man zu gleicher Zeit immer versuchen soll zu bestimmen, wie ein Ereignis in den vorhergegangenen und besonders in den obwaltenden Zustanden und Verhaltnissen eine Erklarung findet. Indem er diese Kausalitat vollstandig auf das Ethische beschrankt, wird ihm die Geschichte zu der immer wiederholten Lehre von der Aufblüte und dem Untergang, welche Erscheinungen nur als die Folge der ethischen oder nicht ethischen Gesinnung zu betrachten sind. Der „Goldene Spiegel" ist nach seinem Inhalt nicht weniger ein in der Form eines Romans gegebenes Vorbild, wie man Geschichte zu lesen hat, als ein „Spiegel der Fürstenerziehung"; was dadurch bestatigt wird, daB die Geschichte vor allem als die Wissenschaft der Könige bezeichnet wird.1) Die Geschichte erscheint Wieland als eine Sittenlehre groBen Stils, welche die Menschheit, lehrt ihre Leidenschaften mit Rücksicht auf deren Folgen für die Gesamtheit zu bezwingen; eine Wissenschaft, in der niemand ohne Nachteil ein Fremder sein darf.2) Diese Erwagungen sind es, welche Wieland dazu ermutigen, das Geschichtsstudium in einem nicht historisch orientierten Zeitalter zu verteidigen, obwohl er die Notwendigkeit seiner bessern Einrichtung in dem von ihm angedeuteten Sinne betont, oder wie er es mit einem Worte auszudrücken versucht: er soll „mit wahrer sokratischen Philosophie verbunden sein." Für die grundlegende Bedeutung des Geschichtsstudiums hat Wieland ein über sein Zeitalter hinausgehendes Verstandnis, un- ') Goldsp. Zueignungsschrift Hp. XVUI/8. ') Goldsp, a.a.O. 9 geachtet der Tatsache, daB sich in weiten Kreisen ein lebhaftes Interesse für diese Wissenschaft zu regen anfangt. Er versteht unter Geschichte nicht vor allem Nationalgeschichte; vielmehr Weltgeschichte, aber daneben hat er eine Ahnung davon, wie die Geschichte der verschiedensten Disziplinen und Lebenserscheinungen das Verstandnis derselben wesentlich fördern dürfte.1) Mit Bezug auf den padagogischen Wert des Geschichtsstudiums können wir eine gewisse Übereinstimmung zwischen Wieland und Rousseau konstatieren, der die Zeit für dieses Studium dann gekommen urteilt, wenn es gilt, das menschliche Herz in den Bereich des Zöglings zu bringen,2) übrigens mit dem prinzipiellen linterschied, daB letzterer jede Einmischung der philosophischen Betrachtung vermeidet. Rousseau will in der Geschichte bloB Menschen als abgeschlossene Existenzen zeigen, die sich dem Zögling als Erfahrungsobjekt darbieten. Seine Unterrichtsmethode ist experimentell, wahrend Wieland rein rationalistisch die Weltgeschichte als eine Wirkung gesetzmaBiger Krafte, welche der Erklarung bedarf, empfindet. Der Jugend kann natürlich nur ein allgemeiner Begriff dieser Disziplin mitgeteilt werden, etwa nach dem in Basedows Elementarlehre gezogenen GrundriB. Aber dieser soll derart sein, daB zunachst in einer, z.B. nach dem „Plan der Akademie zur Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute" eingerichteten Erziehungsanstalt darauf fortgebaut werden kann, oder daB genügendes Interesse zur selbstandigen Lektüre im Schüler erwacht ist. Denn sobald das Interesse für die Geschichte rege wird, verleugnet sich auch auf diesem Gebiet die padagogische Tendenz der Aufklarung nicht, indem sie versucht durch gefallig romanhafte Darstellungen oder in fesselnd geschriebenen, wissenschaftlichen oder popularwissenschaftlichen Geschichtswerken historische Kenntnisse in den weitesten Kreisen zu verbreiten. Wielands Werke bringen diese Tendenz seines Zeitalters zum Ausdruck. Wir wollen nur auf seine griechisierenden Romane hinweisen, welche in spielerischer Leichtigkeit dennoch neben den darin verarbeiteten, zeitgemaBen Anschauungen einen Einblick in die Lebensformen und Verhaltnisse des Altertums gewahren, wahrend er in seinen „Abhandlungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Griechen und Römer", seinen Beitrag zur Populargeschichtsschreibung gegeben hat. Wielands Bedeu- ') Hp. XVIII/157/159 Fusznote. 2) Emile Livre IV (Ed. Larousse pg. 150). tung als sozialer Padagoge besteht nicht an erster Stelle in seinen padagogischen 1 heorien, vielmehr in seiner ganzen, umfangreichen, schriftstellerischen Arbeit. Noch direkter als in der Geschichte, hatte die Philosophie der Aufklarung, von Shaftesbury angeregt, in der Kunst ein Mittel zur Bildung des Gemüts1) sowie zur ethischen Erziehung erkannt. Es ist demnach begreiflich, daB Wieland, gerade als Künstler, in dieser Hinsicht die Bedeutung der Kunst hoch einschatzt, obwohl er sich direkt wenig darüber ausspricht. In der künstlerischen Gestaltung des Lebens betatigt er seine besten Krafte. Indem er schon praktisch die Seele des Menschen in die Stimmung eines behaglichen GenieBens, also in jene nach der zeitgemaBen Überzeugung die ethische Lebenshaltung fördernde Grundstimmung eines interesselosen Wohlwollens versetzt, hat er in geringerm MaBe Ursache sich daneben auBerdem noch theoretisch darüber zu verbreiten. Überdies ist die Entdeckung des sittlichen Gehalts der Geschichte als Wissenschaft noch verhaltnismaBig neu; in dem Umfang, wie Wieland die Geschichte getrieben sehen möchte, ist sie teilweise die seinige. Gründe genug, Widerspruch zu befürchten und also mit der endlosen Beredsamkeit, welche die didaktisch angeregte Aufklarung kemzeichnet, immer von neuem auf dieses Thema zurückzugreifen. Drittens aber verstand er unter Kunst an erster Stelle die „schone Literatur",2) was natürlich vor allem die klassische und die französische heiBt; also weniger ein Besitz aller, als ein solcher gewisser bevorzugter Kreise. Wir dürfen ruhig annehmen, daB Wieland ohne es sich klar zu machen, die Beschaftigung mit der Kunst als ein Vorrecht der bessern Kreise des gebildeten Bürgerstandes und des Adels betrachtete. Darauf ist es vielleicht zurückzuführen, daB er als einen für alle notwendigen Unterrichtszweig irgendwelche Form der Einführung in die Kunst oder auch nur in die Literatur, sogar in der einfachen Gestalt der Lektüre von allgemein verstandlichen Erzeugnissen der bessern nationalen Schriftsteller nicht erwahnt. Als Fach nennt er die Kunst unter dem Titel „Belles Lettres" nur in seinem „Plan zur Akademie", als Lehrfach einer Anstalt zum erweiterten Unterricht, in der Absicht für höhere gesellschaftliche Stellen vorzubereiten. Aber dies sei besonders hervorgehoben; wenn auch Wieland ') Vergl. Agth. III. Buch XVI/4. Hp. III/223; Goldsp. 1/2. Hp. XVIH/42; ebd. 52; Göttergspr. XII. Hp. IX/103. 3) Vergl. Goldsp. II/6. Hp. XIX/63. unter „Belles Lettres", an erster Stelle an die klassische Literatur gedacht haben mag, so leuchtete es ihm doch von vornherein ein, daB dar in ein Bildungswert steckte, der weit über die einseitige Verwendung der klassischen Autoren zu dem Unterricht in der griechischen oder lateinischen Grammatik hinausgeht. Er weist darauf hin, daB Quinctilian uns lehre, wie an den unter dén ersten Kaisern in Rom entstandenen öffentlichen Schulen die Griechen als klassische Autoren gelesen wurden, dennoch werde man nicht geglaubt haben, daB Demosthenes in Athen seine Reden nur dèshalb niedergeschrieben habe, damit einige Jahrhunderte spater die Knaben in Rom daraus Griechisch lernen würden.1) Die Absicht der griechischen Education sei die Kalokagathia gewesen, und mit Hinweis auf Shaftesbury wird diese Tendenz den Lehrern empfohlen. Wir erkennen in diesen Auffassungen die Prinzipien des Neuhumanismus; der altere Wieland hat der Gesamtheit die Werte dieser klassischen Literatur nicht vorenthalten wollen, wie seine Übersetzungstatigkeit erweist, wodurch er solchen, die, um Schillers Worte anlaBlich seiner Übersetzung des zweiten und vierten Buches der „Aeneide" zu verwenden, der lateinischen Sprache nicht kundig, aber fahig sind, jede Schönheit der alten Klassiker zu empfinden, Zutritt in die Gedankenwelt des klassischen Altertums gewahrte. Neben der Lektüre wird gelegentlich die M u s i k als bildender Faktor erwahnt. Das Ohr sei an kunstlose, aber seelenvolle Melodien zu gewöhnen, welche das Herz in sanfte Regungen versetzen.2) Aus diesem Grunde, und weil die Musik durch die direkte Empfindung die menschliche Seele in Harmonie zu allen andern, ja zu der Natur selbst bringt, wird sie noch in „Aristipp"3) als wesentlicher Teil der Bildung eines Kindes erwahnt, so daB Wieland sie ohne Zweifel als notwendiges Hilfsmittel zur Vorbereitung einer allgemeinen sittlichen Bildung empfunden hat. AuBer den bisher genannten Disziplinen, welche der direkten ethischen Bildung des Bürgers dienen, wird als zweites groBes Gebiet die freie naturwissenschaftliche Forschung und die damit zusammenhangende mathematische erwahnt. In welchem Verhaltnis diese Wissenschaften zu einander stehen, hat Wieland nicht erörtert, wie dieses zu seiner Zeit überhaupt kaum prinzipiell fundiert war; auch mit Rücksicht auf die Physik gingen ') Plan einer Akademie zu Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute. 2) Goldsp. 1/4. Hp. XVIII/63. 3) Arist. III Hp. XXVII/130. rationalistische und empirische Strömungen ziemlich getrennt neben einander. Es ist aber dabei durchaus in Wielands Geist, die Mathematik nur in soweit zu berücksichtigen, als sie zur Einsicht in die physischen Erscheinungen unbedingt nötig ist. Denn das naturwissenschaftliche Studium ist bei ihm weniger Selbstzweck als ein Mittel, eine Einsicht in den kosmologischen und physikoteleologischen Gottesbeweis zu gewahren. Man soll imstande sein in der Natur sowohl die ZweckmaBigkeit als die GesetzmaBigkeit zu erkennen, welche Erkenntnis für den vernünftigen Glauben an Gott als höchste Intelligenz, GesetzmaBigkeit und Güte bezweckt. Zu der Einsicht in die Intelligenz und GesetzmaBigkeit Gottes führt ganz besonders der auf Newton zurückgehende, physikoteleologische Beweis, wahrend der kosmologische Beweis durch die nachdrückliche Betonung der ZweckmaBigkeit in der Natur die Güte Gottes vernünftig darlegen will. Für die höhern Lehranstalten fordert Wieland unbedingt Metaphysica und Methematica,1) in der bewuBten Absicht, zu der eben angedeuteten, an den Deismus streifenden Weltanschauung zu gelangen, welche in Gott den Urheber aller Dinge erblickt, aber dennoch ahnt, daB alles Weltgeschehen ebenso wie die Schicksale des Individuums, sich nach unabanderlichen Gesetzen entwickeln. Wirkliche und fruchtbare Beschaftigung mit solchen, das Verhaltnis des Sinnlichen zu dem Übersinnlichen berührenden Fragen, setzt natürlich philosophische Besinnung und eine entsprechende Vorbildung voraus. Erst die geschulte Vernunft vermag in den Erscheinungen die GesetzmaBigkeit wie die ZweckmaBigkeit zu erkennen, so daB sie ebensowenig an dem Dasein einer höchsten Weisheit und Güte, gleichsam der allgemeinen Seele des Ganzen, als an der eignen Seele, die nicht sichtbarer ist als jene, zweifeln kann.2) Die nötige Vorbildung zu einer solchen soweit wie möglich vernünftig fundierten, bewuBten Weltanschauung bedingt ein fortgesetztes Studium, das nur höhere Lehranstalten zu bieten vermogen, so daB Wieland nur mit Rücksicht auf diese die vorbereitenden Disziplinen mit Namen erwahnt. Hinsichtlich der Staatsfürsorge wegen eines allgemeinen Unterrichts begnügt er sich mit der vagen, auf die Religion zugespitzten Angabe, daB dem Volke eine vernünftige und dem wahren Besten der Menschheit angemessene Religion zu geben sei.3) ') Plan einer Akademie zu Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute. *) Goldsp. II/6. Hp. XIX/66 ff. 3) Goldsp. 11/14. Hp. XIX/139. Vergl. Agth. UI Buch XVI/4. Hp. III/223 Phil. Schr. XXXII/334. Wir dürfen aber, wie sich unten zeigen wird, keinen Augenblick daran zweifeln, daB die Grundlage zu dieser Religion eine, wenn auch elementare Einsicht, in die Natur bilden sollte. Es mag sein, daB Wieland für die groBe Masse eine Empfindung für das ZweckmaBige in der Natur praktischer geurteilt hat als die eine gröBere Anstrengung des vernünftigen Denkens fordernde Einsicht in die GesetzmaBigkeit, wie die philanthropinistische Richtung in der Erziehung auf die Teleologie vorzugsweise den Nachdruck legt. Bei dieser Betrachtung der ZweckmaBigkeit ware die Aufmerksamkeit auf die Schönheit der Natur, welche im Sinne Shaftesburys das Streben auf das absolut Gute zu richten vermochte, hinzulenken. Dennoch durfte der Hinweis auf die GesetzmaBigkeit im Naturgeschehen nicht fehlen, ware es auch bloB durch die aufmerksame Beobachtung. Jedenfalls empfiehlt Wieland diese Haltung als einen Weg zur selbstandigen Urteilsbildung gegenüber den auf Treu und Glauben übernommenen Ansichten von dem Zusammenhang des Kosmos.*) Auch der nicht wissenschaftlich Gebildete soll prinzipiell der Überzeugung fahig sein, daB alles Geschehen kausal bedingt ist; oder wie Wieland es einmal bildlich und popular ausdrückt, daB Jupiter, mit all seiner Allgewalt nicht zuwege bringen könne, daB zweimal zwei mehr oder weniger als vier ware, ebensowenig als es ihm möglich ware, die Wirkung zu verhindern, wenn die ganze Ursache da ware.2) Wenn der Staat die sittliche Bildung seiner Bürger übernimmt und zu gleicher Zeit durch die Anregung zu freier Forschung die Vernunft von der Herrschaft der auBervernünftigen Autoritat erlösen will, erklart er der kirchlichen Orthodoxie den Krieg. Er erfüllt damit die Aufgabe, jegliche Form des Aberglaubens zu beseitigen, denn es ist der Aberglaube, der den menschlichen Geist fesselt und dadurch zum Hindernis wird, daB der Mensch sich seiner wirklichen Wiirde bewuBt wird.3) In der heftigen Polemik der Aufklarung gegen die „Priesterherrschaft , der sie alles Elend der Menschheit zuzuschreiben geneigt war, stimmt Wieland seinerseits mit voller Überzeugung ein.4) Priesterherrschaft ist die Andeutung dafür, daB durch alle Jahrhunderte hindurch die herrschenden Strömungen innerhalb der verschiedenen ') Vergl. Abd. Hp. VII/67. 2) Göttergspr. XII. Hp. IX/109. 3) Vergl. Goldsp. 11/13. Hp. XIX/135. *) Vergl. Per. Prot. Hp. XXI/152. 167; Agathdm. 1/4. Hp. XXIII/127. Kirchen jede freierc Regung des menschlichen Geistes, zumal wenn diese sich als AuBerungen einer höhern Humanitat bekundete, immer wieder verraten und zusammen mit der Obrigkeit bis zur Vernichtung verfolgt haben. Es ist die Tendenz aller herrschenden Kirchen, das Wesen des von ihnen verkündeten Christentums um der Herrschaft willen zu verleugnen; ihre Religion herabzuwürdigen zu einem Mittel, ihre Macht über die Geister der Glaubigen zu behaupten.1) Diesem Zweck ist vor allem die den Menschen innewohnende Furcht infolge aberglaubischer Vorstellungen, wie man vorzugsweise solche zu bezeichnen pflegte, die der reinen Vernunfterkenntnis widersprechen, förderlich. Zweifelsohne bedeutet es einen Mangel an historischer Einsicht, wenn Wieland, wie die meisten der zeitgenössischen aufgeklarten Denker eine solche Vorstellung überhaupt als die Folge des bewuBten Priesterbetrugs2) betrachten will. Aber es ist nicht weniger eine Tatsache, daB die herrschenden Kirchen jede freiere Regung der Vernunft, so lange es nur irgend anging, mit einer Vehemenz bekampften, die als ein bewuBter Versuch, die Menschheit als Ganzes in bedingungsloser Unterwürfigkeit festzuhalten, gedeutet werden könnte. Diese kirchliche absolute Herrschaft, welche sie mit den Machtigen der Welt teilte, war um so geeigneter die Entrüstung wachzurufen, als sie ihren Beruf, die Leiden der Menschheit zu lindefn, schon nach den ersten nachchristlichen Jahrhunderten offiziell verleugnet hat und nicht weniger hart und grausam in das Weltgeschehen eingriff als die weltliche Behörde. Sie linderte kein Leiden, trug das Ihrige nicht zur Glückseligkeit bei, sondern haufte vielmehr manchmal das Leid in grauenerregender Weise auf die Menschheit. Die Aufklarung hat wirklich für ein dem Geist der christlichen Religion, oder wenn man will dem Geist wahrer Humanitat entsprechendes Ideal gekampft, wenn sie im Namen der Vernunft die kirchlichen Machte angriff und Wieland hat teil an dieser ethischen Entrüstung, wenn er wiederholt auf Priesterherrschaft und Priesterheuchelei in Schilderungen hinweist, die ungeachtet ihres romantischen Gewandes die reellen MiBverhaltnisse zum Ausdruck bringen.3) Fast überall, wohin er blickte, vermochte Wieland die feste Verbindung zwischen der Obrigkeit und ') Vergl. Agathdm. VII/4. Hp. XXIII/221; Phil. Schr. XXXI/224; ebd. 292/293. 2) Vergl. Agth. II. Buch VII/3. Hp. 11119. 3) Vergl. Agth. III. Buch XVI/4. Hp. III/223; Goldsp. 11/13. Hp. XIX/135. der Kirche festzustellen, welche wcniger die Vcrbreitung cincs religiösen Geistes unter den Untertanen als eine bewuBte geistige Unterjochung derselben bezweckte.1) Als höchste Gewalt erschien gewöhnlich nicht der Staat, vielmehr teilten sich gewisse Klassen in dieselben, welche sich im Bunde mit der Geistlichkeit um den Thron gruppierten. Die Auffassung, als mochten dergleichen interessierte Gruppen jede höhere Entwicklung der Vernunft bei den groBen Massen niederhalten, damit diese durch die absolute Unfahigkeit zum selbstandigen Urteil im Schrecken dogmatischer Wahnvorstellungen befangen bleiben, ist sicher nicht als völlig unbegründet zurückzuweisen. Natürlich laBt sich einwenden, daB die Aufklarung, und somit auch Wieland, die straffe, das Prinzip der göttlichen Vergeltung mit Vorliebe hervorhebende Predigung der Religion, zu sehr als wohlüberlegtes politisches Mittel auffaBte. In der Wirklichkeit mögen es nur die erleuchtetsten, aber zugleich die frivolsten Köpfe gewesen sein, bei denen dies tatsachlich klar zum BewuBtsein kam. Jene religiösen Vorstellungen, die den Gesetzen der Vernunft entweder widersprechen oder wenigstens zu widersprechen scheinen und deshalb durch die Bezeichnung .Aberglaube" der lachelnden Verachtung der Aufgeklarten preisgegeben wurden, sind tatsachlich durch Jahrhunderte hindurch überlieferte Ideenverknüpfungen, die teilweise sogar seelischen Bedürfnissen entsprechen und die als solche nicht nur die breiten Volksmassen, sondern kaum in geringerm MaBe die obern Schichten beherrschten. ^^enn diese sich zu Wielands Zeiten die aufgeklarten Gedanken auch leichter aneignen konnten, als die Schichten des Volkes, so werden die überlieferten religiösen Vorstellungen bei vielen dennoch zu machtig gewesen sein, um ohne weiteres selbstandig dem Autoritatsglauben der Kirche gegenüber Stellung zu nehmen. Daneben gab es unter den herrschenden Kreisen zwar sehr viele, die die aufgeklarten Ideen bis zu der Konsequenz einer materialistischen Weltbetrachtung gern annahmen; jedoch bloB in der Absicht sich den natürlichen Trieben um so haltloser hinzugeben. Solche haben zwar den religiösen ,,Aberglauben verspottet, um sich aber dafür mit andern aberglaubischen Praktiken zu befassen.2) Daher lag die Sache gewöhnlich nicht so, daB eine aufgeklarte, ') Vergl. Abd. V/1. Hp. VIII/87. 2) Göttergspr. XII. Hp. IX/104; Vergl. Phil. Sehr. XXXII/223 ff. ebd. 361. vernünftige Obrigkeit vorsatzlich die Verbreitung von vernunftwidrigen Vorstellungen unter der Masse förderte. Vielmehr war diese in demselben Wahn mit befangen und zitterte, ungeachtet aller Ausschweifungen und frecher Ausbeute der politisch Rechtslosen, vor einer der kirchlichen Predigung entsprechenden Form der göttlichen Vergeltung. Die letzten Stunden „Franz Moors" mögen typisch sein für den reellen Seelenzustand manches im Wesen hohlen Geistes, der geglaubt hatte, die innere Haltlosigkeit und Verdorbenheit mit den Theorien eines bequemen, sogenannten Materialismus stützen zu können. Die Kirche verkündet im allgemeinen nicht trotz einer bessern Einsicht widervernünftige Dogmen. sie fuBte, und fuBt teilweise noch, auf einem wider- oder übervernünftigen Offenbarungsglauben. Als religiöser Standpunkt ist der Offenbarungsglaube an und für sich zu verteidigen. Der Glaube braucht nicht notwendig vernünftig zu sein, obwohl es immer Geister gegeben hat und geben wird, für die nur ein vernünftig fundierter Glaube wertvoll ist. Demgegenüber werden anders orientierte Geister im Glauben vorzugsweise das Erleben des Übervernünftigen suchen und dessen Offenbarung in irgendwelcher Form mit Inbrunst ergreifen. Die Verkündigung einer Offenbarungsreligion wird aber zum Verbrechen, wenn diese Predigung hauptsachlich bezweckt die Seelen der Menschen im Banne des Schreckens festzuhalten und sich aus diesem Grunde gegen jede freiere Regung der Menschlichkeit wendet, zumal wenn diese Haltung aus dem bewuBten Streben nach geistlicher und weltlicher Herrschaft hervorgeht. Im Kampfe um die Freiheit der Vernunft, in der sie den Weg zur sittlichen Erlösung der Menschheit erblickte, muBte die Aufklarung die herrschende Kirche, welche Religion sie auch vertrat, als eine Gegnerin empfinden. die in bewuBter Niedertrachtigkeit die Massen im Griff des Aberglaubens festhalten wollte und sie tatsachlich darin gefangen hielt. Sie war gewiB zu der Uberzeugung berechtigt, daB ohne eine gröBere oder geringere Selbstandigkeit in der Urteilsbildung ausgedehnter Gruppen, die Kirche sowie die Obrigkeit, zu jeder Zeit die Gelegenheit hatten, die Massen zu selbstsüchtigen Zwecken zu verwenden und auszubeuten unter dem Motiv, daB ihre Handlungen die Verwirklichung des göttlichen Willens waren. Daher empfindet es Wieland als die groBe, aber schwierige Aufgabe eines idealen Staates, die auf die Vernunft gegründete, religiöse Bildung der Angehörigen selbst zur Hand zu nehmen, indem er den betreffenden Unterricht von freidenken- den, gründlich wissenschaftlich Gebildeten und sittlich Hochstehenden erteilen laBt. Er ist sich auch richtig davon bewuBt, daB die religiösen Vorstellungen, wenn sie auch öfters widervernünftig sind, oder wie eine schwere Last auf der Menschheit liegen, dennoch in der Überzeugung der Massen tief Wurzel gefaBt haben, so daB ein direkter Versuch zur Reform auf einen fanatischen Widerstand stoBen dürfte, der von einer herrschsüchtigen, geistlichen Klasse leicht auszunutzen ware. Er denkt deshalb an eine stufenweise Vorbereitung der Volksklassen zu gelauterten religiösen Ansichten,1) wozu jedenfalls der Unterricht in der Schule am meisten beizutragen hat. Die Religion soll dem wahren Besten der Menschheit dienen, vernünftige Einsicht in die Natur des höchsten Wesens gewahren und mit einer gereinigten Sittenlehre verbunden, einen höhern Grad von Licht und Warme in die Seelen bringen.2) Unter dieser Bedingung dürfte nach Wielands Einsicht die Religion zum wirklichen Bildungsmittel und damit zu dem, was sie sein soll, zu einer Stütze der Jugend werden.3) Sie entwickelte sich dann zu einem auf den neuesten, wissenschaftlichen Entdeckungen beruhenden, deistischen System, in welchem eine Sittenlehre im weitesten Umfang und eine sie fördernde, frei wissenschaftliche Forschung sich zu einer seelischen Grundhaltung verbinden würden, welche in einer reinen Humanitat ihren höchsten Ausdruck fande. Diese Forderung bedeutet tatsachlich nur, daB er vom Staate erwartet, was er selbst durch ein langes, arbeitreiches Leben hindurch zu verwirklichen versuchte; denn die Aufklarung der Vernunft, welche der Zweck aller seiner ernsthaften Schriften war, bedurfte zunachst der Religionsvorstellungen, welche sich der rationalistischen Lebensauffassung naherten.1) Ohne Zweifel führte die sogenannte vernünftige Religion, indem man die verhaltnismaBig beschrankten Einblicke, welche die damaligen Naturwissenschaften in die Gesamtheit der Erscheinungen zu gewahren vermochten, als der Weisheit letzten SchluB betrachtete, einerseits zu einer Überschatzung der menschlichen Vernunft und andrerseits zu einer trocknen, rationalistisch oder empiristisch begründeten Moralpredigung. Dennoch ist die, gewöhnlich in der Form des Deismus auftretende, vernünftige Religion notwendig ') Goldsp. 11/14. Hp. XIX/142. ») Goldsp. 11/14. Hp. XIX/142. 3) Goldsp. I. Her./Leser. Hp. XVIII/125. *) Vergl. Goldsp. I. Her./Les. Hp. XVIII/125. gewesen, um die Menschheit von Vorstellungen zu befreien, die man schwerlich anders als mit dem im Zeitalter der Aufklarung selbst vorzugsweise verwendeten Namen ,,A berglaube" bezeichnen kann. Nur indem man sich von solchen, jede freie Entfaltung des menschlichen Geistes hemmenden Vorstellungen lossagen konnte, wurde die Besinnung auf die menschliche Würde möglich und damit der gesellschaftliche Aufstieg jener Schichten, die bisher unter dem Druck der bevorzugten Stande so gut wie rechtlos waren. Gerade die Tatsache, daB Wieland dem Staat die Aufgabe zuwies, alle Untertanen durch vernünftige, religiöse Vorstellungen von einem geistigen Zwang zu befreien, bringt das Vertrauen zum Ausdruck. das er einer Gesellschaftsform entgegenbrachte, in der wirklich die „Staatsgewalt",1) und nicht die Herrschaft eines Einzelnen in der Gestalt eines absoluten Monarchen, die höchste Autoritat bedeutete. Er glaubt, daB der Staat, bei welchem Begriff man mehr an ein Prinzip als an die Herrschaft der höchsten Behörden innerhalb desselben dachte, sich zu der sittlichen Höhe erheben könnte, unter der Hintanstellung des eignen Selbst, bloB das Augenmerk auf das Wohlbefinden der Angehörigen zu richten, bei welchem Streben ebenfalls das Heil der gesamten Menschheit zu berücksichtigen ware. In einem solchen Staat bedeutet der Unterricht der Jugend nur die erste Lösung der obliegenden Verpflichtungen. Es soll dafür Sorge getragen werden, daB die Keime, welche die Jugenderziehung gelegt hatte, Gelegenheit haben zu voller Entfaltung zu gelangen. Die Erziehung eines Menschen ist, insoweit es sich um eine direkte auBere Beeinflussung handelt, gewöhnlich in den beiden ersten Jahrzehnten des Lebens vollendet; aber nur bei den Wenigsten ist man zur Erwartung berechtigt, daB sie unter allen Umstanden ihr Leben nach den gewonnenen vernünftigen und sittlichen Prinzipien zu gestalten vermochten. Wieland weiB bis zu welchem Grade der Mensch von seiner Umgebung abhangig ist,2) so daB kaum der erleuchtetste Geist in einer seiner Anlage durchaus ungünstigen Umwelt „sich auf seiner Höhe behaupten dürfte." Daher soll sich der Staat eine Einrichtung des öffentlichen Lebens zur Pflicht machen, welche den sittlichen Prinzipien der Lehrjahre seiner Angehörigen möglichst entspricht. Die aus ') Vergl. Agth. II Buch X/5. Hp. 11/61; Göttergspr. XI. Hp. IX/88; Goldsp. 11/10. Hp. XIX/99; 11/11. Hp. XIX/113. 2) Agth. III. Buch XII/11. Hp. 111/92; ebd. III/132. den anerzogenen, vernünftig ethischcn Grundsatzen hervorgehende Gesinnung bezeichnet Wieland mit dem Namen „T u g e n d". Die zu dieser Gesinnung erzogenen Bürger sollen vom Staate darin durch ein System von Gesetzen befestigt werden, welche eine tugendhafte Lebensführung zur P f 1 i c h t und zwar in Verbindung mit der Jugenderziehung zur selbstverstandlichen Pflicht machen, was eben mit Freiheit gleichbedeutend ist. Die Tugend wird der Liebe zum Vaterlande gleichgesetzt.1) Bei Wieland bedeutet Vaterlandsliebe aber keineswegs eine abstrakte Gefühlsbindung zu der Heimat, oder vielmehr zu dem, was in dem Namen des Gebietes, das der Staat als solcher innehat, bezeichnet wird. Er umschreibt den Begriff ganz praktisch als den innern Anteil an seinen Mitbürgern, was natürlich eine Empfindung der Zuneigung zur Heimat mit umfaBt, da die Angehörigen derselben Heimat durch ein innigeres Band des gegenseitigen Interesses verknüpft erscheinen, was teilweise die Folge einer einigermaBen übereinstimmenden Naturanlage sein mag. Die kosmopolitische Gesinnung des aufgeklarten Geistes des 18. Jhts. bedingte wahrscheinlich eine praktisch humanistische Art des Empfindens, welche sich sogar bei dem Gedanken an das ,.Vaterland", mehr auf die Mitbürger als auf den abstrakten Sinn des Wortes bezog. Sehr sicher haben die Kosmopoliten jenes Zeitalters die Bedeutung der einzigartigen Krafte innerhalb der verschiedenen Völker und Rassen unterschatzt, aber wir wollen uns demgegenüber der Einsicht nicht verschlieBen, daB unter Umstanden dieser Kosmopolitismus, der die Aufmerksamkeit den Menschen zuwandte, auch da, wo es sich um das Vaterland handelte, einen höhern ethischen Wert vertrat, als die Gesinnung derjenigen, deren Vaterlandsliebe oder Chauvinismus sich nur in HaB und Abneigung gegen andre Völker und Rassen zu auBern vermag, wahrend man von persönlich wohlwollender Haltung mit Rücksicht auf die eignen Landsleute oft herzlich wenig spürt. Wenn die Bildung des Bürgers mehr das Verhaltnis zu den Mitbürgern als das zu der abstrakten, als Staat oder Vaterland bezeichneten Gemeinschaft bezweckt, so wird dieselbe zu gleicher Zeit eine Ausbildung zum ,,geselligen Menschen", also zu einem solchen, der um seiner Mitmenschen willen gern und >) Goldsp. II/3. Hp. XIX/40. freiwillig auf die absolute Befriedigung der eignen Triebe verzichtet. Mit solchen Gedanken stehen wir mitten in der französischen Aufklarung, mit Bezug auf welche Wundt in seiner Ethik folgendes bemerkt: „Bei Helvétius, wie in Holbachs „System der Natur", begegnet man dabei (wegen der angenommenen ursprünglichen Gleichheit der Menschen) der bestimmten Voraussetzung: „weise Gesetzgeber seien imstande den natürlichen Egoismus der Menschen so zu erziehen und zu lenken, da£ er nur zum Heil der Mitmenschen ausschlagen und mithelfen werde die allgemeine Glückseligkeit zu fördern."1) Wieland denkt sich diese Erziehung durch soziale Gesetzgebung und soziale Fürsorge. Zu dieser Staatsbemühung gehort selbstverstandlich an erster Stelle jener Unterricht, wodurch die vernunftgemaBe Notwendigkeit der Sitten, welche der Staat seinen Angehörigen beibringen soll, gelehrt wird, wahrend eine weitere Erziehung, wodurch die Bevölkerung zur Befolgung dieser Sitten angeleitet wird,2) der staatlichen Fürsorge zufallt. Der Staat hatte demnach die Aufgabe vor allem auf Wege und Mittel zu sinnen, die Jugenderziehung der Angehörigen durch eine praktische Weiterbildung zu befestigen. Ein zweites groBes Gebiet seiner Bemühungen bildet das Ergreifen solcher MaBnahmen, daB der ZusammenstoB der Interessen möglichst vermieden wird, weil dieser eine unsoziale und unethische Gesinnung mit aller Gefahr der Ansteckung in sich tragt.3) Natürlich hat die Erziehung der Untertanen die Vertiefung ihrer Einsicht zum Zweck; sie ware demnach wie im Jugendunterricht an erster Stelle eine Bildung der Vernunft. Nach dem rationalistischen, für Deutschland ganz besonders durch Wolff verbreiteten Prinzip, setzt die richtige Einsicht ohne weiteres das richtige Handeln voraus. Die Erziehung zur Tugend seitens des Staates ist also mit der Erziehung zur Vernunft identisch, welche Aufgabe ein aktives Verhalten desselben voraussetzt. Die aktive Fürsorge spitzt Wieland besonders auf die Religion zu.4) Erstens sicher deshalb, da der MiBbrauch des geistigen Einflusses, welchen die Religionspredigung sowie die Aufrechterhaltung ihrer Vorschriften gewahrt, nicht wenig zur Knechtung des Denkens beigetragen hat. Zweitens aber war die Kanzei für ') Ethik 340. 2) Goldsp. II/12. Hp. XIX/128. s) Goldsp. II17. Hp. XIX/77. ') Goldsp. 11/14. Hp. XIX/142. die groBe Masse die einzige Stelle, von woher sie unterrichtet wurde. Wenn also von dort aus eine „gelauterte Religion" verkündet werden sollte, so ware nach der Überzeugung der Aufklarer vieles zur Beseitigung falscher Vorstellungen und damit zur Gewinnung einer ethisch reinern Lebenshaltung erreicht. Die Folge einer solchen gelauterten Religion ware eine würdige Vorstellung des Daseins und der Vollkommenheit des höchsten Wesens und eine dementsprechend gereinigte Sittenlehre.1) Gerade die enge Verbindung mit der vernünftigen Einsicht hatte die erwünschte Reinigung der Sittenlehre zur Folge, welche der Schulunterricht schon angebahnt hatte. Nur die Vernunft ist fahig, die Sittlichkeit von den Zwangsvorstellungen einer transzendenten Belohnung oder Strafe zu befreien, indem sie ein Leben nach ethischen Gesetzen als ein Leben nach dem immanenten Gesetz des menschlichen Wesens erkennt. Die Tugend bedeutet für den vernünftigen Menschen nicht einen Zwang, sondern die Freiheit, welche sich durch eine innere Heiterkeit und eine hingegebene Erfüllung der vom Leben auferlegten Pflichten offenbaren wird. Neben der Kanzei gab es in Wielands Augen, den diesbezüglichen Verhaltnissen seines Jahrhunderts gemaB, für den nicht direkt wissenschaftlich Gebildeten nur ein Mittel zu einem höhern Grad der vernünftigen Einsicht zu gelangen, die Lektüre popular wissenschaftlicher Abhandlungen, wie sie die „moralischen Wochenschriften" und die belletristische Literatur in Romanen und Reisebeschreibungen verarbeitet, darboten. Es entspricht dem Geiste der Aufklarung, wenn Wieland fordert, daB jede Meinung einer vernünftigen Prüfung unterzogen werden dürfte.2) Der Anteil des Staates an dieser Bildungsform kann nur passiv sein, indem er Freiheit der Presse gewahrt; eine Forderung, die Wieland zwar nicht direkt erhoben hat, aber welche dennoch seinen Ausführungen über die Freiheit der Vernunft und die Toleranz3) dem Prinzip nach entspricht. Es war denn auch die PreBfreiheit eines der vornehmsten Rechte, die der um die soziale Gleichberechtigung mit den herrschenden Klassen kampfende Bürgerstand für sich aufgefordert hat. Die Vorherrschaft des vernünftigen Denkens in der Verbindung von Religion und Sittlichkeit1) bekundet sich besonders in ') Vergl. Agth. III Buch XVI/3. Hp. III/213. 2) Freiheit der Vernunft (Phil. Schr.). s) Vergl. Goldsp. 11/14 Hp. XIX/140—141. ♦) Vergl. Phil. Schr. XXXII/347 ff. der Verschiebung des ursprünglichen Verhaltnisses dieser geistigen Machte. Wahrend die Sittlichkeit bisher der Religion untergeordnet war, ist für das aufgeklarte Denken die Religion der Sittlichkeit derart untergeordnet, daB erst in dieser ihre Reinheit und Wahrheit erkannt wird. Beide aber sollen dem vernünftigen Denken gemaB sein. In dieser Welt der Aufklarung aber, für welche die vernünftige Begründung des Ethischen charakteristisch war, erschien Shaftesbury mit einer Tugendlehre, welche dem Gemüte einen gröBern Anteil an dem sittlichen Leben gewahrte. Seine asthetisch bedingte Tugendlehre übertrug das künstlerische Prinzip der Harmonie auf die seelische Haltung.1) Zu der von ihm verlangten Harmonie der egoistischen und altruistischen Triebe soll die Versenkung in die Schönheit der Kunst oder der Natur führen. Diese asthetische Philosophie des englischen Denkers fand in der ganzen westeuropaischen Kulturwelt einen solchen Anklang, daB seine Ideen zum allgemeinen K u 1t u r g u t wurden. Wieland war sowohl durch seine natürliche Anlage als durch seine Erziehung für Shaftesburys Denken besonders empfanglich. Für seinen Charakter war eine Neigung zum Ausgleich von Gegensatzen überhaupt bezeichnend, eine Neigung, welche durch eine eingehende, teilweise durch Winckelmanns Ansichten bedingte Beschaftigung mit dem Altertum nur bestarkt werden konnte. Die Erfassung der klassischen Kunstformen nicht durch die Sinne, sondern durch das Gemüt, ist typisch germanisch, und seine piëtistisch religiöse Erziehung trieb Wieland dazu, die hier gebotene Gelegenheit zur Betatigung der Gemütskrafte neben der rein vernünftigen Lebensbetrachtung mit Freude zu ergreifen. Die Kunst bedeutet auch für Wieland ein Mittel zu einer direkten Betatigung der Gemütskrafte und zwar in dem Sinne, daB der Mensch durch die Betrachtung derselben in eine harmonische, die egoistischen Triebe durch die altruistischen beschrankende Seelenstimmung versetzt wird. Wenn durch die fortgesetzte Berührung mit der Welt des Schonen diese Haltung der Seele sich zum Habitus gestaltet, so wird die Seele unmerklich für die ethischen Lehren empfanglich. Der Staat, dem die Fürsorge für die Sitten seiner Bürger obliegt, soll diesen demnach möglichst oft die Gelegenheit bieten sich an den Erzeugnissen der Kunst zu ergötzen und dadurch Sorge tragen, daB der ') Verfll. Agth. II Buch 1X17. Hp. 11/123; Agth. m Buch XVI/3. Hp. III/209. Geschmack der Bürger durch neue und reinere Quellen des Vergnügens gereinigt wird.1) Die asthetische Erziehung des Menschen ist ein Programm, das die Geister wahrend des Zeitalters der Aufklarung und auch nachher noch stark beschaftigte. Gottsched wirkte in dieser Richtung durch seine Bemühungen um die Reinigung der deutschen Bühne, Lessing durch seinen Kampf um die Gründung eines Nationaltheaters, wahrend Goethe und Schiller glaubten, in der Versenkung in eine ideale Welt der Kunst ein en Halt gegen die infolge der französischen Revolution drohende Verwirrung der Geister zu finden. Nicht nur die Bühne arbeitete an dieser Aufgabe; Gemaldegalerien, wie die Dresdener, setzten die Interessierten in die Gelegenheit, sich an den Erzeugnissen der Kunst des Altertums wie an denen der modernen Zeit zu erfreuen. Aber alle diese Bestrebungen waren bloB zufallig; der Staat war noch weit davon entfernt, sich in dieser Richtung um die Bildung der Angehörigen zu kümmern. Der Asthetiker Wieland ist von der heilsamen Wirkung der Kunst auf das Gemüt dermaBen überzeugt, daB er den Staat mit Rücksicht darauf zur tatigen Förderung nicht nur der Wissenschaften, sondern auch der Künste aufzufordern, sich gedrangt fühlte.2) Dürfen wir in Wielands Geist die Beschaftigung mit Künsten und Wissenschaften als einen direkten Weg zur Gewinnung einer harmonischen, dem Ethischen zuganglichen Seelenverfassung betrachten, so ist uns auf den ersten Bliek ein auBerliches Mittel, das er zur Förderung dieser Verfassung der Seele empfiehlt, und dessen Überwachung er dem Staat zuweisen möchte, auffallig. Wir denken dabei an die, wie es scheint, rein auBerliche Tugend der Höflichkeit, des f ein en, gesitteten Benehmens. Einem solchen Gedanken war der Geist des Rokoko sehr förderlich, obwohl Wieland sich bewuBt gewesen ist, daB auBerliche Feinheit und Höflichkeit des Benehmens öfters mit innerer sittlicher Verderbnis verbunden sein mögen. Dennoch hat er in gewissen Sinne Recht; zwar ist Höflichkeit im Benehmen an sich etwas bloB AuBerliches, aber schon die fortgesetzte, unter allen Verhaltnissen aufrecht erhaltene Form des höflichen Benehmens setzt eine Verinnerlichung voraus. Man mag erwagen, daB Wieland weniger die studierten Salonformen3) ins Auge faBt, als die be- ') Arist. 111127. Hp. XXVII/129. 2) Goldsp. 1/2. Hp. XVIII/42. 3) dasz er dieselben aber gebührend zu würdigen wuszte bewelsen: Agth. II Buch VII/7; Hp. 11/30 ff; ebd. 53; Agth. UI Buch XI/3. Hp. UI/20. herrscht höfliche Haltung in allen Momenten eines kurzen Zusammentreffens; sogar dann, wenn es sich nur urn eine oberflachliche Berührung mit den Mitmenschen handelt. Auf diese Weise setzt die Höflichkeit ein fortwahrendes Rücksichtnehmen auf den Mitmenschen voraus, das man in der Tat als eine ethische Haltung zu betrachten berechtigt ware. Wirklich höfliche Menschen gibt es kaum so viele, als es den Anschein hat. Es ist übrigens bemerkenswert, daB Perioden, in denen die wirkliche Kultur nicht in hohem Grade entwickelt ist, sich durch einen Mangel an auBerlich gesittetem Betragen kennzeichnen. Man sucht zwar diesen Mangel durch den nachdrüchlichen Hinweis darauf zu entschuldigen, daB man dem Scheine abgeneigt sei, und es vorziehe, ohne Umschweife die Wahrheit zu sagen; aber es unterliegt wohl keinem Zweifel, daB solches an und für sich ebensowenig wie die auBerliche Höflichkeit der Umgangsformen, auf eine ethische Gesinnung deutet. Vorlaufig erblickt denn auch Wieland in denselben nicht direkt die Offenbarung einer innerlich sittlichen Gesinnung, vielmehr bloB eine Form des Betragens, welche geeignet ware, rohen Ausbrüchen der Selbstsucht vorzubeugen.1) Er mag sich der Hoffnung hingegeben haben, daB das auBere Benehmen auf die Dauer auf die Gesinnung zurückwirken mochte, weil er jedenfalls die feine Lebenshaltung als die Offenbarung einer innerlich ethischen Gesinnung aus Erfahrung gekannt hat. Seiner Ansicht nach sind Anmut und Freiheit des Benehmens die Erscheinungsformen der „Schonen Seele".2) Wenn Wieland also der Höflichkeit jene groBe Bedeutung zuschreibt, daB er es als eine Aufgabe des Staates betrachtet, die Pflege solcher auBerlichen Anstandsregeln zu überwachen, so bezeugt dies, daB die Höflichkeit nach seinem Empfinden zu den wesentlichen Kulturerscheinungen gehore, wodurch er prinzipiell auf demselben Standpunkt wie Wundt steht, der sich mit Bezug auf diese Fragen in seiner „Ethik" eingehend ausspricht. Er betrachtet das gesittete Benehmen als eine der wichtigsten Wirkungen, welche die Entwicklung der Kultur mit sich führt. Zwar seien sie ursprünglich aus Motiven hervorgegangen, deren ethischer Wert noch gering war, dennoch habe letzterer infolge jener Verlegung der Wirkungen in das Motiv, die der psychologische Hebei dieser ganzen Entwicklung sei, fortwahrend zugenommen. Hieran, so fahrt er ') Goldsp. 11/15. Hp. XIX/155. *) Agth. II Buch VIII/4. Hp. 11/21; 3) Men. Glyc. Brief 3. Hp. X/ll. 10 fort, reiht sich eine subjektive, ebenfalls nicht beabsichtigte, vom Standpunkt der objektiven Betrachtung auBerst wichtige Folge. Obgleich namlich die Regeln des gesitteten Benehmens und des Umgangs mit andern zunachst nur eine formale Bedeutung besitzen, so üben sie doch, indem sie die AuBerungen der rohen Selbstsucht zurückhalten und in allen Fallen die Rücksicht auf andre zur Norm des sozialen Verkehrs machen, auf die Gesinnung einen dauernden Zwang aus; eindringlicher, weil un~ ablassiger als Moralpredigten und geschriebene Pflichtgebote rufen sie jedem die Nlahnung zu * Sei nicht selbstsüchtig und achte die Rechte der Nachsten.1) Durch die Förderung von Wissenschaften und Künsten innerhalb aller Kreise der Bevölkerung fordert somit Wieland den Staat dazu auf, an der Bildung der Vernunft und des Herzens seiner Angehörigen zu arbeiten, auf welche Weise der Staat seine Verpflichtung zur sozialen Erziehung erfüllt. Als zweites groBes Gebiet staatlicher Bemühungen bezeichneten wir schon jene staatliche Fürsorge, die vor der Ansteckung der aus der Selbstsucht hervorgehenden Laster schützen soll. Die staatliche Überwachung der auBerlichen Gesittung bildet gleichsam eine Zwischenstufe zwischen diesen beiden Richtungen seiner sozialen Betatigung. Denn einerseits setzen diese Lebensformen einen gewissen Unterricht und eine Einübung ihrer Regeln voraus, wahrend die Ausübung derselben die Befolgung eines staatlichen Gebots „Ungebührliches zu unterlassen" voraussetzt. Schutz vor Ansteckung der Laster, welche eine Folge der Neigung zur restlosen Befriedigung der egoistischen Triebe sind, erfordert aber auBerdem MaBnahmen seitens des Staates zur direkten Beseitigung solcher Laster, oder um es mit einem Worte zu sagen; der Staat soll energisch gegen den L u x u s einschreiten, Dieses "Wort ist namlich der Sammelbegriff für alle Erscheinungen, die für eine verderbte Gesellschaft kennzeichnend sind; für die Ausbeute, für die gegenseitige Llnredlichkeit und die Sittenverderbnis. Es heiBt die Vorherrschaft der egoistischen Triebe über alle Neigungen des Herzens. Die Gesellschaft war dadurch von den höchsten Kreisen bis zu den niedrigsten angesteckt. Es ist jenes Streben, den eignen Besitz auf Kosten aller andern zu mehren, inmitten einer Staatsordnung, welche auch nicht den geringsten Versuch macht jenen Übeln zu steuern. Dieser gesellschaftliche Zustand ist es gerade. >) Wundt Ethik 184 ff. der Rousseau seinen Schrei „Zurück zur Natur", entreiBt. Er konstatiert als die Ursache ein seelisches Verhalten, dat er als „amour propre" andeutet, und das, wie er nachweist, aus der Vergleichung eines Individuums mit andern entsteht, wahrend es sich in dem daraus hervorgehenden Streben, Vorzüge über andre zu gewinnen, offenbart.1) Die unter den Menschen herrschende Eifersucht fördert den Wettkampf um Glücksgüter, welche gemeiniglich um so mehr Ehre und Ansehen zu erteilen scheinen, als man sie sich in gröBerm ÜberfluB angeeignet hat. Daher umfaBt das Wort „Luxus", das eigentlich nur die auBerliche Erscheinungsform dieser Gesinnung in der massenhaften Anhaufung von Glücksgütern und deren schamlose Darstellung bedeutet, die ganze ihr zu Grunde liegende Gier nach Macht und Herrschaft, sowie die unglücklichen für die Gesamtheit daraus hervorgehenden Folgen. Wenn Rousseau gegen die „amour propre" und Wieland gegen den Luxus seine Anklage erhebt und sie nach ihrer verschiedenen Wesensart verschieden, aber nicht weniger energisch bekampfen, so greifen sie damit Zustande und Verhaltnisse an, die das Bestellende mit dem Untergang bedrohen.1) Rousseau will, obschon er sich dessen nicht bewuBt war, die Revolütion; ihm, dem Gegner der Aufklarungsbildung, erscheint gerade durch die obwaltenden Verhaltnisse der Bankerott der sogenannten Kultur aufs deutlichste erwiesen. Wieland, der Aufklarer, der Bewunderer der tatsachlich groBen Errungenschaften seines Zeitalters, empfindet dieses GroBe als gefahrdet und dem Untergang nahe, — wesentlich dieselbe Empfindung, welche spater Goethe zu dem Versuch, die Revolütion kaum Ernst zu nehmen, veranlaBte, — und er will schleunigst eingreifend, retten. Es macht den Eindruck, alsob Wieland die greuliche Entartung durch den „Luxus" scharfer durchschaute als Rousseau. Dieser erblickt im Volke eine sittliche Kraft, die eine Erneuerung der Gesellschaft herbeiführen sollte; Wieland dagegen beobachtet, daB die fortgesetzte Ausbeute nicht nur für die Ausbeutenden, sondern nicht weniger für die Ausgebeuteten demoralisierend wirkt. Er sieht die Möglichkeit eines Zustandes als die Folge eines Ausbeutungssystems, die er wie folgt mit düstern Worten schildert: „Die Sitten, die Leiber und die Seelen der Einwohner sind gleich ungesund und man hat sich ') Vergl. Höffding. Rousseau S. 104. s) Vergl. Goldsp. I Einl. Hp. XVIII/21; Goldsp. II/l. Hp. XIX/29. Nachl. Diog. XXX. Hp. XXIV/70. durch die Lange der Zeit daran gewöhnt. 1) Die menschliche Würde erscheint vernichtet; bei den Machtigen, indem die Gier nach Besitz sie von auBern Glücksgütern abhangig und sie zur Besinnung auf das ,,Ich unfahig gemacht hat, bei den Ausgebeuteten, weil ihnen schlieBlich der letzte Rest von Selbstgefühl abgeht. Aber Wieland durchschaut klar, daB eben ein solcher Seelenzustand, wenn er zur Verzweiflung2) führt, die Unglücklichen zur schrecklichen Rache an ihren Qualern treibt; daB hier eine alles verheerende Revolution droht. Daher soll der Staat durch MaBregeln, welche dem Luxus steuern, eingreifen; zur einfachen Lebensweise soll er die Gesamtheit anhalten; die Regierenden sollen die Bevölkerung nicht durch unerschwingliche Steuern drücken,3) deren Ertrag nur bezweckt die individuellen Bedürfnisse der Höchsten zu befriedigen und ganz besonders sollen die Bauern vor Ausbeute geschützt werden. Eine besondere Veranstaltung zur Erziehung des Bauernstandes ware nicht notwendig, dafür sorgt nach Wielands Überzeugung die Natur selbst; das einzig Notwendige ware, sie in Ruhe ihre Geschafte treiben zu lassen.4) Es verbinden sich in dieser Anschauung Lehren der Physiokraten mit dem Glauben an die natürliche Unschuld solcher, die im engsten Bereich der Natur leben. Die Bauern erscheinen Wieland in einer eigentümlichen Beleuchtung, sie bilden ungeachtet ihres tatsachlichen Elends,^) weshalb er aufs energischste auf ihrer Unterstützung besteht, dennoch eine bevorzugte Menschenklasse. Nicht nur die zeitgemaBe Umdichtung des in der Realitat harten Bauernlebens zur Idylle, kann man als Ursache anführen, sondern auch Wielands Ansicht, daB der Ackerbau der Ursprung aller Kultur sei.6) Die Erganzung dieser Ansicht mag gewesen sein, daB aus demselben Stand, welcher einmal die Grundlage der Kultur bildete, die Erneuerung derselben hervorgehen dürfte, wenn nur die alten Bedingungen hergestellt würden. Als eine ganz praktische Erwagung wird von Wieland hervorgehoben, daB die Bauern die zahlreichste Klasse im Lande bilden, so daB der Grund zur Glückseligkeit aller gelegt ') Goldsp. II/3. Hp. XIX/41. 2) Goldsp. II/l. Hp. IX/29. 3) Vergl. Goldsp. 11/12. Hp. XIX/127. 4) Goldsp. 1/6. Hp. XVIII/81. Vergl. Danm. Cap. XVI. Hp. XX/71. 5) Vergl. Goldsp. 1/1. Hp. XVIII/32. 6) Goldsp. 11/11. Hp. XIX/132; Agathdm. II/9.; Hp. XXIII/62 ff. scheint, falls diese im „ÜberfluB des Notwendigen" zufrieden sein könnten.1) Die „Glückseligkeit aller zu fördern" gerade dieser Ausdruck faBt alles zusammen, was Wieland als die Aufgabe des Staates betrachtet. Das Wort „Glückseligkeit" mutet den modernen Menschen einigermaBen weichlich an, weil wir das Schneidige und Energische bevorzugen und den Kampf ums Dasein als unser Lebenselement empfinden. Wenn wir das Ideal der Glückseligkeit aber mit den in der Wirklichkeit vorliegenden Verhaltnissen des 17. und 18. Jhts. vergleichen, so leuchtet es ein, daB das Streben nach dem im genannten Ausdruck bezeichneten Zustand etwas Ahnliches heiBt, wie der Kampf, in dem in unsern Tagen das Proletariat gerungen hat und noch ringt um ein Dasein, das gerechten, menschlichen Anforderungen in höherm MaBe entspricht.2) Wenn man tiefer greift, so bedeutet das Verlangen nach Glückseligkeit, das Wieland, wie das ganze Jahrhundert der Aufklarung beherrscht, jenen Kampf, welchen die Idealisten aller Jahrhunderte führen, um die finstern Wolken, von denen die Menschheit durch ihre ungezügelten Leidenschaften immer von neuem bedroht wird, zu zerstreuen, indem sie die Gesellschaft zu einer höhern Humanitat emporführen mochten. Wieland erwartet Heil und Rettung von dem Staate, der seine Daseinsberechtigung ganz besonders durch die Fürsorge für das Heil der Angehörigen beweist. In seinen Augen ist der Staat Mittel, nicht Selbstzweck. Die Idee eines Staates als höchste für sich bestehende Einheit, deren Glieder somit absolute Untergeordnete, wie die an sich wertlosen Teile eines Organismus, die verschiedenen Klassen der Bevölkerung sind, welche sich den Staatszwecken mit vollstandigem Verzicht auf entgegengesetzte Interessen zu unterwerfen haben, würde Wieland unbedingt zurückweisen,3) wie es in unsern Tagen idealistische Gruppen gibt, die sich prinzipiell weigern den Staat anzuerkennen, weil sie nach der Uberzeugung ihres Gewissens einer höhern Lebensordnung als der vom Staate vertretenen angehören. Eine solche höhere Ordnung schwebt Wieland als der Endzweck aller staatlichen Bemühung vor. Die Obrigkeit, welche Zustande schafft, wodurch Hunderttausende oder gar Millionen ') Goldsp. Uil. Hp. XIX/25. 2) Vergl. Goldsp. Uil. Hp. XIX/27. 3) Vergl. Agth. II Buch VIII/5. Hp. 11/74; Danm. Cap. 13. Hp. XX/61; Arist. 1/19. Hp. XXV/111/112; Arist. II/9. Hp. XXVI/34; Arist. 1/17. Hp. XXV/107. Nachl. Dlog. XXXI. Hp. XXI V/72. ihres Lebens froh werden können, erfüllt nur ihre Pflicht,1) indem sie nur auf diese Weise eine höhere Form der Humanitat vorzubereiten vermag. Denn dies ist der einzige Zweck des Staates, jenen Zustand herbeiführen zu helfen, in dem er sich selbst ausschalten könnte, weil die ganze Menschheit in einer Art freiwilliger Gemeinschaft zusammenlebt, die ihre Autoritat in sich selbst findet. Wieland nennt diese Ordnung die „Stadt Gottes"2) auf Erden; wir können uns diesen Zustand ebensowenig wie Wieland vorstellen; aber wir wissen, daB Wieland mit diesem Ideal in den Kreis der gröBten Idealisten alterer und neuerer Zeiten tritt, welche diese Lebensordnung als Ziel des Weges der Menschheit ertraumten. Kirchlich ist es das von Gott erschaffene „Tausendjahrige Freudenreich", humanistisch in Wielands Sinn wie in dem der Aufklarung, die Erlösung der Menschheit in einem „diesseitigen Reich des Friedens, der Eintracht und der brüderlichen Gesinnung", in dem die höchste Offenbarung der Humanitat in sich den Willen Gottes erfüllt. <) Nachl. Diog. XXXII. Hp. XXIV/75. ») Agth. III Buch XVI/3. Hp. III/213. VIL ETHISCHE ERZIEHUNG ALS SELBSTERZIEHUNG. In dem weiten Umfang, wie im vorigen Kapitel erörtert, soll der Staat Sorge tragen, die Verhaltnisse zur Ausbïldung der ethischen Gesinnung der Angehörigen möglichst günstig zu gestalten. Die persönlich ethische Gesinnung kann aber niemals ausschlieBlich die Folge der auBern Verhaltnisse sein, sondern sie bedeutet nur das Ergebnis einer energischen Selbsterziehung, welche es sich zur Gewohnheit macht, die vernünftige Einsicht, die man sich durch die Erziehung erworben hat, zur genauen Prüfung der Realgründe seiner Handlungen zu verwenden. Diejenigen, die die sittliche Kraft zu einer solchen Selbstanalyse, die nach Wielands Ansichten zu den ersten Pflichten eines Menschen gehort, besitzen, sind es, denen die Menschheit ihren Fortschritt auf dem Wege zur Humanitat verdankt. Die Erziehung zur Tugend wird demnach zu einer energischen und unerbittlichen Selbsterziehung, wobei man versuchen soll, jedes Motiv seiner Handlungen zu beleuchten.1) Ohne Zweifel bekundet diese Forderung eine stark rationalistische Tugendauffassung, an deren unbedingt günstige Resultate wir kaum zu glauben vermogen, aber dennoch bleibt es ein Verdienst Wielands, daB er, durch seine persönlichen Erfahrungen gewarnt, auf die Gefahren hingewiesen hat, die denjenigen bedrohen, der zu schnell geneigt ware, die tugendhafte Handlung auf eine entsprechende Gesinnung zurückzuführen. Nicht nur weiB er, daB die tugendhafte Lebenshaltung leider zu oft bloB durch die auBern günstigen Umstande bedingt ist, und ware sie beispielsweise in dem Verhaltnis zwischen den Geschlechtern auch nur eine Folge des zu jugendlichen Alters2) unter der Nachwirkung der Erziehung, sondern der zeitgenössische französische Materialismus hat ihn auch darauf aufmerksam gemacht, in wie hohem MaBe die seelischen Zustande von den körperlichen abhangig sind. Diese Wissenschaft wamt ihn vor einem übereilten Vertrauen, das man in die Dauerhaftigkeit eines möglichen Umschwungs vom Sinnlichen ins Geistige setzen dürfte, ') Men. Glyc. Brief 39. Hp. X/7. 2) Agth. II Buch IX/1. Hp. 11/89. so daB er auf die Notwendigkeit hinweist, auf die Ursachen und Motive einer solchen auf den ersten Bliek erfreulichen, ethischen Wandlung zu achten. Es ware verfehlt anzunehmen, daB die Seele ohne jeden auBern Reiz, unabhangig ihre Entschlüsse fasse; oft mag eben eine körperliche Abspannung die Folge einer gewissen seelischen Leere sein und der Mensch ergreift in diesem Falie gern eine nicht körperliche Betatigung, welche die unangenehme Leere auszufüllen vermöge, so daB er dann für die Reize von Künsten und Wissenschaften besonders empfanglich scheint.1) Die psychologische Belehrung ist in antike Gewandung gehüllt unter der Fiktion, daB Agathon als ethischer Erzieher an dem Hof des Dionysius von Syrakus das MiBlingen seiner Aufgabe dem Umstand zuschreiben soll, daB er versaumte, die Wechselwirkung zwischen der Seele und dem Körper recht zu erwagen. Durch diese Anschauung entfernt sich Wieland von der rein rationalistischen Überzeugung von der Alleinherrschaft der Vernunft, um sich einer mehr empiristisch orientierten Psychologie zuzuwenden. Diese Betrachtungsweise scharfte ihm das Auge für die Mannigfaltigkeit der Grundbedingungen des seelischen Verhaltens und machte ihn darauf aufmerksam, daB nicht weniger als das Milieu, eine zeitweilig oder dauernd günstige, physische Konstitution vieles dazu beitragen mag, den Menschen als Sieger aus den Anfechtungen der Welt der Materie hervorgehen zu lassen, über die, wie Wieland an manchen Stellen mit der Stoa zu lehren liebt, die Vernunft an sich uns hoch erheben sollte. Aber praktisch wird dieser Glaube von ihm verspöttelt und mit lachelndem Witz laBt er seine Helden, ungeachtet der eifrigsten Verfechtung ihrer rationalistischen Tugendideen, gern im gewöhnlichen Leben scheitern. Einmal werden sie, trotz ihrer Schwarmerei für den platonischen Eros, in die Bande sinnlicher Liebe verstrickt,2 oder der Geist einer sittlich anrüchigen Umgebung zwingt sie wider Willen, wenn auch nur vorlaufig, auf die absoluten ethischen Forderungen zu verzichten.3) Der Roman „Agathon" bietet uns überhaupt eine Reihe von feinen Seelenanalysen, die dem Lesenden zeigen sollen, welche die wirklichen Ursachen oder Motive unsrer anscheinend ethi- ') Agth. III Buch XIV/3. Hp. Dl/139. Agth. II Buch X/3. Hp. II/148; 2) Per. Prot. II. Hp. XXI. Abschn. S. 60 ff. 3) Agathon-Dionysius. schen Handlungen sein dürften. Wir erkennen darin Wielands eigne Seelengeschichte, indem er in der Gestalt seines Agathon die Kampfe schildert, welche er selbst hat bestehen müssen, um seine Neigung zur Schwarmerei zu bewaltigen. Er enthüllt mit besonderer Vorliebe, wie oft nicht eingestandene, subtil egoïstische Reize die wahren Motive unsrer Ethik sind,1) welche, wenn sie durchschaut würden, unser Verdienst bedeutend verringern würden. Auch haf er erfahren, wie leicht es ist tugendhaft zu scheinen, wenn das Herz von einer andern Leidenschaft beseelt wird,2) eine Erkenntnis, deren Konsequenz er sogar einmal zu ziehen weiB, indem er darauf hindeutet, wie eine unerlaubte, erotische Neigung durch die Vergeistigung des sinnlichen Triebes abzuwalzen ware.3) Zu einer abgerundeten Lebensphilosophie, wie er sie im 16. Buch des dritten Bandes seines groBen Bildungsromans zu geben sucht, ist Wieland im persönlichen Leben niemals gelangt. Er war ungeachtet seiner Anbetung der Vernunft zu sehr ein Gefühlsmensch und demzufolge den Stimmungen des Augenblicks ausgesetzt, um sich je durch eine einheitliche und vernünftig fundierte, ethische Lehre vollstandig leiten zu lassen. Diese Ethik, womit der genannte Roman abschlieBt, vermischt empirische und rationalistische Elemente und atmet in ihrem Ganzen die exaltierte Stimmung der höchsten Momente des wirklichen Lebens, die niemand festzuhalten vermag. Wer es versuchen sollte, tragt eine verlogene Moral zur Schau, wogegen Wieland gerade mit allem Ernst kampft. Der Roman ist aus dem rein künstlerischen Bedürfnis, die innewohnende Neigung zu einer verlogenen Tugendschwarmerei zu objektivieren, im Versuch sich zu befreien, entstanden. Die lehrhafte Tendenz teilt der Roman mit der Aufklarungsliteratur überhaupt, aber weil die Zeitgenossen die Belehrung in der Form des Romans liebten, so war diese nach unserm Empfinden mit philosophischem und psychologischem Apparat übermaBig schwer belastete, schriftstellerische Arbeit eben das geeignete Mittel einer Zeit, welche durch eine Neigung zu ethischer Verlogenheit und durch einen Mangel an innerer Wahrhaftigkeit gekennzeichnet wurde, den individuellen Kampf um die Wahrhaftigkeit als eine ethische Belehrung vorzuhalten. Zu dieser ') Agth. II Buch VIII/1. Hp. 11/53; Agth. III Buch XII/11. Hp. 111/91. 2) Agth. II Buch VII/4. Hp. 11/22. 3) Danm. Cap. XLV. Hp. XX/190. innern Wahrhaftigkeit soll man sich in unablassiger Selbsterziehung durchringen um die Persönlichkeit zu einer höhern Stufe der Vollendung emporzuheben. Wieland hat erkannt und infolgedessen warnt er die Menschen davor, daB dieser Kampf mühevoll und schmerzlich ist, wahrend er bei weitem nicht immer zum Siege führt. Der Mensch ist nun eben kein richardsonscher Tugendheld, sondern ein Wesen, das den verschiedensten innern und auBern Einflüssen ausgesetzt ist; nicht im geringsten der Selbsttauschung, weshalb er mahnt, daB der gröBte Feind eines Menschen im Kampf um die Tugend dieser Mensch selbst sei.1) Besonders die Eigenliebe, der versteckte Egoismus, der innere Stolz2) beeintrachtigen immer wieder die Reinheit der Gesinnung, und dennoch ist es diese, welche über das wirklich Ethische unsrer Handlungen entscheidet.3) Diese Empfindung, daB die Gesinnung das einzige MaB unsrer Handlungen ist, liegt allen ethischen Betrachtungen Wielands zugrunde, wodurch wir an eine der wesentlichsten Forderungen des Christentums erinnert werden. Es macht dabei keinen Unterschied, ob er deistischen oder sogar der platonischen Gedankenwelt sich nahernden Religionsvorstellungen den MaBstab des Ethischen anlegt.4) Obwohl ethische Betrachtungen und die Darstellung vom Ringen um die tugendhafte Gesinnung in seinen Werken solch einen breiten Raum einnehmen, wird dennoch gegen Wieland der Vorwurf der Lüsternheit erhoben. Man darf diesen auf eine gewisse Vorliebe zur Darstellung eines solchen Ringens um die Tugend mit ganz besonderer Betonung der Gefahren, welche dem Menschen seitens der erotischen Triebe drohen, zurückführen.5) Nicht weniger richtig ist die Bemerkung, daB Wieland das Sinnliche nicht sowohl mit Entrüstung zurückweist, als daB er mit einer Art tandelnder Warnung das Verlockende der sinnlichen Reize spielerisch durchblicken laBt. Man soll jedoch nicht unberücksichtigt lassen, daB solche erotische Tandelei überhaupt zur Wesensform des Rokoko gehorte, wahrend das diese Periode durchkreuzende aufgeklarte Denken stolz von der möglichen Herrschaft der Vernunft über die Sinne überzeugt war. Dadurch erhalt ') Per. Prot. V. Hp. XXI/165. 2) Agth. in. Buch XII/11. Hp. 111/91. 3) Danm. Cap. XXIV. Hp. XX/179; ebd. 205. *) Agth. II Buch VII/3. Hp. 11/20; Agth. III Buch XVI/3. Hp. III/213. s) Vergl. Agth. II Buch VII/5. Hp. 11/24. das Zeitalter in seinem Ganzen einen etwas zweideutigcn Charakter und erst eine vollstandige Durchbrechung seincs Geistes ermöglichte die Erscheinung von Mannern wie Kant, Goethe und Schiller, welche sich nach ihrer Art und Anlage über die Sphare, in der Wieland lebte, erhoben. Es erscheint als ungerecht einen Menschen nach dem MaBstab des Geistes einer im Wesen ganz anders gearteten Periode zu beurteilen und sogar zu verurteilen, wobei man gerade, wenn man Goethe erwahnt, nicht vergessen sollte, daB seine Zeitgenossen die von uns in ihm bewunderte Versöhnung seiner Gegenwart mit der freiern Sinnlichkeit der Antike kaum zu würdigen wuBten. Vielmehr ware es erwagungswert, daB man die ethischen Lehren eines Mannes, mit dem ein Goethe, so lange er ihn persönlich kannte, freundschaftlich verkehrte, als eine in gefallige Form gekleidete, wohlmeinende und einer innern Wahrhaftigkeit entsprechende Mahnung an die Menschheit seines Zeitalters betrachtete, wodurch wir auch die nicht zeitbedingte, idealistische Gesinnung als die reine Offenbarung einer höhern Humanitat hinnehmen können. In der Verbindung von Sinnlichkeit und Tugendideal sind Wielands Romane eine Spiegelung der Zeit und gerade, wenn er das Sinnliche zum Pikanten herabdrückt, wird die Leichtigkeit, womit er seine Tugendhelden von den Reizen des Sinnlichen mehr u inga r n e n als überwaltigen laBt, zu einer ironischen Verspottung einer sich selbst übersteigenden Vernünftigkeit. Zu oft mag man ironisch lachelnde Verspottung als versteckte Lüsternheit erklart haben, in dieser Uberzeugung durch Nicolais berühmte, sich gegen Wielands literarische Jugendsünde richtende Kritik bestarkt, welche den schwarmerisch jugendlichen Tugendeifer als eine Form der Verlogenheit verurteilt. Wenn wir Wieland aber der Charakterschwache zeihen wollen, so sollen wir eingestehen, daB er insofern bloB die geistige Struktur des Rokoko ausdrückt. Andrerseits vermochte er den Mangel an sittlichem Ernst seines Zeitalters nur dadurch zu erkennen, daB in ihm tatsachlich der Trieb, sich über die Niederungen des sinnlichen Lebens zu erheben, kraftig entwickelt war. Dieses auBert sich nach zwei Richtungen. Die Welt will er bessern und bekehren, indem er die Abgründe des seelischen Lebens schildert, jedoch nicht durch eine dem Zeitgeist widersprechende, langweilig moralisierende Tugendpredigung nach Prinzipien, deren Unzuverlassigkeit er durchschaut hat. Vielmehr gleicht er dem Dichter der Komödie, der unter Lachen und Scherz bessern will. Aber sein Lachen wird, der Abneigung des Zeitalters zur lauten GefühlsauBerung gemaB zum Lacheln, der Scherz, zugleich unter dem EinfluB des ihm verwandten, französischen Geistes oft zu fein pointiertem Witz. Blickt er auf die eigne Person zurück, so raag er dann über manchen Widerspruch zwischen dem Tugendideal und der durchschauten Realitat der seelischen Triebe gelachelt haben, aber in nicht geringerm MaBe wird er mit tiefem Schmerz den Absturz von den höchsten Höhen der sittlichen Begeisterung, entweder durch eine blitzschnelle Erleuchtung oder infolge einer grüblerischen Zergliederung von Motiven und Empfindungen, erlebt haben. Indem er irgendwie einen geliebten Wahn zerstört sah, wird er es im Innern gespürt haben, alsob etwas in ihm zerriB. Er schildert dieses Erlebnis in einem eigentümlichen Bild. Jedesmal wenn in Elysium der Neueingetretene in sich eine Unwahrhaftigkeit entdeckt, durchlebt er diese Einsicht in dem beangstigenden Gefühl, als fiele ein Stück von seiner Person weg.1) Die betreffende Darstellung scheint den natürlichen Verlauf der sittlichen Erkenntnis wiederzugeben. Der Mensch, der sich tugendhaft dünkt, oder sagen wir vielmehr, der keine besondere Veranlassung hat, sich Böses vorzuwerfen, wird über sein ethisches Verhalten gewöhnlich kaum nachsinnen und überhaupt nicht dahin gelangen über die wirklichen Gründe seiner intuitiv als richtig empfundenen Taten zu grübeln. Einem ernsthaften Menschen könnte es, ungeachtet einer unbewuBten innern Befriedigung über die vermeintliche Tugend eines Tages wie eine plötzliche Erleuchtung klar werden, daB es wenigstens nicht n u r rein ethische Prinzipien sein dürften, die den von der Welt anerkannten guten Handlungen zu Grunde liegen, und eine solche blitzartige Einsicht, deren Ursprung man vielleicht kaum zu bestimmen vermag, wird ihn dazu bewegen, über die Gründe seines Handelns Betrachtungen anzustellen. Zum ethischen Lehrer wird Wieland gerade dadurch, daB er die eigne Erkenntnis der Welt nutzbar machen möchte, indem er die Zeitgenossen, die von der eignen Vortrefflichkeit zu sehr durchdrungen waren — man hatte es so herrlich weit gebracht — ermahnte, sich noch einmal ernsthaft von den Verhaltnissen oder Motiven, die ihr Leben zu dem gestaltet haben, wie es ist, Rechenschaft zu geben. Wenn damit Ernst gemacht werden sollte, so würden sie zu ahnlichen Erkenntnissen wie sein A g a t h o n gelangen, zunachst zu ihrer Beschamung; dann aber zur Befreiung des wesentlich Sittlichen in ihrem Cha- ') Gespr. in Elysium. rakter. Von diesem Moment an erhalt die Forderung der vernünftigen Erziehung eine wesentlich ethische Bedeutung. Sie umfaBt nicht nur die Ausbildung der Vernunft zu dem Zwecke, sich selbstandig ein Urteil über die Lebenserscheinungen zu bilden, so daB die Menschheit sich nicht langer einer blinden Führung durch fremde Autoritaten überlassen soll, sondern, indem man überhaupt gelernt hat, nach dem Grunde der Erscheinungen zu fragen, steht man dem Trieb der eignen seelischen Krafte nicht einsichtslos gegenüber. Dann fangt jene Vertiefung der menschlichen Vernunft an, die es wagt in die dunkelsten Tiefen des Seelenlebens herabzublicken, um zu der höchsten, aber schwierigsten Erkenntnis zu gelangen, welche die des eignen „I c h" ist.1) Schon wurde darauf hingewiesen, daB die Erkenntnis des eignen Wesens vielmehr auf der Intuition als auf der vernünftigen Einsicht beruht. Die vernünftige Seelenanalyse wird es kaum weiter bringen als zur Festsetzung der unendlichen Kompliziertheit des Seelenlebens, aber sicher nicht zu dem Wesen unsrer Erscheinungsform hinabtauchen können. Wir mussen annehmen, daB die Regungen zum Bessern, die wir in uns spüren, wirklich Offenbarungen des ,,Ich" in uns sind;2) obwohl wir es vielleicht dem glaubigen Optimismus der Aufklarung zuschreiben müssen, wenn Wieland annimmt, daB die Seelenanalyse notwendig auf ein besseres ,,Selbst" führen soll.3) Er glaubt, daB die Erkenntnis des bessern „Selbst" bei edlern Naturen jene Scham erregt, welche das wirksamste Mittel ware, das gehemmte innere Leben wieder frei zu machen,4) womit er ausdrücken will, daB diese Scham vor dem bessern Selbst uns veranlaBt, uns durch die Besinnung auf das ethische Gesetz in uns der Herrschaft sonstiger Bestimmungen zu entziehen. Wenn wir demnach Wieland etwa nicht zustimmen dürften, daB unsre Wesensform unbedingt der Idee des „Guten" entsprechen soll, oder mit andern Worten, daB wir seinen der Zeitstimmung entsprechenden Glauben an die angeborene Güte der menschlichen Natur nicht ohne weiteres zu übernehmen wagen, müssen wir dennoch gestehen, daB der ethische Trieb sich nur im Menschen entwickelt hat. Goethe bemerkt treffend, daB es nur die ethischen Gesinnungen sind, welche den Menschen von allen andern Geschöpfen unterscheiden. Wenn wir Wielands ') Agth. III Buch XVI/3. Hp. III/216. *) Agth. III Buch XH/11. Hp. 111/94. 3) Agathdm. U/4. Hp. XXIII/40; Arist. 11/18. Hp. XXVI/65. ♦) Arist. IU/31. Hp. XXVÜ/155. „Kenne dich selbst" was er der Antike entnimmt, in diesem Sinne lesen, daB der Mensch seinen wahren Beruf in der Ausbildung seiner ethischen Gesinnung zu suchen hat, dann vermogen wir seine Folgerung zu übernehmen, daB in der Selbsterkenntnis das Mittel liege, die Menschheit von den Übeln zu erlösen.1) Auf diesen Glauben an die Erlösung der Menschheit in sich selbst durch die Erkenntnis ihres eigensten Berufs gründet sich die Diesseitsreligion der Aufklarung im Gegensatz zu der transzendenten Erlösungslehre des offiziellen Christentums. Demnach bedeutet der optimistische Glaube an die angeborene Güte für die Aufklarung in ihrem Kampf mit den kirchlichen Lehren, welche ihr eine Vergewaltigung der menschlichen Würde erschienen, eine innere Notwendigkeit. Mit dieser Annahme war, ihrer Uberzeugung gemaB, die Möglichkeit der Erlösung der Menschheit durch sich selbst in einem Aufstieg zu höherer Humanitat, unauf losbar verknüpft. Obwohl wir diese Hypothese nicht unbedingt akzeptieren, wollen wir dennoch den Glauben an die Macht der ethischen Gesinnung nicht verlieren. Ohne Zweifel soll man, jeder transzendenten Erlösungslehre zum Trotz, die Befreiung der Menschheit von den schwersten, sie immer wieder bedrohenden ïlbeln in der Ausbildung der Humanitat suchen, welche die Entwicklung der ethischen Gesinnung voraussetzt. Eine ethische Gesinnung dürfen wir mit Goethe als eine A u f g a b e und eine Pf licht betrachten,1) welche wir unsrer menschlichen Würde zollen, aber der Aufklarung gebührt das Verdienst, daB sie diese Würde des Menschen, indem sie den Keim zur höchsten Entwicklung in ihn verlegte, aufs nachdrücklichste hervorgehoben hat. In sofern Wieland auf Selbstanalyse und Selbsterziehung drangt, weist er auch uns, ungeachtet unsrer weniger optimistischen Weltanschauung auf einen Weg, der aus der Verwirrung der Geister und dem Elend der Verhaltnisse hinauszuführen vermag. Wenn Wieland darauf hinweist, daB man auf den Tugendenthusiasmus sehr junger Menschen vorlaufig nicht allzu viel Wert legen soll, betont er mit Nachdruck, daB erst der Absturz aus der Welt der hohen Ideale in die Niederungen des Menschlichen uns lehrt den Wert der Gesinnungen nach den Verhaltnissen und Motiven zu prüfen. Nicht der hohe Flug der Begeisterung für die Tugendideale, sondern erst das Nachsinnen über unser inneres Verhaltnis zu denselben, erzieht zum ethischen Men- ') Agth. III Buch XVI/3. Hp. UI/216. 2) Vergl. Goldsp. II/l. Hp. XIX/8; Krates und Hipp. Brief 29. Hp. XI144. schen; es ist aber der Sündenfall, welcher den ethisch Veranlagten zu der vernünftigen Analyse seiner Empfindungen bestimmt. Wieland bezeichnet bekanntlich einen Menschen wie seinen „Agathon", dem wir ein besonderes Genie zur ethischen Lebensführung zuschreiben mochten, als „Schone Seele". In der Praxis des Lebens steht bei ihm ein solcher Mensch keineswegs immer unerschüttert da. In der Entwicklung seines „Agathon" will er uns ein Beispiel davon geben, wie die „Schone Seele" zu fallen und sich im Kampfe wieder zu erheben vermag.1) Obwohl dieser Kampf den Helden auch zu genauester Prüfung der Motive seiner Handlungen bewegt, müssen wir dennoch bei naherm Zusehen gestehen, daB Wieland in seinem groBen Bildungsroman alles getan hat den übertriebenen Glauben der Zeitgenossen an die Allmacht der Vernunft ins Wanken zu bringen. Er selbst ist durch die Schule des Empirismus hindurchgegangen, die ihn dazu befahigt hat, alles, was sich vom empirischen Standpunkt gegen eine nur rationalistisch fundierte Tugendbegeisterung einwenden laBt, in der Gestalt des „Hippias" vorzubringen. Hippias' Benehmen verhalt sich zu Agathons rationalistischem Tugendenthusiasmus wie das Experiment zu der Hypothese. Zwar siegt am Ende dennoch die Vernunft, aber in völlig andrer Form als die zwar seelisch ergriffene aber dessenungeachtet anerzogene, vernünftig ethische Theorie. Zunachst löst sie als kritische Vernunft das auBere ethische Handeln von den innern Gesinnungen, um diese auf ihren Wesensgehalt zu prüfen. Wenn sie sich dann nach der Erkenntnis der innern Unlauterkeit wieder zu einem hohen Flug erhebt, so ist sie nicht mehr die vernünftige Einsicht, sondern die im Kampfe des Lebens eroberte, philosophische Gesinnung, welche die göttliche Vernunft als Urgrund des Universums wie des eignen Wesens erkennt. Hippias' Empirismus ist die Antithese zu Agathons Rationalismus, wahrend die „Philosophie des Archytas" deren Synthese bildet. Die unerprobte Tugend aber bedeutet nicht ethische Gesinnung; sie ist nur „Unschuld", welche erst zur wirklichen Tugend wird, wenn sie sich im Kampfe des Lebens ihres Gehalts bewuBt geworden ist. Was für das Individuum gilt, gilt ebenfalls für die Menschheit. Wieland nimmt zwar an, daB der Mensch im Naturstande gut und unschuldig ware, und mag sich mit dem Leser aus einer Welt der innerlich verderbten Kultur in die Idylle eines am Herzen der ') Agth. m. Buch XIII17. Hp. III/132. Natur lebenden, unschuldigen Völkchens zurückziehen.1) Aber die an die Vorstellungen des „Goldenen Zeitalters", erinnernde Lebensform beruht eben nur auf der natürlichen Unschuld, nicht auf einer solchen, die ihren Wert im Kampfe mit den Verlockungen des Lebens nur dadurch erkannt hat, daB sie verloren ging. Die ursprüngliche Unschuld soll als bewuBt ethische Gesinnung zurückgewonnen werden; der nur gute Mensch soll zu dem Menschen werden, in dessen Erscheinung in dem bewuBten Kampf um die Verwirklichung der Idee des Guten die reine Humanitat zum Ausdruck gelangt. Wer sich in die Idylle zurückzieht, vermeidet den Kampf oder ruht zeitweilig von ihm aus; die Erlösung der Menschheit aber wird bloB durch Kampf und Leiden bewirkt. Den Ausdruck des Kampfes der Menschheit um die höchsten sittlichen Güter bildet die Historie, als deren Sinn Kant den Weg aus der unbewuBten zur bewuBten Unschuld zu erkennen glaubt; ein Gedanke, der durch Wielands Schilderung dieses durch das Streben nach Luxus gefallenen und um die Wiedergewinnung des verlorenen Heiles kampfenden Völkchens gleichsam illustriert wird. Es scheint, alsob Wieland leise andeuten will, daB die Rückkehr zur Natur, die durch die Errungenschaften der Kultur hindurchgehen soll, nicht der Verzicht auf dieselben heiBen kann. Allerdings wird alles Überflüssige, was als Symbol für den Luxus, in dem Sinne wie Wieland das Wort verwendet, gelten mag, beseitigt; das wirklich Nützliche und Fördernde2) behauptet sich. Weil Wieland in der Kultur den Aufstieg der Menschheit erblickt, kampft er nur gegen die Auswüchse des Kulturlebens, die den Einzelnen in den Stand setzen, die egoistischen Triebe auf Kosten aller zu befriedigen. In dieser Beziehung berühren sich demnach Wieland, der im GroBen und Ganzen ein Exponent der Aufklarung ist, und Rousseau, der Bekampfer dieser Geistesrichtung. Wieland dürfte Rousseau noch insoweit entgegenkommen, daB auch er den Augenblick, in dem der Mensch sich seiner Vernunft bewuBt wird, als einen AustrittT aus dem Naturzustand der Unschuld, und somit als einen Sündenfall bezeichnen könnte. Für ihn ist dieser Sündenfall aber zugleich ein Triumph der Vernunft, die zwar zunachst die idyllische Harmonie des Empfindens stört, jedoch nur um das menschliche Geschlecht zur Erkenntnis seiner wirklichen Wurde zu erziehen, ') Danischmend. f) Danm. Cap. L. Hp. XX/213. Beide sind sich darüber einig, daB der ursprüngliche Zustand auf ewig verloren ist. Rousseau predigt die Erlösung durch einen möglichst engen AnschluB an die Natur, wodurch diese an sich als eine erneuernde Macht einer verderbten Kultur gegenüber auftritt. Für Wieland kommt die Natur nur insoweit in Betracht, als ihre GesetzmaBigkeit auf den vernünftigen Urheber, der von uns die Beachtung der ethischen Gesetze unsres Wesens fordert, hinweist. Die Natur kann daher bei Wieland nur als Erlöserin erscheinen, wenn sie sich durch den Geist eines Menschen offenbart, bei dem die innere Würde als reine Humanitat in die Erscheinung tritt.1) Bei der ethischen Selbsterziehung spielt die Auseinandersetzung mit unsern egoistischen Trieben eine entscheidende Rolle. Es ist selbstverstandlich unmöglich, in unsern Handlungen den Egoismus völlig auszuschlieBen. Wieland macht denselben gewissermaBen zur Pflicht durch den Hinweis auf die Notwendigkeit, erst für sich selbst zu sorgen, bevor man an die Glückseligkeit der Mitmenschen auch nur denken kann.2) Überhaupt will Wieland anscheinend, bald rigoristischer, bald in milderer Form, den Egoismus durch die sittliche Verpflichtung einschranken, wie er das Verlangen nach persönlicher Glückseligkeit durch den Hinweis auf einen altruistischen Endzweck der egoistischen MaBnahmen begrenzt. Sehr straff wird die Idee der Pflicht jedem egoistischen Trieb gegenübergesetzt, wenn er alle ethischen Handlungen bloB auf die VerpflichtungS) ohne irgendwelche Rücksichtnahme auf unsre Empfindungen zurückführen möchte, oder wenn er nur das Wohl der andern als ethisches Motiv gelten laBt.4) Derartige Aussprüche sind bei Wieland wohl am besten als eine Reaktion auf die in seinem Jahrhundert in zu starkem MaBe als Motiv der Tugend hervorgehobene Glückseligkeit zu erklaren. Die Abneigung gegen diese Einseitigkeit war bei Kant die Ursache seines sittlichen Rigorismus; bei Wieland sind solche starren Prinzipien nur momentane Stimmungen, die manchmal aus der ') Danm. Agathdm. s) Danm. II. Hp. XX/18; Vergl. Phil. Schr. XXXII/49, 158. ») Agth. III Buch XII/11. Hp. 111/95; Agth. III Buch XVI/3. Hp. III/206; Per. Prot. Hp. XXI/161; Krates und Hipp. Brief 18. Hp. X/206. 4) Agth. ni Buch XVI/3. Hp. III/206. 11 hohen, sittlichen Spannung in gewissen Teilen seiner Romane hervorgehen. Praktisch betrachtet Wieland den reinen Altruismus ganz gewiB als eine Chimare; durch die absoluten Forderungen, welche jedoch manchmal in seinen Werken ausgesprochen werden, wurde er dennoch vielleicht für manchen zum Wegbereiter zu einer Tugendauffassung, die danach strebte, den Grund in sich selbst zu suchen, und nicht an erster Stelle nach einer Belohnung in irgendwelcher Form der Glückseligkeit zu haschen. Wieland stellt eine ethische Norm, und fordert das Streben dahin als eine ethische Pflicht, weil man auf diesem Wege lerne durch die Entfaltung des bessern „Selbst" über die Leidenschaften Herr zu werden.1) Wenn wir diese Gedanken auf uns wirken lassen, nach welchen ein ethischer Mensch ein solcher ware, der sich durch Spekulation auf die Idee des Guten und Schonen besinnt, fragen wir uns unwillkürlich, ob denn am Ende nach Wielands Urteil der spekulierende Philosoph an sich den ethischen Menschen darstelle. Eine solche Auffassung jedoch ware dem Geiste der Aufklarung durchaus zuwider. Kennzeichnend für das Zeitalter ist gerade das Bestreben, möglichst viele an den geistigen Errungenschaften teilnehmen zu lassen. Die spekulative Besinnung der auserwahlten Geister dient bloB dazu eine seelische Tendenz hervorzurufen, welche die höchste Erfüllung in der Beglückung der Menschheit findet. Die Tugend hat mancherlei Erscheinungsformen, welche von Wieland kritisch betrachtet werden.2) Als Kriterium der wirklichen Tugend wird hervorgehoben, daB sie ohne irgendwelche Nebenabsichten das Gute zu fördern und das Böse zu verhindern sucht. Er unterscheidet solche, welche danach streben diese sittliche Forderung zu erfüllen, als Enthus i a s t e n und W e i s e. Der Weise aber soll sich davor hüten, aus bloBem Suchen niemals zur aktiven Tugend zu gelangen. Wieland nennt gelegentlich einen Menschen, der aus lauter Weisheitf nicht alles Gute tut, wozu er die Gelegenheit hat, sogar einen Schurken.3) Die Nebeneinanderstellung aber von Enthusiasten und Weisen. also von solchen, welche vor allem durch die Empfindung und 1) Agth. II Buch X/2. Hp. 11/137. 2) Danm. Cap. XIII. Hp. XX/61 fi. 3) Danm. Cap. XIII. Hp. XX/65. von denen, die zunachst durch die vernünftige Besinnung zu ihren Handlungen veranlaBt werden, beweist wiederum, daB bei dem Aufklarer Wieland in seinem ethischen und padagogischen Denken das rein rationale Moment durchbrochen wird. Die wahre, sittliche Persönlichkeit ware nach seiner Meinung der Mensch, dessen Empfindung und vernünftige Einsicht sich die Wage halten, so daB der Kopf die Wege zu finden vermag, auf welchen die Beschlüsse des Herzens aufs beste zu realisieren waren; eine Einheit, die von Wieland übrigens als eine Zweiheit, namlich in dem idealen Zusammenwirken zwischen den Enthusiasten und den Weisen, dargestellt wird.1) In derartigen Erwagungen durchbricht das Gefühlselement des Pietismus die Schranken der kalten Vernunft, und zwar in einem verstarkten Grade, den er als Enthusiasmus bezeichnet. Im Prinzip treten bei ihm Empfindungen der frühesten Goethezeit hervor, nur daB sie nicht wie bei Hamann übermachtig werden, so daB dieser in der vernünftigen Überlegung an sich die Feindin der richtigen Erkenntnis zu erblicken anfangt. Für Wieland ist der Enthusiasmus die seelische Stimmung, welche zu der vernünftigen Überlegung anregt und sich also eben dieser Vernunft sofort wieder unterordnet. Aber Wieland hat eine Ahnung von dem Empfinden des „getrieben werden"; er weiB, daB es Menschen geben kann, welche sich von einer irrationalen, übermoralischen Kraft getrieben fühlen, daB es also damonische Naturen gibt. Mit dem „Daimonion", des Sokrates macht er Ernst,2) obwohl er sich sonst scharf gegen jede Vorstellung wendet, die als „occult" zu deuten ware.3) Das „Damonische" aber weiB er jedenfalls zu umschreiben, wenn er von der damonischen Natur, die ein inniges BewuBtsein seiner selbst hat, oder von der Starke jenes sonderbaren Gefühls der damonischen Natur, welche die erste und machtigste Triebfeder der Tatigkeit ist, redet.4) Dennoch ist Wieland weit davon entfernt den Begriff des Damonischen auch nur annahernd zu erfassen. Wie ware auch er dazu fahig, er, für den der Empfindung des Zeitalters gemaB, die Begriffe Tugend und Glückseligkeit sich wie Ursache und Folge verhalten? Diese Zeitgebundenheit verwehrt ihm die Einsicht, daB das Damonische, das Leben unter der direkten Einwirkung eines ') Danm. Cap. XIII. Hp. XX/65/66. Arist. 1/10. Hp. XXV/66. ») Phil. Schr. XXXII/399. *) Per. Prot. Hp. XXII/104. auBermenschlichen, vielleicht göttlichen Willens, mit der Glückseligkeit gar nichts und mit der Moral kaum etwas zu schaffen hat. Er bemüht sich denn auch, das Damonische in die engste Verbindung mit der Vernunft zu setzen, es wo möglich mit der Vernunft zu identifizieren, indem er dieselbe „den guten Damon des Menschen" nennt, wahrend die „Eudamonie" ein nach ihrer Vorschrift geführtes Leben heiBt,1) wodurch die Verbindung Vernunft, Glückseligkeit wiederhergestellt ist. Wir stehen dem Begriffe des Damonischen ganz anders gegenüber; wir empfinden es als eine Gewalt, welche jenseits der menschlichen Moral steht, überhaupt jenseits des Menschlichen, etwa als das „Ganz Andre". Dennoch scheint es der Menschheit geboten, dieses „Ganz Andre" zu ergreifen und dem bewuBten Willen zu unterwerfen, um auf diese Weise das Amoralische zu ethischen Werten umzubilden. Der Mensch, der sich irgendwie betatigen will, darf sich nicht von in ihm wakenden Kraften treiben lassen, er soll danach streben, sich der Richtung seines Lebens bewuBt zu werden. Diese Aufgabe weist Wieland der Vernunft unter allen Umstanden zu, auch wenn er das „Damonische" als übervernünftige Macht anerkennt. In zwei Werken macht er den Versuch zur Schilderung des Damonischen, in „Agathodamon" und in „Perigrinus Proteus". In letzterm zeigt er, wie das Handeln unter einem Impuls, ohne die vernünftige Besinnung, auf Irr- und Abwege führt und bei den lautersten Absichten wenig Segen bringt, wahrend der Handelnde statt Anerkennung nur Spott und Verachtung erntet. Agathodamon dagegen erkennt die Notwendigkeit die wesentliche Form seiner Natur auszubilden, den Zweck seines Lebens zu bestimmen und in allen Handlungen sein eigner Oberherr, Gesetzgeber und Richter zu sein.2) Es ist aber interessant bei Wieland zu beobachten wie der allgemeine Geist des Zeitalters Betrachtungen, welche einer andersgearteten Welt- und Lebensauffassung entstammen, nach dem eignen Geist umbildet. Sein durch die piëtistische Erziehung gesteigertes Gefühlsleben macht ihn für Begriffe wie „Enthusiasmus" und „Damonisch" empfanglich, welche er, indem er das Damonische nur als ein Getriebenwerden zum Guten auffaBt, als verwandt empfindet. Den Ausdruck Enthusiasmus verwendet Shaftesbury, wie Weiser nachweist, für eine seelische Haltung, welche sich dem „Damonischen" ') Per. Prot. Hp. XXII/64. *) Agathdm. U/3. Hp. XXIII/38. nahert. Für Wieland werden beide Begriffe anstatt zu Elementargewalten zu Mitteln, welche einen Zweck herbeiführen sollen, namlich die Betatigung der menschlichen Vernunft, der damit die Aufgabe zufallt, sich darüber zu erheben. Auch dem Begriff des „Damonischen" gegenüber offenbart sich die Tendenz des Zeitalters, alles ins praktisch Verwendbare umzusetzen, in der Verbindung mit der rokokomaBigen Herabführung des Überragenden ins MittelmaBige und vernünftig Greifbare. Die Auffassung des „Damonischen" in Agathodamon ist in dieser Hinsicht belehrend. Nicht sowohl deswegen, weil Agathodamon es bewaltigt, denn darum soll, wie es Goethe empfand, jede damonische Natur sich bemühen. Diese Bewaltigung ist aber ein schweres Ringen mit einer elementar treibenden Gewalt. Agathodamon dagegen bringt schon als Jüngling, bevor es sich als elementare Gewalt in ihm offenbarte, das Damonische mit leichter Anstrengung unter die Herrschaft seiner Vernunft; d.h. Wielands Rationalismus, der über die orthodox pietistischen Anschauungen gesiegt hatte, und die Neigung seiner Jugend zu gesteigertem Empfindungsleben unterdrückte, verhindert ihn nunmehr in andern als eben vernünftigen Antrieben mehr als bloBe, wenn auch manchmal machtige Anreger zur Betatigung der höchsten Kraft des Menschen, seiner Vernunft, zu erblicken.1) Wenn wir beobachten, bis zu welchem Umfang Wieland das Ethische von der Herrschaft der Vernunft abhangig macht, steigt in uns, mit Rücksicht auf die Vorliebe der Aufklarung zur vernünftigen Konstruktion, die Frage auf, ob Wieland es für möglich gehalten hatte, einen Normaltypus des Ethischen darzustellen, worauf man als auf das Ziel des ethischen Ringens hinweisen könnte. Einen Augenblick macht es allerdings den Eindruck, alsob er uns in der Gestalt des „Agathodamon", der sich in weitestem Sinne philanthropisch beschaftigt und eben dadurch einen ideal humanistischen Menschen nach der Auffassung der Aufklarung darstellt, den ethischen Menschen an sich vor Augen führen wollte. Aber bei der Betrachtung der Maximen seines Helden enthüllt Wieland den relativen ethischen Wert derselben. Im Grunde hat er nach dem Prinzip gehandelt, daB der Zweck auch weniger ethische Mittel, wie Mystifikationen, heilige. Daneben wird jedoch die höhere Maxime betont, daB ein erhabener und reiner Zweck nur lautere Mittel und die tiefste Wahrhaftigkeit ') Agathdm. IV/2. Hp. XXIII/96. fordert. Man soll diese Gegenüberstellung nicht als einc Art Vorwurf gegcn den in Agathodamon geschilderten, ethischen Typus betrachten. Es ist vielmehr eine in der Erfahrung begründete Erkenntnis. Gegen Ende seines dem Wohl der Menschheit gewidmeten Lebens hat Agathodamon die höhere, ethische Form in der Gestalt Jesu, die er aus Beschreibungen und durch Nachrichten kennen lernte, entdeckt. In dieser Weise stellt Wieland die Tugend als dynamisch dar; die Vorstellung derselben andert sich nach dem feiner ausgebildeten, ethischen Empfinden. Es gibt keine Tugend an sich, sondern nur ein ethisches Streben, das immer neue Möglichkeiten setzt, wenn die Grenzen einer zunachst als höchste Offenbarung empfundenen Lebensform erreicht werden. Das ethische Ideal erscheint als das Produkt einer Periode; andre Zeiten erfordern andre Sitten; andre Umstande eine andre Bestimmung und Wendung unsres Verhaltens.1) Wie die Erziehung, welche uns von andern zu Teil wird, ist natürlich auch die Selbsterziehung in Wielands Augen überhaupt nur möglich, wenn die seelische Veranlagung da ist.2) Im Kampfe gegen die übermachtig treibenden, sinnlichen Triebe, welche die Vernunft unter allen Umstanden beherrschen soll, erscheint eine eingehende Beschaftigung mit der Kunst, wozu der Unterricht den Grund gelegt hat, als eine unentbehrliche Stütze. Die Künste verschönern, entwickeln und veredein die Menschheit wie die Sitten und verfeinern das Gefühl.3) Wir erkennen darin natürlich den EinfluB Shaftesburys, aber, wenn die Idee der asthetischen Erziehung durch den deutschen Idealismus zu einem wesentlichen Bildungsfaktor geworden ist, so hat Wielands wiederholte und innerlich überzeugte Darstellung von der ethischen Wirkung der Kunst auf diesem Gebiete wirklich Vorarbeit verrichtet. Natürlich hat Wieland, so wenig wie die Aufklarung überhaupt, Shaftesbury in seiner ganzen Tiefe erfaBt. Dieser suchte in der Versenkung in die Schönheit der Kunst und der Natur in einer Zeit, welcher die altüberlieferte Verbindung des sittlichen Verhaltens mit den in der Offenbarung gegebenen, göttlichen Geboten allmahlich abhanden kam, einen neuen Grund für die sittlichen Werte des Individuums. 1) Agth. III Buch XI/6. Hp. 111/30. 2) Goldsp. II/9. Hp. XIX/13. 3) Agth. III Buch XVI/4 Hp. III/223; Goldsp. 1/2. Hp. XVIII/42; Goldsp. 1/4. Hp. XVIII/57. Wieland hat als ein asthetisch hochbegabtcr Mensch die Werke der Kunst durchlebt und damit ihren sittlichen Wert erkannt, aber der rationalistische Trieb beherrscht ihn stark genug, daB er versucht, die durch asthetisches Erleben geweckte Stimmung als ein Mittel zur ethischen Erziehung und Selbsterziehung, das vorzugsweise geeignet ware die egoistischen und altruistischen Empfindungen zu innerer Harmonie zu verbinden, weiterzugeben. Er hat aber gerade durch die Form, in der er Shaftesburys Lehre seinen Zeitgenossen übermittelte, ihren Geist für einen hohen Kulturwert empfanglich gemacht. Der Versuch zur Darstellung eines tiefen, künstlerischen Erlebens mit oder ohne Hervorhebung eines ethischen Wertes, hatte wenig Verstandnis gefunden; aber für die in gefalligem Plauderton gegebene Umbildung dieses Erlebnisses in eine rationalistisch ethische Lehre war die Menschheit seiner Zeit sehr zuganglich. Unter Kunst verstand man zunachst die Kunst des Altertums, deren Wesen nach Winckelmaim edle Einfalt und stille GröBe war, was soviel bedeutet wie innere und auBere Harmonie. Demnach wird dem vernünftigen Leser ohne Schwierigkeit die SchluBfolgerung eingeleuchtet haben, daB die Anschauung der Kunst die Seele gerade in diesen Zustand versetzen sollte, welcher den Menschen dem Ideal der Tugend naher brachte. In welchem Umfang man Shaftesbury auBerlich nachahmte, beweist die Vorliebe zur Übernahme der von dem englischen Denker dargestellten Situation. Sowie dieser hat auch Wieland eine Vorliebe dafür ernsthafte, ethische Betrachtungen unter der Fiktion anzustellen, als befande man sich einer erhabenen Naturszenerie gegenüber, wobei die Bekenntnisse des ,,Vicaire Savoyard" vermittelt haben mogen, wo eine groBartige Natur die religiöse Stimmung tragt. Wir dürfen aber nicht übersehen, daB Wieland, indem er auf die Natur als bildendes Element des Seelenlebens hinweist, schon ganz leise auf ein machtiges Erlebnis der künftigen Generation hindeutet. Die Selbsterziehung bedeutet den fortgesetzten Kampf gegen die Triebe, welche um so gefahrlicher werden, wenn sie in jener seelischen Veranlagung, welche Wieland als „Schone Seele" bezeichnet, wurzeln. Die groBe Gefahr, welcher diese ausgesetzt ist, besteht besonders darin, daB sie durch ihre Neigung zur Schwarmerei, kaum imstande ware, die Beweggründe ihrer Handlungen zu durchschauen. Wie oben erwahnt, hat Wieland diese Neigung zur Schwarmerei als eine derartige Bedrohung für die ethische Aus- gestaltung seines Lebens crkannt, daB er sich gedrangt fühltc, sic in der Agathongestalt zu objektivieren. Dabei ist das grofie Verdienst dieses Bildungsromans, daB in demselben nicht an erster Stelle nützliche Ratschlage erteilt werden, sondern daB man die innern Kampfe eines bedeutenden Menschen vor sich sieht, der die hohe Veranlagung in der reinsten Form herausbilden möchte. Es wird hier deutlich vor Augen geführt, wie eine „Schone Seele" durch Blendwerke getauscht, sich verirren kann. Vielleicht liegt Wielands tiefste, ethische Bedeutung gerade in der Ursache, worauf er diese Verblendung und Verwirrung zurückführt. Er beweist, wie die Schwarmerei zur Folge hat, daB man das direkt Notwendige übersieht um nach den entfernsten Zielen zu greifen und in der Art, wie man die Neigung zum Schwarmen zu bekampfen hat, macht er auf die oft nicht genügend beachtete Tatsache aufmerksam, daB die seelische Spannung um erhabene Zwecke zu erreichen nicht auf wirklicher Tugend zu beruhen braucht. Die einzige Methode, die schwarmerischen Neigungen zu entkraften, ware namlich die treue Erfüllung der Alltagspflichten.1) Durch diese Darstellung wird Wieland in der Tat zum Berater aller, die bewuBt um ihre ethische Selbsterziehung bemüht sind. Die Gelegenheit zu überragenden Taten bietet sich ja selten dar, aber derjenige, der in der. Erfüllung der oft langweiligen Pflichten des Alltagslebens weder ablaBt, noch erbittert, bekundet damit der Umwelt gegenüber die ethischen Tugenden der Selbstbeherrschung und der Treue. Auch Treue gegen sich selbst; denn der Mensch soll versuchen, sich immer wieder auf den Zweck seiner Handlungen zu besinnen. Wieland weist im Zusammenhang mit dem klassischen Gewand seines Romans auf die praktische, auf dieses Bedürfnis gerichtete Theosophie der Pythagoraer1) hin, womit er ausdrücken will, daB jedes Individuum sich als ein lebendiges Glied der Gesamtheit zu fühlen hat, deren ethische Lebenshaltung und davon abhangige Glückseligkeit er durch die persönlich ethische Gesinnung fördert. Indessen mutet uns die Betonung der richtunggebenden Vernunft und die absolute Unterordnung der Gemütskrafte als zeitgebunden an. Es macht den Eindruck, alsob Wieland den Gegensatz seines Gemütslebens zu der einseitigen Verherrlichung der Vernunft erkennend, nach kritischer Abfertigung 1) Agth. III Buch XIII/7. Hp. III/132. 2) Agth. Dl. Buch XVI/3. Hp. III/204 ff. einer jeglichen Form des Handclns, das nur aus der Empfindung hervorgeht, das vernünftige Denken auf den Thron erhebt, um gerade dadurch in den Augen der Zeitgenossen als vollwertig zu bestehen. Kein Mensch ist imstande sein Leben absolut von der vernünftigen Einsicht bestimmen zu lassen. Regungen der Empfindung sind in irgendeiner Form, wenn auch verkappt, mit beteiligt. Bei dem asthetischen Menschen, dessen Gefühl ohnehin leicht erregt ist, kann man am wenigsten an die bloBe Vernunftherrschaft in der Lebensgestaltung glauben. Es ist daher selbstverstandlich, daB Wieland in dem Enthusiasmus eine machtige Triebfeder zu unsern Handlungen anerkennt. Wie die Schwarmerei ist der Enthusiasmus ein erhöhter Zustand der Empfindung, nur daB dieser sich durch das Gerichtetsein von der Schwarmerei unterscheidet. Der Enthusiasmus richtet sich auf ein im Prinzip klar erkanntes Ziel, welches zu verfolgen eine heftige Gemütsbewegung zwingt. Daher wird er weit eher als die Schwarmerei eine Verbindung mit der Vernunft eingehen. Die leichte Erregbarkeit des Gemütslebens hat Wieland niemals zu unterdrücken vermocht, aber innerlich in seinem Charakter gestarkt, hat er, was er in der Jugend als Schwarmerei erkannte und verurteilte, als die Fahigkeit zum Enthusiasmus neu entdeckt und sich nicht gescheut diese von der kühlen Bedachtigkeit des durchschnittlichen Aufklarungsmenschen verdachtigte, seelische Eigenschaft zu verteidigen.1) Es macht den Eindruck, als wagte Wieland es, den Wert der Triebe und Neigungen nach dem MaBe, als er durch Selbsterziehung an innerer Klarheit gewann, freimütiger zu befürworten. Die unklaren Empfindungen werden als Triebfedern zu den vernünftigen Handlungen gewürdigt,2) wahrend er der Auffassung der Leidenschaften als Krankheiten der Seele energisch widerspricht. Anstatt einer Krankheit seien sie der Seele geradezu dasjenige, was die Winde dem Schiffe, das keine Seefahrt von einiger Bedeutung ohne sie vollbringen könne.3) Weit entfernt die Macht der Leidenschaften und Affekte gering zu schatzen in dem Sinne, daB es der Vernunft unter allen Umstanden möglich ware, sie zu bewaltigen, weist Wieland vielmehr nachdrücklich darauf hin, daB sie zu einer die Seele derart beherrschenden Gewalt werden können, daB man von vornherein ') Schwarmerei und Enthusiasmus. Phil. Schr. XXXII/367 ff. 2) Goldsp. II/8. Hp. XIX/80 ff. 3) Agathdm. UIL Hp. XXIII/33. daran verzweifeln muB, sic durch die Vernunft zu lenken. Wie cr lehrt, gibt es da nur einen einzigen Weg, namlich, solche machtig treibenden Affekte durch einen gleich machtigen aber dem Wohl der Gesamtheit dienenden Affekt abzuwalzen.1) Diese Auffassung erinnert in starkem MaBe an Einsichten der modernen Psychoanalyse, wahrend Wieland selbst in der betreffenden Darstellung jedenfalls Spinozas Ausspruch, nach welchem der Affekt sich nur durch den Affekt vertreiben lasse, im Bilde wiedergegeben hat. Die Ethik der Aufklarung vor Hume hat, mit Ausnahme von Shaftesbury, immer die Beziehungen zur Religion festgehalten, wenn auch gewöhnlich zu der sogenannten vernünftigen Religion. Da Wieland die Religion als die Stütze der Jugend betrachtet,2) versteht es sich ohne weiteres, daB er von dieser Tradition niemals abgewichen ist. Allein die von ihm angenommenen, übervernünftigen Grundlagen der Moral, sowie die Nachwirkung seiner religiösen Erziehung sind als Ursache zu betrachten, daB er wiederum mit Nachdruck auf die hohe Bedeutung des C h r is t e n t u m s für die Ethik hinweist und damit die engen Grenzen der Vernunftreligion überschreitet, wie wir im nachsten Kapitel, das sich mit Wielands Ansichten über die religiöse Erziehung beschaftigen wird, nachzuweisen versuchen. ') Danm. Cap. VI. Hp. XX/31. 2) Goldsp. Her./Les. Hp. XVIII/125. VIII. RELIGION, GESELLSCHAFT UND INDIVIDUUM. Montaignes Essays, in welchen er den Satz verteidigt, daB der religiöse Irrtum kein Verbrechen sei und besonders Charrons Schrift1) „de la Sagesse" in deren zweitem Buch der Verfasser die üblen Folgen des religiösen Eifers für das sittliche Verhalten zu beweisen sucht, ein gleichfalls von Wieland in Agathodamons Prophezeiung nachdrücklichst behandelter Gegenstand, bedeuten die erste Bresche in der bisher unerschütterten und selbstverstandlichen Verbindung zwischen der Religion und der Ethik. Damals wies der sich zum selbstandigen Denken aufraffende menschliche Geist zum ersten Mal auf die Kluft hin, welche sich zwischen einer rein christlichen Gesinnung, die, soviel wir bisher beobachten können, den strengsten ethischen Anforderungen entspricht, und den Handlungen der sich Christen nennenden Gruppen und Völker, befindet. Charron hat in der bezeichneten Schrift die empfindlichste Seite des Christentums getroffen, wie denn auch der von ihm gegen dasselbe gerichtete Vorwurf von jeder Periode und von jeder um reinere ethische Lebensformen kampfenden, geistigen Richtung von neuem gegen das Christentum erhoben wird. Je nachdem die Aufklarung in höherm MaBe zu einer das gesamte westeuropaische Denken ergreifenden, geistigen Strömung wurde, entwickelt sie sich in einem sich stets zuspitzenden Gegensatz zum Christentum. Dieser Entwicklung lag die Empfindung zu Grunde, daB das Christentum im Verlauf der Jahrhunderte seiner eigentlichen Aufgabe, der Erlösung der gesamten Menschheit, untreu geworden ware. Die Geschichte der Ethik lehrt uns denn auch, wie diese folgerichtig danach trachtet in ihrer weitern Entwicklung die Fesseln der Religion abzustreifen und nach andern Grundlagen des sittlichen Lebens sucht, die sie entweder in der menschlichen Vernunft, oder in den Formen des Zusammenlebens zu entdecken glaubt. Dennoch gelang es bis auf Home weder dem Rationalismus noch dem Empirismus eine endgültige Trennung zwischen der Religion und der Ethik herbeizuführen. ') VergL Jodl. I Seite 185 ff. Hume selbst gelangte wohl durch seinen religiösen Indifferentismus nicht dahin, der in seinem ethischen System gebotenen Auffassung vom Entstehen der sittlichen Empfindungen gleichsam abschlieBend, eine transzendente Richtung auf das Göttliche zu geben. Sonst aber gewinnt man bei der Betrachtung der ethischen Systeme der Aufklarung den Eindruck, alsob man, von welchem Standpunkt man zur Begründung des Sittlichen auch ausgeht, die göttliche Autoritat zur Bekraftigung des Ethischen dennoch nicht entbehren kann. Wieland hebt solches einigermaBen naiv hervor, wenn er die Weisheit der alten Gesetzgeber darin erblickt, daB sie ihre eignen, das Wohl der Menschheit bezweckenden Einsichten und Bestimmungen, mogen sie auf praktischen oder auf vernünftigen Gründen beruhen, dem Volke als von der Gottheit gewollte Gesetze auferlegten.1) Die Vorstellung spiegelt, ungeachtet der Naivetat, welche auf die Darstellung im Gewande eines Romans zurückzuführen ist, das tatsachliche Verhaltnis zwischen der Ethik und der Religion, nicht an letzter Stelle bei Wieland persönlich. Überhaupt ist es als eine Folge der selbstverstandlich streng orthodoxen Erziehung zu betrachten, daB eine von religiösen Vorstellungen vollstandig befreite Ethik nicht durchgeführt werden konnte. An sich ware eine solche ein bedeutender geistiger Besitz, weil sie eine selbstandige, gleichwertige und demzufolge vollberechtigte Kontrolle und Einschrankung der religiösen Vorstellungen ware. Für die enge Verbindung derselben mit dem ethischen Denken sind besonders Lockes Auffassungen bemerkenswert. Er verneint, daB das Sittliche in der Natur des Menschen liege und faBt dasselbe als das Ergebnis eines ziemlich verwickelten Prozesses von nach den Verhaltnissen wechselnder Berechnung, wahrend er das sittlich Gute oder Böse von der Erfüllung oder Verletzung eines Gesetzes abhangig macht, wozu er auch das göttliche Gesetz zahlt.2) Dennoch weigerte er sich, ungeachtet seiner Erwahnung des Lumen internum als einer Quelle der Erkenntnis dieser Gesetze, eine wissenschaftliche Ethik zu schreiben. Im „Neuen Testament" gebe die göttliche Offenbarung eine weit deutlichere und bessere Ethik als die menschliche Vernunft sie zu erzeugen vermöge. Und der Rationalist Clarke scheint diese Anschauung zu rechtfertigen, in- ') Göttergspr. 3. Hp. IX/30; Agathdm. IV/4. Hp. XXIII/105. 2) Jodl. I. Seite 244 ff. dcm er nach der vernünftigen Darlegung der mathematischen Evidenz des Sittlichen, dennóch zuletzt glaubt, der betreffenden göttlichen Offenbarung nicht entbehren zu können. Zwar weist er darauf hin, daB vereinzelte einsichtsvolle Manner, welche das Studium des Sittlichen zu ihrer Aufgabe gemacht haben, zu wichtigen Wahrheiten gelangt sind, aber es fehlte ihnen entweder ganfclich an gewissen für die volle sittliche Aufklarung der Welt notwendigen Wahrheiten, wahrend andre in höchstem Grade ungewiB blieben. Andrerseits mangelte es ihnen an der notwendigen Autoritat, das klar Erkannte zur Geltung zu bringen.1) Diese Autoritat aber sucht man auBerhalb der menschlichen Vernunft im Willen Gottes. Es ist dabei einerlei, ob man glaubt, das Dasein Gottes auf dem Wege der Vernunft begründen zu können, oder ob man sich auf die biblische Offenbarung beruft. In dieser Tatsache ist eine gewisse innere Schwache der Aufklarung zu erblicken, weil es auf ein unbewuBtes MiBtrauen gegen die als die höchste menschliche Eigenschaft erkannte Vernunft hindeutet. Die Schwache liegt nicht gerade darin, daB man geneigt ware, der Vernunft von vornherein die Fahigkeit zur Begründung des Ethischen abzusprechen. Auf diese Fahigkeit wies schon Locke hin, indem er das Lumen internum als mögliche Erkenntnisquelle erwahnt. Das MiBtrauen war vielmehr ein Mangel an der festen innern Überzeugung von der Macht der Vernunft, das als vernünftig richtig Erkannte auch zu verwirklichen. Nur Shaftesbury, der in den Tiefen des Seelenlebens das Göttliche erkannte, war tatsachlich fahig, die überlieferte Verbindung zwischen der Ethik und der Religion zu lösen. Das von ihm entdeckte Gesetz der sittlichen Persönlichkeit war, weil es aus den Tiefen der Seele emporstieg, zugleich ein göttliches Gesetz.2) Wie sehr aber Shaf» tesburys Ethik die persönliche Schöpfung eines selbstandig genialen Menschen bedeutete, beweist die Ausgestaltung derselben von denen, welche die Lehre, ohne das sie bedingende, seelische Erlebnis, aufgriffen und weiter zu bilden suchten. Buttler hat schon gleich, indem er das Gewissen als die intuitive Quelle des Sittlichen gewissermaBen als ein psychologisches R a t s e 1 darstellt, die Wendung ins Theologische gemacht.3) Dieselbe Wendung auf das Theologische erfuhr sogar Kants Ethik, ') Jodl. Ethik 1/268. 8) Vergl. Agth. II Buch VII/3 Hp. 11/30; Agth. UI Buch XVI/3 Hp. III/213. ») Jodl. 1/298. als er, dem Gedankendinge der Freiheit in der Welt der Phanomena Inhalt zu geben, den theologischen Begriff der freien Wahl wieder einführte.1) Uber diese innere Anziehungskraft, welche die Religion auf das Ethische ausübt, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir bedenken, daB zu allen Zeiten die Neigung bestanden hat, gewisse Vorschriften und Verhaltungsweisen, welche ihr Entstehen zunachst einer anerkannten Notwendigkeit verdanken, im Verlauf ihrer Entwicklung zu festen Normen, der Gottheit zuzuschreiben. Was Wieland als eine einsichtsvolle Klugheit der altesten Gesetzgeber darstellte, war nur eine psychologische Notwendigkeit. Denn jede Gesellschaft fühlt sich gedrangt, da sie die momentan wakenden, sittlichen Normen als die höchste Offenbarung ihres Innenlebens empfindet, diese in ihrer Erhabenheit von den alltaglichen, gewöhnlich auf unmittelbare Zwecke gerichteten Erwagungen sich abhebenden, ethischen Formen dem Willen höherer Wesen zuzuschreiben. Ganz besonders hat die christliche Welt sich daran gewöhnt, das Sittengesetz als unmittelbare Vorschrift des göttlichen Willens zu betrachten, damit konsequent die Vorstellung der Belohnung oder Strafe bei der Erfüllung oder Vernachlassigung dieser göttlichen Gesetze verbindend. Diese psychologischen, durch eine jahrhundertelange Tradition zu sittlichen Grundanschauungen entwickelten Formen erklaren uns die innere Notwendigkeit, welche die Aufklarung zu der Schöpfung ethischer Systeme zwang, nachdem die nach ihren eignen Prinzipien urteilende Vernunft eine besonder e göttliche Offenbarung anzuzweifeln begonnen hatte. Man ist zu bald geneigt, die vernünftige Religion der Aufklarung, weil sie die ethischen Momente stark betonte, als ein trocknes, den innersten Bedürfnissen des menschlichen Herzens nicht befriedigendes Moralisieren zu betrachten. Es scheint aber, daB man mehr an eine Verschiebung des Akzentes zu denken hat. Mit derselben Einseitigkeit, wie vor der Aufklarung die christlich theologische Gottesvorstellung mit allen besondern Offenbarungsformen, wird nunmehr das Ethische in der Religion hervorgehoben. Folgerichtig verband sich hiermit jene Modifikation des Werturteils, daB nunmehr nicht das ethisch richtige Verhalten nach den religiösen Vorstellungen, sondern vielmehr die Reinheit der letzteren nach ') Vergl. Jodl. IL Seite 26. und 33. ihrem aus andern Prinzipien geschöpften, ethischen Gehalt beurteilt würde.1) Es ware nicht richtig angesichts dieser Tatsache ohne Weiteres von einem trocknen Moralisieren zu reden, welches dem Herzen keine Befriedigung gewahre, weil es auf uns diesen Eindruck macht. Eine machtige Geistesbewegung, wie die des Rationalismus, war nur möglich unter der psychologischen Bedingung, daB die Menschheit jener Tage vorzugsweise den Hauptakzent auf das Denken verlegte, so daB man annehmen muB, daB vernünftig fundierte, religiös ethische Anschauungen wenigstens für eine übergroBe Anzahl eine Befriedigung der tiefsten Herzensbedürfnisse bedeutete. Übrigens beweist die Blüte des deistisch gefarbten Lehrgedichtes, sowie die machtige Gedankenlyrik Schillers, daB man sich das sogenannte vernünftige Denken nicht ohne Schwung vorstellen darf. Ohne innere Begeisterung ist keine wirklich poetische Gestaltung möglich, und als solche dürfte man Wielands und Hallers Lehrgedichte, um nur diese zu erwahnen, wohl betrachten. Insofern Wieland das rationalistische Denken zum Ausdruck bringt, ist für ihn religiöse und ethische Belehrung identisch. Beide sind in der vernünftigen Religion verbunden, welche die Beweise für das Dasein Gottes nach vernünftigen Prinzipien aus der Schöpfung als der sinnlichen Offenbarung der Gottheit zu erbringen glaubte. Besonders der physikoteleologische Gottesbeweis verband sich sehr leicht mit ethischen Elementen, da dieser auf der GesetzmaBigkeit in den Naturvorgangen beruhende Beweis anscheinend schon ein ethisches Gesetz enthielt. Eine naturphilosophische Betrachtung, welche die Formen des Naturgeschehens als eine notwendige und unabanderliche Emanation der Gottheit darstellt, ist metaphysisch einwandfrei. Indem aber diese festen Formen, in denen die Naturvorgange sich abwickeln, mit dem Namen „Gesetze" angedeutet werden, wird mit diesem Begriff leicht die Anschauung verknüpft, als lieBe sich der an sich allmachtige Gott durch gewisse Gesetze einschranken, wobei sich dann die orthodoxe Vorstellung, welche die Allmacht als das Vermógen zum willkürlichen Eingreifen in das Geschehen auffaBt, mit einschleicht. Nur von solchen Gedankenverbindungen geleitet, scheint es Wieland möglich, die Handlungen der Gottheit den Fürsten als Gesetz des eignen H a n d e 1 n s vorzuhalten, da diese sie lehren sollen, wie der Allmachtige sich an seine Gesetze bindet, was sich die Fürsten ') Vergl. Per. Prot. Einl. Hp. XX1/31. zu Herzen nehmen sollten, wenn sie der Trieb zur Willkür anwandelt.1) Man dürfte behaupten, daB die natürliche Religion erst dann ausgebildet wurde, als man anfing, die mechanischen Gesetze ethisch zu deuten. Erst wenn der Begriff „Gesetz" ethisch aufgefaBt wird, kann er mit den beliebten Vorstellungen der Belohnung und Strafe, bei dessen Befolgung und Vernachlassigung, welche der Mensch als das Ergebnis des religiösen Denkens in sich tragt, verbunden werden. Diese aber sind es, welche der nach Vernunftprinzipien aufgebauten, natürlichen Religion, die der christlichen Ideenwelt entlehnten Elemente der Vergeltung und der Unsterblichkeit einverleiben können. Auf diese Weise entstanden die Elemente der natürlichen Religion : „Gott, Unsterblichkeit und Vergeltung nach dem Tode." Nachdem jedoch diese Vorstellung zum Gemeingut der aufgeklarten Welt geworden war, vollzog sich jene eigentümliche Verschiebung, wodurch die ethischen Bedürfnisse, welche tatsachlich die Elemente der natürlichen Religion waren, mit derselben und ihrer Gottesvorstellung als Postulate verbunden wurden; wahrend Gott nach den vernünftigen Voraussetzungen der natürlichen Religion eigentlich nur heiBen konnte, die „Erste Ursache aller Erscheinungen." Im Grunde bedeutet das aber nur, daB die Aufklarung sich im Verlauf der Entwicklung gedrangt fühlte, die kirchlich orthodoxe Gottesvorstellung nach ihren Prinzipien umzuschaffen, obwohl man glaubte, das Dasein Gottes vernünftig bewiesen zu haben. Denn geradeso wie die Kirche lehrte, wird nunmehr auch von dem Deismus der Aufklarung das Sittengesetz von der Gottheit hergeleitet, welche die oberste Richterin der menschlichen Handlungen ist. Nach der Vorstellung des aufgeklarten Denkens ist das Wesen Gottes demnach nicht anders als nach den Lehren des Christentums; nur das Verhaltnis des Menschen zur Gottheit ist ein andres geworden. Aber dieses veranderte Verhaltnis bedeutet einen geistigen Gewinn, den man nur mit dem der frühesten Periode der Reformation Luthers vergleichen kann. Dieser geistige Gewinn ist auch nunmehr nichts weniger als eine Erlösung des Menschen aus dem Griff einer den Geist fesselnden Autoritat. Die Erfüllung der göttlichen Gesetze heiBt nicht langer, daB man geheimnisvollen und nur wenigen offenbarten Vorschriften gehorchen soll; vielmehr sind Gottes Gesetze solche, die jeder- i) Goldsp. 11/10. Hp. XIX/93. mann kraft ihrer VernunftmaBigkeit durch die Betatigung der eignen Vernunft zu erkennen imstande ist. Vernunft und Religion sind nicht langer getrennte Gebiete; das Vernünftige wird als das richtig Erkannte zu gleicher Zeit die Ergründung des göttlichen Willens. Wenn Wieland demnach als die Grundlage der ethischen Erziehung die Ausbildung der Vernunft fordert, so spricht er damit im Sinne der Aufklarung eine religiöse Tendenz aus. Seine ganze Arbeit, die Zeitgenossen daran zu gewöhnen, die Umwelt dem vernünftigen Urteil zu unterwerfen, darf man als solche schon als eine religiöse Erziehung betrachten; ganz besonders in ihrem Bestreben davor zu warnen, alles abzulehnen, was mit der Forderung einer unbedingten Annahme an die Vernunft herantreten dürfte. Wir wiesen schon darauf hin, daB Wieland den religiösen Unterricht für die Jugend als deren beste Stütze und wirksamste Triebfeder fordert.1) Gleichfalls waren den Erwachsenen allmahlich aufgeklartere Religionsbegriffe beizubringen,2) welche Aufgabe des Staates Wieland durch seine persönliche Arbeit im Geiste der Aufklarung vorlaufig nach Möglichkeit zu lösen versuchte. Welcher Natur aber der spezifisch religiöse Unterricht sein sollte, darüber auBert sich Wieland nicht; wahrscheinlich, weil die von ihm gegebenen Andeutungen den aufgeklarten Begriffen entnommen waren. Die Vorbereitung und die Stütze des religiösen Unterrichts ware die Naturbetrachtung,3) eine Ansicht, welche der Padagoge Campe noch teilte; wahrend die spezielle religiöse Belehrung den Hauptakzent auf die Ethik legen müBte. Das rationalistische Grundprinzip des religiösen Unterrichts wurde zwar nur angedeutet; aufs nachdrücklichste aber die praktische Konsequenz hervorgehoben und als Angriffsmittel gegen die orthodoxe Offenbarungsreligion verwendet. Als deren Schwache wurde die von Bayle klar erkannte und unverhüllt ausgesprochene Vernunftwidrigkeit angegriffen, weil diese Schwache der groBen Masse gegenüber zu gleicher Zeit ihre Starke bedeutete. Die Selbstverstandlichkeit, mit welcher die absolute Unzulanglichkeit des menschlichen Verstandes die geoffenbarten, göttlichen Geheimnisse zu durchschauen gelehrt wurde, hielt den Durchschnittsglaubigen mit besserm Erfolg von einer selbstandigen Prüfung der Glaubenswahrheiten zurück, als die scharfsten Strafan- ') Goldsp. I Her./Les. Hp. XVIII/125. 2) Goldsp. 11/14. Hp. XIX/142. Goldsp. 1/4. Hp. XVIII/62. 12 drohungcn, die übrigens dem überliefertcn Geist des Protestantismus grundsatzlich zuwider waren, es vermocht hatten. Die von Jugend an gehörten, kaum mit lebendigem BewuBtsein aufgefaBten, manchmal wohl unter einem nicht direkt beabsichtigten, moralischen Zwang als eine göttliche Offenbarung an der weder zu deuteln noch zu rütteln ware, angenommenen und von allen Kanzeln verkündeten Heilswahrheiten, gewahrten der Geistlichkeit einen Griff auf die Masse, wodurch sie von derselben unter Umstanden nach Belieben gelenkt werden könnte. Das Element des Wunderbaren, das der Religion anhaftet, verband sich gar leicht mit den in den ungebildeten Massen üppig wuchernden, aberglaubischen Vorstellungen, deren dunkier Schrecken wiederum dem EinfluB einer Geistlichkeit zugute kam, bei der man wegen ihrer Stellung als Diener des göttlichen Evangeliums vor den Gewalten, die die Seele angstigten, Schutz suchte. Schon die mögliche Verbindung der geoffenbarten Religion durch die Elemente des Wunderbaren mit aberglaubischen Vorstellungen,1) hatte genügt, die Aufklarer, welche von Bacon an den Kampf gegen den Aberglauben in ihre Fahnen geschrieben hatten, zu Gegnern einer Religionsverkündigung zu machen, welche das Wunder göttlicher und teuflischer Natur kritiklos annehmend, bestenfalls einer Entwicklung der Vernunft hemmend entgegentraten; wenn man die ruchlose, jeglicher Menschlichkeit Hohn sprechende Verfolgung der Unglücklichen, die der teuflischen Magie beschuldigt wurden, unberücksichtigt lassen wollte, welche, was der vielgeschmahten Aufklarung immer zur Ehre gereichen wird, wo nicht der erste AnstoB zu ihrem Kampfe gegen den Aberglauben, dennoch einer der kraftigsten Impulse desselben gewesen ist. Der Ton der höchsten Erbitterung, welcher aber den Kampf der Aufklarer gegen die allerdings manchmal auBerst beschrankten Verteidiger der Offenbarungsreligion und damit gegen die offizielle Kirche aller Konfessionen kennzeichnet, wurde durch die gehassige Verfolgung hervorgerufen, welche man von dieser Seite zu erleiden hatte und die Hetze gegen ihre das Wohl der Menschheit bezweckenden Ideen von den Kanzeln her. Dadurch entstand jener HaB, welcher für die übergroBe Anzahl der führenden, aufgeklarten Geister charakteristisch ist, welcher sie ') Vergl. Phil. Schr. XXXII/293; Die althergebrachten Wahnbegriffe der heidnischen Welt vermischten sich auf eine unnatürliche Art mit den reinen Grundbegriffen des Christentums. daran hinderte, den orthodoxen Geistlichen gegenüber an eine mögliche innere Überzeugung von der Wahrheit ihrer Lehren zu glauben und der zu jener BewuBtseinsverengung führte, welche in allen Formen der nicht vernünftigen Religion einen bewuBten Priesterbetrug erblickte. Solche Empfindungen entwickelten sich bei Voltaire bekanntlich zu jener krassen Form des Hasses gegen die Kirche, die ihn von ihr nie anders als von „1'Infame" reden lieB. Wenn die Andeutungen einer positiven religiösen Erziehung bei Wieland auch nur ganz flüchtig sind, haben ahnliche in ihm wakende Gefühle zu einer Art negativ religiösen Belehrung geführt, welche sich besonders in der wiederholten, energischen Warnung gegen die irreführenden, die Menschheit verwirrenden Lehren der Geistlichkeit auBert, die er unter dem durch historische Assoziationen ganz besonders für das protestantische Deutschland zweckmaBigen Namen „Priesterbetrug" zusammenfaBte. Der „Goldene Spiegel" deutet nicht weniger auf die dem Wohl der Menschheit dienenden Absichten storende und unterdrückende Arbeit der Priester hin, als daB er das Bild eines idealen Fürsten entwirft; wahrend der Roman in dieser Beziehung in der natürlich im Bilde dargestellten These gipfelt, daB dieser ethisch gesinnte Fürst sich der Geistlichkeit zum Besten seiner Untertanen nur dann mit Sicherheit zu bedienen vermag, wenn er sie durch eine Erziehung in seinen Ideen gleichsam zu von ihm geleiteten Schülern macht.1) Es lohnt sich kaum der Mühe, sich über die Einseitigkeit einer solchen Auffassung zu verbreiten; wo demgegenüber der Hinweis auf die gar nicht praktisch widerlegte Möglichkeit genügen mag, daB gerade eine wirklich unabhangige Geistlichkeit die Kirche zum Gewissen des Staates erheben dürfte, indem sie die Handlungen desselben von einem höhern und allgemeinern Standpunkt, als von der bloB vom Staatsinteresse geleiteten Staatsklugheit aus, beurteilt. Wichtiger ist es hervorzuheben, daB die in einem Romanbilde verarbeitete Überzeugung von der verderblichen Tatigkeit einer von ihm als „Priester" bezeichneten Geistlichkeit, mehr oder weniger theoretisch ausgearbeitete Betrachtungen früherer oder spaterer Schriften zu illustrieren scheinen. Man darf denn auch die in den verschiedensten Formen und Redensarten im Verlauf ') Goldsp. 11/14. Hp. XIX/145. der gesamten schriftstellerischen Arbeit wiederholten Angriffe auf sittliche Auswüchse der herrschenden Kirchen und deren Diener als einen Teil seiner Arbeit zur Förderung von aufgeklarten Religionsbegriffen betrachten. Wo er sich direkt gegen die „Priester" und die herrschende Kirche wendet, gibt er Voltaire an Erbitterung wenig nach. Ob er die Priester als bewuBte Betrüger entlarvt,1) als die Verderber des Werkes „unschuldiger Enthusiasten" rür die Befreiung der Menschheit von groBen Übeln, durch die Umgestaltung zu dem geraden Gegenteil der beabsichtigten Erlösung bezeichnet,2) oder sie als die Schöpfer eines Aberglaubens, der jede gesunde Vorstellung in natürlichen und sittlichen Dingen im Keim erstickt und um einer chimarischen Vollkommenheit willen jede leise aufblühende humanistische Gesinnung zu vergiften droht,3) charakterisiert: wir empfinden bei alledem die zornige Regung eines Menschen, der seine schönsten Ideale von einer Geistlichkeit gefahrdet sieht, welche die höchsten geistigen Prinzipien des Christentums wegen der Eroberung der weltlichen Macht verraten hat, welche nicht die Erlöserin der Menschheit, besonders der Bedrückten ist, sondern in direktem Widerspruch zu dem Geiste des Stifters ihrer Religion in Verbindung mit den Machtigen der Erde dieser Menschheit aus den Lehren dieser Religion nur schwerere Fesseln schmiedet. Die scharfste Anklage gegen die christliche Kirche enthalt aber die schon im Anfang dieses Kapitels bezeichnete „Prophezeiung des „Agathodamon", dessen die angebliche Geschichte des Apollonius von Tyana darstellende Lebensbeschreibung mit gleichem Rechte ein Spiegel der christlichen Religion, wie die Geschichte der „Könige von Scheschian ein Fürstenspiegel" genannt werden dürfte. Diese Prophezeiung wiederholt den schon von Charron erhobenen Vorwurf gegen die Kirche, welcher dieselbe zum gröBten Teil für das Elend, das die Menschheit in der Gestalt von Kriegen und Verfolgungen heimgesucht hat, verantwortlich macht. Er berührt aber zugleich den leitenden Gedanken von „Arnulfs aufrichtiger Ketzergeschichte", nach welcher es immer wieder die von den herrschenden Kirchen und den mit ihnen verbundenen weltlichen Machten aufgescheuchten und grausam verfolgten sogenannten Ketzer gewesen sind, welche ') Agth. II Buch VII/3. Hp. 11/19. 2) Per. Prot. V. Hp. XXI/156. 3) Göttergspr. VI. Hp. X/49. versuchten, den wahren Geist des Christentums zu verbreiten.1) Solche an die herrschenden Kirchen gerichteten Vorwürfe bedeuten den Kampf für ein Christentum, das in gröBerer Lauterkeit dessen Geist offenbaren soll, einen Geist, welchen Wieland reiner in den natürlichen menschlichen Empfindungen, als in der Dialektik einer theologischen Gelehrsamkeit, zu entdecken vermochte. Nur das GefaB des Christentums, nicht das Christentum selbst hat Wieland angegriffen; denn von dem hohen, geistigen Gehalt desselben war er sich wohlbewuBt. Allein er fordert die Verbindung von Christentum und Humanitat; d.h. die überlieferte Lehre soll an dem ethischen Empfinden der Menschheit geprüft werden, das, wie wir oben nachzuweisen versuchten, seiner Ansicht nach dem Gesetze der innern Entwicklung gehorche. Vielleicht wird die Kirche erst in unsern Tagen solchen dem Geiste der Aufklarung entsprechenden Forderungen einigermaBen gerecht. Es hat wenigstens den Anschein, alsob die offiziellen Kirchen der verschiedenen Religionen sich endlich veranlaBt fühlen, da von allen Seiten Stimmen laut werden, welche von den verletzten menschlichen Empfindungen reden, sich an die hohen Korporationen, die die Geschicke der Menschheit entscheiden, zu wenden, um, manchmal leider mit einer nicht geradezu würdevollen Bescheidenheit auf vielleicht andre Prinzipien als die der rein staatlichen und wirtschaftlichen Machtverhaltnisse hinzudeuten. Der Hauptakzent, welchen die natürliche Religion auf das Ethische legt, ist wiederum ein Erzeugnis des auf das Praktische gerichteten Geistes der Aufklarung. Die ethischen Lehren gipfeln in der Hauptforderung an einen jeglichen, das Seinige zur Glückseligkeit aller beizutragen, was moderner ausgedrückt nur heiBt, daB die Aufklarung nach einer sozialen Reform strebte. Ihre natürliche Religion betont das Diesseitige weit energischer als das Jenseitige. An erster Stelle handelt es sich um die Verwirklichung der Menschenrechte auf Erden. In diesem Sinne hat auch bei Wieland der Begriff „Glückseligkeit", welcher den Zustand bezeichnet, den er sich als das Ergebnis einer auf Vernunftprinzipien fundierten, ethischen Erziehung denkt, eine religiöse Farbung. Der religiöse Charakter seiner philanthropinistischen Ideen offenbart sich gerade dann aufs nachdrücklichste, wenn er eine bessere Erfüllung der natürlichen und bürgerlichen Pflichten als •) Vergl. Agathdm. VII/5. Hp. XXIII/226; Phil. Schr. XXXII/296. den Erfolg der Grundwahrheiten der natürlichen Religion darstellt.1) Neben der Naturbetrachtung als einer unumganglichen Vorbereitung zur Einführung in die Grundwahrheiten der natürlichen Religion, hebt der Asthetiker Wieland die religiöse und ethische Wirkung einer bloBen Anschauung der Natur hervor, welche die Phantasie mit Ideen des Schonen erfüllen soll.2) Es ist klar, daB auf diese Weise für Wieland eine neue Verbindung zwischen Religion und Ethik zustande gebracht wird. Denn die Anschauung des „Schonen" vermittelt nach seiner Ansicht der Seele einen Zustand der innern Ruhe und Ausgeglichenheit, welche die als Grundlage der Tugend erscheinende Harmonie fördert. Von dieser Seite nahert Wieland sich wiederum Shaftesbury, sofern dieser in der Anschauung des Schonen ein ethisches Prinzip erblickte, das seinen Grund in dein Göttlichen in den Tiefen des eignen Seelenlebens fand. Wahrend Shaftesbury aber von dieser Erkenntnis aus ein von der Religion unabhangiges, ethisches System aufzubauen wuBte, gingen bei Wieland die in der Anschauung der Natur erlebte göttliche Güte und die von vornherein angenommene, ursprüngliche Güte des menschlichen Herzens nur eine auBere Verbindung ein. Die Erkenntnis der göttlichen Güte soll nunmehr die Anregung zu einer höhern Entfaltung der angeborenen Güte bilden. Zwar spricht Wieland diese These nicht in klaren Worten aus, aber sie geht aus dem Geiste seiner Schriften folgerichtig hervor. Die menschliche Vernunft erkennt in der Besinnung auf ihr Wesen die eigne „Idee", das höhere „Ich", das der Welt der Ideen angehört und dahin strebt.s) Die Welt der Ideen ist die Welt des „Schonen und Guten . Sowohl der Drang nach Schönheit wie der Trieb zum Guten in der Seele des Menschen bedeuten demnach für ^Vieland eine Emanation des Göttlichen. Von diesem Standpunkt verstehen wir das Vertrauen, das man der vernünftigen Einsicht mit Bezug auf die Tugend entgegenbringt, weit besser. W^enn er namlich davon überzeugt ist, daB der Mensch das auf dem Wege der Vernunft als moralisch richtig Erkannte auch tatsachlich verwirklichen will, so findet diese LIberzeugung ihren Grund wesentlich in der vorausgesetzten natürlichen Güte des Menschen. Diese Güte ist aber wie die Vernunft ein göttlicher Trieb, das Wirken des Göttlichen in uns, ') Goldsp. 11/14. Hp. XIX/143. 2) Goldsp. 1/4. Hp. XVIII/62. 3) Vergl. Agth. III Buch XII/11. Hp. 111/92; ebd. 94. so daB beide Eigenschaften, sofern sie um eine reine Offenbarung ringen, in eine Richtung treiben müssen, wahrend die Entwicklung der einen die andre nur zu fördern vermag. Ohne Zweifel sind solche Anschauungen als die Ursache des Optimismus der Aufklarung zu betrachten. Anstatt einer Menschheit, welche in ihrer Natur von Gott verurteilt war, und nur durch den unbedingten Glauben an einen unerforschlichen, dem natürlichen Empfinden sogar ungerecht erscheinenden, transzendenten Versöhnungsakt, prinzipiell gerettet werden konnte, hat man gelernt im Menschen ein Geschöpf zu erblicken, das nicht nur seinem Wesen nach göttlich ist, denn das lehrte das Christentum gleichfalls, sondern auch die Krafte zu seiner Erlösung in sich selbst zu entdecken vermochte. Und dieser Mensch braucht sich nicht, wie das orthodoxe Christentum zu lehren pflegt, vor seiner Natur, wie vor der ihn umringenden schaudernd zu verschlieBen; vielmehr soll er auf die Stimme derNatur in sich hören, die ihm den Weg zur richtigen Lebensführung zeigt, wahrend die Natur als Umwelt ihm die Erhabenheit des göttlichen Schöpfers offenbart. Es sind demnach die Keime der Naturvergötterung von „Sturm und Drang" und von der „Romantik" schon in der „Aufklarung" vorhanden. Man muB es der vernünftigen Veranlagung des Menschentypus jener Periode zuschreiben, daB seine Naturverehrung auf uns den Eindruck einer kühlen, verstandesmaBigen Weltbetrachtung macht, die denn freilich bei dem Durchschnittsaufklarer leicht in ein Nützlichkeitssystem entarten konnte. Dieser Gefahr erliegt Wieland, wenn er angesichts des tatsachlichen Elends zu behaupten wagt, es gebe Einen, der für die Erhaltung der allgemeinen moralischen Ordnung und der Masse des Guten besser sorgt, als wir zu tun fahig sind.1) Eine derartige Anschauung gehort zu jenem fadem Optimismus, der sich mit Leibniz' Be~ trachtung dieser Welt als „die beste der möglichen Weiten" nur ganz oberflachlich berührt, und als eine Verflachung dieser Konsequenz der Monadologie zu der besonders von Basedow breitgetretenen Theorie von dem UberschuB des Guten in dieser Welt erscheint. Es ist aber unstatthaft, eine an sich hohe geistige Stimmung von den Niederungen des Denkens aus zu beurteilen, was man durch die zu starke Betonung solcher Auswüchse tut. Die höchste soziale Tendenz der Aufklarung war den humanen Geist der menschlichen Gesellschaft zu fördern durch die Ausbildung des ') Phil. Schr. Hp. XXXII/134 ff. BewuBtseins von Prinzipien aus, welche aus dem vernünftig erfaBten Verhaltnis des Menschen zum Kosmos und dem eignen Wesen, beides eine Emanation der Gottheit, hervorgingen. Ethisch sollte man sich den Forderungen, wozu diese Erkenntnis führte, unterwerfen, ohne daB die Ankündigung einer Belohnung oder die Androhung einer Strafe, nötig ware. Ein Ringen urn die Verwirklichung solcher Ideale setzt die innere Überzeugung von dem „Guten" als dem „W esentlichen" in der Gesamtheit der Erscheinungen voraus, weil man ohne solche Zuversicht von vornherein verzweifeln würde. Die höchste Form der Tugend ware allerdings die Verwirklichung des als richtig Erkannten, ohne irgendwelchen Gedanken an Glückseligkeit, weder als auBere noch als innere Belohnung. Zu dieser idealistischen Höhe hat sich die Tugendlehre der Aufklarung nicht erheben können, schon deshalb, weil diese Forderung über die Krafte der übergroBen Anzahl der Menschen weit hinausgeht. AuBerdem war die vernünftige Ethik in ihrer Weiterentwicklung schon durch die Unfahigkeit, die Tugend von der Religion zu trennen, nicht imstande, diesem höchsten Ideal gerecht zu werden. Sobald man über die einzig mögliche logische Konsequenz des physikoteleologischen Gottesbeweises hinausging, indem man Gott als erster Ursache aller Dinge, sittliche und jurist ische Qualitaten, welche man im Grunde aus der geoffenbarten Religion hinübergenommen hatte, beimaB, war die notwendige Folge, daB die Ideen „LInsterblichkeit und Vergeltung als Hauptelemente der natürlichen Religion in den Vordergrund traten. Diese sind nicht durch die aufgeklarten Gottesvorstellungen bedingt; sie treten aus dem überlieferten, religiösen Empfinden hinzu. Für Wieland erscheint die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode, wie es sich Bonnet als Konsequenz seines metaphysischen Systems dachte, nicht ausgeschlossen.1) Dabei tritt aber weniger die Idee der Vergeltung, als die des Fortschrittes in den Vordergrund. Wir müssen gestehen, daB Wieland sich mit dieser Idee zu religiösen Vorstellungen erhebt, welche als die letzten Konsequenzen des Vernunftprinzips der Aufklarung erscheinen. Erst der Glaube an die bewuBte persönliche Fortexistenz mit dem dadurch denkbaren weitern Fortschritt an Erkenntnis, ') Agathdm. VI/2. Hp. XXIII/172. bietet der vernünftig begründeten, natürlichen Religion die Mögligkeit, alle seelischen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen; für den, der den Trieb zur Erkenntnis in sich fühlte, sogar in weit höherm MaBe als die öffentliche Religion, welche dieses Streben möglichst einschrankte. Für den überzeugten Aufklarer wird sie durch den Glauben an die weitere geistige Entwicklung im Jenseits zu einer Form, in der das Christentum sich zeitgemaB erneuern konnte. Die Elemente der „Nachstenliebe", welche das Christentum enthalt, sind von der auf das Diesseitige gerichteten Tendenz der natürlichen Religion übernommen worden, welche als Humanismus eine soziale Reform anstrebt, indem sie die Menschenliebe betont und die Glückseligkeit für die ganze Welt predigt; wahrend die transzendenten Bedürfnisse der Seele durch die Vorstellung befriedigt werden, daB die unendliche und unerreichbare göttliche Vernunft, welche die göttliche Liebe mit umfaBt, die einzelne, von ihr getriebene Vernunft zum ewigen Fortschritt an sich heranzieht. In Wielands Idee der Existenz nach dem Tode, spiegelt sich das stolze SelbstbewuBtsein der Aufklarung, welches sich nicht damit zufrieden geben will, daB die unabhangige Betatigung der Vernunft nur geduldet wird, wie denn Wieland in einem seiner Aufsatze das beliebte Wort „T o 1 e r a n z" mit Entrüstung ablehnt.1) Gerade in der immer höhern Ausbildung der Vernunft, in dem Streben nach höchster Erkenntnis, erblickt man den einzig möglichen Weg zur Erlösung in dieser wie in jener Welt. Nicht ungeachtet seiner Erkenntnis kann der Mensch erlöst werden, wie Lessings Faust, sondern infolge dieses Triebes, wie der Faust Goethes, dessen AbschluB und Höhepunkt zu gleicher Zeit die Abklarung von den in der Aufklarung garenden Gedankenmassen darstellt Die natürliche Religion bietet eine Gottesvorstellung, welche sich nach den verschiedenen Richtungen des menschlichen Geistes gestaltet. Von naturwissenschaftlichem Standpunkt erscheint Gott als erste Ursache, von ethischem Standpunkt als vergeltende Gerechtigkeit, wahrend der Rationalismus überhaupt sich Gott als die unendliche Vernunft denkt, deren Gesetze sich die menschliche, an der göttlichen Anteil habende Vernunft durch die Besinnung auf sich selbst bewuBt wird. Sowohl Descartes und Spinoza, als Leibniz empfinden die eigne Vernunft als die Emanation der göttlichen Vernunft, vermöge deren sie sich auf die Gottheit zu be- ') Phil. Schr. Hp. XXXII/229. sinnen fahig sind; ohne daB sie je daran gedacht hatten ihre Gottesvorstellungen mit dem göttlichen Wesen zu identifizieren. Letzten Endes bleibt die Gottheit den gröBten Denkern des Rationalismus M y s t e r i u m; für Descartes, indem er die göttliche Vollkommenheit nur aus der alles Irdische charakterisierenden Unvollkommenheit zu ahnen vermag; für Spinoza, indem er die Modi Geist und Ausdehnung, nur als die dem menschlichen BewuBtsein sich offenbarenden Modi der Gottheit betrachtet, wahrend die Modi tatsachlich unendlich wie die Gottheit selbst sind; für Leibniz endlich, weil er nachdrücklich die Verworrenheit der Vorstellungen aller Monaden, mit Ausnahme der göttlichen Monade, betont. Die Gottesvorstellung der Menschen wird zu jeder Zeit auf irgend einer Form des menschlichen Gotteserlebnisses beruhen, indem der Mensch die höchsten in sich entdeckten Eigenschaften auf Gott bezieht. Daher kann ein Zeitalter, das diese höchste Eigenschaft als die Vernunft erlebt, sich nur vernünftige Vorstellungen von der Gottheit bilden. Gegen diese Gottesvorstellung laBt sich prinzipiell nichts einwenden, weil diese überhaupt von dem menschlichen Typus abhangig ist. Nur dann wird diese Form zu einer Gefahr, wenn die Vernunft sich selbst nicht als MaBstab, sondern als das M a B a 11 e r D i n g e zu betrachten anfangt. Und es ist diese Gefahr, welcher die Aufklarung erlag, indem sie damit anfing, die menschliche Vernunft absolut zu stellen. Es ist besonders die einseitig naturwissenschaftlich mathematische Einstellung des aufgeklarten Denkens, welche, nachdem man von der GesetzmaBigkeit der Naturerscheinungen auf den vernünftigen Werkmeister geschlossen hatte, zu der Anschauung weiterführen konnte, alsob man die Gottheit in seiner Schöpfung durchschaut hatte, womit man am Ende die menschliche Vernunft zur Gottheit erhoben hatte. Indem nun Wieland, wie sein Zeitalter, die Natur als Quelle der Gotteserkenntnis betrachtete, gelang es ihm nicht immer sich von dieser Selbstüberhebung der Vernunft frei zu halten. Denn auch er laBt die Gottheit zu sehr in der Natur aufgehen, wenn er diese als den Spiegel darstellt, aus welchem das Wesentliche, Unvergangliche und Göttliche in unserm Geist zurückstrahlt.1) Wie eng hier die Parallele zwischen der Gottheit und der Natur gezogen ist, wird klar, wenn man den Ausspruch neben das be- ') Agth. n. Buch VII/3. Hp. 11/20. kannte Gocthische Wort stellt, nach welchem alles Vergangliche nur ein Gleichnis ist. Goethe nimmt die Welt als S y m b o 1 für das Göttliche, für das unaussprechlich Höhere wahlt er das Kleinere als den menschlichen Sinnen zuganglich. Wer in der Welt aber die Spiegelung des Unverganglichen, Wesentlichen und Göttlichen erblickt, drückt damit den Glauben aus, daB die Erkenntnis der in ihr wakenden Gesetze gewissermaBen der Wesenserkenntnis Gottes gleichzusetzen sei; wodurch man leicht zu der Vorstellung weiter geführt wird, als ware der Mensch fahig aus der Schöpfung die Absicht Gottes zu ergründen, welche nach Wieland ein gemeinschaftliches Aufstreben nach Vollkommenheit ware.1) In solchen Ansichten steekt jene Überschatzung der Vernunft, welche diejenigen Offenbarungen der Gottheit, die sie zu erfassen vermag, als eine Erkenntnis des göttlichen Wesens überhaupt betrachtet Eine mögliche Konsequenz dieser Geisteshaltung ist der Materialismus, welche Konsequenz die französischen Denker aus ihren naturwissenschaftlichen Untersuchungen denn auch offen zu ziehen wagten. Übrigens soll man sich hüten der Aufklarung die teleologische Tendenz ihrer Gottes- und Weltanschauung zum Vorwurf zu machen. Es ist ein seelisches Bedürfnis der Menschen, in den Erscheinungen des Lebens mehr als ein willkürliches Spiel von Kraften zu erblicken, was mit gleichem Recht von dem Trieb, die mögliche Zweckbedingtheit auf sich selbst zu beziehen, hervorgehoben werden kann. Es gibt denn auch keinen, der je im Stande gewesen ware, die Zweckgedanken aus den Erscheinungen auszuschalten, sogar nicht da, wo sie nachdrücklichst als eine mehr oder weniger durchschaute Wirkung von Kraften dargestellt werden. Diese Anschauung verhüllt namlich den Zweckgedanken in die Aufgabe zur exakten Forschung. Nicht die teleologische Weltbetrachtung ware demnach an der Aufklarung zu tadeln, sondern deren Entartung in ein kleinliches Nützlichkeitssystem, das weder das GröBte nach das Geringste in den Daseinsformen oder Begebenheiten der Umwelt ohne irgendwelche Beziehung auf sich selbst zu denken vermochte; eine seichte Naturbetrachtung, die durch die bekannte Zerstörung Lissabons bis in die Wurzeln erschüttert wurde, so daB die ganze auf den Prinzipien der natürlichen Religion aufgebaute Gottesvorstellung ins Wanken geriet und von den die Gesellschaft und Welt nach andern Voraussetzungen erlebenden Generationen des ') Agth. III. Buch XVI/3. Hp. III/213. ..Sturm und Drang" wie „der romantischen Periode" mit leichter Mühe umgestoBen wurde. Wieland selbst wird durch die Tradition seiner religiösen Erziehung daran gehindert, die eigne Vernunft gleichsam auf den Thron Gottes zu erheben. Zwar leitet er die Eigenschaften Gottes in weitem Umfang von den menschlichen Eigenschaften und Wünschen her; aber er erkennt gerade darin die Relativitat der menschlichen Gottesvorstellungen an, daB sie durch die Kultur eines Zeitalters oder den Bildungsgrad des Individuums bestimmt werden.1) AuBerdem bleibt er sich dessen bewuBt, daB die relativen Vorstellungen mit dem Wesen Gottes nichts zu schaffen haben, das echt lutherisch als M y s t e r i u m bezeichnet wird. Was man mit dem Namen „G o 11" nennt, ist das G e h e i m n i s der Natur, das unaussprechliche Wort ihrer heiligsten Mysterie n, auf denen ein Schleier liegt, den noch kein Sterblicher aufgedeckt h a t.2) In „Agathodamon" beschaftigt Wieland sich eingehend mit dem Verhaltnis des gesellschaftlichen sowie des individuellen Lebens zum Christentum, worin wir ebenfalls nachwirkende Einflüsse seiner Erziehung in orthodox pietistischem Sinne erblicken sollen. Es ist im Grunde dieselbe Erscheinung wie bei Lessing und Hamann. Die orthodoxe Erziehung des Erstgenannten hat ihn sein ganzes Leben hindurch dazu befahigt einer ehrlichen Orthodoxie volles Verstandnis entgegenzubringen. Hamanns sinnliche Natur und geistige Regsamkeit gewahren zunachst der „Aufklarung und dem „Rokoko" einen machtigen EinfluB auf seine Lebensführung; aber der Moment seiner Bekehrung ist da, wenn die religiösen Eindrücke der Jugend den genialen Individualisten dem allerdings nivellierenden Bann der Aufklarung entreiBen. Nachdem er mit der Aufklarung und dem Rokoko getandelt hatte, warf er, auf sein eigenstes Selbst zurückgreifend, den Geist des Zeitalters als ein ihm Wesensfremdes von sich. Demgegenüber ist Wieland seiner Veranlagung nach der typische Vertreter seines Zeitalters, dessen Geist, nachdem er durch den Grafen Stadion denselben in seinen glanzendsten Offenbarungsformen in der französischen Kunst, Literatur und Philosophie hat kennen gelernt, ihn derart überwaltigte, daB er getrieben wurde Prosa und Verserzahlung der ') Agathdm. II/3. Hp. XXIII/17. 2) Agathdm. VII17. Hp. XXIII/241 ff. betreffenden Lebensepoche auf den frivol tandelnden Ton der übergroBen Anzahl der damaligen Erzeugnisse französischer Literatur abzustimmen. Der Parallelismus der eignen Veranlagung mit dem Geist des Zeitalters verhindert bei ihm einen plötzlichen Durchbruch der zurückgcdrangten Eindrücke der Jugenderziehung. Die ethisch höhern Werte, welche diese ohne Zweifel enthielt, setzen sich erst allmahlich durch, nachdem die überwaltigenden Eindrücke der aufgeklarten Denk- und Anschauungsformen durch die auch auf sie gerichtete vernünftige Besinnung die starkste hinreiBende Gewalt teilweise einbüBten. Hamann konnte, nachdem er das Eigenste seiner Natur erkannt hatte, eben nicht anders als die Aufklarung aufs heftigste bekampfen. Wieland dagegen blieb sich seiner geistigen Verwandtschaft mit derselben immer bewuBt. Er erkannte daher die hohen, geistigen Errungenschaften des Zeitalters an, wahrend seine konziliante Natur, welche Eigenschaft seine Kongenialitat mit dem Geiste der Aufklarung unterstreicht, ihn dazu nötigte, zu versuchen, die wertvollen Überlieferungen mit den zeitgemaBen geistigen Errungenschaften auszusöhnen. Die wertvollste derselben war das kritische Denken, das Anrecht auf selbstandige Forschung und die Befahigung dazu. Daneben bildete er unter dem EinfluB der französischen belletristischen wie philosophischen Literatur jenen gefalligen Stil aus, durch welchen er die Gedanken der Aufklarung in der Form von Romanen oder popular wissenschaftlichen Schriften der Fassungskraft aller durchschnittlich Begabten nahezubringen wuBte, was ihm das BewuBtsein gab, eine Arbeit im Dienste des humanistischen Ideals zu leisten. Hamanns barocker Stil war der Mehrheit der Zeitgenossen unverdaulich, so daB dieser der Wirkung seiner mystisch romantischen Frömmigkeit in weitere Kreise hindernd entgegentrat; wahrend Wielands durchsichtige Klarheit recht dazu geeignet erschien den „gebildeten Leser" zu fesseln, ihn dadurch vielleicht von den vertrauten Ansichten der natürlichen Religion fast unvermerkt hinüberführend zu Vorstellungen, die deren beschrankten Kreis spreng ten. Man kann bei Wieland natürlich nicht beobachten, wie bei Hamann, daB die vernünftige Religionsbetrachtung von dem intuitiven Ergreifen des Göttlichen durch den Glauben verdrangt wird. Für Wieland bleibt die vernünftige Besinnung zeitlebens das erste Prinzip aller Erkenntnis, auch der Gotteserkenntnis; aber es erwacht in ihm das BewuBtsein, daB diese Erkenntnis mit Rücksicht auf die letzten Fragen des menschlichen Herzens nur sehr unvollstandig ist. Rein vernünftig bekennt er sich wesentlich zu Tindals Ansicht, der Moral und Religion insofern als identisch betrachtet, als Moral ein Handeln nach der Vernunft der Dinge, wie sie an sich betrachtet werden, heiBt, wahrend Religion ein Handeln nach deren Vernunft bedeutet, wie sie als Wille Gottes betrachtet werden. Die erste Pflicht des Menschen ist nach Wielands Urteil die Betatigung der Vernunft in allen Fragen des Lebens, in den profanen wie in den religiösen, in welchem Urteil er sich auf Tindals Seite stellt, der es als ein Sinken unter das Tier bezeichnet, wenn der Mensch die Vernunft nicht anwendet. Vom Aufklarer Wieland wird der Glaube zurückgewiesen als eine SchwacRe des Menschen, ein geheimer Feind, den man nach Kraften zu bekampfen hat.*) Eigentlich ist nicht der Glaube an sich der groBe Feind der Menschheit; er wird es erst durch die Tatsache, welche sich nach Wielands Uberzeugung bei allen Vólkern nachweisen laBt, daB er zu leicht in den Aberglauben entartet; also zu jenem Auswuchs des menschlichen Geisteslebens wird, den die Aufklarung mit allen ihr zu Diensten stehenden Mitteln zu bekampfen suchte, da dieser mit der Vernunft zugleich die natürliche Sittlichkeit des Menschen durch die Verkümmerung des natürlichen Empfindens verfinstert.2) Erst dann, wenn die Vernunft in wissenschaftlicher und ethischer Besinnung zu ihren letzten Konsequenzen vorgedrungen ist, und gestehen soll, daB sie dem Begriff „Gott" gegenüber wie vor einem höchsten, unlösbaren M y s t er i u m steht, darf der Glaube anfangen, weil es da nur heiBt sich diesem Mysterium vertrauensvoll zu ergeben, wozu uns gerade unsre Vernunft bestimmt, da sie in ihrer Selbstbesinnung schlieBlich erfahren hat, daB in dem Höchsten, wozu sich die Menschheit zu erheben vermag, etwas von Gottes Geist lebt. Das Streben des menschlichen Geistes nach der Gottheit verlangt eine Offenbarung derselben, sobald es in sich die Unmöglichkeit erkennt, das Wesen des Göttlichen zu ergreifen. Somit bedeutete für Wieland die Erkenntnis des göttlichen Mysteriums eine W endung nach der Sphare seiner Erziehung hin, welche ihm Gott als von vornherein ') Agathdm. 1/6. Hp. XXHI/26. 2) Agathdm. ebd. über alle menschliche Einsicht erhaben dargestellt hatte; nur insofern sich Gott in Christus offenbarte, wissen wir etwas von seinem Wesen und seinen Ratschlüssen. Daher wurde Wielands Denken auf Christus hingelenkt und stellt sich der Stifter unsrer Religion immer starker in den Mittelpunkt desselben, als er für sich darauf verzichten zu müssen glaubte, die letzten Fragen nach dem göttlichen Wesen, welche am Ende sein ethisches Denken mitbestimmen sollten, auf dem Wege der bloBen vernünftigen Besinnung zu lösen. Von dem Standpunkt des aufgeklarten Denkens aus wurde diese Wendung eher gefördert als gehindert, weil die Aufklarung sich schon langst daran gewöhnt hatte, das Christentum, das sie als geoffenbarte Religion abgelehnt hatte, als n a t ü r1 i c h e Religion wieder aufzunehmen. Das Christentum als die natürlichste aller Religionen, welche die vernünftigen Anschauungen durchaus zu befriedigen vermochte, war eine beliebte Anschauung des Zeitalters, welche prinzipiell schon auf Locke zurückgeführt werden könnte, der zwar die Möglichkeit einer vernünftigen Gotteserkenntnis nicht leugnete, aber die göttliche Offenbarung im „Neuen Testament" als ein verkürztes und in höherm MaBe gesichertes Verfahren bevorzugte. Von diesem Standpunkt aus ist der Schritt zum Christentum als zu der „natürlichsten aller Religionen" kein groBer. Jedoch war die Aufklarung in ihrem weitern Verlauf bestrebt, alles als vernunftwidrig Betrachtete zu entfernen und zwar nach dem Vorgang Tindals, der lehrte, das neue Testament bestehe aus zwei ungleichen Teilen, namlich aus einer Moral gleich der natürlichen Religion, die der Wunder nicht bedarf und aus den Wundern zu Ehren Gottes. Wunder aber seien überflüssig, denn der Ehre Gottes diene die ganze Moral und die ganze Naturreligion.2) Diese Identifizierung des Christentums als der vernünftigsten und natürlichsten der Religionen mit der Naturreligion war Wieland selbstverstandlich ganz gelaufig, weil sie der Tendenz seines aufgeklarten Denkens in jeder Beziehung entspricht, Daraufhin deutet eine Umschreibung des Christentums als die vernunftmaBigste und menschlichste aller Religionen2) nicht weniger als das Urteil, nach welchem es für das Christentum, sowie für alle andern geistigen Richtungen als die beste Empfehlung gelte. ') Barth. 315. 2) Phil. Schr. Hp. XXXII/296; ebd. 319. wenn unter ihren Bekennern edle und liebenswürdige Menschen zu finden seien,1) welches Urteil nur die humanistische Seite starker betont. Seine Ansicht der Person Jesu durchbricht auch da die Grenzen der aufgeklarten Religionsanschauungen noch nicht, wo er in ihm zwar den gröBten aller Sittenlehrer, dem ewig das Verdienst bleiben wird, tiefer als alle andern in die Natur der Menschen geblickt zu haben, so daB es ihm möglich wurde das groBe Werk der sittlichen Verbesserung und Veredlung des Menschengeschlechts auf so festen Grund zu stellen, daB die Zeit dem nichts anhaben kann,2) aber in ihm dennoch nur den Sittenlehrer erblickte. Trotzdem fallt es auf, daB hier das Band zwischen Ethik und Religion, und zwar zwischen der Ethik und der christlichen Religion wiederum ganz fest verknüpft ist. Wenn er auch die Begründung des Sittlichen in dieser Auffassung der christlichen Lehre auf den Tiefblick Jesu in die Natur des Menschen zurückführt, so soll man nicht unbeachtet lassen, daB Christus seine Sittenlehre als Gesetz Gottes verkündete. Dessenungeachtet steht diese Ansicht auf der Grenze einer rein rationalistischen und einer übervernünftigen Gotteserfahrung. Entscheidend für Wielands Verhaltnis zum Christentum als zu der geoffenbarten Religion ist die Beantwortung der Frage, wie Wieland sich die Erkenntnis des „Gesetzes G o 11 e s" in Christus denkt. Noch immer blieb die Möglichkeit, daB er auch Christus von der vernünftigen und sittlichen Veranlagung des Menschen aus, auf diese Eigenschaften Gottes schlieBen laBt, womit er die aufgeklarten Ansichten direkt auf ihn übertragen hatte. Aber nachdem die Gestalt Christi soweit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gerückt ist, wendet sein Denken sich der christlichen Offenbarungsreligion zu. Christus ist m e h r als ein bloBer Sittenlehrer, er ist wirklich ein Gesandter Gottes, denn sein Gott lebte und webte in ihm, wirkte durch ihn, war der herrschende Gedanke seiner Seele, der Gegenstand seiner innigsten Anhanglichkeit; sein Bewegungsgrund, sein Zweck, sein Mittel, und was er tat, glaubte er durch Gott und bloB um Gottes willen zu tun.i) Die Erscheinung Christi, auf diese Weise beurteilt, wird nicht vom menschlichen Standpunkt, sondern von Gott aus gesehen, und Christus wird zu der lebendigen O f- ') Per. Prot. Einl. Hp. XXI/31. 2) Agathdm. VI/3. Hp. XXIII/179 ff. 3) Agathdm. VII/1. Hp. XXIII/198. fenbarung von Gottes Geist. Die Vernunft hat die Grenzen ihrer Erkenntnisfahigkeit überschritten, sodafi der G 1 a u b e mit Bezug auf die letzten Fragen nach dem Verhaltnis zwischen Gott und der Menschheit das entscheidende Wort spricht. Der Glaube ist dann nicht langer eine zu bekampfende Schwache der menschlichen Natur; vielmehr die höchste Aktivitat der Seele, welche die tiefsten Geheimnisse des Lebens zu erfassen strebt. Wielands Anschauung erinnert an die mystischen Erfahrungen, wie er sie aus den pietistischen Kreisen wenigstens vom Hörensagen ohne Zweifel kannte, welchen der Glaube im Sinne Christi gerade jene seelische Aktivitat bedeutete, welche eine sich auf inniges Gefühl gründende Gesinnung des Gemüts mit einer geistig sinnlichen Vorstellung verbindet, die eher Anschauung als ein raisonnierter Begriff zu nennen ware. Der Glaube wird da weniger ein Begreifen als ein Ergreifen dessen, was nicht begriffen werden kann noch soll1). Obwohl Wielands religiöses Denken sich damit der Anschauung der göttlichen Offenbarung, wie sie die „Bibel" und ganz besonders das „Neue Testament lehrt, wiederum nahert, ware es verfehlt daraus zu schlieBen, daB nunmehr die Vernunft vor dieser Offenbarung halt zu machen hatte. Schon das protestantische Fühlen würde Wieland, wie er in seinen „philosophischen Schriften zu erörtern sucht,2) daran hindern. Eine selbstandige Prüfung der „Heiligen Schrift ist dem Geiste des Protestantismus zufolge die nachste Pflicht derer, die sich zu dessen Bekennern zahlen. Der Protestant ist nach Wiklif Aktivbürger, der Theologe und Gesetzkundiger sein soll.s) eine Ansicht, welche der lutherischen Forderung auf Untersuchung der Schrift im Ringen nach der innern Überzeugung, so daB man nach dem „Paulinischen Worte" im Gewissen völlig versichert sei, vollkommen entspricht. Wenn Wieland also in den religiösen Fragen die Freiheit der menschlichen Vernunft verteidigt, setzt er als Verfechter der aufgeklarten Lebens- und Weltanschauung die T r a d i t i o n des Protestantismus fort. Seine Aufgabe ist in dieser Beziehung demnach eine andre und möglicherweise eine schwerere ') Agathdm. VII/1. Hp. XVIII/201 ff. 2) Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen ») Barth 262 ff. 13 als die des französischen Aufklarers und Bekampfers der herrschenden religiösen Meinungen, Voltaire. Dieser richtete sich zunachst an seine katholischen Landsleute, denen der Glaube von vornherein eine Passivitat der Vernunft bedeutete, weil von ihnen nur gefordert wurde sich vertrauensvoll der Führung einer Kirche hinzugeben, die sich im Besitz aller Heilsund Gnadenmittel urteilt. Gegen die Übergriffe dieser Kirche richtet Voltaire die Fülle seines Zornes. Für Wieland lag die Sache im Ganzen verwickelter. Nicht sowohl gegen die Kirche an sich muBte er sich wenden, als gegen eine in ihr wakende orthodoxe Rigorositat, die wesentlich mit dem Grundprinzip des Protestantismus gebrochen hatte, indem zwar nicht unbedingt eine glaubige Annahme auBerer Heils- und Gnadenmittel gefordert wurde, aber dennoch eine bedingungslose Unterwerfung der „Heiligen Schrift" gegenüber, oder vielmehr, der von ihr gebotenen Erklarung derselben. Wenn Wieland dennoch mit Bezug auf die Geistlichkeit immer wieder das Wort „P r i e ster", das in seinem Munde eine verachtliche Nebenbedeutung erhalt, anwendet, so ist damit die Empfindung verknüpft, daB eine protestantische Geistlichkeit dieser von ihm im Namen der Vernunft mit allen Waffen der wissenschaftlichen Einsicht, des Witzes, des Spottes und des Zornes bekampften Richtung im Grunde den protestantischen Aktivbürger in den katholischen Passivbürger verwandein m ö c h t e. In diesem Sinne bekampft er den richtigen Glauben, jene gewaltige Waffe in der Hand einer herrschsüchtigen Geistlichkeit. Für ihn gibt es nur eine Form des richtigen Glaubens, namlich jene, die als letztes Ergebnis einer selbstandigen, ver- nünftigen Besinnung erscheint. Gegen die auferlegte absolute Autoritat der Bibel protestiert Wieland1) und trifft darin bis auf die Gründe mit Lessings Ansichten zusammen. Wie dieser weist er darauf hin, daB die biblische Überlieferung am Ende auf Geschichte beruht. Insofern man aber Geschichte nicht auf Treu und Glauben annehmen kann, und wer könnte es, wenn das Heil der Seele als von derselben abhangig dargestellt wird, fordert er zur genauen Prüfung auf, um das Falsche vom Wahren zu trennen. Daher erhebt Wieland die schon von Spinoza befürwortete Forderung einer kritischenBibelforschung. denn es erscheint als ') Phil. Schr. XXXII/326 ff. der menschlichen Vernunft unwürdig sich im Kampfe der Meinungen auf eine Tradition oder auf Schriften zu berufen, welche im Grunde für nichts mehr als geschriebene Tradition gelten können.i) Es handelt sich dabei nicht nur um Vernunftforderungen; sondern auch um die Ehrenrettung der Gestalt Christi. Das Höchstmenschliche der Gesinnung gilt nach den humanistischen Ideen des Zeitalters doch immer als die reinste Form auch der göttlichen Offenbarung, und es sind gerade manchmal Züge reiner Humanitat, die man in der Überlieferung der Person Christi verdunkelt sieht. Die Aufgabe des wirklichen Christen ware es demnach in den Evangelien, die uns Jesu Bild vielfach verzerrt darbieten, Reines vom Unreinen und Wahres vom Verfalschten oder Eingeschobenen zu unterscheiden2). Wir dürfen nicht daran zweifeln, daB Wieland bei dieser Forderung bloB an die kanonischen Bücher des ,,Neuen Testamentes" denkt, denn es wird ein Unterschied gemacht zwischen Überlieferungen, die an sich Merkmale von Verfalschungen und Einschiebseln an sich tragen und solchen, die als blofie Anekdotensammlungen über Christus zu betrachten waren. Die Prüfung, welche er jedem selbst vorzunehmen empfiehlt, erinnert an die Methoden der modernen Bibelkritik, weil nicht nur auf das zu beseitigende Wunderbare, sondern auch auf innere Widersprüche und handgreifliche Ungereimtheiten hingewiesen wird, worauf die Aufmerksamkeit zu richten ware; obwohl es zu sehr als subjektiv berührt, wenn er sich bloB an das rein Menschliche, Verstandliche und unmittelbar zum Wahrheitssinn und Herzen Sprechende halten möchte.1) Wielands Zumutung, daB jeder diese Arbeit für sich unternehmen sollte, beweist allerdings, daB er zwar die Notwendigkeit einer Bibelkritik empfand, jedoch kaum ahnte, welche unerhörte Arbeit von Gelehrtengenerationen die erforderlichen philologischen, philosophischen, historischen, ethnologischen und archaologischen Untersuchungen zur Bibelkritik, soll diese den Wert einer objektiven Wissenschaft erhalten, fordern mochten; wahrend es auBerdem die nivellierende Tendenz der Aufklarung aufs deutlichste zeigt, wenn man die subjektiv kritische Vernunft, die sich als persönliches Wahrheitsgefühl darstellt, einem nach Zeit und Auffassung von dem modern westeuropaischen Empfinden wesentlich abweichenden Werke als MaBstab anlegen wollte. Den ') Per. Prot. V Hp. XXI/162 ff. >) Agathdm. VII/1. Hp. XXIII/197. modernen psychologischen Forschungen mag sogar die von der Aufklarung als selbstverstandlich betrachtete Verneinung des Wunders wenigstens eine zu leichtfertige Behandlung der sich hier darbietenden Probleme zuscheinen; jedenfalls eröffnet die neu aufkommende, parapsychologische Wissenschaft die Aussicht auf die Möglichkeit einer Beurteilung der sogenannten Wundergeschichten nach andern als rein naturwissenschaftlich fundierten vernünftigen Prinzipien. Wie dem auch sei, Wieland hat durch die von ihm erhobene Forderung einer selbstandigen Prüfung auch der „Heiligen Schrift" das Seinige dazu beigetragen, daB mit manchem sich auf biblische Überlieferung stützenden Wahnbegriff aufgeraumt werden konnte, was für einen groBen Teil der modernen Menschheit eine seelische Befreiung bedeutet. Aber nicht nur dem Menschen wurde durch die auch von Wieland geforderte, selbstandige Prüfung der Bibel der Weg zur Freiheit gezeigt. Wieland lehnt zwar die Bibel als absoluten Richter in Glaubenssachen unbedingt ab,i) erkennt aber gerade durch seine Forderung einer kritischen Forschung den innern Wert an. Prinzipiell macht er die Bibel als religiöse Schrift dadurch unabhangig von dem Fortschritt wissenschaftlicher und ethischer Anschauung und befreit somit den Geist, welcher einmal von den Banden der überlieferten Anschauungen erlöst, die Menschheit zu einem innigern und reinern Erleben des Göttlichen weiterzubringen vermag. Eine neue Menschheit mit fortgeschrittenen, wissenschaftlichen Anschauungen, die schwer an einem Werke trug, das absolute Autoritat zu fordern schien, indem es manchmal den fundamentalen Ansichten der menschlichen Vernunft widersprach, erhielt das Recht das Überlieferte als ihren eignen Besitz zu erwerben. Es soll Wieland als groBes Verdienst angerechnet werden, daB er auf dem Wege eines gemütlichen Plauderns seinem Zeitalter die Notwendigkeit einer selbstandigen Prüfung nicht zuletzt der religiösen Überlieferung nahe gelegt hat und daB er jedem das Recht einraumte deren Inhalt nach ernsthafter Versenkung in dieselbe sowie in das eigene Seelenleben seinem Typus gemaB aufzufassen. In diesem Zusammenhang wird es uns klar, daB der Goethische Satz, nach dem man das Ererbte zu erwerben hat um es zu besitzen, in pragnanter Kürze das Ergebnis des geistigen Ringens der Aufklarung darstellt; eine für unser Empfinden selbstverstandliche Ansicht, welcher Wieland durch die weite Verbrei- ') Phil. Schr. Hp. XXXII/326 ff. tung seiner plaudernd vorgetragenen Belehrung den Boden hat bereiten helfen. In Wielands Verhalten der Bibel gegenüber, können wir nahezu einen unbewuBten Kampf seiner aufgeklarten Ideen mit der Macht der überlieferten Vorstellungen in ihm, beobachten. Seine Ehrfurcht vor der menschlichen Vernunft treibt ihn dazu Proben einer Bibelkritik mit Rücksicht auf die Kardinalfrage der Göttlichkeit Jesu, seine Auferstehung vom Tode, zu geben. Es bedeutet allerdings für die Vernunft eine schwere Zumutung dieses einmalige Ereignis, das in der biblischen Überlieferung durch die Forderung unbedingter Tatsachlichkeit zu einem Mittelpunkt der christlichen Heilslehre gemacht wird, glaubig hinzunehmen. Durch die Auferstehung ware die Göttlichkeit Jesu mit einem Akt erwiesen, welcher der natürlichen GesetzmaBigkeit bis zu dem Grade zuwider ware, daB man nur auf das „Credo quia absurdum" zurückgreifen könnte. Dennoch war es nicht möglich sich davor zu verschlieBen, daB die Wirkung der christlichen Lehre erst n a c h Jesu Tod jene gewaltige innere Energie und Starke gewinnt, welche eine prinzipielle Umwandlung im Geistesleben der Menschheit zur Folge hatte, so daB man von diesen Beobachtungen aus sogar als überzeugter Rationalist sich versucht fiihlen diirfte an eine ü b e rvernünftige, etwa direkt göttliche Inspiration zu denken. Indem Wieland als Rationalist sich weigert die Auferstehung als eine historische Tatsache anzuerkennen, aber dennoch die ungeheure Verbreitung des Christentums nach der angeblichen Auferstehung, welche Verbreitung ihm als Kenner der klassischen Autoren nicht nur aus der biblischen Überlieferung bekannt war, als geschichtliche Realitat unmöglich in Frage stellen konnte, fühlte er sich zu einem Versuch natürlicher und vernünftiger Erklarung dieses, wie es ihm zuschien, innern Widerspruchs, gedrangt. Wir dürfen uns nicht darüber wundern, daB dieser Versuch nichts mehr als eine oberflachliche Vernünftelei bedeutet, die sich durch jenen Mangel an Ehrfurcht vor groBer Überlieferung auszeichnet, welche als eine Folge der nivellierenden Tendenz der Aufklarung die Verachtung wie den Zorn einer spatern Generati°n heraufbeschwur, die zu einem tiefern Ergreifen des Wahren als durch die bloBe Denktatigkeit gelangt war. Zu seiner vernünftigen Erklarung braucht Wieland nur wenige Zeilen, welchen er aber durch die Schilderung der letzten Lebensjahre seines ,,Agathodamon vorgearbeitet hat. Sowie dieser sich zuletzt freiwillig aus dem vollen Leben zurückgezogen hatte, um nur noch durch seine Jünger zu wirken, hatte etwa Jesu, nach einer rechtzeitigen Abnahme vom Kreuze, also vor dein Eintritt des Todes, auf die persönliche Wirkung verzichtet, indem er sich damit begnügte, gleichsam vom Verborgenen aus, seine Apostel geheimnisvoll zu inspirieren, auf welche übrigens Agathodamons Mystifikationen genau entsprechende Tatigkeit, das Paulinische Erlebnis auf dem Wege nach Damaskus zurückzuführen ware. Nur eine unbewuBte Scheu vor dem der vernünftigen Einsicht nicht gemaBen Wunderbaren vermochte Wieland offenbar zu einer solchen flachen Erklarung zu verführen, wobei ihm überdies die Empfindung für die Wirkung einer überragenden Persönlichkeit und der von einer solchen ausgehenden, hinreiBenden Kraft durchaus abgeht. AuBerdem konnte er unmöglich ahnen, was erst die neuesten Untersuchungen wahrscheinlich gemacht haben, daB die Lehre Christi nicht etwas spezifisch Neues bedeutete und erst zu seiner Zeit in einem ziemlich beschrankten Gebiet aufgekommen sei, sondern vielmehr auf Empfindungen und Anschauungen beruhte, welche schon wahrend Jahrhunderte unter gröBern und kleinern über die ganze damalige Welt verbreiteten, mit einander in gewissen Beziehungen stehenden Gemeinschaften lebendig waren. Wenn auch das Zeitalter nicht aus Erfahrung die machtige Persönlichkeit kannte, die durch die bloBe Erscheinung einem groBen Teil der Menschen seinen Geist mitgeteilt oder seinen Willen auferlegt hatte, so hatte es in sich selbst um so mehr Gelegenheit gehabt die Macht der Idee zu entdecken. Daher gelingt Wieland bei der kritischen Betrachtung der schnellen und ungeheuern Verbreitung des frühesten Christentums eine prinzipiell nicht unrichtige Erklarung, sobald er ohne die spezielle Berücksichtigung des Ursprungs nur auf die Idee selbst achtet. Von der allgemein verbreiteten Auffassung von der Einfachheit und VernunftmaBigkeit der christlichen Lehre, wenigstens in ihrer ursprünglichen, reinen Gestalt unterstützt, betont er die Möglichkeit eines weitreichenden Einflusses weniger, aber von kraftvollen Menschen lebendig, also mit voller Überzeugung, vorgetragenen Ideen. Infolge der innern Überzeugung wurden solche Ideen, obwohl sie ursprünglich der Vernunft entsprangen, dennoch mehr als kalte Begriffe; sie wurden zu einem Glauben, der denselben Geist, Kraft und Leben mitteilte, wodurch groBe Dinge verrichtet wurden.1) Diese Ansicht bezeugt zu gleicher Zeit, daB die wesentliche Kraft der Aufklarung, besonders sofern sie ein soziale Reform an- ') Agathdm. VII/4. Hp. XXIII/218. • strebte, im Grunde weniger auf den hohen Erwartungen, die man von der Betatigung der Vernunft an sich hegte, beruhte, sondern vielmehr auf dem Glauben, daB die aus der Vernunft hergeleiteten Prinzipien eine lebendige, allmahlich die gesamte Menschheit durchdringende und überwaltigende Geistesmacht bedeuteten. Um so einleuchtender wird in diesem Zusammenhang die prinzipielle Richtigkeit von Wielands Ansicht, wenn man sich daran erinnert, daB die reine christliche Lehre von ihm gern den wesentlich humanistischen Anlagen der Menschen gleichgesetzt wurde, so daB er glaubt in jedem natürlich-menschlich Fühlenden Anklang zu der Lehre voraussetzen zu dürfen, wahrend er nicht abgeneigt erscheint zu allen Zeiten überall verbreitete, kleinere oder gröBere Zentren anzunehmen, welche durch einen Trieb zu höherer Menschlichkeit auf natürliche Weise eine Art unbewuBter Verbindung ucterhielten.1) Er ahnt also durch die Erweiterung der geistigen Erfahrung des eignen Zeitalters und die Ubertragung derselben in das Altertum, durch eine Art wissenschaftliche Intuition Möglichkeiten geistiger Beeinflussung und Verwandtschaft, welche, wie wir oben erwahnten, die neuere historische Forschung zu entdecken glaubt. Psychologisch wird Wielands Auffassung noch dadurch vertieft, daB er die Jünger kraftvoll aber ,,beschrankt" sieht.2) In dieser Verbindung heiBt „beschrankt" eine Verstarkung; denn eben infolge der geistigen Beschrankung konnten sie nur die absolute Richtigkeit der eignen Ideen anerkennen, demnach mit gespannter Energie an ihrer Verwirklichung arbeiten. Ihre Aufmerksamkeit wurde nicht abgelenkt, sie ergaben sich ganz ihren nach Wielands Empfinden wenigen, aber einfachén Ideen.3) Wenn man also zusammenfaBt, daB Wieland diese Jünger als von wenigen Ideen, welche der Vernunft ohne Weiteres einzuleuchten vermochten,4) vollstandig erfüllt, betrachtete, wahrend dieselben Ideen prinzipiell schon von den menschlich reiner Empfindenden, wobei er besonders an die Anhanger der stoischen Lebensauffassung gedacht haben mag, gehegt wurden, so kann man nicht leugnen, daB Wielands Auffassung von der Verbreitung des Christentums, als von der Wirkung einschlagender Ideen, sich prinzipiell verteidigen laBt. Obwohl nun Wieland den Gedanken nicht scharf formuliert, ') Abd. 1/4 Hp. VII/29. 2) Agathdm. VII/4. Hp. XXIII/218. 3) Agathdm. a.a.O. ') Vergl. Phil. Schr. Hp. XXXII/296. dcutet doch die Umschreibung der Wirksamkeit des „Agathodamon" auf seine feste Überzeugung hin, daB die Verkündigung der christlichen Ideen in einem Moment stattfand, wo eine an ihrem Heil verzweifelnde Menschheit ihre Erlösung herbeisehnte. In den Bedingungen, die er als Ursache des angeblichen Erfolges des von ihm dargestellten, sittlichen Reformators hervorhebt, schildert er tatsachlich die Weltlage, wie sie war als diese christliche Heilslehre verkündet wurde. Agathodamon laBt er bezeugen, daB die Wirkung und der Umfang der christlichen Lehre die seinige weit überrage. Auf diese Weise arbeitet er in der Form eines Romans ein drittes, fruchtbares Moment zur Verbreitung einer Idee heraus, namlich, daB sie den seelischen Bedürfnissen des Augenblicks gerecht wird. Indem Wieland seiner im Geiste der Aufklarung wurzelnden Tendenz gemaB an erster Stelle die Erscheinungen einer vernünftigen Prüfung zu unterziehen bestrebt ist, fühlt er sich bei der Betrachtung der Verbreitung der christlichen Ideen auf festerm Boden, als wenn er der Gestalt Christi selbst gegenübersteht. Wir haben eben darauf hingewiesen, daB es ihm gelang rein vernünftig eine prinzipiell annehmliche Erklarung zu geben, der man zum groBen Teile beipflichten kann, vorausgesetzt, daB man sich vorurteilslos bemüht sich den Standpunkt eines überzeugten Aufklarers soviel wie möglich klar zu machen. Diesen Standpunkt vermochte ^Vieland selbst aber schon dann nicht vollstandig zu behaupten, als er sich nach dem Impuls dieser machtig wirkenden Ideen fragte; denn anstatt auch da den Grund in den obwaltenden sozialen Verhaltnissen zu suchen, greift er auf rein biblische Anschauungen zurück. Durch den Tod ware nur die Gestalt Christi den Jüngern entschwunden. „Er selbst lebte in ihnen fort, redete aus ihnen und vollendete durch sie das groBe Werk, welches die Geister der Finsternis durch seinen Tod im Werden zu zerstören gehofft hatten.1) Diese Sprache gehort nicht in die Sphare der Aufklarung, denn hier handelte es sich offenbar um eine übervernünftige Beeinflussung, wodurch man ohne selbstandige Besinnung, getrieben wird. UnbewuBt gesteht Wieland sich an dieser Stelle, daB er, indem er die früheste machtige Verbreitung des Christentums in einer dieser Richtung nach ihrer ganzen Gestaltung und Auffassung feindlich gegenüberstehenden Welt beobachtet, mit der bloBen Vernunft die tiefsten Ursachen nicht zu ergründen vermag. Wie- ') Per. Prot. V. Hp. XXI/151 ff. lands scharfer Gcist ahnt, daB vernünftig sich zwar die Erscheinungsformen erklaren lassen, daB dieselbe Vernunft aber nicht imstande ist, deren erste Ursache zu ergründen. Demzufolge wird der Vernunft in den verschiedenen Gebieten ihrer möglichen Bestatigung ein Ubervernünftiges vorausgesetzt. Zwar leitet sie die humanistische Ausbildung der Menschheit, aber als übervernünftiges Moment bedarf sie der angeborenen Güte des Menschen; sie bildet den Charakter zur höchsten Sittlichkeit aus, dennoch ist sie ohne seelische Veranlagung machtlos; sie erhebt sich zur Gottheit, hat sie aber ihre höchste Stufe erreicht, so erscheint Gott als ein unlösbares Mysterium und wenn sie auch die Verbreitung christlicher Ideen zu verfolgen und diese aus verschiedenen diesen Ideen günstigen Verhaltnissen teilweise zu erklaren vermag, so taucht auch hier, sobald sie nach der ersten Ursache fragt, das Mysterium auf. Wenn es nun richtig ist, daB jede Religion zunachst heiBt, „ein andachtiges sich Versenken in ein vom Menschen als ein Über machtiges zu Verehrende s", was uns als Mysterium berührt, so wird uns auch hier verstandlich, daB Wieland bei der Betrachtung der christlichen Frühzeit, durch die vernünftige Besinnung hindurch in die Vorstellungswelt seiner piëtistisch orthodoxen Erziehung zurückgeführt wurde. Der Gewinn aber bleibt, daB er erkannte wie das menschlich Wertvolle wenigstens im Geiste des Christentums wurzelte, und diese Erkenntnis wird unter allen Umstanden dazu verpflichten, im Namen der Religion erhobene Forderungen zunachst auf den höchst menschlichen Gehalt hin zu prüfen. Andrerseits weist er darauf hin, daB die rein menschlichen, dem höchsten augenblicklichen Grad der Humaniteit entsprechenden Forderungen zu gleicher Zeit dem Geiste des Christentums durchaus gemaB sein dürften. Gegen die körperliche Auferstehung als den Hauptbeweis für die Göttlichkeit Christi, straubt sich eine vernünftige Einsicht. Dennoch verschlieBt er sich keineswegs prinzipiell dem Gedanken einer direkten Einwirkung der Gottheit in Christus. Die Auferstehung aber streift unmittelbar an das Übernatürliche, wodurch der menschliche Hang zum Aberglauben derart bestarkt wird, daB er sich berufen fühlt im Namen der gesunden Vernunft Einspruch zu erheben. Eine Parallelerscheinung dazu bildet Wielands Bekampfung Swedenborgs,1) welche in den kritiklosen Spöttereien eine absolute Verstandnislosigkeit bekundet. Die ') Phil. Schr. Hp. XXXü/395 ff. Gehassigkeit, womit er Swedenborg angrcift, findet etwa daria seinen Grund, daB Wieland ahnte, wie in der menschlichen Seele noch andre Krafte tatig waren und auf die Gestaltung des Lebens wirkten als die rein verniinftigen. ^A/enn es aber solche gabe, so wüBte das Zeitalter mit denselben nichts anzufangen und sie bedeuteten vorlaufig nur die Gefahrdung eines R ü c kfalls in aberglaubische Vorstellungen, wie Wieland vollauf bei seinen Zeitgenossen zu beobachten die Gelegenheit hatte. Mit Nachdruck weist er auf eine Erscheinung hin, welche gewissermaBen alle glaubensarmen Zeiten charakterisiert, daB der Aberglaube erfolgreich an die Stelle der verspotteten Religion tritt. Dieselben Menschen, so setzt er fest, die das Dasein der göttlichen Weltregierung sowie die Unsterblichkeit leugnen, glauben an Magie und Astrologie, lassen sich die Nativitat stellen, oder befassen sich mit sonstigen Werken des Aberglaubens.i) Anscheinend beziehen sich ^Vielands Worte an der betref fenden Stelle bloB auf die Zustande des Altertums, welche er damit entschieden richtig schilderte, aber dennoch ist mit Rücksicht auf Wielands Gewohnheit, die obwaltenden Verhaltnisse in phantastische Gemeinschaften oder ins Altertum zu verlegen, die Annahme gestattet, daB es sich hier weniger um historische als urn tatsachliche Sittenschilderung handelt. Es war gerade der allgemein verbreitete Hang zum Wunderbaren, welcher Mannern wie Cagliostro ungeheuern Anhang verschaftte. Nicht zu Unrecht empfand Wieland eine solche Geistesrichtung als eine Bedrohung der Arbeit der Aufklarung, deren höchstes Ziel es war, die Menschheit von dem drückenden Zwang der Wahnvorstellungen zu befreien. Wenn er sich auch der Möglichkeit einer iibervernünftigen Triebkraft, zumal bei der Versenkung in die welterschütternde Wirkung der frühesten christlichen Predigung, wie die Apostelgeschichte sie uns darstellt, nicht zu entziehen vermag, so will er diese dennoch auf das Anfangsstadium beschranken, die Fortbildung der christlichen Lehre, besonders als Sittenlehre gefaBt, soll aber als die Aufgabe der menschlichen Vernunft betrachtet werden; eine Aufgabe, deren sich die Aufklarung von ihren Prinzipien aus bemachtigte, nachdem die Kirche selbst sich ihrer höchsten Verpflichtungen der Menschheit gegenüber entzogen hatte. Diese Auffassung widerspricht dem naturwissenschaftlichen Den- •) Agathdm. V/3. Hp. XXIII/125. ken der Aufklarung keineswegs. Denn gerade so, wie Gott durch eine einmalige Tat das Weltall schuf, es dann aber den immanenten Entwicklungsgesetzen überlieB, hatte er einmal in Christus seinen sittlichen Willen offenbart, den dieser seinen Jüngern weitergegeben; aber wenn durch diese einmalige Handlung das göttliche Sittengesetz gleichsam erschaffen ist, so bedeutet es die höchste Aufgabe der menschlichen Vernunft es zu erfassen, seine Wirkung zu beobachten und die reine Offenbarung desselben nach Kraften zu fördern.1) Der Erscheinung Christi glaubt er eine direkte göttliche Einwirkung nicht absprechen zu dürften. Abgesehen von dem flachen Erklarungsversuch des Auferstehungswunders können wir denn auch in seinem Denken über das Christusproblem dieselbe Entwicklung wie in seiner Gottesvorstellung verfolgen. Weil aber sein Denken, wo es sich mit den Fragen über das Verhaltnis zwischen Gott und Welt beschaftigt, getragen wurde von den aus den groBen metaphysischen und ethischen Systemen des Rationalismus hervorgehenden Ansichten und Empfindungen, wurde es eben dadurch geschützt die Sphare des Wissenschaftlichen zu verlassen. Er popularisiert die Ideen des Rationalismus, ohne die Verbindung mit dem naturphilosophisch fundierten Deismus zu verlieren. Nirgends sinkt er herab zu einer Vernunftphantastik, wie dem Auferstehungsproblem gegenüber; vielmehr steigt es sogar, von seinem gesteigerten Empfindungsleben, das er in seinen vernünftigen Erörterungen der verschiedensten, wissenschaftlichen, ethischen soziologischen und religiösen Fragen mühsam zurückdrangt, getragen, über die kühle Vernünftigkeit des durchschnittlichen Deismus weit hinaus, indem es sich schlieBlich zum Gestandnis getrieben fühlt, daB die Gottheit sich der menschlichen Vernunft zwar in Natur und Welt offenbart, das Wesen Gottes aber als unlösbares Mysterium über alle menschliche Einsicht unendlich erhaben ist. Indem Gott jedoch entweder Ausgangspunkt oder AbschluB des naturwissenschaftlichen oder ethischen Denkens bedeutete, steilte der Mensch sich der Gottheit unmittelbar gegenüber, so daB man logisch eines Mittlers nicht bedurfte. Demzufolge wurde die Gestalt Christi niemals zu einem Mittelpunkte metaphysischer Untersuchungen. Höchstens faBte man Jesu als eine historische Gestalt, als den gröBten Sittenlehrer der Menschheit. Vor diesem empfindet man Ehrfurcht als vor einem ') Vergl. Phil. Schr. XXXII/291, 319. der besten Sterblichen, der je lebte1) so daB man alle Berichte, dié der gemeinen Vernunft widersprachen, vernünftig zu erklaren suchte, wenn man es nicht vorzog, sie einem bewuBten Priesterbetrug zuzuschreiben. Wieland versucht das Christentum mit dem vernünftig fundierten Deismus auszusöhnen, indem er betont, daB der wahre Deismus dem echten von allem Magismus und Damonismus und von allen Schlacken der barbarischen Jahrhunderte gereinigten Christentum sehr nahe sei.2) Im Banne des aufgeklarten Denkens erblickt Wieland in Jesu einen Denker, der kraft seiner vernünftigen Besinnung eine Vernunftreligion wie der Deismus verkündet hatte, damit das Ringen der Aufklarung um die Befreiung des menschlichen Geistes, als eine Fortsetzung der Erlösungsarbeit Christi darstel 1 e n d. Dennoch kann er, wenn bei seiner Beschaftigung mit dem Christentum die Gestalt Christi vor sein Geistesauge tritt, sich unmöglich dem Eindruck verschlieBen, daB die Predigung Jesu mehr als die Schöpfung einer Vernunftreligion bedeutet. Es handelt sich da nicht um Erklarung oder Reinigung, sondern an erster Stelle um die Verkündigung eines höhern Prinzips, eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Realitat. Dann empfindet er, die neutestamentliche Darstellung zu der seinigen machend, Christus als einen, der gekommen sei, das Reich des Lichtes, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Unschuld und der Liebe, d.h. das Reich Gottes unter den Menschen aufzurichten.3) An diese Empfindungen anschlieBend werden aber Christus und das Christentum weit mehr als höchster Sittenlehrer und die natürlichste der Religionen. Sie werden die Offenbarung einer Kraft Gottes, welche die Umgestaltung der menschlichen Anschauungen und der gesellschaftlichen Verhaltnisse hervorbringt. Er kann die Lehre Christi dann aber nur als eine beinahe magische Gewalt verstehen, die er auf die Gemüter der Menschen, die um ihn waren, ausgeübt haben muB.4) Aus alledem geht hervor, daB Wieland sich auch der Gestalt Christi gegenüber den Eindruck nicht zu entziehen vermag, daB die kritische Vernunft nicht imstande ist, die letzten Fragen zu ') Agathdm. VII/1. Hp. XXIII/197. 2) Gebrauch der Vernunft in Glaubenss. Hp. XXXII/298. 3) Agathdm. VI/3. Hp. XXIII/178. *) Agathdm. VI/3. Hp. XXIII/178. lösen. Die Anschauungen der pietistischen Erziehung kehren, durch die rationalistischen Kritik aber von jeder flachen Stimmungsempfindelei gereiriigt, zurück, sowie er in Anbetracht dieser für ihn höchsten Anschauung der Christusgestalt auf jeglichen faden Erklarungsversuch verzichtet. Es bleibt ihm nur eines übrig, die Annahme, daB in Christus der göttliche Geist wirkt, welcher Geist auf die Jünger übertragen wird. Vielleicht ahnt Wieland bei solchen Betrachtungen etwas von dem, was die neuere Theologie das Damonische in Christus nennt. Dieses Damonische dürfte er gerade darin erblicken, daB von Christus eine umgestaltende Kraft ausgeht, deren Wirkung die Schöpfung einer höhern Norm der Sittlichkeit weit übertrifft. Das Christentum scheint ihm eine Art neuer Menschen zu bilden.1) Von diesem Standpunkt aus betrachtet, bedeutet das Christentum für den Aufklarer mehr als nur die natürlichste der Religionen. Dies ist bloB ein negativer, aus der vernünftigen Weltbetrachtung hervorgegangener Begriff. Durch die Ausbildung der Vernunft hat man versucht den menschlichen Geist von religiösen Wahnvorstellungen zu befreien, indem man ihn daran gewöhnte, das Göttliche auf dem Weg der vernünftigen Besinnung zu erkennen. Die vernünftige Gotteserkenntnis ist die höchste Forderung wie das höchste Ideal. Wenn man nun das Christentum zur natürlichsten der Religionen proklamiert, stellt man es gleichsam als das Muster einer vernünftigen Religion dar. Logisch betrachtet, bedeutet diese Auffassung des Christentums dessen Vernichtung. Anstatt einer wirkenden Kraft erscheint es als die praktische Verwirklichung des auf wissenschaftlichen Einsichten beruhenden Deismus. Sobald aber das Christentum in der Empfindung, daB es neue Menschen bildet, dynamisch gefaBt wird, kann man jeden sittlichen Fortschritt der Menschheit als eine neue Offenbarung der lebendigen Kraft des christlichen Geistes erleben, Dieser Geist will, die Menschheit erlösend immer wieder über sich selbst hinausführen, so daB jede geistige Bewegung, welche von innerer Ergriffenheit getrieben, die Gesamtheit des menschlichen Geschlechts oder gewisse Gruppen desselben, die man als die elendesten der Gesellschaft empfindet, zu erlösen strebt, dieses Streben als Versuch zur Verwirklichung der vom Geiste des Christentums erhobenen Forderungen ansehen darf und wird. Sowie die Aufklarer in Christus den gröBten der Sitten- i) Per. Prot. V. Hp. XXI/145. lehrer erblickten, empfanden die vom Geiste des Sozialismus Ergriffenen ihn als den ersten der Sozialisten, wobei zu bemerken ware, daB sich in unserm Jahrhundert eine neue Synthese zwischen einem sozialistischen Idealismus und einem auBerkirchlichen, um die tiefere Erfassung des christlichen Geistes ringenden Christentum zu vollziehen scheint. Im Geiste von Mannern wie Wieland bahnte sich jedenfalls diese Annaherung zum Christentum, oder vielmehr zum innern Geiste des Christentums, an. Die Aufklarung, die den reinen Humanismus als ihr höchstes Ziel zu verwirklichen suchte, betrachtete gerade die Humanitat als die Verwirklichung der höchsten, christlichen Anforderungen. Daher kann Wieland der Hoffnung Ausdruck geben, daB das Christentum, das einmal die Humanitat stiftete, nunmehr die Retterin derselben sein dürfte.1) Durch seine kritischen Betrachtungen der ersten Perioden des Christentums und der Überlieferung bezüglich der Gestalt Christi, fühlte Wieland sich demnach gezwungen im Christentum ein übervernünftiges Element anzuerkennen, das sich in Christus selbst, sowie in dessen überaus machtigem EinfluB auf die Gesinnung seiner Jünger offenbarte. Vor dieser Anerkennung des Übervernünftigen macht seine Kritik keineswegs halt; sogar nicht vor den Überlieferungen, die sich auf Jesu selbst beziehen, weil er bei einer genauen Prüfung gerade auf unüberbrückbare Gegensatze zwischen dem Geist und dem Zweck Jesu, sowie auf eine auffallende Disharmonie zwischen verschiedenen AuBerungen stöBt, so daB es ihm kritisch unerlaubt erscheint, diese auf eine und dieselbe Person zurückzuführen.2) Wieland bezeichnet diese AuBerungen nicht naher, aber in Anbetracht seiner philanthropinistischen Gesinnung können wir annehmen, daB er auf gewisse Forderungen und heftige Erwiderungen hindeutet, welche durch ihren direkten Gegensatz zu den natürlich menschlichen Lebensauffassungen und Empfindungen zu einem lebhaften Widerspruch reizen. Es sind wahrscheinlich jene Worte, welche eine moderne Theologie zu der Annahme zeitweiliger, damonischer Besessenheit geführt haben. Als wahrhaft christlichen Geist kann Wieland nur die höchste Forderung des Humanismus anerkennen; ohne Zweifel hat er für sich nur die Züge hingebender und aufopfernder Liebe und die dazu auffordernden Gebote als reine AuBerungen des in Christus sich offenbarenden, göttlichen Geistes empfunden. I) Agathdm. VII/6. Hp. XXIII/236. ') Vernunft in Glaubenss. Wie dcm auch sei, seine Kritik des Christentums wird erst recht produktiv, wenn er nach der Befreiung der Gestalt Christi von der Uberlieferung sich damit befaBt, das überlieferte Christentum mit dein Geiste des „Stifters unsrer Religion" zu vergleichen und in Verbindung damit das Verhaltnis zwischen Christentum und Staat naher beleuchtet. Wieland setzt voraus, daB man ohne Gefahr schwerer Verirrung nicht von dem Institut auf den Stifter, oder umgekehrt von dem Stifter auf das Institut schlieBen darf.1) Seiner Uberzeugung gemaB hat das Christentum in der Welt eine hohe Aufgabe zu erfüllen, und zwar diejenige, welche zugleich das Ideal der Aufklarung bedeutet, die Ausbildung der Menschheit zu den höchsten Formen der Humanitat, denn in seiner lautersten Reinheit gefaBt, ware es das höchste Ideal der moralischen Güte und Vollkommenheit der menschlichen Natur.2) Wir bemerken, daB sich in Wieland eine Synthese zwischen der verstandesmaBigen Ethik der Aufklarung und der von innerer Empfindung getragenen Christusauffassung des Pietismus vollzogen hat, demzufolge nunmehr die ethischen Ideale des Rationalismus als die Forderungen des reinen Christentums auftreten. Es bekundet eine tiefere Ergriffenheit des Gemüts, wenn die als vernünftige Er~ wagungen erhobenen, humanistischen Forderungen nunmehr von christlichem Standpunkt aus wiederholt werden. Wenn Wieland aber im Namen des Christentums oder im Namen Christi seine Anklagen gegen das Christentum richtet, so erreicht er damit nicht bloB diejenigen, welche sich zu der Gedankenwelt der Aufklarung bekannten. Strebte der Humanismus der Aufklarung nach Kosmopolitismus, nunmehr wird darauf hingewiesen, daB dieser Kosmopolitismus nur eine Folge einer rein christlichen Gesinnung sie; denn die erste Pflicht derer, die sich zu der „mildesten und menschlichsten aller Religionen" bekennen, ware, wie Wieland es ausdrückt, sich als Kinder eines Vaters und Glieder eines Staates zu lieben und zu behandeln.3) In dieser uns etwas altertümlich anmutenden Form drückt Wieland nur die in unsern Tagen im Namen des Christentums immer lauter werdende Forderung zur Verbrüderung der Menschheit durch die Ausschaltung des Krieges aus. Genau wie die übergroBe Mehrheit in unsrer Zeit empfindet Wieland den ungeheuern Abstand zwischen dem Ideal und der Realitat. ') Agathdm. VII/1. Hp. XXIII/196. ') Agathdm. VII/6. Hp. XXIII/233. 3) Phil. Schr. Hp. XXXII/213. Die Verwirklichung dieses Ideals scheint ihm nur möglich auf dem Wege einer unendlich langsamen, fast unmerklichen Evolution.1) Wenn Wieland das Studium der Geschichte empfiehlt als Mittel, den Menschen kennen zu lemen, so beweisen seine AuBerungen über den Leidensweg der Menschheit nach der Einführung des Christentums, daB er selbst imstande gewesen ist, die Geschichte nicht nur als die Darstellung der Vergangenheit, sondern zugleich als die Spiegelung des menschlichen Schicksals überhaupt zu lesen. Natürlich ist die Prophezeiung, welche er Agathodamon aussprechen laBt, nur eine auf das Wesentlichste zusamraengedrangte Wiedergabe des nicht zum geringsten Teile im Namen Christi durchwanderten, blutigen Schicksalswegs des europaischen Menschen; aber gerade durch die typisierende Darstellung berührt sie uns von neuem als eine Prophezeiung, und nunmehr von Wieland persönlich. Wenn wir das Christenturn bald als Vorwand, bald als Deckmantel von Verbrechen und Greueln bezeichnet hören,2) so können wir aus unsrer jüngsten Vergangenheit ebensowenig wie aus unsrer Gegenwart das Recht zum Widerspruch herleiten. Es gibt leider auch in unsern Tagen ein Christentum, das seine wichtigste Aufgabe in der Verurteilung jeder im Namen Christi erhobenen Forderung zur bloBen Menschlichkeit und in der Verteidigung von gesellschaftlichen Verhaltnissen und Erscheinungen zu suchen scheint, die auf den ersten unbefangenen Bliek den Eindruck machen müssen die Elemente des Christentums zu verhöhnen; ein Christentum, das die Richtigkeit von Paulsens Auffassung, nach der die evangelische Gestalt desselben für unsre Verhaltnisse nicht taugé, zu beweisen scheint. Wenn Wieland die staatlichen Verhaltnisse seiner Zeit ins Auge faBt, so kann er nicht umhin, im Christentum eine antistaatliche Tendenz zu entdecken. Das von Christi angekündigte und allen Menschen verheiBene Reich Gottes ware nichts weniger als eine politische Universalmonarchie,3) ebensowenig wie Christus der Stifter einer neuen, politischen und mit dem Staate in gesetzmaBigen Beziehungen stehenden Religion gewesen sei.4) Das Christentum, das in den modernen Staaten unangefochten gepredigt wird, ist wesentlich ein solches, das sich mit dem Staate ') Agathdm. VII/6. Hp. XXIII/238; Vergl. Göttergspr. 8. Hp. 1X167 ff. 2) Agathdm. VII/5. Hp. XXIII/226. 3) Per. Prot. VIII. Hp. XXII/62 ff. «) Agathdm. VII/1. Hp. XXIII/201. verbunden hat und demnach entweder amtlich oder tatsachlich ein Staatschristentum. In dieser Gestalt hat es in vielen Fallen vollstandig aufgehört, das Gewissen der Menschheit oder das Gewissen des Staates zu sein. Die Kirche wurde im GroBen und Ganzen zu der ergebenen Dienerin der staatlichen Gewalten und das von ihr gepredigte Christentum bedeutet, sobald es dazu berufen wird, sich über Fragen, Gesetze oder Bedrangnisse auszusprechen, die sich auf ein Volk in seiner Gesamtheit beziehen, besonders in schicksalentscheidenden Angelegenheiten nicht viel mehr als eine göttliche Sanktion der obrigkeitlichen MaBnahmen, einerlei, ob diese unter Umstanden etwa in direktem Widerspruch zu den Handlungen stehen, die man von Staaten, die sich christlich nennen, zu erwarten berechtigt ware. Der Staat bedient sich der Religion auf eine nicht viel andre Weise, als daB sie die behördlichen Gesetze und MaBnahmen dem Volke gleichsam als unmittelbare, göttliche Inspiration darstellen soll, also wie es Wieland von den altesten Gesetzgebern annimmt. Den innern Widerspruch zwischen dem Geiste des Christentums, dessen erstes Gesetz die Verbrüderung der Menschen durch den Hinweis auf ihre Einheit in Gott ware, zu dem agressiven und sich selbst zentral stellenden Charakter des Staates, brachte Kierkegaard dahin, sich erstaunt nach der Möglichkeit zu fragen, wie die Verkünder der wesentlich antistaatlichen, christlichen Religion zu gleicher Zeit hohe und höchste Staatsbeamte sein könnten, wie es in nicht geringerm MaBe seine Verwunderung erregt, daB die Wahrheiten der christlichen Lehren sich der allgemeinen Achtung und des unbedingten staatlichen Schutzes freuen dürfen. In der Tat ist eine Wahrheit, zumal wenn sie dem Interesse der Machtigen zuwider ware, wie das manchmal mit einer um den innern Geist ringenden Auffassung der christlichen Lehre der Fall sein dürfte, zu keiner Zeit geradezu popular gewesen, so daB Kierkegaard sich zum Zweifel an der Reinheit des unter dem Schutz des Staates gepredigten Christentums berechtigt glaubt. Gerade in unsern Tagen bewegt der groBe Abstand, den man zwischen dem Geist des Christentums und der Form, wie es sich praktisch offenbart zu spüren meint, Theologen der verschiedensten Richtungen dazu, sich auf den Geist unsrer Religion zu besinnen. Und wie es denen immer erging, welche sich berufen glaubten der Welt den innern Gehalt des Christentums vorzuhalten, haben auch sie unter der Verfolgung der Behörde zu leiden, wenn auch in den meisten Fallen nicht direkt. 14 Wieland hat es gleichfalls verstanden, daB ein absoluter Friede zwischen der Kirche und dem Staat nicht eben beweist, daB von der Kirche das Christentum in seiner reinsten Gestalt gepredigt wird. Schon Arnolds aufrichtige Kirchen- und Ketzergeschichte mag es gewesen sein, die wiederum seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache richtete, daB diejenigen, die von der offiziellen Kirche verfolgt wurden, sehr oft solche waren, die versuchten, den Forderungen des Christentums bis zu den letzten Konsequenzen gerecht zu werden. Indem er dieses beobachtet, gelangt er zum Ergebnis, daB es den Jüngern eines Meisters wie Christus war, in der Welt übel gehen solle, so daB es ein schlechtes Zeichen unsrer Lauterkeit und Gleichförmigkeit mit ihm sei, daB uns die Kinder dieser Welt seit geraumer Zeit so viel Ruhe lassen.1) Wo wir wiederholt daraufhinwiesen, wie Wieland das enge Bündnis, das die Kirche mit den staatlichen Machten geschlossen hat, beanstandet, derart, daB die soziale Arbeit der Aufklarung in seinen Augen geradezu als eine Übernahme der von der Kirche der Menschheit gegenüber vernachlassigten Pflichten erscheinen konnte, ist es kaum notwendig hervorzuheben, daB diese Auffassung sich nur anscheinend bloB auf die Verhaltnisse zur Zeit des aufkommenden Christentums bezieht; um so mehr, als sie überhaupt weit besser angebracht ist auf die Zustande, da das Christentum zur herrschenden Religion geworden war- lm Christentum empfand Wieland zunachst eine die Menschheit allmahlich zu höhern Stufen emporführende, evolutionare Gewalt. Diese laBt sich natürlich nicht ableugnen, wenn man darauf achtet, wie viele sittlichen Vorstellungen unter dem EinfluB des Christentums entstanden und in der modernen Menschheit zum selbstverstandlichen Empfinden der Gemeinschaft geworden sind. Wieland hat richtig geurteilt, wenn er bemerkt, daB das Christentum vollstandig neue Menschen bildet,2) denn es liegt zwischen dem vorchristlichen und dem christlichen Empfinden des europaischen Menschen eine uniiberbrückbare Kluft. Im Gegensatz zu der Auffassung des Altertums wurde bei uns der Begriff Humanitat zu einem sittlichen Begriff; allgemein menschliche Forderungen können wir mit demselben Rechte im Namen der Humanitat als im Namen des Christentums erheben. Die Achtung, welche der Mensch prinzipiell vor dem Mitmenschen empfindet, ■) Per. Prot. V. Hp. XXI/151 ff. 2) Per. Prot. V. Hp. XXI/145. bedeutet tatsachlich eine Umgestaltung des menschlichen Wesens, die in unsrer Welt nur auf die allmahliche Wirkung der christlichen Ideen zurückzuführen ist. Dennoch kann man daran zweifeln, ob die machtigste Wirkung des Christentums gerade einer Evolution zu verdanken ware. Wieland selbst widerspricht sich schon teilweise, wenn er bei der Festsetzung dieser evolutionaren Gewalt hinzufügt, dafi die Menschheit allerdings durch Tiefen des sittlichen Verfalls hindurchgehen muB, wo jede Verbindung mit der christlichen Idee gelost erscheint.1) Aber gerade in solchen Momenten besinnt man sich auf die höchsten Forderungen des Christentums, dessen Wirkung dann nicht evolutionar, sondern revolutionar ist. Die gröBte Kraft des Christentums, sowohl im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben offenbart sich als revolutionar. Diese revolutionare Gewalt ist es, welche, wenn sie im Leben der Gesellschaft durchbricht, die Verfolgung seitens der Obrigkeit entfesselt. Wieland empfand das Christentum ganz gewiB als revolutionar, als er die Tatsache auf sich wirken liefi, wie es in dem Glauben einer zunachst verachteten Sekte das Mittel und das Werkzeug gefunden, die gröBte aller Revolutionen hervorzurufen.2) Wenn Wieland vom Christentum die Rettung der Humanitat erhofft, so ist das doch nur möglich, wenn es der Menschheit, gerade manchen in dessen Namen sanktionierten gesellschaftlichen Einrichtungen und Vorstellungen gegenüber, einen neuen Aufschwung ethischer Begeisterung zu erteilen vermag. Christliche Revolution bedeutet immer wieder die Erlösung des Geistes der Evangelien von einer überlieferten Vorstellung. Dazu wird unter allen Umstanden nur der Mensch befahigt sein, der entweder kritisch denkend oder intuitiv empfindend, je nach seiner geistigen oder seelischen Veranlagung, die Evangelien von neuem auf ihren wahren Gehalt zu prüfen weiB. Es ist die Tragik der Menschheit, daB alle lebendige Kraft im Verlauf der Zeit erstarrt, daB alles Neue sich teilweise mit dem Alten und Anerkannten assimiliert und gerade dadurch zur Herrschaft gelangt. Demzufolge kann das Neue zu allen Zeiten nur geboren werden aus dem Trieb nach Befreiung von denen, die die obwaltenden gesellschaftlichen Verhaltnisse und die daraus hervorgehenden Ansichten nur als eine Verkümmerung oder wenigstens als eine ungerechte Beurteilung der eignen Bedürfnisse empfinden miissen, so daB ihr Leiden zu- ') Agathdm. VII/5. Hp. XXIII/226. 2) Per. Prot. VIII. Hp. XXII/64. letzt zu Widerstand reizt, wahrend diejenigen die notwendige Fortbildung herbeiführen, welche durch ihre Besinnung auf dieses Leiden eines bisher immer groBen, wo nicht des gröBten Teiles der Menschheit, von innerer Ergriffenheit gedrangt, sich des Schicksals der menschlich Zurückgesetzten annehmen. Aber jedes wirkliche Mitleid mit den Leidenden und Be~ drückten ist im Grunde eine AuBerung christlichen Geistes. Dann sind aber auch diejenigen, welche geradezu im Kampfe mit Christentum und Kirche um die Erlösung der Menschheit ringen, Trager der christlichen Gesinnung. Die Aufklarung, die von ihren Prinzipien aus diesen Kampf gekampft hat, durfte sich ungeachtet ihres scharfen Gegensatzes zu der herrschenden Orthodoxie wesentlich als von den höchsten Idealen des Christentums getrieben fühlen. In dieser Zuversicht wurzelte Wielands Weitherzigkeit, die ihren Ausdruck findet in den Worten : „Meiner Vorstellungsart nach könnte ihm, — Christus — einer sehr unahnlich scheinen, der im Grunde mehr mit ihm gemein hatte, als ein andrer, der jeden Tritt mit sklavischer Angstlichkeit in eine seiner FuBstapfen setzte."1) ') Agathdra. VII17. Hp. XXIII/240. IX. FÜRST UND GESELLSCHAFT. Es erscheint einigermaBen auffallend, daB wir unsre ethischen und padagogischen Betrachtungen, wozu Wielands Schriften veranlaBten, mit seinen Ideen über die Fürstenerziehung abschlieBen. Wenn wir uns Wieland als Padagogen vorstellen, rückt gerade der Fürstenerzieher am Weimarer Hof derart in den Mittelpunkt unsres Interesses, daB wir eher geneigt waren, den diesbezüglichen Abschnitt als einen der ersten unsrer Abhandlung zu erwarten. Dennoch lehren uns unsre Untersuchungen, wenn wir darin Wielands Verhaltnis zu den sozialen Fragen seines Jahrhunderts nur annahernd richtig erfaBt haben, daB seine Betrachtungen über die notwendige Erziehung eines Fürsten nur den AbschluB bilden können. Wieland ist kein Padagoge in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes; er hat die Wissenschaft der Padagogik auch nicht mit einem einzigen Beitrag bereichert. Er hat weder ein System geschaffen, noch sich mit den bestehenden Systemen kritisch auseinander gesetzt. Wir haben versucht nachzuweisen, wie in seinen lehrhaften Romanen, in seinen popular wissenschaftlichen Schriften eigentlich alle geistigen Strömungen des Zeitalters sich kreuzen, ohne jedoch eine innere Verbindung einzugehen. Er ist bis ins Innerste seines Wesens vom Geiste der Aufklarung ergriffen und fühlt sich berufen ihre Ergebnisse den weitesten Kreisen zu übermitteln und durch eine kritische Behandlung der verschiedensten Lebensfragen seine Zeitgenossen zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung zu bewegen. Die innere Unruhe, die sich seiner selbst wie seines Zeitalters bemachtigte, mag für ihn einen bestimmenden Faktor gebildet haben. Die damalige Menschheit fühlte sich an der Grenzscheide zweier Zeitalter. Eine Periode der menschlichen Entwicklung hat sich überlebt; feste Stützen, welche sich Generationen hindurch bewahrt hatten, fingen zu wanken an, wahrend man das Herannahen eines unbekannten Neuen ahnte und als eine Bedrohung empfand. Die Unruhe des Zeitalters hatte sich ausgelebt in der Ausgelassenheit und Frivolitat des Zeitalters Ludwigs XV., und als eine Welt von den fortwahrenden Ausschweifungen, die ihren Untergang nur noch schneller herbeizuführen geeignet waren, endlich ermattete, entstand eine Stimmung wehmütiger Trauer, die sich gesellschaftlich offenbarte als eine sentimentalische Hinwendung zum einfachen Familienleben des guten Volkes und künstlerisch wie in manchen Werken Fragonards in einer seltsamen Wehmut, die das Rokoko sonst nicht kannte. Man fühlt, der lustige Faschingstaumel naht seinem Ende. Eine Vorahnung durchzieht die Welt, daB die Zukunft etwas Dunkles berge. Die Rosen, die einst so dufteten, sind verwelkt. Der Aschermittwoch beginnt mit Diat, BuBe und Fasten.1) Diese von ihren Ausschweifungen ermüdete und gealterte Welt wandte sich der Tugend zu, welche nunmehr in Schriften jeglicher Art verherrlicht wird. Sogar die Kunst stellt sich in ihren Dienst; sie soll vor allem belehren und bessern. Es gilt dies von der dramatischen Kunst; wie vom Roman und nicht weniger von der Malerei, in welcher Greuzes Darstellungen eines glücklichen, beschrankten Familienlebens, sowie seine büBende Magdalena der reine Exponent der Empfindungen des Zeitalters sind. Die Verherrlichung der Tugend in Wielands Schriften laBt sich selbstverstandiich zum Teil auf diese Zeitstimmung zurückführen; besonders die Tugendmahnungen in den Jugendschriften entbehren nicht einer gewissen Verlogenheit, welche in dem erwahnten Gemalde von Greuze2) unangenehm berühren dürfte. Ahnlich wie seiner Magdalena, ungeachtet der Haltung der buBfertigen Sünderin, in der ganzen Darstellung eine sinnlich pikante Note nicht abgeht, bewegen sich auch Wielands Jugendmahnungen zur Tugend zu sehr um die Darstellung der Gefahren des anmutig Erotischen, um den Eindruck des durchaus Wahrhaften zu hinterlassen. Daneben scheint die übermaBige Heftigkeit, womit von einem Tugendhelden wie Arasambes3) der schwankende Freund angegriffen wird, eher von einem Versuch zu zeugen widerstrebende Elemente zu überschreien, als von festen Grundsatzen, von denen aus dieser die Tugend des Irrenden leiten könnte. Wie wir aber gl&uben in unsern Untersuchungen nachgewiesen zu haben, können wir bei Wieland ein ernsthaftes Ringen mit ethischen Problemen und ihrem Verhaltnis zu der Praxis des Le~ bens und zu den höchsten wie zu den tiefsten Fragen des menschlichen Herzens, welche in der Religion zum Ausdruck kommen, unmöglich in Abrede stellen. Obwohl er von einer auffallenden ') Muther 111/56. 2) Vergl. Muther 111/65. 3) Araspes und Panthea. Unsicherheit im ethischen Empfinden, wclche der Gcist des Rokoko erzeugte, ebenso wenig wie z.B. Rousseau frei geblieben ist, macht doch die Gesamtheit seiner Schriften den Eindruck, daB er sich tatsachlich gedrangt fühlte, der in verschiedener Weise sich offenbarenden Immoralitat seines Zeitalters gegenüber 211 versuchen, die weitesten Kreise für eine tiefere, ethische Lebenshaltung zuganglich zu machen. Angesichts der MiBverhaltnisse, welche der Mangel an ethischem BewuBtsein hervorrief, war es seine ethische Überzeugung, daB man eine allgemeine Verbesserung der Zustande nur von einer Menschheit erwarten dürfte, welche durch die vernünftige Einsicht in die Folgen ihrer verfehlten Handlungen fahig und demzufolge auch bereit ware, sich durch die Hinwendung zur Tugend zu einer höhern Stufe der Humanitat zu erheben. Wir haben beobachtet, daB Wielands soziale Bemühungen eine Erziehung der Menschheit durch die Vertiefung ihrer vernünftigen Einsicht und die entsprechende Verinnerlichung ihres ethischen und religiösen Lebens bezwecken. Wie er hoffte, sollte dies die Erlösung der ganzen Menschheit zu wirklicher Freiheit zur Folge haben, weil eine Gesellschaftsform, die der innern GesetzmaBigkeit entspricht, die endgültige Erfüllung seines Ideals darstellt. Den Ernst seiner ethischen Bemühungen kann man um so weniger anzweifeln, wenn man erwagt, daB er von dem hohen Wert der Errungenschaften des menschlichen Geistes durchdrungen war, die er infolge der herrschenden Willkür mit einem möglichen Untergang bedroht sah. Von diesem Standpunkt aus soll man Wielands Vorschlage und Erörterungen über die vernünftige, ethische und religiöse Erziehung der Menschheit betrachten, aber nicht weniger seine Gedanken über die Fürstenerziehung, welche im Grunde nur eine auf ein einzelnes Individuum beschrankte Erziehung nach dem MaBstab und den Anforderungen der sich auf die Gesamtheit richtenden sozialen Erziehung bedeutet. Fürstenerziehung und soziale Erziehung bilden bei ihm ein Korrelat. Durch eine von den Einsichtsvollsten und Gewissenhaftesten geleitete Erziehung soll dem Fürsten die allumfassende Einsicht mitgeteilt werden, welche der Gesamtheit seiner Untertanen nur teilweise und nach Bedürfnis zuTeil wird. In Leibniz' Sprache ware der Fürst im Staatsieben die höchste Monade, welche die reinen Vorstellungen in sich tragt, wahrend die Untertanen nur mehr oder weniger verworrene Vorstellungen besitzen können, die stufenweise durch die E r z i e- hung z u einer erforderlichen Klarheit z u entwickeln sind, so daB jedes einzelne Individuum von seinem Standpunkt aus von der vernünftigen Notwendigkeit der Gesamtheit innerlichst überzeugt ist. Die meisten seiner Vorschlage zur sozialen Reform werden von Wieland als MaBnahmen seitens eines freigeistigen, aufgeklarten Fürsten dargestellt. Aus diesem Verfahren geht direkt hervor, daB Wielands Gesinnung durchaus monarchisch ist;1) der Gedanke, daB eine solche Reform des Bestehenden vom Volke ausgehen könnte,2) indem es nach rousseauischer Vorstellungsweise den bestehenden Kontrakt auflöst um einen neuen, den Anforderungen der nunmehrigen Menschheit entsprehenden einzugehen; eine Vorstellungsweise, die sogar von Schiller als poetische Fiktion noch geteilt wird,3) erscheint Wieland als eine absurde. Er kann sich die vielköpfige Regierungsform einer demokratischen Republik nicht anders denken als in der Form einer Ochlokratie, was seiner Ansicht nach der höchsten Form der Tyrannei gleichzusetzen ware. Seine politischen Ansichten wenigstens sind diejenigen des aufgeklarten Despotismus;4) ungeachtet der erforderlichen, vernünftigen Einsicht auch des Geringsten in die Notwendigkeit der bestehenden Staatsform soll die Gesamtheit der Angehörigen jede Bedingung zum heitern GenuB des Daseins aus der Hand des Fürsten empfangen.5) Welche ungeheuere Bedeutung Wieland der richtigen Erziehung eines Fürsten beimessen soll, geht aus obigen Erwagungen hervor. Seine Gewalt ist tatsachlich unbeschrankt; aber dennoch geziemt ihm ein so hoher Begriff von der Würde des Menschen, daB er in seinen Untertanen an erster Stelle die Mitmenschen erblickt und eben dadurch vor der Versuchung bewahrt wird, die ihm erteilte Gewalt zur Bedrückung seiner Mitmenschen zu verwenden, was nur heiBt, dieselben in ihrer menschlichen Würde ') Vergl. Agth. III Buch XI/1. Hp. 111/15. 2) Vergl. Agth. II Buch VIII/5. Hp. 11/77; Agth. III Buch XI/4. Hp. 111/24. 3) Teil. (eine Wendung in diese Richtung bei Wieland unter dem Eindruck der Volksbewegung in Frankreich. Göttergspr. 10. Hp. IX/81; Göttergspr. 12. Hp. IX/104). «) Vergl. Agth. II. Buch IX/6. Hp. 11/116; ebd. 135, 136. *) Agth. II Buch X/l. Hp. 11/134; Agth. II Buch X/5. Hp. 11/162; Agth. III Buch XI/5. Hp. III/128; Buch XI/2. Hp. 111/13. zu verletzen.1) Etwas Höheres als den vollkommenen Menschen gibt es in Wielands Augen nicht; daher bedeutet Fürstenerziehung für ihn nichts mehr und nichts weniger als eine bewuBte Erziehung zu vollendeter Humanitat. Die überaus groBe Verantwortung,2) welche die Würde des Fürsten mit Rücksicht auf die Glückseligkeit der Völker mit sich bringt, veranlaBt Wieland zu einem gründlichen Durchdenken des Verhaltnisses zwischen dem Fürsten und den Untertanen, über dessen richtige und verfehlte Politik und die Folgen derselben. Die Ergebnisse seines Nachdenkens legt er seinen Zeitgenossen als einen goldenen „Spiegel der Fürsten" vor in der „Geschichte der Könige von Scheschian." Es erscheint auffallig, daB Wieland für solche Fragen, deren auBerordentliche Wichtigkeit er klar durchschaute, die Form eines Romans wahlte. Wieland ist aber nichts weniger als ein schöpferischer Denker; er erlebt als Künstler am Ende die Welt in Bildern, welche die Phantasie mit Anlehnung an die Wirklichkeit erschafft. Seine Geschichte der „Könige von Scheschian" ist daher im Grunde nichts andres als eine t y p i s i erende N e u g e s t a 11 u n g der W e 11 g e s c h i c h t e überhaupt; nur unter dem speziellen Gesichtspunkt der Aufblüte und des Niedergangs von Vólkern als die Folge der Politik der Fürsten. An diesem Roman sollen die regierenden Fürsten ihre Handlungen spiegeln. Indem wir auf die Absicht des Romans hinweisen, kommen wir auf einen weitern und tiefern Grund, der Wieland dazu bestimmte, seine Gedanken in diese Form zu hüllen. Die unendliche Fülle der Betrachtungen, die in Wielands Romanen vorwaltet, verursacht, daB wir leicht übersehen, daB wir mit einer Schöpfung der Kunst zu tun haben, die einer innern Ergriffenheit ihr Dasein verdankt. Diese findet aber ihre Ursache in der Anschauung der MiBwirtschaft verschiedener zeitgenössischen Fürsten. Die Ausbeute von Land und Volk zu Gunsten einer gewissenlosen GenuBsucht seitens der Fürsten und deren Umgebung,3) welche in ihren Untertanen anscheinend bloB Mittel zu diesem Zweck zu erblicken vermochten, sowie die notwendig daraus hervorgehende sittliche Verwilderung, erlebte Wieland als eine furchtbare Realitat. Weil er die bösen Folgen solcher Ausbeutungspraktiken ') Vergl. Goldsp. II/3. Hp. XIX/35; II/5. Hp. XIX/56; II/9. Hp. XIX/86. 2) Göttergspr. X. Hp. IX/80. 3) Goldsp. 11/11. Hp. XIX/114; Agth. III Buch XII/7. Hp. 10/64; Goldsp. II/7. Hp. XIX/71. Göttergspr. 9. Hp. IX/74. ahnte, man erinnere sich der von ihm prophezeiten französischen Revolution,1) fühlte er sich gedrangt, diese Realitat den Fürsten in grellen Farben vorzuführen. Eine Schilderung realer MiBverhaltnisse in einer politisch wirtschaftlichen Abhandlung erschien unerwünscht. Zunachst war die gröBt mögliche Aussicht vorhanden, daB sie ungelesen beiseite geschoben würde, weil das Zeitalter des Rokoko trocken-sachliche Verhandlungen überhaupt nicht liebte; aber wenn irgendeiner aus den in Betracht kommenden Kreisen sich die Mühe genommen hatte, sich mit einer solchen Abhandlung wirklich zu befassen, so ware die höchste Entrüstung mit den denkbar schlimmsten Folgen für den frechen Verfasser das wahrscheinlichste Ergebnis seiner Arbeit gewesen. Ahnliche MiBverhaltnisse, in phantastischen Reichen, im Gewande eines Romans, dem etwa romantische Situationen und Spannungen nicht fehlen dürften, dargestellt, gewahrten dem Verfasser, neben der erhöhten Möglichkeit eines ausgedehnten Leserkreises etwa auch in hohen und höchsten Kreisen, eine gröBere Freiheit zur Schilderung seiner Empfindungen, so daB die Hoffnung als nicht völlig unberechtigt erschien, daB es wirklich hier und da einen Regierenden geben dürfte, der die Verhaltnisse seiner eignen Umgebung mit den im Roman dargestellten zu vergleichen geneigt ware, um so mehr als in demselben dazu noch indirekt aufgemuntert wird.2) Der „Goldene Spiegel" ist ein Sittenroman für Fürsten; sowie die bürgerlichen Sittenromane die Laster der höhern Kreise der Gesellschaft beschrieben und deren Besiegung in irgendeinem Ausbund an Tugend, zeigt der Fürstenspiegel die tatsachlichen MiBverhaltnisse und deren Besiegung durch die hohe Gesinnung eines Fürsten von wahrhaft humanistischem Charakter. Der hier skizzierte Romantypus deutet schon darauf hin, daB man in demselben kein System zur Fürstenerziehung zu erwarten ') 1769 ist der Satz geschrieben, auf den er spater als frühe Verkündigung der groszen Revolution hinweisen konnte, nach welchem auszerste Verfeinerung der schonen Künste, des Geschmacks und der Lebensart, die zugleicher Zeit eine Folge der auszersten Üppigkeit und Ausgelassenheit der Sitten sind den Staat so lange untergraben, bis er zusammenstürzt. Bernh. Jacobi. Wieland Lebensbild. Wielands Werke Auswahl. Gold. Klass. Bibl. Band I. S. 81. 2) Goldsp. U/1. Hp. XIX/27 : dasz ich, ehe der Mond wie der voll sein wird, wissen will, ob innerhalb der Grenzen meines Gebiets solche LInglückliche leben; und wehe dem Sklaven, dem ich die Sorge für meine Undertanen anvertraut habe, in dessen Bezirk ein Urbild deiner verfluchten Malerei gefunden würde. braucht. Es liegt nicht in Wielands Absicht auch nur versuchsweise ein solches zu entwerfen; so daB von der eigentlichen Erziehung des idealen Fürsten, der als der vornehmste Held des Romans erscheint, durchaus nicht die Rede ist. Die padagogische Tendenz des Romans liegt in der sittlichen Besserung der zeitgenössischen Fürsten, wie die dramatische Kunst an der Erziehung der Gesamtheit zur Tugend arbeiten will. Es entspricht dieser padagogischen Tendenz des Romans, der den Fürsten vor den unglückseligen Folgen einer gewissenlosen Vernachlassigung der hohen Aufgaben ihrer Würde warnen will, daB der weitaus gröBere Teil sich mit der Schilderung der immer zunehmenden Übel infolge einer auffolgenden Reihe tyrannischer oder schwacher Fürsten befaBt, deren wesentliche Merkmale sind, daB sie entweder ihre Aufgaben absichtlich vernachlassigen oder denselben nicht gewachsen sind und daher zum Spielball ihrer Umgebung werden. Die Darstellung der MiBverhaltnisse, welche solche Regierungen hervorrufen sowie der scharfe Tadel, mit dem der Verfasser sich an eine nur den eignen Interessen dienende Obrigkeit wendet. zeugen von seiner tiefen Ergriffenheit. Die Gegenwart bot ihm das Bild ausgemergelter Landschaften und einer bis zum auBersten Elend ausgebeuteten und herabgedrückten Volksklasse als eine Folge der schrankenlosen GenuBsucht der herrschenden Kreise und nicht müde wurde er, dieses in beweglichen Worten der Phantasie vorzuführen und zwar nicht bloB in dem hier erwahnten Roman.1) In der Tat berühren diese immer wiederholten Darstellungen wie eine angstvolle Mahnung, zumal wo der Verfasser die Fiktion heraufbeschwört, als ware es die Wahrnehmung eines kraftvollen, hilfsbereiten Menschen, der den festen EntschluB gefaBt hat, baldigst und tatkraftigst Abhilfe zu schaffen. Die gesamte Menschheit ist tief unter ihre Würde erniedrigt und es gilt, sie eiligst zu erlösen, wenn man nicht will, daB sie die Bande selbst zerreiBt; wodurch über sie die Revolution mit allen ihren Schrecken entfesselt würde. Es ist eine Neigung der Fürsten Lander und Völker als Mittel zum persönlichen LebensgenuB zu verwenden, mit ihnen zu schalten wie mit ihrem Privatbesitz. In Anbetracht dieser Tatbestande erinnert sich Wieland der alten Erwagung, daB Könige um der Völker willen, nicht die Völker >) Goldsp. H/3. Hp. XIX/41 ff.; II/7; ebd. 71 ff.; ebd. 180 ff.; Agth. II Buch X/l. Hp. 11/134 ff.; Agth. III Buch XII/3; XII/7; Göttergspr. IX. Hp. IX/74. um der Könige willen da sind.1) Ein solcher Spruch gibt in klarer Formulierung die unbestimmt wogenden Empfindungen der Volksmassen wieder, die in Zeiten eines harten Druckes, zumal wenn dieser allgemein als ein Unrecht gefühlt wird, durch einen Vergleich mit der übermaBigen Verschwendung der Wenigen mit der eignen Armut, sich auf sich selbst zu besinnen anfangen und sich daran erinnern, daB sie die iibergroBe Mehrheit bilden,2) und endlich im Gefühl der Macht, das die groBe Zahl zu erzeugen vermag, von Elend und innerer Entrüstung getrieben, zu wütender Empörung erregt werden.3) Wieland ernpfindet etwas von der Garung der Massen; die eigne Entrüstung über die gewissenlose Ausbeute der untern Schichten und die Selbstüberschatzung der regierenden Klassen haben ihn zur innerlichen Anerkennung der sittlichen Berechtigung derselben sich von dem Druck zu befreien genötigt, wie er denn auch den Anfang der französischen Revolution gleichwie manche aus dem gebildeten Bürgerstand mit Enthusiasmus begrüBte.3) Dieser Enthusiasmus hat aber nur so lange wahren können, als die Gebildeten die Führung der revolutioneren Bewegung zu behaupten vermochten und verschwand völlig, als das eigentliche Volk nach der Macht griff, wo es denn allerdings nicht jene Geduld und jene Herzensgüte zeigte, die man ihm in sentimental, poetischer Verherrlichung andichtete. Nach Wielands tiefster Überzeugung ware übrigens kaum etwas Schrecklicheres denkbar als die Selbstbefreiung der ungebildeten Volksmassen. Diesen Schrecknissen vorzubeugen, galt es alle Mittel aufzuwenden, welche die gesamte Menschheit zu höhern Formen der Humanitat emporzuführen vermochten; derart, daB alle Klassen durch die Vertiefung der vernünftigen Einsicht sich ihrer Pflicht der Gesamtheit gegenüber klar bewuBt würden. Es ist diese Sehnsucht nach der Abwalzung einer Drohung, welche, ohne daB sie vorlaufig eine greifbare Gestalt annahm, dennoch empfunden wurde, welche in Wielands Geist inmitten der düstern Schilderungen von MiBwirtschaft, Sittenverderbnis und sonstigen daraus hervorgehenden Libelstanden, das Idealbild eines „Fürst-Erlösers" aufsteigen laBt; eines Fürsten, der in erstaunlich kurzer Frist einen Staat, der durch die elendeste Verwaltung an den Rand des Abgrunds gebracht wurde, zu einem Modellstaat ') Göttergspr. IX. Hp. 1X171. 2) Nachl. Diog. XXX. Hp. XXIV/17. 3) Goldsp. D/l. Hp. XIX/29. *) Göttergspr. X. Hp. IX/78. umzubilden versteht. Nichts zeigt uns klarer, daB dieses Ideal aus einer Gegenwart entstanden ist, die den absoluten Gege n s a t z darbot, als eben die Verschwommenheit der Darstellung. Dieser Idealfürst ist ein Tugendheld in der vollsten Bedeutung des Wortes, er ist der personifizierte Philanthropinismus. Es bleibt denn auch vollstandig unbegreiflich, wie ein derartiger Mensch, der absolut über jede Schwache erhaben ist, gerade in einer Periode, wie der von Wieland gezeichneten, denkbar ware; es sei denn, daB wir den drei groBen von Wieland aufgerufenen Machten unbedingten Glauben schenken wollen; die innige Berührung mit der Natur wahrend der Jugend durch die Lebensweise eines Landmanns; die sorgfaltigste Erziehung und die angeborene Güte, welche hier zu den höchsten Eigenschaften der schonen Seele gesteigert ist. Obwohl wir nicht imstande sind uns Wielands fürstliche Idealgestalt in auch nur einigermaBen deutlichen Umrissen vorzustellen, so lehrt uns der Versuch, eine solche Gestalt zu entwerfen, dennoch zweierlei. Zunachst, daB er ungeachtet aller in seinen Schriften verarbeiteten Reformvorschlage als konservativ Gesinnter, die Verhaltnisse dem Wesen nach möglichst unverandert fortbestehen lassen will, indem ihm die Monarchie als die vorzüglichste Regierungsform erscheint, die er sogar als Abbild der göttlichen Weltherrschaft betrachtet wissen will,1) und zweitens, daB ein richtiger Fürst sich Gesinnungen, wie das von ihm gestellte erhabene Vorbild aneignen soll; was aber erst durch eine gediegene Erziehung möglich wird. Denn es steht für Wieland fest, daB die Natur keine Fürsten bildet, sondern daB dies ein Werk der Kunst ist, und ohne Zweifel ihr höchstes und vollkommenstes Werk.2) Es bekundet sicher einen bewunderungswürdigen Optimismus, sowohl mit Rücksicht auf die Macht der Erziehung als auf die menschliche Natur, wenn man wie Wieland allen Ernstes davon überzeugt sein kann, daB eine nach vernünftigen Prinzipien geleitete Erziehung, jeden Menschen, den seine Stellung der Versuchung aussetzt, die Interessen aller andern mehr oder weniger dem persönlichen Egoismus zu opfern, derart zu bilden fahig ware, daB er unter allen Umstanden bloB das Wohl der Gesamtheit bezwecken sollte. Es erscheint eigentlich sonderbar, daB Wieland ') Goldsp. 11/11. Hp. XIX/111. 2) Goldsp. 117. Hp. XVIII/90; Agth. n Buch X/5. Hp. 11/102. nicht darauf verfallt, eine parlamentarische Regierungsform zu erwagen, wie sie doch in England, wo die bürgerlichen Verhaltnisse dermaBen als richtig empfunden wurden, daB die französische Aufklarung sie als Muster aufstellte, vorlag. Wahrscheinlich urteilte er, daB eine Reform baldigst und tatkraftigst vorzunehmen sei, weil es sonst zu spat sein dürfte. Zwar konnte man bei der gröBern Anzahl der regierenden Fürsten von einem ernsthaften Streben zur Hebung des Wohlstandes der anvertrauten Völker recht wenig spüren, was indessen bloB als eine Folge der verwahrlosten Erziehung zu betrachten ware;1) ein lindes und maBvolles Urteil, das vorlaufig den doppelten Wert haben dürfte in den Augen der Menschheit die Fürsten zu entschuldigen und die Erziehung selbst vor dem etwaigen Vorwurf in Schutz zu nehmen, daB man von den verheiBenen segensreichen Folgen derselben in der Öffentlichkeit vorlaufig herzlich wenig spüre. Wie schon gesagt, mit einem Entwurf zur Fürstenerziehung hat Wieland uns nicht bereichert. In seinem Sinne ware denn auch eine absonderliche Fürstenerziehung vollstandig verfehlt. Der Fürst ist ein Mensch wie alle Übrigen, oder vielmehr, er soll wie der Rest der Menschheit gerade zum vollkommenen Menschen ausgebildet werden. Nur hat er vor allen den Vorteil, daB seine Erziehung mit der der Untertanen zwar wesensgleich, graduell von derselben aber verschieden ist. Er soll in allem, was Vernunft und Einsicht scharfen kann, von den gewissenhaftesten Lehrern aufs gründlichste unterrichtet werden, damit er zu einem in vollem Sinne tugendhaften Menschen wird. Wenn Wieland auch nicht die Einzelheiten einer fürstlichen Erziehung ausarbeitet, so weiB er dennoch Maximen zu geben, wie die, worauf wir gerade hindeuteten, daB der Fürst zum tugendhaften Menschen erzogen werden soll.1) Ein tugendhafter Mensch ist bekanntlich in Wielands Augen über die gewöhnliche Erscheinung des Menschen weit erhaben. Wieviel mehr wird das Volk, im BewuBtsein zur eignen Erlösung nichts verrichten zu können, geneigt sein einen solchen Fürsten, wie eine Gottheit zu verehren, und sich von ihm leiten zu lassen, der infolge seiner durch die sorgfaltigste Erziehung gewonnenen Lebenshaltung bereit ist, die Glückseligkeit aller nach seinen bes- ') Goldsp. 117. Hp. XVIII/86; 1/8. Hp. xvm/ioi. 2) Goldsp. II/5. Hp. XIX/60. ten Kraften zu fördern und der durch seine Stellung dazu auch die Macht hat. Ob er diese Macht tatsachlich zu diesem Zweck anwenden will, ist nur der innern Entscheidung des als absolut gedachten Fürsten selbst zu überlassen. Wieland ware gewiB geneigt eine diesbezügliche Frage ohne weiteres bejahend zu beantworten, wenn die von ihm gestellte Bedingung einer auBerst gewissenhaften Erziehung erfüllt ware; denn die angeborene Güte der menschlichen Natur haftet ihm dafür, daB der vernünftige Mensch zugleich der ethische Mensch ist. Für uns aber geht daraus hervor, daB für den Fürsten, den die auBern Gesetze weit weniger zu bandigen vermogen als den gewöhnlichen Menschen, mehr als für den letztern die ihm zu Teil gewordene Erziehung eine Vorbereitung zur Selbsterziehung sein soll. Denn in höherm MaBe als alle andern soll er imstande sein die egoistischen Triebe zu beherrschen. Angesichts der bei vielen der damals herrschenden Fürsten vorwaltenden Neigung zur Verschwendung, worauf zu einem bedeutenden Teil das Elend des Volkes zurückzuführen war, soll ein Fürst, dem es Ernst ist, die Glückseligkeit seiner Untertanen zu fördern, sich der Einfachheit befleiBigen, damit er innerlich berechtigt sei, dem verderblichen Hang nach Luxus der übrigen Kreise zu steuern. Nur eine Erziehung zur Einfachheit1) vermag einem Fürsten die sittliche Starke zu gewahren, vor der Versuchung zur Verschwendung, welche eine auf ihren Vorteil bedachte Umgebung ihm so leicht nahelegt, Stand zu halten. Es fallt demnach auf, daB Wieland durchaus nicht das hohe Vorrecht der fürstlichen Stellung an sich in Betracht zieht, aber mit Ernst darauf hinweist, daB diese Würde Anforderungen an den Trager steil t. Der Fürst soll in die Kunst, welche regieren heiBt, eingeführt werden, denn der Mangel derselben racht sich durch den Verlust der Liebe seiner Untertanen,2) aber diese Kunst besteht weit weniger darin, daB man andern Pflichten auferlegt, als daB man die höchsten Anforderungen an sich selbst stellt. Damit macht Wieland dem Fürsten gegenüber, die allerdings zum Wesen des Sittlichen gehorige Idee der Verpflichtung nachdrücklich geltend, wobei er übrigens durchaus unentschieden laBt, was das Verpflichtende ware. Hört man die Warnung, daB die Vernachlassigung der fürstlichen Pflichten den Verlust der Liebe der Untertanen zur Folge hat, so ware man ') Goldsp. 11/10. Hp. XIX/103. 2) Goldsp. VU. Hp. XVIII/162. geneigt, das bindende Gesetz in der öffentlichen Meinung zu erblicken; wahrend andrerseits der Nachdruck, den Wieland auf die Betatigung der Vernunft als ethischen Faktor legt, an diejenigen ethischen Systeme erinnert, welche das Sittliche als einen objektiven, in der Vernunft der Dinge begründeten Wert erblikken. Einmal wird von Wieland die Verpflichtung des Fürsten sich der Willkür zu enthalten, mit Hinweis auf Gott gefordert, der sich in seiner Allmacht als Schöpfer des Weltalls dennoch an Gesetze binde,1) was den Eindruck eines Versuches macht, die von der englischen Ethik wiederum auf den direkten göttlichen Befehl zurückgeführte Verpflichtung mit der Gedankenwelt eines naturwissenschaftlich fundierten Deismus auszusöhnen. Jedenfalls wird mit Rücksicht auf den Fürsten aufs bestimmteste hervorgehoben, daB die Tugend erst durch die Idee der Verpflichtung verwirklicht werden kann. Es soll dem Fürsten klar werden, daB die Ausübung der Tugenden nicht bloB von seiner Willkür abhangt, sondern daB sie nur durch unzertrennliche Verbindung zu Tugenden werden,2) daB alles Gute, was der Fürst als solcher verrichtet, aus einer ebenso verbindlichen Schuldigkeit fliefie, wie diejenige sei, vermöge welcher die Untertanen ihm Ehrfurcht und Gehorsam zu beweisen und nach Verhaltnis ihres Vermogens zu den Einkünften der Krone beizutragen schuldig sind.3 DaB die Verpflichtungen auf beiden Seiten wesensverwandt sind, leuchtet ein, wenn wir bedenken, daB weder bei dem Fürsten noch bei den Untertanen von einem eigentlichen Zwange die Rede sein darf; als Folge der geeigneten Erziehung soll jeder sich der vernünftig anerkannten Notwendigkeit fügen. Im „Goldenen Spiegel" wird vielmehr das Ergebnis der fürstlichen Erziehung dargestellt in den Handlungen des idealen fürstlichen Menschenfreundes als eben die Erziehung selbst. Dieses Ergebnis besteht darin, daB Wieland in der Phantasie von seinem Helden all jene eingreifenden Verbesserungen und MaBnahmen zur Volkserziehung verwirklichen laBt, welche er zur Rettung der bestehenden Gesellschaftsform unbedingt notwendig urteilte. Der ganze Roman ist ein Beispiel dafür, wie diejenigen, welche die drohenden Gefahren erkannten, auf die Fürsten ihrer Zeit zu wirken hofften. Darin berührt er sich mit der Korrespondenz berühmter Manner mit den Reg ierenden ihres Zeitalters, wahrend >) Goldsp. 11/10. Hp. XIX/99. J) Goldsp. II/l. Hp. XIX/7. 3) Goldsp. 1/8. Hp. XVm/95. es gleichfalls erinnert an die Sehnsucht des aufkommenden Geschlechtes, irgendwie EinfluB auf einen Fürsten zu gewinnen, um durch denselben Gutes für die Bevölkerung zu stiften. Man findet diese Zeitstimmung sogar noch bei Jean Paul ausgedrückt, obwohl er schon ironisch das Vergebliche solcher Jugendschwarmerei konstatiert.1) Dennoch wurde der Zwang der Verhaltnisse auch seitens der herrschenden Klassen wohl empfunden. Nur so laöt sich erklaren, daB dieser Roman die regierende Herzogin-Witwe Amalia veranlaBte, den Verfasser als Prinzenerzieher nach Weimar zu berufen. Wir dürfen annehmen, daB die sittliche Entrüstung über den fürstlichen MachtsmiBbrauch, die der Roman zum Ausdruck bringt, sie hoffen lieB in dem Menschen, der das Elend und die Wege zur Abhülfe desselben in solch einem überzeugenden Tone zu schildern wuBte und es dennoch verstand die Stimmung des heiter Behaglichen festzuhalten, den geeigneten Mann gefunden zu haben, diese edle Gesinnung auf den künftigen Herzog zu übertragen, wobei sie eingesehen haben mag, daB in dem kleinen Staate, ungeachtet ihrer wohlmeinenden Regierung, noch manches zu verbessern ware, was ihre Vorganger vernachlassigt hatten. AuBerdem waren die im Roman verhandelten Theorien im GroBen und Ganzen derart ein Gemeingut der Gebildeten der damaligen Zeit, daB sie gerade durch den vertrauten Ton ihre Zustimmung leicht zu gewinnen vermochten. Das Zeitalter hatte es sich eben dermaBen zur Gewohnheit gemacht, nach allgemeinen rationalistischen Prinzipien zu urteilen, daB man zu leicht die Kluft zwischen der theoretischen Folgerichtigkeit und der praktischen Verwirklichung solcher SchluBfolgerungen übersah. Infolge solcher Erwagungen dürften wir besser verstehen, wie man ohne weitere Untersuchung dahin gelangen konnte, bloB anlaBlich eines Romans einem Menschen, der sich über die Erziehung niemals in zusammenhangender, wissenschaftlicher Form geauBert hatte, ausgenommen in zwei kürzeren Abhandlungen,2) die nicht an die Öffentlichkeit gelangten und von ihm selbst damals wohl kaum mehr berücksichtigt wurden, die wichtige Stellung eines Prinzenerziehers zu übertragen. Wenn wir uns den sentimentalisch weichherzigen Wieland denken neben dem derben Karl August als Exponenten von zwei ') Hesperus. 2) Plan zur Akademie. Plan einer neuen Art der Privaterziehung. 15 nach der Art ihres Empfindens so gründlich verschiedenen Perioden, so ist es uns von vornherein unverstandlich, wie Wieland auf die Ausbildung von Karl Augusts Charakter je wirklich hat EinfluB gewinnen können.1) Einen feurigen, jungen Menschen kann man unmöglich nur durch den Vortrag von edeln Gesinnungen gewinnen. Auf welche Weise man einen derartigen Charakter durch die Tat zu leiten vermag, hat uns spater Goethe gezeigt. Bekanntlich hat die Herzogin, ungeachtet der Freundschaft, die sich bald zwischen ihr und dem feinsinnigen Wieland entwickelte, aufs deutlichste erkannt, daB sie sich in ihrer Wahl vollstandig geirrt hatte. Die Tatsache, daB Wielands praktische Tatigkeit als Prinzenerzieher sich kaum über die ersten Anfange hat erheben können, und er auf die Charakterbildung eines wirklich redlichen Menschen, als welchen sich Karl August im Verlauf einer langen Regierung immer mehr herausgestellt hat, keinen wesentlichen EinfluB gewinnen konnte, machen seine Theorien hinsichtlich der fürstlichen Erziehung innerlich wertlos. Es ist dennoch von Bedeutung seine betreffenden Ansichten möglichst zu verfolgen, weil darin jedenfalls gewisse Hoffnungen für das künftige Heil der Menschheit und Denkformen, die für das Zeitalter der Aufklarung charakteristisch sind, hervortreten. Die Erziehung an sich laBt sich natürlich nur als eine Privaterziehung denken. Der Fikst, der für die spatere Erziehung der Angehörigen seines Staates zu sorgen hat, nicht an letzter Stelle durch die Gründung von vorzüglichen Unterrichtsanstalten, soll sich über den Durchschnittsunterricht, wie er in den bestehenden Anstalten erteilt wird, weit erheben. Zwar soll er, wie es sich von selbst versteht, die Disziplinen desselben vollstandig beherrschen, aber naturgemaB soll bei seiner Erziehung auf seinen künftigen Beruf von vornherein Rücksicht genommen werden, und ware es bloB durch die Wahl seiner Lehrer, die den höchsten sittlichen Anforderungen gerecht werden sollen. AuBerdem taugé nach Wieland der öffentliche Unterricht durchaus nicht; er glaubt sich berechtigt mit allen, die in diese Sache die gehorige Einsicht haben, die Schulmethode und die Formalitaten, in die die Wahrheit verkleidet wird, als Ursache der geringen Fortschritte, welche die Wahrheit unter den Menschen genommen hat, hervorzuheben.1) Wie man bemerkt, liegt hier wesentlich derselbe Versuch zur ') Vergl. Jacobi Lebensbild. S. 151. 2) Plan einer neuen Art von Privaterziehung. Entschuldigung der geringen Erfolge der padagogischen Bemühungen vor, als dem Fürsten gegenüber. Die geringe Zunahme der menschlichen Glückseligkeit, ungeachtet der diesbezüglichen Tatigkeit der Aufklarung, ist darauf zurückzuführen, daB die Vorschlage nicht befolgt werden. Die Erziehung wird trotz der richtigen Einsicht der aufgeklarten Geister allgemein vernachlassigt. Daher soll man für diejenigen, welchen das Schicksal der künftigen Generation anvertraut wird, eine Privaterziehung bevorzugen, und das gilt ja vor allem für den künftigen Fürsten. Dennoch soll man wahrscheinlich den Begriff „Privaterziehung" nicht allzu buchstablich auffassen. Der junge Fürst ware etwa mit vier oder fünf andern Menschen zusammenzubringen, die wo möglich nicht ausschlieBlich aus den höchsten Kreisen stammen sollten. Auf diese Weise dürfte der Zögling schon früh einen praktischen, wenn auch vorlaufigen Einblick in verschiedene Lebensverhaltnisse und Erwerbsquellen gewinnen. Wenn man Wielands Maxime, daB der Fürst zur Einfachheit zu erziehen ware, vergleicht mit seiner Darstellung wie sein Idealfürst die Jugend unter Ackerbauern verbringt,1) so mag Wielands idealste Vorstellung von der Form einer frühesten, fürstlichen Erziehung diese gewesen sein, daB er mit etwa vier oder fünf Mitzöglingen,2) in landlich einfache Verhaltnisse versetzt würde, sich in der ungezwungenen Freiheit der Natur an einfache Sitten gewöhne, wahrend die Anschauung der Herrlichkeit und Erhabenheit der Natur unter der Leitung eines geistig hochstehenden Erziehers der Seele einen hohen Schwung ethischer Begeisterung gewahren dürfte. Es versteht sich, daB man in der von Wieland in der Form eines Romans geschilderten Fürstenerziehung eine genauere Bestimmung in der angedeuteten Richtung vergeblich sucht. Die Gedanken sind aber in Bilder eingekleidet, die Anzahl der Schüler wurde in der früher von ihm verfaBten, kleinen Schrift über eine neue „Art der Privaterziehung" genau angegeben. Allein, die ganze Vorstellung entspricht den Ideen des Zeitalters, derart, daB sie nicht nur bei Jean Paul, gleichfalls in romantischem Gewande,3) von neuem auftauchen, sondern sogar von einem ernsthaften, teilweise auf Rousseau fuBenden und dessen Ideen soweit solches möglich ist, zu verwirklichen strebenden groBen Padagogen, Heinrich ') Goldsp. II/5. Hp. XIX/58 ff. 2) Plan einer neuen Art von Privaterziehung. 3) Hesperus. Campe, systematisch ausgearbeitet wurden. Dieser machte wirklich in der Umgebung von Hamburg einen solchen Versuch, selbstverstandlich nur mit Söhnen aus angesehenen Familien. Campes Versuche und Schriften erregten ein derartiges Aufsehen, daB er vom preuBischen Kronprinzen zum Entwurf eines Planes zur Erziehung von dessen Sohn aufgefordert wurde. Man könnte übrigens mit Rücksicht auf die Fürstenerziehung an die sogenannten Ritterakademien denken, welche um den Anfang des 18. Jhts. blühten und zur praktischen Erziehung speziell der Söhne aus adligen Kreisen zu Hof- und politischen Amtern dienten; wobei natürlich auch die militarische Ausbildung energisch betrieben wurde. Für Wieland kommen jedoch diese Anstalten durchaus nicht in Betracht; nicht nur, weil die Zeit ihrer höchsten Blüte damals schon vorüber war, sondern vor allem, wie uns klar geworden sein mag, weil eine dem Charakter dieser Unterrichtsanstalten entsprechende, beschrankte Standeserziehung Wielands Ideen über die Bildung eines Menschen, der das Wohl aller Angehörigen einer Gesamtheit gerecht zu beurteilen hat, prinzipiell zuwider ware. Es entspricht dem an sich ganz richtigen und dem aufgeklarten Denken in Deutschland immer mehr einleuchtenden Prinzip, die theoretische Erkenntnis durch die Anschauung möglichst zu erganzen, daB man ausgedehnte Reisen, vorzugsweise unter der Leitung eines erfahrenen, einsichtsvollen Mannes, als den geeignetsten AbschluB einer Erziehung betrachtete, welche Ansicht sich allmahlich unter den weitesten Kreisen verbreitete, nachdem Lockes Schriften bekannt wurden. Reiseromane sowie Reisebeschreibungen bezeugen, wie die Kenntnis von Landern und Vólkern im Verlauf des 18. Jhts. zu einem wesentlichen Teil der Erziehung geworden war. Diese Tendenz bemachtigte sich sogar der regierenden Fiirsten; denken wir bloB an die nicht offiziellen Reisen des jungen GroBherzogs Karl August. Nach Wielands Einsicht sollte eine derartige Reise direkt zur Vorbereitung auf die einmal zu erfüllende Würde ausgenutzt werden. Nachdem man. den künftigen Herrscher theoretisch über das richtige Verhaltnis zwischen diesem und den Staatsangehörigen, sowie von der erwünschten Form des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der letztern unter einander unterrichtet hatte, sollte dieser sich nunmehr praktisch davon überzeugen, wie weit die Wirklichkeit von dem Ideal entfernt sei. Wenn er die Quellen der Volks- wohlfahrt kennen gelernt hat, soll dem Fürsten das Elend des Volkes nachdrücklich vor Augen geführt werden.1) Wir dürfen nebenbei bemerkt annehmen, daB Wieland am liebsten sehen möchte, daB die betreffenden Reisen in strengstem Inkognito gemacht würden, weil er wohl verstanden hat, wie leicht man einem Fürsten, der sich offiziell auf einer Inspektionsreise befindet und in dieser Qualitat mehr oder weniger angemeldet ist, etwas vorzutauschen vermag. Er laBt den groBen, künftigen Herrscher seines Romans unter solchen Bedingungen seine Wanderung machen, daB es ihm sogar unmöglich gewesen ware, sich als den gesetzmaBigen Herrscher erkennen zu lassen, geschweige denn irgendwie MaBregeln zu ergreifen.2) Er soll nicht anders als jeder Wanderbursch aus den Bürgerklassen bloB Erfahrungen sammeln, um sich mit diesem Material gerüstet, zu seiner Zeit als Meister zu bewahren.3) Die Art und Weise wie Wieland die Reise und die Haltung seines Tifan beschreibt, beweist klar, daB er von der Möglichkeit der Erlösung eines Volkes aus seinem Elend durch einen wohlwollenden, aufs sorgfaltigste in humanistischem Sinne erzogenen Fürsten in tiefster Seele überzeugt war. Es ist, als wollte er durch seine ganze Darstellung den Menschen zurufen, man kenne den wahren Fürsten noch keineswegs, der müsse noch erscheinen; man sei bloB geduldig und harre aus, denn es werde einer kommen, der ohne an persönliche Vorteile zu denken, sich mit allen Kraften um die Glückseligkeit des Volkes bemühen werde. Er weist denn auch einmal darauf hin, daB sein Tifan kein Phantasiegebilde sei, sondern eine Realitat, und wenn diese noch nicht da gewesen sei, so würde sie dennoch eines Tages zu Ehren der Menschheit tatsachlich erscheinen.4) Wenn Jean Paul in ,.Hesperus" die Fiktion einer Reise des Landesfürsten, zwar inkognito und begleitet von einem schwarmerisch edeln Menschenfreund, der ihm auf diese Weise die obwaltenden MiBverhaltnisse zeigen möchte, schildert, empfinden wir in der ironischen Behandlung des Fürsten, daB schon gegen Ende des 18. Jhts. wenigstens ein Mann wie Jean Paul die Hoffnung auf eine uneigennützig von irgendeinem damals regierenden Fürsten durchgeführte Reorganisation hat fahren lassen. Wir können ') Goldsp. II17. Hg. XIX/69 ff. 2) Goldsp. II/8. Hp. XIX/80. 3) Goldsp. II/9. Hp. XIX/88 ff. ") Goldsp. II/7. Hp. XIX/74; II/9. Hp. XIX/88. leider nicht leugnen, daB die Entwicklung der Verhaltnisse, besonders in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhts. ihm Wieland gegenüber Recht gegeben hat. Wenn Wieland den künftigen Fürsten auf das Elend des Volkes aufmerksam macht, so bezweckt er damit anscheinend weniger eine praktische Beschaftigung mit ökonomischen Fragen nach den Ursachen dieses Elends und nach den Mitteln zur Abhilfe, welche dem Tatbestand angemessen waren, als eine Art sittliche Erziehung von negativen Prinzipien aus. Es handelt sich eigentlich weniger um eine auBerlich andre Haltung der Fürsten als um eine wesentlich umgewandelte Absicht. Es soll der Fürst durch den Anblick des menschlichen Elends erschüttert werden und zwar dermaBen, daB er die MaBnahmen zur Hebung der Volkswohlfahrt zu Gunsten des Volkes selbst und nicht im eignen Interesse ergreift. Denn daB der Fürst auf MaBregeln sinnt, die allgemeine Wohlfahrt zu heben, ist eben nichts AuBergewöhnliches. Die Machtzunahme der Fürsten nach dem dreiBigjahrigen Kriege mit der entsprechenden Steigerung der Ansprüche bedingte eine Zunahme der Einkünfte, welche dazu zwang, die Aufmerksamkeit dem Unterricht wie der Volkswohlfahrt überhaupt zuzuwenden, damit das Land gröBere Summen an Steuern zu erbringen imstande ware. In seiner kleinen Geschichte der Padagogik hat Prof. Weimar treffend bemerkt: „Heer und Hofhaltung verschlangen in dieser Zeit des Barock und des folgenden Rokoko gewaltige Summen. Um sie aufbringen zu können, galt es, die wirtschaftliche Leistungsfahigkeit und damit die Steuerkraft nach Möglichkeit zu steigern. Als Mittel dazu erkannte man die Notwendigkeit der Hebung der allgemeinen Volksbildung. Der Gedanke des Schulzwangs gewann mehr und mehr Boden.1) Der Fürst interessierte sich demnach für die Volksbildung als für die Grundlage der Volkswohlfahrt, jedoch unter der speziellen Berücksichtigung der persönlichen Glorie; ahnlich wie mit Hinblick darauf die Herausbildung des vollendeten Hof- und Staatsmanns aus den Kreisen der Adligen gefordert wurde.2) Erwagungen und Forderungen dieser Art sind einer vernünftigen Form des Absolutismus vollkommen gemaB, wie denn auch die Auffassung des Königs als des allgemeinen Zweckes aller Betatigung den höchsten Ausdruck im Frankreich Ludwigs XIV. gefunden hat, was wir am besten daran erkennen, daB die Akademie mit ihren wissenschaftlichen ') Samml. Göschen 145. Seite 68. 2) Heubaum. S. 32. und künstlerischen Leistungen ganz der Verherrlichung des Sonnenkönigs gewidmet war, welcher dieses als gebührende Leistung ohne Dank entgegennahm.1) Aus der Vergleichung dieses Tatbestandes mit Wielands Forderung, daB in der fürstlichen Ethik die Idee der V e rpflichtung vorwalten soll, zeigt sich die vollstandige Umwalzung, die aus dem Denken der Aufklarung hervorgegangen war. Dieselben MaBnahmen sollen aus polar entgegengesetzter Gesinnung ergriffen werden; nicht der Staat soll als Diener des Fürsten, sondern umgekehrt der Fürst als Diener des Staates erscheinen. Mit Recht kann man einwenden, daB alles in Wielands Fürstenerziehung sich schlieBlich auf den aufgeklarten Despotismus zuspitzt und er sich folglich nicht im Geringsten über sein Zeitalter erhebt. Nur ware man zu diesem Einwand nur halbwegs berechtigt. Allerdings war gegen Ende des 18. Jhts. der aufgeklarte Despotismus eine Art fürstliche Modeströmung; im Vollbesitz der Macht, unter dem EinfluB des aufgeklarten Denkens, spielte man gern mit demokratischen Anschauungen und Begriffen. Diesen aufgeklarten Despotismus kann man nur als eine fürstliche Gnade bezeichnen; hier aber trat sie aus den Kreisen des Bürgertums als eine Forderung an die Fürsten heran. Man möge sich in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnern, daB Wieland aufs bestimmteste festgesetzt hat, wie die Tugend nur als solche zu qualifizieren ist, wenn sie sich konsequent zeigt und wie der Fürst, der alles Mögliche getan hatte, damit eine übergroBe Mehrheit sich unter seiner Regierung glücklich fühle, am Ende nur seine Pflicht getan hatte. Die Erziehung des Fürsten ware vorzugsweise eine ethische nach allgemeinen Maximen, wobei auch die Religion von ethischem Standpunkt aus zu behandeln ware. Eine Neigung zur praktischen Anwendung der Dfsziplinen laBt sich bei Wieland kaum beobachten. Wir dürfen keinen Augenblick daran zweifeln, daB sogar die exakten Wissenschaften nur den religiösen Anschauungen in der Form des Deismus zu dienen hatten. Wieland dachte nicht daran, diese Disziplinen mit praktischer Zuspitzung, etwa auf die Strategie, wie es bei einem künftigen Fürsten wohl angebracht gewesen ware, zu unterrichten. Für den Fürsten soll die Beschaftigung mit den Wissenschaften an erster Stelle die Ausbildung seines sittlichen Charakters bezwecken. Die praktische Anwen- ') Heubaum. S. 23. dung hatte er den dazu Befugten gern überlassen, denn für ihn bedeuteten die als „Geometrie" bezeichneten, mathematischen Wissenschaften eine Ubung der wichtigsten Handlungen der Seele, der Attention und der Reflexion, indem sie Verstand und Phantasie übe.1) In der Fürstenerziehung sollen die Ethik und die Religion ganz besonders die verpflichtende Kraft des Sittlichen betonen. Sie waren dem fürstlichen Zögling etwa auf eine „Sokratische Weise"2) beizubringen, also der rationalistischen Veranlagung Wielands gemaB auf dem Wege einer fragend vernünftigen Erörterung; anders als bei Rousseau und bei Campe, die sogar auf dem Gebiete der Tugend mehr auf praktische Ubung hielten. Übrigens ware Wieland mit Campe gewiB darin einig, daB der Religionsunterricht in der ersten Periode der Kindheit jedenfalls nicht nach festgesetzten Stunden, mit dem Buche in der Hand zu erfolgen hatte, was beim Kinde einen Widerwillen erregen dürfte. Er verlangt von dem Lehrer, daB dieser sich bemühe bei seinen Spaziergangen und bei rührenden Veranlassungen dem Kinde Ehrfurcht vor und Liebe zu dem höchsten Wesen einzuflöBen und es nicht papageimaBig durch das Nachplaudern auswendig gelernter Worte, sondern mit wirklicher Empfindung beten zu lehren.3) Die menschlich freie Gesinnung, die aus einem solchen Unterricht hervorgehen dürfte, gebührt nach Wielands Urteil einem Fürsten. Dieser soll dem Leben unbefangen gegenüberstehen, das Verfehlte in den gesellschaftlichen Verhaltnissen und den sittlich religiösen Anschauungen erkennen und nach vernünftigen Prinzipien von rein humanistischen Grundsatzen aus damit aufraumen. Der Fürst als der groBe Erneuerer betrachtet es als seine Pflicht mit allen überlieferten Vorstellungen zu brechen, demnach nicht in die Geschichte zurückzublicken, vielmehr durch die Geschichte hindurch vorwarts zu schauen. Obwohl die Aufklarung, wie jede Periode, welche eine durchgreifende Reform des Bestehenden beabsichtigt, antihistorisch gesinnt ist, wird von Wieland, wie wir schon erwahnten, die Geschichte als Studium den Menschen überhaupt, den Fürsten aber mit besonderm Nachdruck empfohlen. Es handelt sich dabei um nichts weniger als um ein liebevolles sich Versenken in das Vergangene; es gilt die Geschichte zu studieren als eine praktische ') Plan. 2) Plan. 3) Leyser. Campe 201. Ethik. In der Geschichte sieht man sich selbst wie im Bilde. Dadurch wird sie dem aufmerksamen Betrachter „ein untrügliches Mittel wider Selbstbetrug und damit wider Ansteckung mit fremder Torheit."1) Den Zweck der Geschichte erblickt Wieland vor allem darin, daB sie groBe, dem ganzen Menschengeschlecht angelegene Wahrheiten, merkwürdige Zeitpunkte, lehrreiche Beispiele und eine getreue Abschilderung der Irrungen und Ausschweifungen des menschlichen Verstandes und Herzens biete.-) Wie wir ersehen, waltet die allgemeine Maxime auch im Geschichtsstudium vor. Wenn wir die Geschichte ganz besonders als ein Studium für Könige erwahnen hören, ware man im ersten Moment zu glauben geneigt, daB es sich darum handle, aus der Vergangenheit die Gegenwart zu durchschauen und aus dem Erkannten die Prinzipien für die Staatsverwaltung zu erschlieBen. Auf diese Weise möchte Campe das Geschichtsstudium vom Fürsten aufgefaBt wissen; einen künftigen preuBischen König soll man nach seiner Ansicht vorzüglich die neuere Geschichte und ganz vorzüglich die Geschichte der preuBischen und brandenburgischen Staaten kennen lernen.3) Man dürfte behaupten, Campes Auffassung von dem Königtum ist schon geschaftsmaBiger, sachlicher als die von Wieland; dem König wird die Verwaltung einer Gesamtheit anvertraut, weshalb er sich aus der genauen Kenntnis der Ursachen der vorliegenden Gestalt die Fahigkeit zu einer erfolgreichen Amtstatigkeit erwerben soll. Es handelt sich bei Campe schon weniger um die Staatsangehörigen als um den Staat selbst und der Fürst als der erste Vertreter der Nation ist nicht wie ein Wielandscher Idealfürst ein Mensch im wahren Sinne des Wortes, der sich ganz besonders das menschliche Heil der Untertanen und wo möglich der gesamten Menschheit zu Herzen nimmt. Es ist klar, daB Wieland, als er seine Geschichtsphantasie für die Fürsten seiner Zeit schrieb, ganz besonders an die gewaltigen Summen gedacht hat, welche sie zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse verschwendeten, wobei sie sich nicht scheuten, die Wohlfahrt und das Glück der Gesamtheit ihrer Untertanen aufs Spiel zu setzen. Wir können natürlich daran zweifeln, ob die Geschichte tatsachlich die ethisch en Tendenzen enthalt, welche Wieland im Geiste der Aufklarung darin erblickte. Jedenfalls zeugt ') Goldsp. Zueignungsschrift. Hp. XVIII/8. 2) Goldsp. Zueignungsschrift. Hp. XVIII/9. 3) Leyser. Campe 198. eine solche Geschichtsauffassung für die ethische Richtung des aufgeklarten Denkens, das in seiner kosmopolitischen Gesinnung nicht wie der beschrankte Nationalismus in der Geschichte ausschlieBlich nach einer vergangenen NationalgröBe zu spüren braucht. AuBerdem waren die obwaltenden Verhaltnisse nicht gerade derart, daB man mit Stolz auf eine Vergangenheit zurückblicken konnte, welche dieselben herbeigeführt hatte. Das Studium der Geschichte bezweckt daher wesentlich diejenigen Handlungen zu verstehen und zu würdigen, welche der Gesamtheit wirklich zum Wohl gereichten, wie geringfügig und reizlos sie auch auf den ersten Bliek erscheinen mogen. Daneben hatte man den Mut, die überragenden Taten der gewaltigen Lenker der Menschheit auch zu prüfen sowie die schlimmen Folgen, die für ganze Zeiten daraus hervorgegangen sind. Zumal einem Fürsten gegenüber erscheint es Wieland geboten, die Stimme mahnend gegen solche zu erheben, unter deren GröBe die Welt gleichsam zusammengesunken ist.1) Was er von einem Fürsten verlangt, ist die innere Kraft auf die auBere GröBe zu verzichten, was er uns zeigt in den beiden von den höchsten Idealen getragenen Herrschern, deren Regierungsakte er uns beschreibt, in seinem „Tifan" und in seinem „Archytas". Sie gestalten die innern Verhaltnisse aufs vollkommenste, sind aber ungeachtet ihrer tatsachlichen Machtstellung durchaus nicht versucht, die Nachbarstaaten ihre Macht irgendwie willkürlich empfinden zu lassen. Sofern sie sich respektiert wissen, ist es ihr Bestreben sich mit allen in bester Harmonie zu befinden. DaB dieser Auffassung nicht zu jeder Zeit gehuldigt wurde, scheinen die zahlreichen, fast willkürlich von europaïschen Herrschern angezettelten Kriege zu beweisen. Wieland unterlaBt denn auch nicht, in seinem Fürstenroman einige Male auf die unrechtmaBige Eilfertigkeit, womit man bereit ist das Leben vieler Tausende zu opfern, hinzuweisen.1) Das BewuBtsein der innern Kraft, verbunden mit Friedfertigkeit nach auBen hin, ist ein dem aufkommenden Bürgertum entsprechendes Ideal; seine Zukunft liegt in der Blüte von Handel und Gewerbe und in der Pflege von Künsten und Wissenschaften, die nur bei einem friedlichen Zusammenwirken gedeihen, so daB ein jeglicher sich in höherm MaBe gesichert fühlt, wenn er der Stütze der Gesamtheit, der er angehört, gewiB ist. Der Fürst soll seinem ') Goldsp. 11/10. Hp. XIX/97. >) Goldsp. II/7. Hp. XIX/71. Danm. XLIV. Hp. XX/178. Volke demnach in jener Gesinnung, die in gleichem MaBe Rücksicht nimmt auf die Verpflichtungen gegen sich selbst wie gegen andre, vorbildlich sein, was wie ein Versuch anmutet, die Forderung der Harmonie der egoistischen und altruistischen Triebe auf die höhere Politik zu übertragen. Das Geschichtsstudium könnte einen jungen, sich seiner Krafte bewuBten Fürsten gerade dazu reizen, in die Spuren der Gewaltigen zu treten, die nach dem beliebten Ausdruck ,,Geschichte machen", wie denn auch eine eigentümliche Verlockung in dem BewuBtsein liegen mag, daB man dies unter Umstanden vermochte. Daher soll man nach Wieland an den Charakter desjenigen, der den künftigen Fürsten in der Geschichte zu unterrichten hat, die höchsten Anforderungen stellen, denn wo die Geschichte ein Abbild der Menschheit darstellt, soll dasselbe auch treu und wahrheitsgemaB gegeben werden, was bei so vielen Gegenstanden, die sich nicht nur an das wissenschaftliche Denken richten, sondern auch leicht Sympathien und Antipathien erregen können, nur von einem durchaus wahrhaftigen Menschen zu erwarten ware. Wieland ist sich der möglich gefahrlichen Wirkungen des Geschichtsunterrichtes prinzipiell anscheinend wohl bewuBt gewesen. Er berührt sich in dieser Beziehung mit Auffassungen, die in dem letzten Jahrzehnt festere Umrisse gewinnen und bezwecken eben in diesem auf die Gesinnung so machtig wirkenden Unterricht mit einseitigen Anschauungen aufzuraumen. Natürlich soll, Wielands Ansicht gemaB, derjenige, der mit dem Unterricht dieser wichtigen Disziplin betraut wird, unter allen Umstanden ein zuverlassiger, einsichtsvoller Mensch sein. Wenn es sich aber darum handelt einen angehenden Fürsten in dieselbe einzuführen, so ist diese Aufgabe nur einem bei hohen wissenschaftlichen Einsichten in jeder Beziehung ethischen Menschen anzuvertrauen. Er soll ein Mann sein, der mit der warmsten Rechtschaffenheit einen tiefschauenden und viel umfassenden Bliek und das reinste Gefühl mit der scharfsinnigsten Unterscheidungskraft vereinigt. Von ihm wird gefordert, vollkommene Gerechtigkeit in der Zeichnung der Charaktere und in der Beurteilung der Handlungen, sowohl aus dem sittlichen als aus dem politischen Standpunkt, was ebenfalls die höchsten Charaktereigenschaften voraussetzt.1) Schillers Geschichtsschreibung, welche sich einer scharfen Charakterzeichnung aller auftretenden Gestalten, sowie einer möglichst groBen Gerechtigkeit aller Parteien gegenüber, unter der Be- ') Goldsp. II/l. Hp. XIX/9; Phil. Schr. XXXII/267. rücksichtigung der politischen Situation, befleiBigt, zeigt uns, daB Wieland mit obigen Worten das von der Aufklarung gehegtc Ideal der Geschichtsschreibung andeutet. Die sittliche Wirkung des Geschichtsstudiums soll die Starkung des PflichtbewuBtseins im Fürsten bezwecken; gegen die Neigung der Machtigen, den persönlichen Willen als allgemeines Gesetz zu betrachten, soll die Maxime erhoben werden, daB die Gesetze der Natur und des gesellschaftlichen Lebens die Regel der Könige sind, von welcher sie niemals ungestraft abweichen können.1) Indem das Menschengeschlecht in seinem Ringen um die Verwirklichung der in ihm lebenden Ideale an seinem geistigen Auge vorüberzieht, soll die Geschichte zu der humanistischen Bildung des Fürsten beitragen und ihm, indem er lernt, in allen Andern sëine Mitmenschen zu erblicken, Ehrfurcht vor dem Menschen einflöBen. Diese Ehrfurcht offenbart sich nicht nur dadurch, daB er als Fürst die Möglichkeit einer gedeihlichen Entwicklung seines Volkes schafft, sondern auch darin, daB er diesem Volke gern gestattet, selbstandig an der Ausbildung der menschlichen Vernunft zu arbeiten, oder vielmehr, daB er dieses als seine Pflicht erkennt. Die Geschichte zeigt ihm die Ausschweifungen der Gewissensverfolgungen, und noch belehrender ware etwa, daB sie manchmal Beispiele dafür abgibt, wie viele wegen Überzeugungen gelitten haben, welche ein Jahrhundert spater geduldet und in aufgeklarten Zeiten zum Gemeingut wurden. In Verbindung mit der Philosophie soll sie demnach dem Monarchen klar machen, daB seine Gewalt sich keineswegs über die Gewissen der Menschen erstreckt.2) Es ist durchaus im Einklang mit Wielands Denkweise, wenn er bemerkt, daB ein guter Fürst von einem durch den freien Gebrauch seiner Vernunft veredelten und gebildeten Volke nichts zu befürchten habe.3) Aus dem vorhergehenden leuchtet ein, daB Wieland ganz besonders dem Fürsten gegenüber die Maxime der Aufklarung betont, daB er zum selbstandigen Menschen nach ethischen Prinzipien, die er sich aus der Geschichte der Menschheit, aus der Philosophie und aus der Religion erwerben soll, zu erziehen ist. Indem sie diesen Zweck der ethischen Erziehung verfolgen, erganzen die genannten Disziplinen sich gegenseitig. Zumal die religiöse Erziehung soll nicht aus dem Verband der andern Wissenschaften gelost werden; im Grunde ware sie nichts andres als die Betrachtung des ge- ') Goldsp. U/5. Hp. XIX/61. 2) Goldsp. Her./Les. Hp. XVIII/131. 3) Göttergspr. XII. Hp. IX/100. samten Inhalts der Erscheinungen als eine Wirkung des göttlichen Gesetzes. Religion und Ethik waren bei der fürstlichen Erziehung durchaus nicht zu trennen; wobei, wie wir bei der Betrachtung der religiösen Erziehung nachwiesen, der Hauptakzent auf das Ethische zu legen ware. Wir haben schon beobachtet, daB diese Erziehung den Zweck verfolgt, im Zögling Ehrfurcht vor dem Schöpfer und dem Geschöpf zu erzeugen, wahrend jede dogmatische Belehrung fern zu halten sei. Indem man die Seele des Kindes den religiösen Eindrücken öffnet, ware namlich jeder Beeinflussung einer bildungsfeindlichen, ihren eignen Interessen dienenden Orthodoxie möglichst vorzubeugen. Weder Wieland noch Campe reden von einer speziell c h r i s tlichen Erziehung des Fürsten, aber wenn wir uns Wielands Ansichten vom Christentum und dessen „Stifter" vergegenwartigen, dürfen wir davon überzeugt sein, daB es ihm niemals eingefallen ware, aus den Lehren Christi irgendwie besondere Vorrechte für den Fürsten herzuleiten, was ebensowenig Campes Geist entsprochen hatte. Die Verfechter der Aufklarung empfanden es als die höchste Notwendigkeit im Fürsten einen Menschen zu besitzen, der sich die vernünftige Gottesvorstellung seelisch zum Eigentum gemacht hatte, weil sie in einem solchen eine machtige Stütze in ihrem Kampf gegen eine geistige Unterjochung zu finden hoffte. Die Herrschsucht der Orthodoxie klammerte sich gern an die regierenden oder künftigen Fürsten und ihre Gegnerschaft bedeutete noch immer eine groBe Gefahr für die Ausbildung der neuen Ideen des Jahrhunderts. Die betrachtliche Gewalt der starren Orthodoxie wird klar, wenn wir daran denken, daB zwei kraftvolle Persönlichkeiten wie Lessing und Campe sich gegen die fanatischen Angriffe des Hauptpastors Goeze verteidigen muBten und sogar ein Lessing diesem Menschen gegenüber gezwungen wurde auf den öffentlichen Kampf zu verzichten, wie auch Kants Wirken durch den EinfluB Wöllners die gröBten Hindernisse entgegengesetzt wurden. Diesen verzweifelten Kampf um die Geistesfreiheit soll man wohl berücksichtigen, um Wielands Bemühungen um die Erziehung der Menschheit, welche die Fürstenerziehung mit umfaBt, nach Verdienst zu würdigen. Wenn Wielands Werke dessenungeachtet, trotz des Reichtums an allgemeinen Bemerkungen kaum praktische Vorschlage enthalten, so darf man darin eine Einseitigkeit erblicken, die auch unsrer eignen Zeit nicht fremd ist. Er ist fest davon überzeugt, daB man die Menschheit ethisch bessern kann, indem man sie belehrt. Nicht viel anders handeln diejenigen, die in unsern Tagen glauben, daB man gegen die durch gesellschaftliche MiBverhaltnisse drohenden Unheile nicht direkt vorgehen soll, sondern indirekt, indem man versucht, den Sinn der Menschen zu andern. Man übersieht bei derartigen Erwagungen jedoch, daB die auBern Verhaltnisse die Gesinnung machtig beeinflussen. Die Reform einer Gesellschaft laBt sich von bloB geistigen Prinzipien aus nicht durchführen. Der Glaube an diese Möglichkeit ist als der Irrtum eines zu abstrakten Denkens zurückzuweisen. Dennoch hat Wieland allem Anschein nach diesen aus der Geistesrichtung seines Zeitalters hervorgehenden Irrtum nicht in vollem Umfang geteilt. Der praktische Sinn, der sich philosophisch schon in der Hinneigung zum Empirismus offenbarte, hat sich seiner jedenfalls insoweit bemachtigt, daB er die Unmöglichkeit einsieht, die verworrenen Verhaltnisse zu bessern, indem man sich ausschlieBlich von der Idee einer theoretischen Vollkommenheit leiten laBt. Daraufhin deutet ohne Zweifel seine AuBerung in „Agathon", daB das Böse sich nicht auf einmal gut machen laBt, daB in der moralischen Welt wie in der materiellen nichts in gerader Linie sich fortbewegt und man also selten anders als durch viele Krümmungen und Wendungen zu einem guten Zweck gelangen kann.1) In der Art und Weise, wie er im „Goldenen Spiegel" seinen Fürsten bei allen MaBnahmen zur Reform der obwaltenden Verhaltnisse vorsichtig vorgehen laBt, unter Schonung der Empfindungen der Massen, scheint Wieland davor warnen zu wollen, sich in seinen Handlungen nicht bloB von Ideen leiten zu lassen, aber dabei die Umstande genau zu berücksichtigen. Besonders mit Hinblick auf die religiöse Überzeugung scheint ihm dies das einzig richtige Verfahren.2) Es leuchtet aus dem, was wir hervorhoben, ein, daB es absolut unmöglich ware, aus Wielands Schriften seine Gedanken über die Fürstenerziehung in einem System zusammenzufassen, ebenso wenig wie die über die Erziehung überhaupt. Seine Bemühungen jedoch um die Aufklarung der Vernunft seiner Zeitgenossen haben eine bewuBt padagogische Tendenz. In seinem Denken kreuzen sich die allgemeingültigen Ideen seines Zeitalters, die er vielfach künstlerisch gestaltet hat. Seine Romane sind Belehrungen in gefalliger Form, seine Helden die Trager der Hauptgedanken des Rationa- ') Agth. m Buch XIH/1. Hp. 111/34. 2) Goldsp. 11/14. Hp. XIX/140. lismus. Dennoch sind sie als Kunstwerke zu betrachten, und zwar nicht nur wegen der glanzenden Gabe des Erzahlens, durch welche es ihm gelingt auch den modernen Leser, wie in dem Banne einer anziehend heitern Konversation, mitzureiBen. Man hat wahrend der Lektüre fortwahrend die Empfindung, alsob ein überlegener Geist, manchmal mit leiser Ironie auf die verschiedensten Lebensprobleme hindeutet und mindestens theoretisch eine Lösung versucht. Seine Romane sind allerdings mit philosophischen Betrachtungen überladen. Manchmal dürfte man durch ganze Seiten hindurch vergessen, daB man einen Roman und keine popular wissenschaftliche Abhandlung vor sich hat, aber er versteht es, seinen Leser festzuhalten. Eine derartige künstlerische Begabung ist schon an sich durchaus nicht gering zu schatzen, aber dennoch darf man seine Romane auch in höherm Sinne als Kunstwerke bezeichnen. Wenn man sich in die Verhaltnisse, unter denen sie entstanden, einzuleben versucht, wird man sich dessen immer klarer bewuBt, daB sie aus einem bewegten Herzen geschrieben wurden. Aus manchen Stellen spricht eine ehrliche Entrüstung über den GewaltsmiBbrauch der damaligen herrschenden Kreise und eine innere Angst wegen der wahrscheinlich furchtbaren Folgen dieses MiBbrauchs derart zu uns, daB der Eindruck entsteht, wie der Verfasser nicht nur schreiben wolle, sondern von einem wirklichen Herzensdrang dazu genötigt wurde. Wir empfinden bald, daB es sich nicht bloB um die Verhaltnisse der Gesellschaft handelt. Obwohl der Geist des Zeitalters, jener Geist der Aufklarung ihn ergriffen hatte, beunruhigt dieser ihn andrerseits dennoch infolge der Neigung, die Gesamtheit der Lebenserscheinungen von einem kalt vernünftigen Standpunkt ohne innere Ergriffenheit zu beurteilen. Er weist in seinen Werken auf die Möglichkeit hin von einem vernünftigen Standpunkt aus manches Unrecht mit Erfolg zu verteidigen. Die Vernunft und das Herz sollen eine innigste Verbindung eingehen, aber die Regungen zu den tugendhaften Taten sollen vom fühlenden Herzen ausgehen. Die Grundlage zu unsern Handlungen hat die Empfindung der Ehrfurcht zu bilden, jener Ehrfurcht, die uns in jedem den uns wesensgleichen Mitmenschen erblicken laBt, jene Ehrfurcht, die es den Tücken der Herrschsucht nicht gestattet, dem Fürsten als dem Höchsten in der Gemeinschaft einen andern Begriff seiner Würde beizubringen als diesen, er sei ein Mensch unter vielen Hunderttausenden; und wenn das Schicksal ihn vor diesen vielen auszeichnet, so ist es nur deswegen, weil es ihm die Pflicht aufbürdete, den groBen Massen der Andern uneingeschrankte Gelegenheit zu bieten, ihre Humanitat auszubilden. Bei alledem darf jedoch die Vernunft niemals versaumen, die Regungen des Herzens zu kontrollieren, denn nicht weniger als eine Tendenz zur Vernünftelei erkennt er in sich selbst eine solche zur Schwarmerei und zur süBlichen Empfindsarr.keit. Er hat geahnt, daB in diese Stimmungen manches von der versteekten nach Ersatz tiefer, menschlicher Empfindungen haschenden Lüsternheit des Zeitalters sich verhüllte. Er hat empfunden, daB man durch die Phase des Philosophierens und des Schwarmens hindurch muBte zur Tat, zur praktischen Reform. Die vornehmsten Trager seiner Ideen ringen sich durch zur Tatigkeit, durch welche sie im AnschluB an die vorliegenden Verhaltnisse die möglichen Reformen zustande bringen. Am deutlichsten tritt dies in „Agathon" hervor, in welchem Roman dieser Held die ganze Wucht der allgemeinen Ideen und unbestimmten Empfindungen abzustreifen und auszumerzen hat, bevor er tatsachlich dazu fahig erscheint, zum Wohle der Menschheit einiges beizusteuern. Seine idealistischen Reformer1) sind schlieBlich ungeachtet der Verschwommenheit ihrer Schilderung Manner der Tat. Besonders in „Agathodamon" wird die Notwendigkeit zur Anwendung der nachsten Mittel dargestellt, wenn Verhaltnisse vorliegen, deren unmittelbare Verbesserung möglich scheint. Es kündet sich auf diese Weise in Wielands Werken leise das Herannahen einer Periode an, wo die Menschheit nicht langer nach allgemeinen Begriffen über ihren Wohlstand philosophieren, sondern die Lösung der verschiedenen Lebensfragen in praktischer Tatkraft zur Hand nehmen will, oder wie man auch sagen könnte, in seinen Werken kündet sich über die Romantik hinweg ganz leise das 19. Jht. an, obwohl er dure seine Versuche zur Rettung religiöser Lebenswerte, zumal durch den an den Pietismus wie an Rousseau verwandten Irrationale mus, in der Gottesvorstellung gleichfalls dem Gotteserlebnis der Romantik vorarbeitete. Den Passatismus2) der Romantik hat er me geteilt; die Geschichte war ihm nicht Aufbruch und Einleben des Vergangenen, bloB ein Spiegel der menschlichen Tugend und Narrheit. Daraus laBt sich seine Fahigkeit erklaren, dasjenige. was er als den Sinn der Geschichte empfindet, in romantischer Form in seinen Dichtungen darzustellen. 1) Goldsp. Tifan; Agathodamon. , . 2) Kurt K. F. Wais. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 10. Jahrg. 1932. Heft 2; 271 fF. Wieland ist ein Kampfer für die Glückseligkeit der Menschheit gewesen, aber ein Kampfer durch allgemeine Ideen. Er war keine agressive Natur, die um ein reales, bedrohtes Gut seinen persönlichen Wohlstand gefahrdet hatte; wie denn die bestehende Ordnung sich durch seine Schriften kaum wirklich angegriffen fühlen konnte. Man stieB immer auf bekannte Gedankenverbindungen, wahrend man AuBerungen, die als zu freimütig berühren mochten, übersehen konnte, da sie sich anscheinend auf Zustande bezogen, die mit den tatsachlich bestehenden Gesellschaftsformen nichts zu schaffen hatten. Es ware jedoch ein Unrecht, Wieland daraus einen Vorwurf zu machen. Zunachst war er ebensowenig ein praktischer Organisator wie ein praktischer Padagoge; er hat sich beschrankt auf das, was unter den obwaltenden Verhaltnissen möglich war, indem er versuchte das ethische BewuBtsein aller Kreise wachzurufen. Dann lag für ihn, auch wenn er dazu fahig gewesen ware, nicht der geringste Grund vor, wegen irgend welcher gesellschaftlichen Errungenschaft seine persönliche Existenz in die Schanze zu schlagen. Politische Rechte hatten die Bürger überhaupt nicht, wahrend er darauf hinweisen durfte, daB in dem kleinen Staate, welchem er angehörte, das Mögliche getan wurde, die von ihm vertretenen allgemeinen Ideen einigermaBen zu realisieren. Die Tatsache, daB seine Schriften seine Berufung nach Weimar zur Folge hatten, vermochte ihn gleichfalls von dem Standpunkt aus zu befriedigen, daB seine wohlmeinenden Ratschlage bei einer menschenfreundlich gesinnten Fürstin ein geneigtes Ohr gefunden hatten, so daB er zu einiger Hoffnung berechtigt war, daB die von ihm befürwortete Arbeit der Amfklarung, wenn man nur Zeit und Geduld haben, am Ende die erhoffte Frucht bringen würde, um so mehr als er Zeuge der Arbeit eines Friedrich I. und Joseph II. gewesen ist. SchlieBlich sollte, wenigstens vorlaufig, alles für das Volk verrichtet werden, und nichts vom Volke ausgehen, ein Prinzip des aufgeklarten Despotismus, dem Wieland aus vollster Uberzeugung zuzustimmen bereit war. Der einsichtsvolle Gebildete hatte nur die Aufgabe, mit unermüdlicher Ausdauer an der Aufklarung der Geister zu arbeiten und sich zu wiederholten Mahnungen aufzuraffen. Aber gerade indem er in dieser Hinsicht beharrlich war, zeigte er sich einen unversöhnlichen Gegner der reaktionaren Machte, welche die Arbeit der Aufklarung mit Vernichtung bedrohten. Wielands Werke erscheinen uns wortreich, wir stoBen auf ahnliche Gedanken und Bilder, die jedesmal wiederkehren; aber es 16 galt denn auch, diese allmahlich zum selbstverstandlichen Gemeinbesitz zu machen, Diese Bemühung war zwingend notwendig, weil genau betrachtet gar nichts, selbst von den für unser Empfinden alltaglichsten Auffassungen feststand. Jeder Satz bedeutete eine These, die gegen wütende Angriffe verteidigt werden muBte; daher Wielands breite Ausführungen, seine Bezugnahme auf entgegengesetzte Ansichten, entweder im Versuch dieselben mit philosophischen Gründen ernsthaft zu bekampfen oder sie durch versteckten oder öffentlichen Spott, manchmal durch Hohn, der Lacherlichkeit preiszugeben. Wielands Schriften sind der Form nach veraltet; die meisten von ihm verbreiteten Gedanken sind im Verlauf von anderthalb Jahrhunderten zum Gemeingut der europaischen Menschheit geworden. Wenn wir uns aber in sein Werk versenken, dann erkennen wir in dessen Verfasser einen redlichen Menschen, der in einem Zeitalter der sittlichen Verwirrung und einer untergehenden Kultur um sittliche Normen gerungen hat, an welchen eine Menschheit sich aufzurichten vermochte. Bald zweihundert Jahre nach seiner Geburt ist sein Denken aber von neuem geeignet, unsre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem wir empfinden, daB er dennoch Grundfragen berührt, die ungeachtet der veranderten Verhaltnisse in unsern Tagen mehr als jemals einer Lösung harren, ^Vie er leben wir am Rande eines Abgrundes; auch wir können nicht wissen, ob eine aller Mangel ungeachtet wertvolle, bürgerliche Kultur, an der wir hangen, sogar wo wir uns gedrangt fühlen, manche Übelstande an ihr zu tadeln, nicht dem Untergang nahe ist. Wenn wir Wielands soziale Erziehung fassen als eine Menschheitserziehung, welche zur Selbstprüfung und Selbsterkenntnis, also zu bewuBter Lebensführung mahnt, hat er auch für unser Geschlecht seine padagogische Bedeutung nicht verloren und redet durch ihn ein Zeitalter, dessen Hinweis auf die unverauBerlichen Rechte des lebenden Menschen gerade in unserm mechanisierten Jahrhundert eine ernste Mahnung heifien darf. ABKÜRZUNGEN. Agth. Agathdm. Abd. Arist. Danm. Goldsp. Goldsp. Her./Les. Göttergspr. Krates und Hipp. Men. Glyc. Nachl. Diog. Phil. Schr. Hp. Barth Heubaum Muther Nouv. Hel. Agathon. Agathodamon. Abderiten. Geschichte der Aristipp. Danischmend. Geschichte des weisen Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian. Der Herausgeber an den Leser. Göttergesprache. Krates und Hipparchia. Menander und Glycerion. NachlaB des Diogenes von Sinope. Philosophische Schriften. Hempel Bd. XXXII. Hempels Ausgabe von Wielands Schriften. 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IIL In zijn romans „Peregrinus Proteus" en „Agathodamon bepaalt Wieland zijn definitieve verhouding tot het Deïsme en het Christendom. IV. De plaats, die de vrouw in Wieland's werken inneemt, bewijst dat z'n verhouding tot het wezen van de vrouw verwant is met die van Goethe. In zijn gedachten over de vrouwelijke opvoeding tracht hij echter zijn vrouwelijk ideaal te vereenigen met de plaats, die de vrouw in de samenleving inneemt. V. Ten onrechte spreekt Robert Petsch naar aanleiding van de ontmoeting van de „Jungfrau van Orleans" met Montgomery van de „hier schon einsetzende Entfremdung gegen ihren Beruf". (Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen pg. 241). VI. Ten onrechte noemt Kiihnemann Schiller s Drama, ,,^Vilhelm Teil" ein nationales Festspiel. (Kühnemann Schiller pg. 526). VIL Hebbel plaatste door 't gebruik van sprookjesmotieven „Siegfried" buiten de wereld van tijd en ruimte en ontnam daardoor aan 't tweede gedeelte van zijn trilogie „die Nibelungen" de eigenlijke tragische spanning. VIII. Evenals „Wilhelm Meister" in Goethe's „Bildungsroman" wordt de gestalte van de hoofdpersoon „Anton Wohlfahrt' in Gustav Freytag's „Soll und Haben" langzamerhand tot symbool. IX. In de epische opbouw van Gustav Freytag's werken ontstaat 't humoristisch charakter door de assimilatie van romantische motieven aan een burgerlijk humane geestesgesteldheid. X. In tegenstelling met de opmerkingen van Dr. Polak zijn de strophen Nibelungenlied 1740—'43, wel als een interpolatie te beschouwen, waarschijnlijk van de dichter van het „altere Epos , die hier oude bestanddeelen van de sage psychologisch juist in zijn bewerking heeft ingeschakeld. (Untersuchungen über die Sage vom Burgundenuntergang" Seite 51 FuBnote). XI. Er bestaat bezwaar de nominatiefvorm hairdeis als klankwettig te beschouwen. Deze zou te verklaren zijn als assimilatievorm aan de genitief hairdeis. XII. De overgang van de stamvocaal „i in de eerste persoon enkelvoud van den tegenwoordigen tijd der aantoonende wijs der werkwoorden, die Braune „Ahd. Gramm. § § 337 en 340 bijeenbrengt onder de klassen Illb en IV, kan slechts worden verklaard, wanneer men voor de „i" van de eerste persoon een andere qualiteit, dan die van de 2de en 3de persoon enkelvoud aanneemt. INHALTSVERZEICHNIS. Seite Kap I Humanistische Tendenzen 9 II Tugend 47 III Individuum und Umwelt 68 IV Frau und Gesellschaft 79 V Freundschaft 97 VI Staat und Erziehung . 109 VII Ethische Erziehung als Selbsterziehung . 151 VIII Religion, Gesellschaft und Individuum . 171 IX Fürst und Gesellschaft 213 Abkürzungen 245 Literaturverzeichnis 247 Stellingen 251 I