LUDWIG BAUER LEOPOLD DER UNGELIEBTE KÖNIG DER BELGIER UND DES GELDES 1934 QUERIDO VERLAG AMSTERDAM Copyright 1934 by Querido Verlag Amsterdam Printed in the Netherlands Druek: N.V. Drukkerij O. J. Thieme, Nijmegen (Holland) INHALTSVERZEICHNIS ERSTER TEIL: EMPOR AUF GEWUNDENEN WEGEN Seite Von Coburg in die Welt , 13 Start i» Beinahe Prinzgemahl 18 Beinahe Prinzregent 24 Beinahe Griechenkönig 28 König der Belgier 31 Onkel und Nichte. 37 Leopold wird unvermeidlich 41 SchluBrechnung eines Glücklichen 46 Belgien als Kafig 5i Zu groB der Vater «1 Zu eng das Hans » Zu klein die Aufgabett r9 Hinaus Kreuzfahrer 58 Lander entdecken 68 Lander bekehren 75 Lander erobern yg Der Mann und der Strom 85 Weg 85 Menschen am Weg gi Der Held g. Die Tarnkappe wird eintraglich 102 Prokurist wird angestellt 102 Firma wird eingetragen 10y Geschaft wird eingerichtet U3 Konkurrenz wird lastig I2i Da kommt der Chef Durch Schwache siegen 133 Leopold entdeckt Amerika 133 Bismarck greift cin I39 Seite Der lachende Erblasser 146 Futterneid urn Afrika I5° Siegesfest I55 Schuld Schulden Verklarung 159 Leopold belügt sein Land x59 Leopold belügt die Welt 163 Leopold belügt sich selbst ï66 ZWISCHENSPIEL Jugend *73 Arbeit 174 GenuB *77 Geist *79 Bildnis l83 Handschrift 186 Charlotte l87 Marie Henriette *92 Louise *95 Stephanie 2°4 Clementine 2°7 Glück 210 ZWEITER TEIL: EIN BÖSER GROSSER KÖNIG König 2I5 Kanonen 2I5 Geld 2I9 Gesetze 223 Griff in viele Taschen 228 Ich verlange nur wenig 228 Geld muB gefunden werden 234 Wir Leopold der Zweite hinterlassen 237 Ein glanzender Einfall 242 Griff nach vielen Landern 25° Feind im Haus 250 Drang nach dem Nil 254 Seite Noch mehr Afrika 258 1895 Agonie und Rettung 263 Congobibel 267 MüBige Erde 267 Trage Menschen 271 FleiBige Peitsche 276 Kautschukhölle 281 Eingang 281 Reportage aus der Hölle 283 Satans Dividenden 291 Der Angeklagte 299 Anklager 299 Leumund 304 Verteidigung 308 Strafaufschub 313 Waterloo mit Geschaft 317 Deckung 317 Offensive 322 Rückzug 329 Kriegskasse 333 SchluBrechnung eines Ungeliebten 337 Aus der Welt nach Coburg 337 Vive le roi 342 Die Liebe kommt 346 Der Tod kommt 352 Skandal und Unsterblichkeit 359 Cecil Rhodes, selbst harter Menschenbezwinger und Eroberer, tritt aus dem Arbeitszimmer Leopolds des Zweiten, Königs der Belgier, und sagt einem wartenden Freunde erschaudernd: „Ich habe denTeufelgesehen I" Cléo de Mérode, in ihren holden Jugendjahren Leopolds Freundin, sagt mir in Paris nach vierzig Jahren in der Erinnerung auflebend: „Ein bezaubernder, liebenswürdiger Mannl" Fernand Neuray, erster Journalist Belgiens, sagt: „Leopold? wollen Sie ihn in einem einzigen Worte haben? — MajestatP' Von diesem Mann wül ich Euch erzahlen. ERSTER TEIL EMPOR AUF GEWUNDENEN WEGEN VON COBTJRG IN DIE WELT Start SOLANGE Napoleon Glück batte, liebte er zu sagen: „Glück ist eine Eigenschaft 1" Es hat in Europa vor hundert und mehr Jahren eine Familie gegeben, die diese Eigenschaft in hohem MaBe besaB: Coburg. So hieB ein kleines und gar nicht sehr begütertes deutsches Förstengeschlecht. Es batte etwa vierzigtausend, wir wollen hoffen, glückliche Untertanen zu beherrschen, und ein rustiger FuBganger konnte ihr Landchen bequem von Norden nach Süden und von Osten nach Westen an einem einzigen Tag durchschreiten. Dort wurde 1790 dem regierenden Fürsten ein dritter Sohn geboren, der Leopold getauft wurde. Einige Jahrzehnte spater regierten Coburger mehr oder weniger in England, saB jener Leopold als König eines frischgebackenen Königreiches in Brüssel, waren se ine Schwestern englische Prinzessin und russische GroBfürstin, wurde seine GroBnichte preuBische Königin und deutsche Kaiserin, gab es einen coburgischen Prinzgemahl in Portugal, wurden Coburger als Fürsten in Spanien kandidiert, in Griechenland verlangt, spater in Bulgarien ausgerufen und dann abgedankt. Das ist, nehmt alles nur in allem, für eine Familie immerhin eine vorteilhafte Entwicklung. Dabei ist noch unerwahnt geblieben, daB zu diesem coburgischen Besitz sehr vorübergehend Mexiko gehorte und dauernd Canada, Südafrika, Australien, Indien, Agypten und viele andere weitlaufige Gebiete, die aufzuzahlen der Raum mangelt. Ferner kam dazu ein Reich von fast zweieinhalb Millionen Quadratkilometern, kaum eben entdeckt und schon gewonnen, das der Congostaat genannt wurde. Niemals wurde ein Imperium so schlau und sozusagen anonym geschaffen, was darzustellen sein wird. Aber wir sind noch lange nicht so weit. Wir sind jetzt bloB bei einem kleinen deutschen Prinzen von Coburg, der Leopold heifit. Die Statistik ist eine unvollkommene Wissenschaft, und so kann heute nicht festgestellt werden, ob es urn 1800 dreihundert oder fünfhundert deutsche Prinzen gab. Begnügen wir uns mit der Tatsache, daB sie wimmelten und daB von ihnen allen nur die Coburger so hoch kamen. Sie waren meistens hübsch, und da es von ihnen genug gab, wurden gleich drei Prinzessinnen zur Auswahl nach RuBland geschickt, wo die Zarin Katharina für ihren zweitgeborenen Sohn Konstantin eine Frau suchte. Gleich ihr selbst, die als kleine deutsche Prinzessin nach RuBland eingeführt worden war, wurde auch Juliane, Leopolds alteste Schwester, GroBfürstin. Die Ehe war für die Frau nicht glücklich, sie wurde geschieden, aber Leopold fand keine Veranlassung sich ebenfalls von der Zarenfamilie zu scheiden, und schon der Ftinfzehnjahrige war Mann genug, Beziehungen auszunützen. Ein halbes Jahrhundert spater bemerkt der österreichische Gesandte Graf Woyna bei ihm „eine ausgezeichnete, fast ausschlieBlich eigenen Interessen zugewandte Klugheit. Er nimmt nur in genauester übereinstimmung mit seinem Vorteil sich einer Sache aufrichtig an." Das gilt schon für den Knaben, der mit fünf Jahren als russischer Kadett Papierdienst leistet, mit fünfzehn als Oberst ins Zarenheer eintritt und sogar persönlich zugegen ist, wie die Sonnen von Austerlitz und von Napoleon aufsteigen. Allerdings will Napoleon nicht, daB er im russischen Heer verbleibt, und Leopold verzichtet dann auch nach Erfurt gehorsam auf die Uniform des Zaren, möchte sie gern mit der französischen vertauschen, doch noch in St. Helena will Napoleon sich erinnern, daB er Leopold als Adjutanten abgelehnt hat. Er hatte überhaupt Arger mit diesen Coburgern, die anderen dienen bei den PreuBen und österreichern, und der Kaiser ruft erzürnt aus: „Wo immer ich mich schlage, ist bei meinen Feinden ein Coburger." Damals empfieblt es sich nicht, Napoleon zu reizen, es ist eine schlechte Zeit für deutsche Prinzen, sie verlieren dutzendweise ihre Lander, und also bemüht sich Leopold, im BHckfeld des unangenehmen Korsen zu bleiben, der soeben, allerdings überaus vorübergehend, der ewige Freund seines kaiserUch russischen Bruders Alexander wird. So vertauscht Leopold sein allzu ruhiges Coburger SchlöBchen mit dem lebhafteren Paris, so wirkt er, nicht zu seinem Nachteü Russe, mit am Spaher der Majestaten und Hoheiten des Erfurter Fürstentages, mit dem der EmporkömmUng seine Macht bestatigt, urid er darf mit den anderen Serenissimi urn das Stammlandchen zittern, das vertauscht, umgepackt und verschluckt werden könnte für irgendeinen der Napoleoniden. Peinliche Jahre, in denen Leopold lachelt, lernt, beobachtet und schnuppert. Er hat eine hübsche und vortrefHiche Nase, die gut zu wittern weiB, und mit ihr riecht er, daB dieser korsische Weltherrschaftsunfug nicht lange dauern wird. Ganz still und vorsichtig spielt er gegen Napoleon a la baisse, und wie 1812 die „grande armee" in RuBland einsinkt, da rat in Breslau ein netter junger Mann, der schon wieder seine russische Üniform angezogen hat, dem PreuBenkönig, von Napoleon abzufallen und mit den Russen zu genen. Der Rat wird vorerst von den Hohenzollern nicht angenommen, aber die Sache bleibt lehrreich genug. SchlieBlich ist dieser Prinz Leopold doch nur ein hübscher Niemand, und er versucht dennoch, mit seinen eifrigen Vorschlagen den König zu erobern und geradewegs in die Weltgeschichte einzugreifen. Niemand hat es ihm erlaubt, er erlaubt es sich selbst, und indem er sich zur groBen Wendung entschlieBt, beweist er Eigenschaften, die in Verbindung mit ein wenig Glück entscheidend zu sein pflegen: Selbstsicherheit, besonnene Klugheit, die den Augenblick erfaBt, politische Leidenschaft und einen unwiderstehlichen Hang, unablassig auf die Menschen, besonders auf die führenden, zu wirken. Leopold ist vorsichtig, wagt ungerne, doch wo es notwendig ist, da wagt er. So ist er denn auch als erster deutscher Fürst wieder bei den Russen, empfiehlt sich durch solche Treue seinem Gönner, dem Zaren, und er folgt in Kulm sogar persönlich mit Heldenmut sich anstrengend und dann sofort auch mit Georgs- und Maria-Theresien-Kreuz behangt, dem Siegeszug der Verbündeten gegen den Kaiser Napoleon, der sich bald in den General Bonaparte zurückverwandelt und spater sogar ein gefangener General werden wird. Leopold aber zieht mit dem Schwarm der anderen Fürstlichkeiten, die nun endlich ihre verspatete Revanche an der französischen Revolution nehmen können, in der guten Stadt Paris ein. Ein schlank und hoch gewachsener, auffallend hübscher junger Mann — allein niemand würde ihm zutrauen, daB er in noch nicht einmal zwanzig Jahren Prinzgemahl oder Prinzregent von England oder König von Griechenland oder König der Belgier wird und sich aus Paris die Königstochter als Frau holt. Niemand? Einer ist doch da, der ihm jede Möglichkeit zutraut, und das ist Leopold selbst, der spater den Satz wagen wird: „Vertrauen auf Erfolg bedeutet oft den Erfolg selbst." Das ist nicht leere Prahlerei, er arbeitet unablassig für diesen Erfolg, früh kermt er die Menschen, er weiB sie zu gewinnen, er interessiert sie für sich, indem er sich für sie zu interessieren scheint, er ist immer anwesend, wo es einen Vorteil gibt, und er versteht die beiden höchsten Künste bis zur Meist er schaf t: vorzubereiten und zu warten. Hat er in Erfurt Napoleon gehuldigt, so erblicken wir ihn in Wien auf dem KongreB unter jenen, die Napoleon absetzen. Aber er hat dort noch Bedeutenderes zu vollbringen, er hat mitzuhelfen, daB das Coburger Land vergröBert wird, und es scheint, daB er für Coburg aus der Nachbarschaft einige Hundert neuer, getreuester Patrioten gewinnt. Er wird spater um griechische Insein oder urn belgische Provinzen ebenso eifrig kampfen, immer von der Heiügkeit coburgischer Interessen überzeugt und stets national erglübend, bloB, daB jeweils die Nation sich andert. Im Gefolge des Zaren erscheint er in Paris und London. Ist augenblicklich kaum viel mehr als ein fürstlicher Honing, und er konnte, genau besehen, nichts anderes erwarten als irgendwo als russischer General oder Hofschranze zu sterben. Aber er verfügte über Verbindungen; wenn er auch kein Reich besaB, so hatte er doch sich selbst, und die nachste und beste Aussicht des Fünfundzwanzigjahrigen, der auf allen Festlichkeiten auffiel, war eine gute Heirat. Jene Lebensregel, vor Jahrhunderten den Habsburgern gegeben, wurde auch für den Coburger Gesetz. Wer war in England das Madchen, am vor teilhart est en zu heiraten? Sie heiBt Charlotte, ist das einzige Kind des Prinzregenten und spateren Königs Georg IV. von GroBbritannien, nach ihm berufen, das gröBte und starkste Reich des Erdballs zu regieren. Aber ihre Hand ist vergeben: Wilhelm, Erbprinz der Niederlande, gilt als ihr offizieller Brautigam, es ist bereits den Generalstanden des Königsreiches und den fremden Höfen mitgeteilt. Also keine Aussichten für Leopold von Coburg — ? Die Begebenheiten seines Lebens und spater jene sei» nes noch erstaunlicheren Sohnes werden uns beweisen, daB es durch hundert Jahre für einen belgischen Leopold immer Aussichten gibt. Das war keine glückliche Verlobung zwischen Charlotte von England und Wilhelm von Holland. Charlotte hatte nur emgewilligt, um jener authentischen Hölle zu entfliehen, die Buckingham Palace damals war; aber sie wehrte sich gegen das abgelockte Ja, wollte nicht dem Mann nach Holland folgen. Das ging nun monatelang in Unterredungen und seltsamen Briefen, die wahrhaftig nicht jene eines zartlichen jungen Madchens waren. Unentschieden wogt der Kampf; werden England und Hol- 2 land sich unter derselben Herrschaft vereinigen? Und wird der Prinzregent die ungeliebte Tochter aus dem Lande treiben können, was ihm viel wichtiger ist? Am 6. Mai 1814 war es noch möglich. Doch am 7, Mai 1814 kamen die siegreichen Monarchen, die Napoleon nach Elba abgeschoben haben, in London mit ihrem TroB von Fürstlichkeiten an. Darunter ist auch dieser Prinz Leopold, den ein Bewunderer etwas schwarmerisch ergeben „einen der schönsten Man* ner unserer Zeit" nennt, ein Urteil, das angeblich Napoleon teilte. Das ware belanglos, folgenschwerer erweist es sich, daB auch die Prinzessin Charlotte Napoleons Geschmack teilt. Sie iieht Leopold und sagt ihrer Tante, der Herzogin von York, sie möchte ihn, der ihr sehr gefallt, gerne naher kenden lemen. Tante York, kuppelfreudige deutsche Prinzessin, weiB, daB sie damit ihren Schwager, den Prinzregenten, argert, verspricht es und halt sogar ihr Wort. Und am 16. Mai, neun Tage nach Leopolds Einzug in London, bekommt der Oranier das Nein seiner Braut. Ein Start ohne Beispiel. Das Rennen dieses Lebens verspricht glanzend zu werden. Beinahe Prinzgemahl Unzweifelhaft sieht es so aus, als wollte der junge Coburger sich möglichst vorteilhaft verkaufen. Aber wenn dies wahr ist, bleibt es doch nur ein schmahlicher und winziger Teil der Wahrheit. Leopold war viel zu klug, hatte einen viel zu sicheren Instinkt des Erfolges, als daB er jemals seinen Vorteil und sein Geföhl nicht in vollkommene Übereinstimmung gebracht hatte. Um nicht als fürstlicher Glücksritter und Jager lan eine Mitgift zu erscheinen, die GroBbritannien hieB, gab es ein vortreffliches Mittel: er muBte die Prinzessin Charlotte aufrichtig Ueben. Unverzüglich liebte er sie dénn auch aufrichtig. AuBerordentliche Schwierigkeiten waren zu überwinden, alles schreckte ab. Die Prinzessin war wohl jung, ziemlich hübsch und lebhaft, aber unerzogen, heftig und unbeherrscht. Ihr GroBvater, König Georg der Dritte, tobte im Wahnsinn, ihr Vater und ihre Mutter haBten sich wild, es gab im ganzen Vereinigten Königreich keine unglückhchere Ehe, und spater föhrte der König Georg der Vierte gegen seine Frau, die Königin Karoline, jenen furchtbaren EhebruchsprozeB vor dem Oberhause, der in der Skandalgeschichte der Höfe einen haBlichen Weltrekord behauptet. Charlotte, von ihrer Mutter getrennt, die sie nur einmal wöchentüch sehen durfte, erbielt von ihrem harten, genuBgierigen Vater memals ein zartliches Wort. Sie urteilt: „Meine Mutter war schlecht, aber sie ware nicht so schlecht gewesen, wenn mein Vater nicht noch viel schlechter gewesen ware." So spricht ein kaum zwanzigjahriges Madchen, und es mag ein furchtbares Wagnis erscheinen, ein Madchen zu heiraten, das dies sagt, dies zu sagen wagt, und es mit Recht sagt. Zu diesem unaufhörlichen taglichen Krieg des damaligen Prinzregenten mit seiner Frau kamen die Streitigkeiten und Bosheiten aller Verwandten und ihrer Klientel untereinander, der lange Kampf urn Charlottens Verlobung mit dem hollaridischen Erbprinzen, der dahin fübrte, daB sie von ihrem Vater zu ihrer Mutter entfloh, weil der Regent sie strafweise einschlieBen wollte und tatsachlich in halber Verbannung und Haft hielt. Erbprinz Wühelm hatte berechtigte Ursache, dem Coburger zu zürnen, dieser nahm ihm die Frau, und er wird ihm, das Schicksal hatte sie nun einmal zu Gegenspielern bestimmt, fünfzehn Jahre spater auch noch ein Königreich fortnehmen. Einstweilen scheint Leopolds Wunsch tollkühn. GewiB ist, daB er vom ersten Tage an, da er englische Erde betritt, keinen anderen hatte, und er entwickelt gewinnenden Takt, siegreiche Ruhe und unerschütter- liche Zahigkeit, auf welchen Grundmauern das hohe Gebüude seines Lebens sich erhebt. Das erregte, unbeherrschte Madchen, das bisher in seinen Empfindungen schwankte, kommt ihm seelisch nahe und er laBt sie nicht mehr los. Der Prinzregent, ihr Vater, ist ihm nicht wohlgesinnt; Leopold bleibt gegen ihn höflich und ergeben, aber er laBt sich nicht hindern, gegen den Willen des Vaters die Beziehungen zur Tochter auf recht zu erhalten. Glücklicherweise gibt es wohlgesinnte Onkel, und es spricht für Leopold, daB sein Gönner gerade der Herzog von Kent ist, von den sieben königlichen Brüdern der geistig regsamste und Uebenswürdigste. Der Herzog von Kent und spater sein Hofmarschall vermitteln die Briefe von Charlotte und Leopold. Der junge Mann ist nicht bloB ein sehr fleiBiger, sondern auch hinreiBender, wenngleich mehr bedeutender als glühender Briefschreiber gewesen. Doch damals war es notwendig, daB er glühte, und so vermochte er auch dies. Briefschreiben war in j enen verflossenen Zeiten, in denen die Menschen einander etwas zu sagen hatten, eine Form der Macht und Menschenbeherrschung, und es ist deshalb zu unterstreichen, daB die Coburger teilweise Briefschreiber ersten Ranges waren. Vor allem Victoria, Königin von England und des pnichtbewuBten gesunden Menschenverstandes, ihre Tochter in Berlin, die beiden Leopold. Sie übten in diesen Briefen die legitime Diktatur der Klugheit aus, sie schmeichelten, und drohten, beeinfluBten und gewannen. Auch Leopolds Werbebriefe an die geduckte und verbitterte Prinzessin erreichten ihr Ziel; sie wurde von ihm gefesselt, sie wollte nichts mehr von einem anderen Bewerber hören. Aber wahrend Leopold auf dem Wege über ein gequaltes und wildes Madchenherz England erobern will, erhebt sich Napoleon, aus Elba ausbrechend, und erobert wiederum Frankreich. Leopold konnte nicht in London bleiben und bei der strenge eingeschlossenen Charlotte werben, er war pflichtgetreu genug, auf dem Wiener Kon* grefi alle Minen seiner Liebenswürdigkeit springen zu lassen, und der Abstand zwischen dem mikroskopischen Imperium Coburg und jenem, das er sich von Charlotte erhoffen durfte, mag ihm damals wohl seltsam erschienen sein. Nun aber hat er noch einmal den Verbündeten als wenig angestrengter Heros zu folgen; er nimmt an der groBen hunderttagigen Treibjagd teil, und in Waterloo ist dasWüd erlegt, das groBe schone Raubtier zusammengebrochen. Die Briefe an Charlotte werden zahlreicher und heiBer; schon ist sie beinahe Braut. Leopold ermüdet nicht, durch Onkel Kent weiter zu werben. Aber sehnstichtig erwartet er, wieder nach London reisen, am englischen Hof erscheinen zu dürfen. Er spinnt Netze, hofft und hilft unablassig seiner Hoffnung, Er f üllung zuwerden. Im Januar 1816 wurde er endlich wieder nach London eingeladen. Noch straubte sich der Prinzregent, doch langsam ergab er sich der Festigkeit Leopolds. Die Tochter muBte verheiratet werden, sie war nicht eben lenksam, sie wollte gerade Leopold, den der zukünftige Schwiegervater, des Coburgers geringen Rang und unbezwingliches Strebertum verspottend, den „Marquis peu a peu" nannte. Am 2. Mai 1816 wird der kleine Prinz der Gatte Charlottens, der zukünftigen Herrscherin, als Prinzgemahl Pair von England, Herzog of Kendal mit einer Lebensrente von fünfzigtausend Pfund Sterling, erhebUch mehr wert als das kleine Fürstentum, das Ernst der Fromme einst seinen zahlreichen Nachfahren hinterMeB. Eine groöe und glanzende Zukunft steht vor Leopold. Was für Aufgaben hat er nun zu erfüüen? Zuerst einmal muB er seine junge Frau glücklich machen. Das ist nicht nur so gemeint wie in jeder Ehe, hier wird es zur Staatsnotwendigkeit. Das englische Volk, in Freiheit und Bindung zugleich er zogen, hatte damals seit langem wenig Freude an seinem Königshause. Der Prinzregent galt als böser Schlemmer und seelenkalter Lebemann, die Kö- nigin mit ihrem haBlichen Mulattengesicht als streitsüchtig und zweifelhaft, von den sechs Brüdern des Königs lebte keiner in glücklicher, mit Kjbdern gesegneter Ehe, wie dies dem hauslichen Sinne des Volkes entsprach; sein Bedürfnis nach Liebe und Ehrfurcht blieb unbef riedigt. Es war Leopolds Aufgabe, der Nation dieses Beispiel zu geben. Der lange Krieg gegen Napoleon hatte England verarmt, das Volk bedurfte der moralischen Starkung und einer Hofmung für die Zukunft. Um glücklich verheiratet zu sein, muBte Leopold seine junge Frau erziehen; sie war niemals erzogen worden, in den Krieg ihrer Eltern immer hineingerissen, von Zank, Selbstsucht und Berechnung umgeben. Sie wufite, daB Leopold ein armer Prinz war, dessen Glück sie gemacht hatte; es war also nicht leicht für ihn, Autorit at über sie zu gewinnen. Er muBte vorsichtig, gleichmaBig liebevoll und doch würdevoU überlegen sein. Dies alles als junger sinnenfroher Mann von 25 Jahren inmitten der Verführungen einer sittenlosen Gesellschaft und eines ihm neuen Reichtums. Es scheint ihm gelungen zu sein, das neue Paar lebte zusammen glücklich auf seinem Landsitz und unterzog sich zur Befriedigung des bisher wenig verwöhnten Volkes seiner Pflicht, das Muster eines hübschen, glücklichen und liebenswürdigen jungen Paares zu liefern. Es lieferte. Damit gelang es Leopold auch ein wenig, den hoch auflodernden Neid zu entwaffnen, der sich gegen ihn wendete. Ein Auslander, ein armseliger, deutscher, fürstlicher Hungerleider wurde da plötzüch mit einem Vermogen bedacht und der erste Gentleman des Landes nach dem Regenten; alles wartete darauf, daB er berausfordere und strauchle. Was aber tut Leopold? Er wurde zusehends englischer und er begann dies folgerichtig damit, daB er sich nach der Rente, der Pairage und der Thronerbin Englands auch dessen Sprache aneignete; eine seltsame Reihenfolge. Gewissenhaft verwendete er die Tage seiner schonen Flitterwochen, urn sich von Charlotte in englischer Sprache unterrichten Zu lassen. Dies war zugleich natürlich, klug und komisch, doch es lag nicht im Wesen jener Zeit die Komik zu bemerken. Damals anglisierte sich Leopold erfolgreich und dies blieb ihm, der je nach den Notwendigkeiten seiner Aufgabe zu jedem Nationalismus bereit war, als dauernde Zuneigung zu englischem Wesen. Mit jener wunderbaren Anpassung, durch welche sich die Coburger sozusagen als Spezialisten des Herrscherberufs bei den Völkern eingeführt haben, drang er durch, unmerkbar, aber immerzu. Er trat keiner Partei bei, er beteiligte sich trotz seiner Pairage an keiner politischen Aktion, er liest, er hort, er wirbt gelassen und mit rasch erlernter Hoheit um alle Menschen, die er gebrauchen kann, und gibt sich keine BlöBe. Er ist voll Eifer, zu herrschen, aber er verrat diesen Eifer nicht, ihn interessiert die hohe Aufgabe, seine Intelligenz ist ungewöhnlich, und er hat vor sich die glanzendsten Möglichkeiten. Der Prinzregent ist dick und lebt unvernünftig, verwüstet seine Gesundheit. Und Charlotte ist eine junge blühende Frau, die am 6. November 1817 entbinden wird. Ja, aber ein toter Knabe kommt zur Welt und fünf Stunden spater stirbt die Mutter. In einem einzigen Augenbück verliert Leopold das Kind, die Frau, die Aussicht auf die führendste und machtigste Stellung in der Welt. Ein beispielloses und beneidetes, mit Zahigkeit und Klugheit erobertes Glück löscht aus. Es ist eine ungeheure, eine groBe, aber vielleicht nicht sehr hebenswerte Leistung des Prinzen, daB er auch jetzt nicht verzweifelt und in seinem Schmerz doch rasch sich faBt. Trost in Beispielen der Geschichte sucht. Er könnte sich sagen, daB wenn der Dr. Croft die Wöchnerin richtiger behandelt und ihre Krafte geschont hatte, er Vater, Gatte und zur linken Hand Herrscher eines Weltreichs geworden ware. Drei Monate spater tötet sich der verstörte Arzt. Ware er tüchtiger gewesen, so ware Victoria nicht Königin geworden, hatte sogar niemals gelebt und was dann anders in der Welt geworden ware, darüber mag nachdenken, wer will. Solch ein Nachdenklicher könnte sogar in dem ungeschickten Geburtshelfer Dr. Croft den indirekten Vater Victorias und Erneuerer der engüschen Dynastie erkennen. Jedenf alls: Leopold bliebwürdevoll gef aBt alleinzurück mit einer Rente von Fünfzigtausend Pfund und einem brennenden Wunsch nach Königtum. Schreibt aber 45 Jahre spater: „Ich bin nie so glücklich gewesen wie in jener ersten kurzen Ebe." Nun ist er frei. Wofür? Beinahe Prinzgemahl Kein Zweifel besteht, daB der Prinz die junge ihm entrissene Frau aufrichtig und in seiner kühlen Art sogar glühend geüebt hat. Aber die Wunde vernarbte doch gut; denn schlieBlich ist die einzig wahre und unauslöschliche groBe Liebe seines langen Lebens immer er selbst gewesen. Er muB in sich die Ahnung besessen haben, erfolgreich und alt zu werden. So konnte er sich gestatten, nunmehr ein volles Jahrzehnt seines Lebens, die aktivsten und kraftigsten Menschenjahié ohne ein bestimmtes Ziel zu verbringen. Der Historiker hat über elf Jahre Leopolds vom Tode Charlottens bis zum Beginn des griechischen Abenteuers wenig zu berichten, desto mehr könnten sie den Psychologen interessieren. Was besaB Leopold, als er Charlotte begraben hatte? Fünfzigtausend Pfund Rente, einen groBen Titel und ein zweifelhaftes Vaterland, mit dem ihn nur die kurzen Beziehungen eines flüchtigen Aufenthalts und der Umstand verband, daB er berufen gewesen war, es zu regieren. Ein untiberlegter, kidenschaftlicher, junger Mann mit solchen, in der damaligen Zeit beinahe unbegrenzten Mitteln hatte vielleicht seine Freiheit gesucht und genossen. Leopold blieb in England, das er vor fünf Jahren zum ersten Male betreten batte, obwohl sein Sturz und die Zerstörung seiner Hoffnungen ihn gerade dort am schwersten treffen muBten. Er unternahm nur einige aus Sparsamkeit nicht aHzu lang bemessene Reisen, langerer Aufenthalt im Auslande hatte, laut ParlamentsbeschluB, seine Rente jahrhch urn 20 000 Pfund gekürzt; also blieb er englischer Prinz und unterstrich dies. Er suchte Verkehr mit politisch bedeutenden Leuten, bemüht, in alles hinein zu sehen, und vermied dabei vorsichtig, selbst AnstoB zu erregen. Ein fast groteskes Schicksal wollte, daB ihm nunmehr, freilich ungewisser, eine andere Hoffnung aufglanzte. Es war möglich, daB er, da er nicht neben seiner Frau Prinzgemahl werden konnte, neben seiner Nichte Prinzregent wurde. Hier wird es notwendig, an die absonderlichen Familienverhaltnisse zu erinnern, wie sie 1817 nach Charlottens Tod das engUsche Königshaus aufwies. Es gab damals einen wahnsinnigen König, dessen altester Sohn Prinzregent war. Neben diesem, dessen einziges Kind eben im Wochenbett gestorben war, sechs altliche Herren, seine Brüder. Sie alle haben seit langem ihre Freundinnen, der Herzog von Clarence, nachmals König Wilhelm der Vierte, eine zahlreiche Nachkommenschaft; all das behagliche Glück dieser Lebemanner wird nun zerstört; England bedarf eines Herrschers, und wer noch kraftig genug ist, darf hoffen. Denn bloB ein einziger der sechs Herzöge, York, ist verheiratet, aber kinderlos. So eilen nach Charlottens Tod die alten Junggesellen geradezu stürmisch im Wettlauf zum Traualtar, sechs Monate nach dem Tode der Thronerbin sind dreï von ihnen schon Ehemanner, Clarence und Kent heiraten sogar am selben Tage; das ist fair play, nicht wahr? Clarence erlebt, beangstigend für die Brüder und erregend für ganz England, zweimal Vaterfreuden, aber beidemale sind die Neugeborenen tot. Der Herzog von Kent bat sich um die verwitwete Ffirstin von Leiningen beworben, die einmal vor Jahren ihm einen Korb gab, doch damals lebte Charlotte noch. Nun aber kann die Fürstin hoffen, daB ihr Kind König von England wird, und da entdeckt sie denn auch ihre Gefühle für den fünfzigjahrigen Herzog von Kent. An solcher Übereinstimmung von Gefühl und Interessen erkennt man sie als Schwester Leopolds, der solcherart nochmals in Beziehungen zum britischen Königshause tritt. Ihr gelingt, was die Andern nicht vollbrachten: ein gesundes kleines Madchen kommt am 24. Mai 1819 zur Welt. Eine junge Frau muBte sterben, drei Kinder tot zur Welt kommen, damit spater Victoria ihrem Volke GröBe und Epoche verleihen darf. So grausam und planvoll arbeitet die Geschichte. Nun ist Leopolds Lage verandert. Er steht dem Thron nicht mehr zunachst, aber nur alte und abgelebte Leute trennen ihn von der Macht. Achtzehn Jahre muB Victoria alt werden, bevor sie im eignen Namen regieren darf, wohl möglich, daB er da manche gute Jahre allein oder verdeckt durch seine schwache, ihm ergebene Schwester Prinzregent sein könnte. England blieb also immer noch seine beste Aussicht, und er übt, tadelloser englischer Gentleman, die schwerste Kunst des Wartens. Als der Herzog von Kent stirbt, nimmt Leopold sich seiner armen Schwester und der kleinen Victoria an, gibt ihnen dreitausend Pfund jahrlich von seinen fünfzigtausend, zahlt Schulden für den Onkel und ist dem kleinen Madchen „wie ein Vater", der „geliebteste Onkel", ein „so guter, so vornehmer, so lieber, ausgezeichneter und bester Onkel"; niemals seit Erfindung der Onkel gab es so herrliche Eigenschaftsworte für sie, wie sie sich bei Victoria von England vorfinden. Er darf hoffen, sowohl wenn er für Victoria regiert, wie wenn Victoria selbst regiert, der erste, der führende Mann im Vereinigten Königreich zu sein. Aber wenn man genau zusieht, darf man sich nicht dadurch tauschen lassen, daB Leopold zwischen seinem dreiBigsten und vierzigsten Lebensjabre sich vom gewesenen Prinzgemahl in einen vielleicht kommenden Prinzregenten verwandelt hatte. Die Aussichten waren überaus zweifelhaft, die alten Onkel lebten und lebten immer weiter, und Leopold, so gut er sich zu beherrschen vermochte, wünschte über ein Volk zu berrschen; er fühlte seine Überlegenheit, er wollte wirken, er hatte vorsichtig Liebschaften, die mehr seine Zeit als seinen Ehrgeiz in Anspruch nahmen, sogar etwas wie eine morganatische Ehe mit einer streberisch kühlen deutschen Schauspielerin ist zu verzeichnen, doch es gefiel ihm wenig, in tatenloser Ruhe sich abzuleben. Er war soeinleuchtendintelUgent, er pflegte alle Beziehungen so wohl, daB er gewiB war, keine Aussicht zu versaumen, welche die Geschichte ihm bot. Aber die Nebel der heiligen AUianz verhangten damals solche Aussichten, es war nach den Erschöpfungen der napoleonischen Kriege eine stille Zeit, die Gren* zen erstarrt, der Bedarf an neuen Königen gering. BloB dreimal wurde beabsichtigt, eine neue Dynastie zu grimden. Und in allen drei Reichen, die so weit auseinander lagen wie der Golf von Mexiko von der StraBe von Korinth und vom Armelkanal, dachte man zuerst an Leopold. Diese schmeichelhafte Selbstverstandlichkeit scheint der gröBte Erfolg, den ein Mensch seiner Art erringen konnte. Eines wuchs aus dem andern: aus dem Glauben an sich, aus der Eignung für den Fürstenberuf, aus der Kunst der Menschenbehandlung, aus einer wachen, stets fehlerlosen Klugheit. Sie hatte Leopold dahin gebracht, sich mit Napoleon zu verhalten und des Zaren Günstling zu werden, sich in London die Braut gegen einen widerspenstigen Vater zu erkampfen, und als diese starb, seine Hand f est über die zukünf tige Thronerbin zu halten. Aber er war dennoch jederzeit bereit selbst König zu werden. Dreimal biezu vom Fatum aufgerufen, führte ihn ein weises Glück mehr als eine glückliche Weisheit dazu, an der richtigen Stelle zu landen. Beinahe Griechenkönig Als die Mexikaner sich in langem Auf stand von Spanien losten, stichten sie einen Herrscher, fahig, ihnen aus ihrer verkommenen Umwelt einen Staat zu schaffen. Zum Schutz gegen Spanien wünschten sie einen englischen Prinzen, und irgendwo irgendwann wurde deshalb bei Leopold angeklopft. Vermutlich schien ihm die Sache zu bedenklich und abenteuerlich. Doch sein geistreiches Schicksal Uebte seltsame Anknüpfungen und Gegenspiele, und es verfögte, daB ein Menschenalter spater Leopolds Schwiegersohn, der habsburgische Erzherzog Maximilian mit Leopolds schoner Tochter Charlotte als dilettierendes Kaiserpaar dorthin zogenund beide daran zugrundegingen. Wie Maximilian vorher den Schwiegervater urn Rat fragte, ob er die Sache wagen sollte, erinnerte sich Leopold, dessen Gedachtnis nichts ihm Schmeichelhaftes jemals vergaB, an jenen Antrag. „England befürchtete j edoch, daB dies zu eigennützig sein würde, und mich so weit zu entfernen, würde für Victoria gefahrlich gewesen sein". Die Gefahr, zu eigennützig gewesen zu sein, dürfte den Coburger nicht übermaBig erschreckt haben, eher wobl wollte England, nicht er, den Schein jenes Eigennutzes vermeiden. Vermuthch warnte ihn sein Instinkt. Im Alter freüich war dieser Instinkt, der starkste eines halben Jahrhunderts unter allen Führern Europas schon abgeschwacht, und so trieb seine phantastisch ausartende Besitzgier Tochter und Schwiegersohn in das gleiche Verderben, vor dem er sich selbst bewahrt hatte. Nach vielj ahrigem Befreiungskrieg derGriechen suchen sie sich einen König; er soll ihnen weitergezogene Grenzen, viel Geld ins bettelarme und verwüstete Land und die Gunst Europas bringen. Capodistrias, Nationalheld und provisorischer Prasident, unterhandelt mit Leopolds Vertreter. Leopold ist bereit, sogar zu sehrbereit. Ertastet vorsichtshalber in England auch bei den Führern der Opposition vor. Was die Regierung des Lord Aberdeen ihm verübelt, und statt vorher die nationalen Forderungen als Bedingungen seiner Annahme zu stellen, laBt er sie fallen „aus Höflichkeit," macht aus einer „condition" eine blasse wirkungslose „observation", urn nachher vergebens zu versuchen, sie zurück zu verwandeln. Sichtüch fürchtet er, daB ein anderer Prinz, und es werden mehrere genannt, ihn als Kandidat bei den Machten, die in London auf einer Konferenz zu entscheiden haben, unterbieten könnte. Das hat zur Folge, daB am Ende alle mit ihm unzufrieden sind: die Griechen, die.sich von ihm verraten glauben, die Diplomaten, denen er unzuverlassig erscheint. Als er den Hellenen nicht die von ihnen geforderten Gebiete verschaffen kann, hofft er, coburgisch genug, dies mit Geld ausgleichen zu können und reist nach Paris, urn dort eine Anleihe für Griechenland aufzubringen. Bei dieser Gelegenheit auch für sich als Provision die Hand einer Prinzessin aus dem Hause Orléans. Nach der Verschwagerung mit England jene mit Frankreich, er halt sich sehr hoch im Pr eis. Die Anleihe scheint bewilligt, doch er selbst holt sich in Paris einen Korb. Wie er verdrossen und alle Welt, sich ausgenommen, anklagend nach London zurückkehrt, eröffnet ihm eine Abordnung der Griechen, daB sie die Bedingungen der Machte ablehnen und jeden König davonjagen würden, der ihnen als Zeichen der Verstümmlung ihres Landes aufgezwungen würde. Die Niederlage schmerzt ihn tief, noch nach Jahrzehnten meldet sich die Krankung über den MiBerfolg und er sehnt sich nach dem blaueren Himmel von Hellas, wobei gewiB das humanistische Bildungsideal seiner Jugend mitwirkt, dann klagt er: „Griechenland hatte meine Phantasie, mein poetisches Bedürfnis mehr befriedigt," schmollt, verwöhnter Greis, ein wenig seinem gütigen Schicksal und laBt sich von seinem treuen Stockmar mit der uralt nüchternen Weisheit trosten: „Die SterbHchen sehen an den Dingen, die sie haben, nur die schlimmen, an jenen, die sie nicht haben, nur die guten Seiten." Am 31. Mai 1830 sagt Leopold entmutigt sein Nein, und nun f allt alles über ihn her: Wankelmut werf en die Einen, Spekulation auf die englische Regentschaft die Andern ihm vor. Vielleicht hatte er trotzdem das UnmögHche gewagt, wenn nicht gerade rechtzeitig sein böser Schwiegervater, der König, sehr krank geworden ware und dies Leopolds Regentschaftsaussichten immerhin erhöht hatte. Sehr wider Willen leistete solcherart Georg der Vier te dem verhaBten Eidam einen entscheidenden Dienst und rettete ihn. In der griechischen Grenzsache behielt tibrigens Leopold wie meist in nahen konkreten Dingen Recht; denn wenn er oft nicht weit sah, so sah er doch in der Nahe immer scharf. Die den Griechen angesonnenen Bedingungen der Machte waren unmöghch, und seinem Nachfolger muBte denn auch bewilligt werden, was Leopold versagt wurde. DaB Leopold selbst dies nicht durchsetzte, war die Folge seiner Ungeduld. Zu lange hatte er gewartet, so zeigte er zu sehr, wie wichtig es ihm war, König zu werden; Er beging hier schwere Fehler, und man hatte denken können, daB nun seine historische Aufgabe erledigt sei und er unbeachtet verschwinden würde. Doch das Glück wendet bei seinen Günstlingen ihr Schicksal so, daB aus ihren Fehlern Stufen zum Aufstieg werden. Sechs Monate spater erhielt er die grööte, die aussichtsreichste Möglichkeit, erhalt sie nur, eben weil er sich geirrt hatte und dadurch vor einer entlegenen und aussichtslosen Aufgabe bewahrt blieb. Es war Zeit, daB er auf der Höhe seines Lebens aus dem „beinahe" herauskam: beinahe Prinzgemahl, beinahe Prinzregent, beinahe Griechenkönig. Nun wird er vom Geschick aufgerufen, vor eine groBe Gelegenheit gestellt, ünd hier endlich gibt er sein volles MaB. Leopold wird König der Belgier. König der Belgier 1830: Julirevolntion in Paris. Im August erheben sich die Belgier gegen die ihnen 1815 aufgezwungene Vereinigung mit den Niederlanden. Auf Frankreichs Hilfe vertrauend,bieten sie Louis PhilippeszweitemSohndk Krone an. England, PreuBen, österreich würden niemals solchen getarnten AnschluB Belgiens an Frankreich dulden, das ware der Krieg, so ist der Herzog von Nemours gezwungen, abzulehnen. Die Belgier sehen, daB sie mit den Machten sich verhalten, einen diesen genehmen König finden müssen. Da müssen sie nicht eben lange suchen, der Prinz Leopold ist ja da. Stand immer imVordergrund, wenn es ein Königtum galt, zuerst in England, eben noch in Griechenland. Die Belgier fragen bei ihm an, seines Ja gewiB. Auch sie spüren, daB er, wie dies der Baron Wessenberg witzig genug formulierte, eine „entschiedene Zuneigung" für das Königtum hat. Doch Leopold hat aus der griechischen Enttauschung gelernt, diesmal wird er zurückhaltender sein. Sein feindlicher Schwiegervater ist tot, kein Franzose darf in Brussel einziehen, kein ernstlicher Rivale droht; die Aussichten sind gunstiger. Leopold laBt sagen, er würde sich erst entscheiden, wenn die belgischen 18 Artikel, welche Unabhangigkeit und Grenzen des neuen Königreichs bestimmen und auch alles Finanzielle festlegen, von den Machten auf ihrer Londoner Konferenz angenommen sind. Die Belgier haben es eilig, er aber bleibt, vermutlich bei erhöhtem Pulsschlag, gelassen. Erst als er alle Zusicherungen empfangt, die freilich nachher nur sehr teilweise eingehalten werden, nimmt er an, hat, bevor er England verlaBt, noch den Schmerz, vom Liebsten, das er besitzt, sich trennen zu müssen: von seiner schónen Fünfzigtausendpfundrente. Unmöglich, daB er als fremder König Pensionar Englands bleibt, sein Stockmar muB es ihm aber doch erst eindringüch er klaren. Und dann finden die beiden Herren plötzUch eine Art versteckten Ausgleichs zwischen Leopolds Witwerschmerz und belgischer Königswürde, ein Ausgleich, der beweist, daB Leopold nicht nur für Königtum, sondern auch für das Geld eine „entschiedene Zuneigung" hat. Es wurde ihm vorgeworfen, daB er vielleicht zu sehr sparsam sei. Mit Recht? Jedenfalls wurde das Obst aus seiner Farm in London gut verkauft, es heiBt, das Einiges von den Fünfzigtausend Pfund, die er durch mehr als fünfzehn Jahre von England erha.lt, nach Coburg wandert. Nun bebauptet sein Vertreter Stockmar zur allgemeinen Überraschung, Leopold hatte 83 000 Pfund Schulden, die zuerst bezahlt werden müBten. Schulden? Die Opposition im Unterhaus will dies nicht glauben, sein Vertrauensmann profaniert das Zahlenwunder nicht durch eine rationalistische Schuldenliste, sondern verweigert, von Palmerston gedeckt, jede Aufstellung. Aber es ist zu vermuten, daB der sehr ansehnliche Betrag, in Kaufkraft mehr als das Fünffache des heutigen Pfundwertes, vorher als Betriebskapital künftiger Coburger Herrlichkeit in Sicherheit gebracht wurde, ein Kriegsschatz für alle Falie. Das gibt böse Angriffe, und plötzhch ist dann von der Beliebtheit des Prinzen in England wenig zu spüren, aber Leopold halt durch, er verzicbtet auf die Rente nur nach Abzug der 83 000 Pfund, die ihm ein liebes und nützliches Andenken an England bedeutet haben dürften. Wir werden den gleichen Vorwürfen und für Coburg zu vorteilhaften Abrechnungen achtzig Jahre spater wieder begegnen; da wird dann Leopold der Zweite sein Interesse sehr genau und undurchsichtig vertreten und ein groBes Vermogen verschoben haben. Woraus zu ersehen ist, wie Charaktereigenschaften sicherer noch als Vermogen vererblich sind und wie in der Geschichte des ersten Leopold auch schon jene des zweiten anfangt. Aber noch sind wir bei der Tragödie der jahrlich verlorenen 50 000 Pfund und bei der Komödie der geretteten 83 000 Pfund. Belgien kostet also Leopold viel, aber es erweist sich als gutes und glorreiches Geschaft, das ihm doch viel mehr einbringen wird. Am 21. Juli 1831 zieht er in Brüssel ein. Die Verfassung, vorher festgelegt, gilt als freieste Europas, die Reaktionare verhöhnen ihn als „konstitutionellen Automaten", er selbst beschwert sich bitter über solches Kar* tenkönigtum bei den Deputierten, die ihm die Krone antragen, aber da ist nichts mehr zU andern, in Briefen und Gesprachen nennt er sie eine „Verrücktheit, sie paralysiert alles Gute, das die Königliche Autoritat hier voHbringen könnte", sie ist „zu wenig elastisch", man bat ihm eine „Dornenkrone" angeboten, doch trotzdem funktioniert sie bald vortrefBich, sein EinfluB bleibt immer stark, ebenso jener seiner beiden Nachfolger, durch ein volles Jahrhundert reichen diese schwachen Machtbefugnisse aus, weil Belgien das unwahrscheinliche Glück hat, nacheinander drei Könige ersten Ranges zu besitzen. Anfangs fehlte es nicht an Schwierigkeiten, die Hollander halten noch Antwerpen besetzt, sie beginnen sogar nach SchluB des Waffenstillstandes einen Krieg, um Belgien zurück zu erobern, „ein Teil der Armee verriet, der andere floh", sagt Leopold, der sich dabei, mehr für List als für Gewalt angelegt, keinen Ruhm holte, aber das Land doch bebielt, da die Franzosen rechtzeitig als Retter kamen. Er „organisiert dennationalenGeist", wie er selbstzuf rieden, aber dennoch mit Recht seiner Tochter dreiBig Jahre nachher erzahlen wird, und da bemüht er sich dann, „daB die Konstitution peinlich genau eingehalten wurde, und zwar nicht nur im allgemeinen und ihrem Geiste nach, sondern buchstablich nach ihrem Wortlaut." Er organisierte auch die Eifersucht der Machte, um 3 Belgien dadurch zu schützen. Den Staaten der heiligen AUianz" gilt er als der Sohn der Revolution, als Jakobiner und Umstürzler, ein komisches MiBverstandnis, das ihn sein Leben lang verfolgt: für die Linke ist er rechts, für die Rechte links. PreuBen, RuBland, österreich verweigern ihm lange die Anerkennung. Kaiser Franz sagt wütend: „Wenn ich diesen Vertrag (die Anerkennung Belgiens) unterzeichnen muB, so tue ich es gewiB so, daB man meinen Namen nicht lesen kann. Dieser Vertrag ist eine wahre Schande." Aber er unterzeichnet doch. Und der französiscbe AuBenrninister Sebastiani, der „den Sachsen-Coburg mit Kanonenschüssen auf belgischem Boden empfangen wollte", gibt ebenso nach wie Louis Philippe, als Belgien seine Frankreich deckenden Festungen schleift und die Frankreich bedrohenden belaBt, und ist am Ende noch zufrieden, wenn seine Tochter Louise Marie Königin in Brussel sein darf. Auch hier erreicht Leopold sein Ziel: er hat nunmehr die Töchter der beiden machtigsten Könige geheiratet. Vorher droht er noch nach Paris an Talleyrand: „Man möge es sich nur richtig klar machen, ich lasse mich nicht absetzen, ohne mich bis aufs AuBerste zu verteidigen und ohne viele Andere mit mir zu Fall zu bringen." Die Drohung wir kt. Fast alles wirkt, Leopold zeigt sich als Meister. Die Hollander ziehen ab und erkennen widerwillig Belgien an, der Oranier muB „le Leopold" als Vetter in Brussel hinnehmen. Sogar der russische Zar laBt sich bereden, nachdem Leopold den polnischen General Skyrenetzky aus belgischem Dienst entlassen hat, er bedient sich der verscbiedenen Emigranten und Revolutionare jeweils als Kompensation, eine unwürdige, doch bekömmliche Methode, die sein Sohn anno Boulanger ebenso gegen die französische Republik anwenden wird wie jetzt sein Vater gegen das Bürgerkönigtum. Leopold begründet das belgische Heer, er erkennt rasch genug die Möglichkeiten der Industrie für sein Land. 1846 ist bereits mehr als ein Drittel der Bevölkerung Belgiens industrialisiert und als der Erzherzog Max seinem Bruder Franz Josef Belgien schildert, ist er, sonst durchaus nicht unkritisch, begeistert: „Ein Land, das alle Elemente der Fülleunddes Wohlstands besitzt; üppiger Boden, dicht gedrangte, reiche Stadte, Hafen, Meer, ein praktisch angelegtes Eisenbahnnetz, Handel, Fabriken. Überall zeigt sich ein von den Reisenden unwillkürlich geteiltes Gefühl des Wohlbehagens; überall sieht man zufriedene und freundliche Gesichter. Belgien verdient vollkommen den selbstgewahlten Namen eines Musterlandes, was es hauptsachlich unleugbar dem klugen Gebaren seines Königs zu verdanken hat". Solches glanzendes Zeugnis wird überall bestatigt, und als Leopold sein Regierungsjubilaum feiert, darf er stok ausrufen: „Belgien ist in 25 Jahren um ein Jahrhundert vorwarts gekommen." Nichts ist ihm geschenkt worden, aber seine Klugheit wich jeder Gefahr aus: der Zollunion mit Frankreich, sowie mit dem deutschen Bund, den Konflikten mit den Parteien und den Ministern. Als 1848 Frankreich, Deutschland und österreich in den Flammen der Revolution auflodern, vereinigt Leopold in Belgien die Parteien zu einer nationalen Union, und er darf inmitten des Sturzes seiner machtigen gekrönten Kollegen jene reizende Komödie aufführen, die so ganz sein Belgien als glückliche Insel, Brüssel als Idylle und ihn als Sieger ins Licht rückt. Er beruft den Kabinettsrat und erklart plötzlich feierhch seinen Ministern: „Ich möchte kein Hindernis für das Wohl meines Volkes sein, wenn es eine andere Staatsform wünscht." Worauf die Herren ganz bestürzt sind, und den König anflehen, zu bleiben. Er hat niemals daran gedacht abzudanken, aber er will ihre Aufregung sehen, ihre Beschwörungen horen, sich, ihnen, seinem Volk und der ringsum flammenden Welt bestatigen, wie unentbehrlich er ist. Stolzester Tag eines vollen Lebens und zugleich kühne und listige Tat. Denn wie kann man einen König vertreiben, der selbst zu gehen bereit ist und von allen Seiten zurückgehalten wird? Schlecbtere Tage kommen. Seine Rechnung mit den Orléans war falscb, der Schwiegervater ist nicht mehr ein machtiger König, bloB ein greiser, ohnmachtiger Pratendent, Leopold hat nunmehr keine Stütze in Frankreich, das stets nach Belgien begierig ist, und Louis Napoleon steigt auf, der das Land vergröBern, seine Geltung durch Eroberungen mehren muB. Leopold war einst sehr guter Freund von dessen Mutter Hortense, er hat es von oben herab belachelt, als der junge Napoleon 1831, gleich ihm selbst mit dem „penchant décidé" für eine Krone behaftet, nach dem belgischen Aufstand dort einen Thron sucht, doch der Coburger sah mit sicherem Bliek in ihm den kommenden Mann und vertraute so sehr Louis Napoleons Stern, daB er dessen Wechsel kaufte und daran viel verdiente. Aber er fürchtete allerdings, dafür sein Reich an ihn zu verlieren. Den Gefahrlichen, den er nicht verderben konnte, umspannte er mit den dichtesten Geweben seiner List, erkannte nach dem Staatsstreich als Erster ihn an, verstarkte aber zugleich seine Deckung in England und war unermüdüch, mit bestrickender Freund* Uchkeit ihm überall Knüppel in den Weg zu legen. Immerhin blieb der Abenteurer in den Tuüerien seine stete Sorge, denn gerade das Glück und der Rekhtum Belgiens machten es für den Eroberer noch begebrenswerter. Belgien war Leopold, viel mehr als Ludwig der Vierzehnte Frankreich war, und Leopold war Belgien neben einem machtigen Parlament, ganz ohne Gewalt, ohne Heer und Macht, nur Dank seiner unermüdlichen Klugheit. Um mit Belgien auch skh selbst groB zu machen, muBte er sein Haus verstarken, Coburg in die Welt ausbreiten. Erschrieb, erlistete, erarbeitete sich eine Geltung, die viel weiter ausstrahlte als sein Land. Lange wuchs er: vom kleinen Prinzen zum selbstgemachten König, vom König zum Orakel Europas. Onkel und Nichte Damals gab es in Europa etwa ein Dutzend Königreiche, deren Heere starker, deren Lander fester gefügt und deren Dynastien mit der Erde tiefer verwachsen waren als die rasche Gründung Belgien. Dennoch erreichte kein König aus dem Dutzend an Geltung auch nur im Entferntesten Leopold. Seine persönliche Bedeutung allein, so unbestreitbar sie ist, würde nicht ausreichen, solche Autoritat zu erklaren. Aber Leopold schien von Anfang an der Mann, der so nebenbei insgeheim durch seine Nichte England regierte, er hatte alles getan, diesen Glauben zu erwecken, und nichts krankte ihn so sehr, als wenn einmal ein britisches unzweifelhaftes Nein gegen einen seiner Wünsche der Welt verraten konnte, daB sein EinfluB in London vielleicht doch nicht so groB war. In bewunderungswürdiger Weise hat er fast töchterliche Gefühle für sich auszunutzen verstanden, obwohl die Nichte Victoria von der Königin Victoria durchaus verschieden war: die Nichte war herzlich ergeben, die Königin hielt Distanz, für sie kam immer zuerst England und dann lange noch nicht Leopold. Doch eben die unterstrichene Herzlichkeit der persönlichen Beziehungen, die in vierzig Jahren kaum jemals ernsthaft getrübt waren, schien Leopold einen EinfluB in London zu gestatten, mit dem Europa rechnete und den es ihm jedenfalls in Brüssel honorierte. Die Beziehungen zwischen Onkel und Nichte sind zugleich auch von einer ungewollten Komik, die diese beiden ungewöhnlichen Figuren in nichts verkleinert, jedoch sie menschlicher macht. Es ist unmöglich, die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Backfischs Victoria als Prinzessin wie Königin mit ihrer rührenden Bewunderung für den Onkel zu lesen, ohne zu lacheln. Etwa wenn Leopold seinem Neffen Ferdinand, der nach Portugal als Prinzgemahl reist, ein Heft voll Weisheitsregeln, ein wah- res Vademecum für angehende Könige mitgibt „Directions andadvices", so daB der junge Mann sozusagen nur darin blattern muB, um allen Anforderungen des Metiers zu entsprechen und wenn die begeisterte Victoria darüber in ihr Tagebuch schreibt: „Ferdinand muB mit Onkel Leopolds Unterweisungen Erfolg haben!" Oder wenn Leopold sie brieftich Geschichte als wichtigstes Studium lehrt und ihr an Beispielen zeigt, wie Könige nicht sein dürfen und sie, seiner ihr zu negativen Weisheit überdrüssig, eifrig und ungeduldig ihn einmal um ein positives Beispiel bittet, wie also eine Königin sein solle. Ein Erzieher ersten Ranges, formte er sie, wobei zur an* geborenen Leidenscbaft des Lenkens bei ihm noch der Wunsch kam, Victoria dauernd zu beherrschen, durch sie mittelbar England zu regieren, wenn er selbst sich schon mit Belgien begnügen muBte. Das beste Mittel: ihr den richtigen Gatten zu geben. Natürhch muBte es ein Coburger sein. So sendete er ihr seinen Neffen Albert zur Ansicht, die beiden Kinder gehelen sich, aber wiederum ist da ein englischer König, der nicht will und lieber einen Oranien als Prinzgemahl sahe. Entrüstet schreibt Leopold an Victoria: „Ich bin wirklich erstaunt über das Benehmen Deines alten königüchen Onkels. Diese Einladung des Prinzen von Oranien, dieses ihn anderen Aufdrangen ist sehr seltsam. Erst gestern erhielt ich eine halboffizielle Mitteilung aus England, daB ein Besuch Deiner Verwandten in diesem Jahre nicht erwünscht sei. Wirklich und wahrhch, ich habe nie etwas derartiges gesehen, und ich hoffe, daB es auch Dich etwas aufbringen wird. Jetzt, wo die Sklaverei in England abgeschafft ist, verstehe ich nicht, wieso Du allein wie eine kleine weiBe Sklavin gehalten werden solist, und all das zur Freude eines Hofes, der Dich doch nie gekauft hat, dennes ist mir nicht aufgefallen, daB sie je irgendwelche Ausgaben für Dich gemacht hatten oder daB der König einen six- pence für Deinen Unterhalt gegeben hatte." Man sieht, Leopold weifl sich zu wehren, wo es seinen Plan gilt, er laBt Victoria nicht los. Sie wird achtzehnj ahrig Königin, Albert gefallt ihr, doch noch will siefreibleiben, und nun erwacht in ihr das BewuBtsein ihrer Aufgabe. Indessen kommen Albert und sein Bruder Ernst nach Brüssel unter des Onkels Augen, und für alle Falie unterweist er beide Jünglinge in der Wissenschaft, Prinzgemahl zu werden, denn er weiB doch nicht, für welchen sich am Ende Victoria entscheiden wird, und wenn er zwei Freier bringt, so hat Coburg die doppelte Aussicht und damit auch er. Wahrend er Belgien einrichtet und es zum Musterland macht und dabei an Metternich über seine „harte und undankbare Aufgabe" klagt, richtet er, immerzu beispielhaft, auch seinen Neffen Albert als wahren Muster* knaben her, dieser muB voll von Weisheit sein wie ein Siebzigjahriger und dabei Victoria ge f allen wie ein Zwanzigjahriger. Sie wehrt sich madchenhaft, aber doch auch als Königin, die ihre Macht nicht abgeben will, innerlich widersteht sie, ohne selbst sich dessen schon ganz bewuBt zu sein, dem Onkel-Gott, der aus Brüssel die Menschen nach seinem Ebenbild formen will. Aber wie Albert kommt, ist er „einfach wonnig", wird ihr Gatte; diesmal gibt es keine glücklichere Ehe imVereinigten Königreich als die königliche, und Leopold glaubt nunmehr, Victorias sicher zu sein. Welch ein Irrtum! Er hat siegelehrt, ganz in ihrem Volke aufzugehen, sie hat es aufgenommen, und nun ist sie englisch, wo er sie belgisch benötigte, seine eigene Weisheit wendet sich gegen ihn, und so herzlich ergeben sie ihm bleibt, so sehr steht sie nun zum Interesse ihres Landes. Als er durch England für Belgien eine Vertragsanderung erreichen will, erkennt er plötzlich, daB sie ihm entglitten ist, er verliert da ein wenig die Haltung, und sie schreibt zwanzigj ahrig und doch schon ganz erwachsen, etwas von oben herab: „Ich habe heute einen ungnadigen Brief von Onkel Leopold erbalten, der arme Onkel scheint verschnupft zu sein, daB ich ihn nicht um Rat gefragt habe, aber der liebe Onkel scheint in dem Glauben zu sein, daB er dazu berufen ist, überall zu dominieren. Das ist nun nicht gerade nötig." Noch zweimal versucht er ihren EinfluB für sich zu gewinnen, beidemale weicht sie ihm aus, aber gütig laBt sie ihm einen Schein von Autoritat, durchschaut ihn und liebt ihn dabei unentwegt weiter, eine Leistung, für die man eine Frau, eine Königin und Victoria sein muB. Leopold erlebt an Victoria das Schicksal aller echten Erzieher und Kolonisatoren; je besser sie erziehen und kolonisieren, desto eher befreit sich der Schützling und die Kolonie, finden sie zu sich selbst. Aber der Coburger bebielt an Victoria die getreue und verehrende Freundin, die liebe Verwandte, die gleich ihm sehr Coburgerin war und Europa ein wenig so ansah wie ihre Familie; da gab es lauter Vettern, Nichten, Onkel und Neffen, und das waren zugleich Könige und Kaiser, und da üef Familie und Gescbichte durcheinander. In diesem Familiengefühl, das zugleich ein Teil ihres Königsgefühls für sie war, fanden sich diese beiden in vielem ahnlichen Menschen immer wieder. Sie wollten eine Welt schaffen, in der sie von Residenz zu Residenz sich Du sagen konnten, eine Freimaurerei der Höfe. Schon deshalb erschreckte sie das Jahr 1848 so sehr, hier wankt diese Welt. Leopold wandelt von Stolz zur Beklemmung. Stolz: „Es ist seltsam, daB gerade ich, der ich mich am liebsten aus der Politik zurückziehen möchte, dem Sturm auf dem Kontinent als einziger König habe widerstehen können, und dies, trotzdem ich nur zehn Stunden von Paris entfernt bin'', Beklemmung, wenn er seine Frau, die Tochter des gestürzten Orléans und Kinder betrachtet: „Arme Wesen! Ihr Lebensunterhalt ist in Frage gestellt, und das private und öffentliche Vermogen schwebt in gleicher Gefahr." Victoria beglückwünscht den „gehebten Onkel": „Belgien ist mein Stolz und meine Freude". Eine angenehme und verdiente Quittung, ausgestellt von einer „ergebenen Nichte, die mit Inbrunst betet, daB Deine so befriedigende Lage weiter andauern möge". Überzeugt, daB er sie doch nicht beherrschen könne, bleibt er der nachste Freund, Berater und Menschenkenner, sie sieht, daB ihre hohe Meinung von ihm jene der Welt geworden ist, wozu ihre Treue mitgeholfen hat; für sie schreibt der Zweiundsiebzigjahrige seine Erinnerungen, wobei er Skepsis und Zufriedenheit verteilt, für sich die Zufriedenheit, für die andern die Skepsis. Und als er gestorben ist, da will Victoria seine Leiche haben; Leopold wollte, sie weifl es, neben seiner jungen Frau Charlotte in der St. Georgs Kapelle der West minsterabtei begraben sein. Aber da ist in Brüssel nun ein anderer Leopold, ihr Vetter, der ihr schreibt, es fande sich keine ahnliche Bestimmung in seines Vaters Testament, aber auch wenn sie sich fande, so würde er, Leopold der Zweite, sie nicht ausführen. Es laBt sich begreifen: der Sarg des ersten Königs der Belgier gehort in sein Land, und Victoria, obwohl sie schmollt, versteht es am Ende doch. Weint um den „geUebtesten Onkel", der ihr den „geliebtesten Mann" gab. Blattert in den Papierbergen ihrer Briefe, Tagebücher, Erinnerungen. Was haben diese Menschen doch alles geschrieben und regiert; geschrieben, indem sie regierten, regiert, indem sie geschrieben haben! Leopold wird unvermeidlich Gleich dem Caesar Shakespeares ist Leopold ein „Freund seines Ruhms". Wie er taglich sein Geld mehrt („Man muB von der Zivilliste unabhangig sein, sie gibt den Fürsten das Aussehen von Bettlern"), so mehrt er taglich, daran unablassig arbeitend, seine Geltung in der WeK; die Zinsen wachsen ihm an Ansehen zu. Nicht bloB, indem er unablassig die Coburger hinaufbringt, sie zur auserwahlten Familie macht. Aber jedenfalls sieht er darin ein Fundament seiner Macht. Er ist der gekrönte Heiratsvermittler und daneben lauert er eifrig auf jede Gelegenheit, wo ein Thron frei wird oder eine Dynastie zu grimden ware. In England hat er Victoria zur Hand. Nach Lissabon bemüht er sich, seinen Neffen Ferdinand zu Dringen, und wie dieser dann seinem Sohn die Regierung übergibt und als Lebemann mit einer Freundin zurückgezogen lebt, will Leopold ihn durchaus spater noch als König nach Griechenland haben; wenn ihm selbst schon seinerzeit die Krone entging, soll doch ein Coburger nach Athen. „Zu meiner Zeit batte ich mir alle meine engüschen Hoffnungen reserviert, die Portugiesen sollten dasselbe für Ferdinand tun. Er selbst aber wird nicht wollen." Leopold sendet seinen besten Vertrauensmann nach Lissabon, der dem Lebemann augenzwinkernd zu sagen hat, „daB die Levantiner Erauen sehr schön seien." Dennoch lehnt Ferdinand ab, in Griechenland wird keine Coburger Zweigniederlassung eröffnet. Um Spanien gibt es heftigen Streit der Kabinette. Aber Victorias alteste Tochter heiratet den preuBischen Kronprinzen; so ist ein wichtiger Posten bezogen. Nach den Donaufürstentümern will Leopold seinen zweiten Sohn bringen, den tauben Grafen von Flandern, doch der Sultan will da nicht hören. Aber desto fester knüpfen sich die Bande mit Habsburg. Zuerst gelingt es ihm, seinen noch knabenhaften Erstgeborenen mit der Erzherzogin Marie Henriette, der Tochter des Palatins von Ungarn, zu verheiraten. Er will immer mehr Beziehungen. Seine schone Tochter Charlotte verheiratet er an Maximilian, den jüngeren Bruder des jungen Kaisers Franz Josef von österreich..Max will sich in Mexiko ein Kaiserreich schaffen, und Leopold eifert ihn an: „Das ist ein groBartiges Land, wo man noch viel tun kann. In Amerika sind noch viele groBe Sachen zu reaüsieren, ich würde es gerne sehen, wenn die Coburger diese Aufgabe übernehmen würden." Spater haben sich die Amerikaner ihrer selbst unterzogen, doch auf solche nicht zeitgemaBen und damals uneuropaischen Gedanken kam Leopold der Erste nicht. Und der duc de Brabant, nachmals Leopold der Zweite, ermunterte fast wie des Vaters Echo seine Schwester, die gar keiner Ermahnung zum Ehrgeiz bedurfte: „Es ist ein berrliches Land, wo viel Gutes zu machen ware. Wenn ich einen erwachsenen Sohn hatte, würde ich versuchen, ihn zum König von Mexiko zu machen." Und fügt fromm hinzu, als würde er nicht spater Leopold der Zweite, König der Belgier und des Geldes, groBer Gründer, Geschaftemacher und harter Lebensfürst werden: „Auf Erden muB jedes tapfere Herz es lieben, sich dem Guten zu weihen." Aber als Max vor der Abreise nach Mexiko auf die Thronfolge in österreich verzichten soll, da ist der alte Leopold Schürer des Widerstandes: „Mein Refrain ist, nichts aufgeben, keine eigene Zustimmung zu irgend etwas der art. Konfiskation ist nicht zu fürchten, da sie nicht im Geiste der Zeit ist, nur eigene unvorsichtige Zustimmung bringt einen um alles." Was sich in die Lebensregel zusammenfassen laBt: Immer nehmen, memals geben! Doch ware es Leopold niemals gelungen, mit solch engherziger Weisheit allein zu triumphieren. Er gab gerne, aber niemals Dinge, die ihn selbst armer machten, sondern solche, die ihn erhöhten: Rat, Vermittlung, Hilfe, wo er davon Vorteil hatte, sei es auch nur, den anderen zu verpfiichten. Er war König in einem improvisierten Lande geworden; es dauerte, was anfangs niemand glaubte. Er war verfassungsmaBig am meisten gebunden; denn och wuchs seine Autoritat als Herrscher unbestritten. Metternich gab ihm Warnungen von oben herab, Leopold machte sich ganz klein, entschuldigte bei diesem Reprasentanten des Legitimismus seine Belgier: Sie seien so gut katholisch und gar nicht revolutionar, ihr biBchen Verfassung müsse man ihnen doch ver- zeihen! Und als 1848 Metternich davongejagt wurde, da floh er aus seinem vermeintÜch so sicheren Musterstaat in das nicht revolutionare Belgien, in jenen ruhigen Winkel, und Leopold empfing ihn freundschaftlich, genoB den auserlesenen Triumph, daB jener, der hoch oben ihn heraten wollte, ihn nun als Helfer suchen muflte. Aber schon vorher war des Königs Stellung gewachsen. Er verstand sich auf jeden, der machtig war, er war Ulysses, der Listenreiche, wuBte Überall einen Ausweg, spendete Andeutungen und Enthüllungen, die stets seinem eigenen Interesse entsprachen. So laBt er durch seinen preuBischen Neffen Fritz auf Umwegen Bismarck 1863 erzahlen, wie der Zar das linke Rheinufer an Napoleon konzediere, was ihn, Leopold, entrüstet und wie Eugenie mit den guten Rheinlandernsympathisiere. Denn der deutschfranzösische Gegensatz war für Belgien Lebensinteresse, also muB er immer wieder Victoria als Garantin Belgiens mit kleinen Andeutungen wach halten. Leidenschaftlich gerne vermittelt er allezeit: im syrischen Streit hilft er, Europa den Frieden zu bewahren, in Brüssel wird durch ihn eine groBe Börse der Weltpolitik eröffnet, und alles geht durch ihn. Seine Erfolge legitimieren ihn, seine Hand ist überall, und nachdem er lange und klug genug geraten hat, kommen die Anderen bald von selbst als Klienten, um durch ihn Vorteile zu erreichen. Der Zar schreibt ihm im Krimkrieg, Franz Josef fragt an, der PreuBenkönig, sogar mit Napoleon halt er schlieBlich eine diplomatische Freundschaft, und wenn solche Anregungen, vorsichtige Bitten, versteckte Wünsche nach Brüssel kommen, dann schwelgt der alte Herr, zeigt manchmal sogar solche Briefe herum, sonnt sich im BewuBtsein seiner Bedeutung. Er hat es über jedes Erwarten weit gebracht, man hort auf ihn, man fürchtet sein Urteil, man wirbt um seine Gunst, und er durchschaut dies alles. Und bemerkt nur eines dabei nicht. DaB man da und dort auch ihn selbst durchschaut. Alle benötigen ihn, aber nur wenige vertrauen ihm. Er spielt gerne auf verschiedenen Tischen mit verdeckten Karren, seine Intrigen sind öfters bemerkbar. Vor allem aber seine wachsende Selbstgefalligkeit. Er fühlt sich als Muster, und er hat dieses Gefühl sozusagen seinem ganzen Lande eingeflöBt, das bewuBt sich als Exempel hinstellt und immerzu bewundert werden will. Das weckt bei schlimmeren Schülern gereizte Empfindungen, wie sie ein streberischer Musterschüler auszulösen pflegt. GewiB, man hat Respekt vor Leopold, aber man belachelt ihn. Maximilian erzahlt Franz Josef von Leopolds „süBUchen Flüsterreden". Leopold spiicht immer nnaufhaltsamer und bewundert sich dabei unablassig. Aber immer noch versteht er auch als Greis, zu jedem das Richtige zu sagen, ihn zu packen, der Kreis seiner Interessen ist unbegrenzt, er spielt mit seinen Belgiern wie ein Virtuose auf seinem Instrument, er weifl ihnen stets das Gefühl zu sug-' generen, daB sie machtig, glücklich, edel und vorbildüch sind, er schafft für sie das besondere Schema eines gebildeten, bürgerHchen, freien Kleinstaats, und je freier sie sich glauben, desto gewisser beherrscht er sie. Und ebenso hat er seine Kunst in der Behandlung der Regierungen, der Höfe Europas vervollkommnet. Er hat für die meisten bittere Urteile, zensiert ihre Fehler strenge; sowie bei Bismarck ist auch bei ihm das Talent für Anerkennung nicht sehr entwickelt. Aber sie benötigen ihn, und nach einigen Jahren belgischer Herrschaft ist er durch seine Verbindung von Unermüdlichkeit, Klugheit und ein wenig Zudringlichkeit für Europa sozusagen unvermeidüch geworden. GewiB reizt solche machtlose Macht viele gegen ihn; doch keiner kann um ihn herum. Dieser arme deutsche Prinz aus einem winzigen Fürstentum wurde so etwas wie Europas Mittelpunkt; der letzte, den es hatte, jener Mittelpunkt, der ihm heute fehlt und an dessen Fehlen es vielleicht zugrunde gehen wird. SchluBrechnung eines Glücklichen Leopold hat sich selbst wohl zu sehr geliebt, als daB man ihn stürmisch lieben konnte. Mag sein, daB dies den Frauen gehangen ist, die ihn sein Leben lang begleiteten. Er benötigte sie, aber gestattete ihnen keinen EinfluB auf sich, nur der Mann, nicht der König hatte eine Geliebte. Seine letzte wurde aus der Freundin des Alternden seine getreue Pflegerin, sie stand bei seinem Krankenlager, zu dem die Kinder nur selten zugelassen waren. Es war ein langes, schmerzhaftes und bitteres Sterben. Dutzende von Steinoperationen, der starke Körper des gealterten beau webrte sich lange, bis er greisenhaft zernel. Leopold hatte Zeit, zurück zu blieken, in sich zu sehen, sein Werk zu überschauen. Er hatte sehen können, daB dieses belgische Volk vortrefflich zu ihm pafite: Es war tuchtig, fleiBig, genuBfreudig, stand zwischen den groBen Nationen Europas wie er selbst, gemischt aus Lateinern und Germanen, nahe den Englandern. Es hebte die Ordnung, das Geld, eine gemaBigte Freiheit. Leopold als Deutscher geboren, war russischer Offizier und Englander gewesen, hatte Mexikaner oder Grieche werden können, und überall ware es ihm gelungen, so national wie möglich zu sein; die Einheit der Interessen zwischen Volk und König war ihm Grundsatz, wie sollte er sein Volk nicht lieben, da es doch sein Volk war? Doch nirgends anderswo ware ihm dies so leicht gelungen wie in Belgien, wo alles dabei seinem Wesen entgegen kam. Das kleine Volk konnte ihm keine Macht geben; da er Macht liebte, ihrer bedurfte und für sie als Menschenkenner geboren war, holte er sie sich aus seiner eigenen Persönlichkeit, wobei Land und Geburt wohl unerlaBliche Voraussetzungen, doch nicht mehr sein konnten. Für das Land aber muBte er sehen, die Starken ringsum nicht zu stark werden zu lassen; er hatte von England nichts zu fürchten, aber auf dem Kontinent durf te es nur Gleichgewicht geben, und dessen treuester Hüter war Leopold. Defaitist aus Interesse und damit aus Überzeugung, der in seiner Nahe keinen Starken dulden konnte. So muBte er dem französischen Imperialismus wie der deutschen Einigung Feind sein, das erriet sein niemals irrender Instinkt. Er war so grundsatzlich gegen die Starken, daB sogar im fernen Amerika die Existenz der gewaltigen VereinigtenStaatenjhm gefahrliche Bedrohung dünkte, deshalb hoffte er auf den Sieg der Konföderierten im Sezessionskriege und einen spateren Krieg Englands gegen die Union. Als überhaupt eines aus zwei Vólkern gemischten und im nationalistischen Sinne deshalb kunstbenen Staates war jede Entwicklung zum reinen Nationalstaat ihm unheimlich; in ihr war ja auch sein Belgien und sein Königtum geleugnet. So schien ihm die italienische Einigung unertraglich, und er sendete vor dem italienischen Feldzuge 1859 an Franz Josef einen von ihm selbst ausgearbeiteten Feldzugsplan, denn der König war überzeugt, alles zu verstenen, Verfassungen, Stadtegründungen, Festungsbau und also auch Kriegskunst. Franz Josef kümmert sich allerdings um Leopolds Plan nicht, es gelang dem Habsburger, den Krieg auch ohne jede Hilfe zu verüeren. Niemals begriff Leopold, daB in Solferino gegen die Habsburger eine unerbittliche Entwicklung siegte, er begriff Ideen überhaupt nicht, insoweit sie seinen Interessen entgegengesetzt waren, er hatte auch von dem Wesen des beginnenden Sozialismus, den Problemen der industriellen Arbeiterschaft keine Ahnung, so sehr er sich für die Industrialisierung einsetzte und persönlich samt seinem Land daraus Nutzen zog. Aber er begriff dafür ausgezeichnet Menschen und Interessen, und das genügt, um eine Gegenwart langfristig aufzubauen. Seine gröBte Kraft: die Menschen zu nehmen, indem er ihnen zu geben scheint. Seine Kinder sind für ihn Prin- zen und Prinzessinnen, mehr seine Werkzeuge und Missionare der coburgischen WeltreUgion als atmende, rundum geliebte Einzelwesen. Er konnte zufrieden sein, aber kann er es jetzt, wo er das Soll und Haben seines beneideten und vom Glück hoch emporgehobenen Lebens aufstellt, immer noch sein? Insgeheim hat die Angst ihn niemals verlassen. Unleugbar, die Dinge laufen nun weniger gut. In London starb ihm der Neffe Albert. Die Orléans, die Schwiegereltern sind aus Frankreich verjagt, und Napoleon schielt immer nach Belgien. Der Nationalstaat Italien ist entstanden, die deutsche Einigung marschiert. Der Respekt vor Leopold, er fühlt es, hat nachgelassen, eine neue Zeit ist auf dem Wege, die er wenig versteht. Der zweite Sohn, den er höher als den Alteren schatzt, konnte nicht in Bukarest die Dynastie gründen. Aus Mexiko kommen immer schbrnmere Nachrichten, alle Ratschlage, die er der Tochter sendet, nützen nichts. Und vom alteren Sohn, von diesem Leopold, der ihm nachfolgen soll, halt er wenig. Seltsam, daB solch feiner Menschenkenner sich so im Nachsten tauschte, daB er niemals gewuBt hat, wie ahnlich der Sohn ihm war, nur rücksichtsloser, mehr ins GroBe gereckt. Dabei hat sich das Schicksal erlaubt, die witzigsten Ahnlichkeiten in ihrer Geschichte vorzuführen. Der Vater macht sich aus dem Nichts ein Vermogen, wobei es geheimnisvoll aus England verschwindet, um in der Ferne als gesichertes Königsgut wieder aufzutauchen. Der Sohn wird bei seinem Tode in versteckten Gründungen Nabobschatze vergraben, die dann mit der Paragrafenhacke vor den erstaunten Zeitgenossen aus Niederfullbach herausgeholt werden. Beide Könige sterben betreut von ihren Freundinnen, wahrend drauBen die Legitimen warten müssen. Beide können rnnreiBend liebenswürdig sein, sind voller Listen und ihre Herrschsucht duldet keinen Widerstand. Beide genieBen gerne die Frauen, begierig bis ins Greisentum, trennen aber Ge- f ühl und Staat, es bat niemals eine belgische Pompadour oder Dubarry gegeben. Beide beweisen inmitten einer sogenannten parlamentarischen Monarchie, daB es niemals auf Verfassungsartikel, sondern stets bloB auf Persönhchkeiten ankommt. Beide gebrauchten und vernichteten die Menschen, nur daB der Sohn stark genug war, auf ihre Anerkennung hochmütig zu verzichten. Sein Genie war nicht mit der gefahrlichen Servitut der Eitelkeit belastet, er war aus gleichem Stoff, doch harter gefügt. Den Vater bekümmerten solche Unterschiede wenig. Er wollte nicht schwach und alt erscheinen, er suchte den Tod wie eine unangenehme politische Wendung zu dementieren. So schleppte er sich unter unsaglichen Schmerzen in einem Wagelchen sitzend auf die Jagd, nur damit man in Belgien und überall sagt: Der König jagt, also ist er wohl doch nicht so krank, wie man erzahlt. Er will den Grafen Conway empfangen, er leidet unsaglich, aber er laBt sich ankleiden, herrichten, die Perücke aufsetzen, die Augenbrauen schwarzen, schminken, und will mit dem fremden Minister über dieses Europa plaudern, in dem er so gut zu Hause war. Und wahrend er solche grauenhafte Komödie dem Diplomaten vorspielt, noch sterbend Eindruck erzwingen und gefallen will, ahnt er nicht, wie dieser so höfliche Minister ihn durchschaut, verachthch nach Hause berichtet und den alten noch atmenden König schon zu den Toten wir ft. Immer noch klammer t sich Leopold an diese von ihm gewonnene Welt, die alte Freundin hat schon ihre Koffer gepackt, sie weiB, daB ihres Bleibens in diesem Lande nicht sein kann, wenn er die Augen schlieBt; er aber kann, eine unermüdliche Natur, gar nicht aufhören, gibt noch Ratschlage nach Mexiko, regiert in eine Ferne, die von ihm nichts weiB, aber der Brief an die Tochter verwirrt sich und bricht ab: „God bless you... ich kann nicht weiter." Gott hat der armen Charlotte nicht geholfen, die zerstört sechzig Jahre lang im Wahnsinn verdammerte, aber 4 er half dir, alter Leopold Coburg, gewahrte dir das Höchste seiner Huid: dein volles MenschenmaB zu geben. Selten war ein Schicksal so ganz erfüllt, bis an die aufiersten Grenzen seiner Möglichkeiten. Nun aber ist es genug, lang und schmachtig tritt der Erbe ein. Was war er? Herzog von Brabant, der Titel des Thronerben, nun ist er König der Belgier. Sein Vater, der ausgenossen und ausgelitten hat, liegt schon in der Gruft von Laeken, König der Belgier, das war an skh nicht übermaBig viel, daraus hatte der Unermüdliche viel gemacht. Sein blasser, engbrüstiger, hoch aufgeschossener Sohn muB sich nicht erst aus dem Nichts ein Königreich machen und das Orakel Europas werden. Er wird dieses Königreich halten und mehr: aus dem Nichts her aus blofi durch List und Zahigkeit ein gewaltiges Imperium schaffen. Und noch mehr: Er wird wieder Beispiel sein, was die Bestimmung der beiden belgischen Leopolds war. Nur daB Leopold der Zweite ins Symbolhafte wachst: König einer groBartigen und doch sich erschöpfenden Geldzeit, der einen Kontinent eröffnet, aus Abenteuern Milharden für Handel und Spekulation schöpft, eine geschichtslose afrikanische Welt zwingt, Geld zu machen, einfallsreich, unwiderstehüch, damonisch. Alle Glocken von Brüssel lauten, Leopold der Zweite halt seine erste Thronrede. Ein seltsames Lebensspiel ist aus; ein seltsameres beginnt. BELGIEN ALS KAFIG Zu groB der Vater DER neue König ist als Kind streng gehalten worden, sein Vater, vielbewundert als Beispiel eines freiheithchen Monarchen, war im Hause ein Tyrann, pedantisch und rechthaberisch. Der kleine, wie der heranwachsende Herzog von Brabant bildete durchaus ein bloBes Objekt der vaterlichen Erziehungskunst, die genaue Direktiven an die Lehrer gab, kein Mitspruchrecht duldete und den Sohn zu einem Gehorsam drillte, von dem dieser spater niemals Gebrauch machte. Nicht bloB die königliche imd vaterliche Würde, der Erfolg im Lande und auBerhalb des Landes, sondern auch die ganze Persöiüichkeit des alten Herrschers belasteten seine Familie und Umgebung schwer. Er sprach viel, gut.klug, alle Welt ringsum hatte es als unabanderliche Tatsache hingenommen, daB er immerzu recht hatte. Das erzeugte Ehrfurcht und Ergebung bei den Kindern, aber es förderte nicht die Liebe. Die Königin Louise Marie war eingeschüchtert durch den unablassig Weisheit von sich gebenden, ihr überlegenen Mann, der sie spöttisch ansah, wenn sie laut lachte oder ein Urteil wagte, sie war ihm auch als Frau nichts, sie wuBte, daB er sich Maitressen hielt und am Ende jene lange Beziehung begann, die erst sein Tod löste. Die hauslich stille, freundliche Französin hielt sich an ihre Kinder. Es wird wenig^ oder, um aufrichtig zu sein, nichts Bemerkenswertes über die Knaben jahre des spateren Leopold des Zweiten über liefert. Auch er wurde von dem Vater in den Schatten gedrangt, der Junge bewunderte den Alten, und es ist vomSohne, der so scharf zu tadeln wuBte, kein einziges absprechendes oder auch nur kritisches Urteil über den Vater bekannt geworden. Doch ein so kühler, gebietender, selbstsicherer Mann entfernte von sich neben dem Tadel nicht rninder die Herzüchkeit. Auch war wohl der Altersunterschied zu betrachtlich, fünfundvierzig Jahre, um zwischen Vater und Sohn eine seelische Verbundenheit aufkommen zu lassen; so bestand bloB jene des Berufes und der Interessen. Söhne berühmter Vater finden nur geringen Kredit; die Menschen rachen sich, wenn sie einmal zur Bewunderung gezwungen waren. Genie ist eine unwahrscheinliche Ausnahme, noch unwahrscheinlicher, daB sie sich sofort wiederholen sollte. Man war geneigt, Belgien als Schöpfung eines einzelnen Mannes anzusehen, die unter seinen Erben zerfallen, mindestens aber sinken müfite. Der Zwanzigjahrige ist über sein Alter hinaus eifrig, lernbegierig, ernsthaft, er halt im Senat kühne, in die Welt weisende Reden, aber das interessiert die Leute nicht, die Belgier zucken die Achseln : das sind Knabenworte. Und das Ausland hört gar nicht hin. In Belgien gibt es nur einen Leopold, und dieser ist in jedem Sinne der Erste. Der Vater teüt ihm den Namen seiner Verlobten mit, die der Sohn noch niemals gesehen hat. Man halt den Herzog von Brabant damals für lungenkrank, und wenngleich er nicht haBlich ist, entztickt er die Erzherzogin Maria Henriette wenig, und auch er findet an ihr, obwohl sie hübsch ist, kein Gefallen. Das hindert ihn nicht, denn der Vater hat ihn in der Sprache der Höfe und der Schmeichelei vor den Machtigen unterwiesen, an den dreiundzwanzigiahrigen Kaiser Franz Josef als achtzehnjahriger Brautigam zu schreiben: „Euere Majestat hat, unsere Ehe gestattend, meine hebsten Wünsche erhört und das Glück meines Lebens gesichert." Die beiden geduckt erzogenen und überschaumenden jungen, ftirstlichen Frauenjager hatten vermutlich sich lieber in einem ganz anderen Ton unterbalten. Franz Josef, der überhaupt niemandem Glück brachte, hat es auch dem belgischen Prinzen nicht gebracht: die Ehe war unglücklich. Der Prinz nimmt nur auf seinen Vater, sonst aber, schon jetzt, auf niemanden Rficksicht. Die junge Frau schwankt zwischen Bigotterie und Lebenslust, als sie in Venedig auf der Hochzeitsreise nochmals eine Serenade der Gondolieri hören will, versagt er es ihr. Unerforschlich, ob einf ach nur, um auch in der jungen Ehe sogleich seinen Willen durchzusetzen oder aus Sparsamkeit. Die ersten Tranen fliefien. Leopold hat als Prinz sehr eifrig um Geld gekampft, vor allem um das in Frankreich beschlagnahmte Orléansvermögen, die Erbschaft seiner Mutter. Seine Briefe an den Kaiser der Franzosen in dieser Sache f lillen ein stattliches Faszikel. Er batte es im Blut, daB Geld eine sehr wichtige Sache sei, und er hat es sein Leben lang dann in groBartig maBloser Weise zugleich gerafft und verschleudert, doch bezwungen von seiner Liebe kehrte es schlieBlich immer zu ihm zurück. Es ware statistisch zu belegen, daB in der Mehrzahl seiner Briefe immer wieder Ziffern erscheinen; damit vollendet sich, was schon in seinem Vater begann. Der alte König, der selbst viel in der Welt umhergezogen war, Verbindungen pflegte und in Brüssel mit dem erwachsenen Sohn nicht viel anzufangen wuBte, zieht einen abwesenden Kronprinzen vor. Der junge Mann reiste gerne und viel, weiB sehr viel, er besucht fast ganz Europa, auch Konstantinopel, Syrien, Algier, Tunis, zweimal Agypten, dann sogar Indien und kommt bis nach China. Nirgends zeigt er sich dort als Mann künstlerischer Betrachtung und philosophischer Anmerkungen, ihn interessiert an den Dingen bloB, wie er sie für sich, sein Land, den Glanz seiner Herrschaft dereinst verwenden könnte. Dereinst — das Kronprinzenwort. In Italien sieht er den berühmten Springbruunen des Giovanni de Bologna, und spater laBt er ihn genau nachmachen und stellt ihn in den SchloBpark von Laeken neben einen japanischen Tunn, den er ebenfalls aufbaut, alles durcheinander unter dem blassen flamischen Himmel: höchst kulturlos. Aber er annektiert nicht bloB Kunstwerke und Stile, die Gegenwart und ihre Gewinnmöglichkeiten interessieren ihn viel mehr. In Afrika oder im fernen Osten verfolgt ihn der Gedanke, ob dort nicht irgendwo ein Stück Reichtum oder Herrschaft für sein Land zu holen sei. Die Schönheit der Akropolis veranlaBt ihn bloB, einen Stein von dort dem belgischen Ministerpresidenten in dessen Arbeitszimmer zu stellen mit der eingemeiBelten Inschrift: „Belgien benötigt Koloniën." Seltsam, wie immer wieder Griechenland aus der Ferne bei Vater und Sohn in ihr Leben hineinspielt und bei beiden nur den Wunsch nach Pront und Macht auslöst. Der Vater war zu groB, dies driickt sich in der Geschkhte des Sohnes darin aus, daB dieser erst dann selbstandig zu wirken beginnt, als es ihm gelungen ist, den Toten innerlich zu überwinden, also spat. Das soll nicht sagen, daB nicht schon der junge Leopold als Jüngling und Mann bereits kennzeichnende Züge zeigt, aber sie bekommen ihr Licht erst von spater her. Wenn sein Schwager Erzherzog Maximilian den Zwanzigjahrigen „etwas machiavelhstisch" findet, wenn dieser in Agypten in Gegenwart seiner jungen Frau sich mit sichtücher Befriedigung allzu deutüche Tanze vorführen laBt und sich um ihre Empörung nicht bekümmert, wenn er Propaganda für eine belgische Kriegsmarine ermuntert und immer wieder mit Zahigkeit nach Koloniën ruft, so ist in all dem und in hundert anderen Zügen schon der spatere König deutlich umrissen. Ebenso wie sein Vater ist er im Wesen unjung, beide gehören zu den Menschen, bei denen die Jahre der Reife und des Alters entscheidend sind, und wenn sie mit vierzig Jahren abgetreten waren, so waren sie langst vergessen. Erst mit einundvfcrzig Jahren, eine Schicksalsziffer für die belgischen Leopolds, kommen sie zu ihrem Werk. Einundvierzigjahrig zieht der Vater in Brüssel als König ein, einundvierzigjahrig empfangt der Sohn in seiner Residenz die Forschungsreisenden der Welt und baut hinter den Kulissen von Wissenschaft und Menschlichkeit dann sein afrikanisches Reich auf. Beide werden erst mit fünfzig Weltfiguren, entfalten sich spat, doch dann umso weiter. Wer weder tagebuchartige Genauigkeit anstrebt, noch belgische Geschichte darzustellen wünscht, kann sich begnügen, den jungen Leopold nur anzudeuten, bloB der Mann und Greis ist wichtig, weil sich das Wesentliche einer nun versinkenden Epoche in seiner starken Persönhchkeit vollkommen ausdrückt. Bedeutsam ist, wie und wann er bei sich selbst anlangte. 1865 stand der tote Vater noch schattenhaft hinter ihm. Fünf Jahre nachher hat er ihn verscheuchen können, sich selbst bestatigt, wird er frei. Zu eng das Haus Als Herzog von Brabant ist Leopold oft am Hafendamm von Ostende gesessen, unbewegt aufs Meer starrend. Seine junge Frau fuhr indessen im kleinen Wagelchen, vier Ponnys kutschierend, über die Dünen, seine Kinder spielten im Sand, und er blickte sich nicht nach ihnen um. Nicht in weltschmerzliche Gedanken verstuiken, sondern jenseits des Meeres Ziel, Aufgabe, Macht suchend. Dann erst sprang er ergeben auf, wenn der alte Herr kam, leutselig durch sein Volk schreitend, jeder Zoll ein Bürgerkönig, ein wenig abgeschabt der lange schwarze Gehrock, verbraucht der Hut, bewuBt sehenswürdig, überhöflichGrüBe der Fremden und seines Volkes erwidernd und immer noch mit dem machtigen Fernglas nach hübschen Frauen ausspahend. Ostende ist eine Erhndung der Coburger, sie haben es auch durch die Anwesenheit des Hofes gefördert und so nebenbei dadurch viel an Wertsteigerung der Grundstücke dort gewonnen. Als junger König ist der Sohn dann sehr einsam in seinem SchloB gewesen. Er bat es verschönert und vergrö- Bert, sein ganzes, langes Leben lang liebte er, üppig zu bauen, seinen Besitz zu erweitern, seine Gartenhauser und Spaüerobstanlagen waren berühmt, und der sonst sparsame Mann kargte da nicht, er hat in wenigen Jahren allein für Laeken zehn Goldmiliionen ausgegeben. Er durf te sich dies gestatten, denn eine seiner ersten königlichen Sorgen war die Erhöhung seiner Zivilliste, sie wurde von 2.6 auf 3.3 Milhonen iahrlich gesteigert, und in Erinnerung an die Verdienste seines Vaters setzte der Sohn die Aufbesserung mühelos durch. In Laeken ging er schon am früben Morgen mit langen, raschen Schriften durch die weiten Garten, einen Adjutanten oder sonstigen Begleiter an seiner Seite, zu dem er oft lange nicht sprach, worauf er dann plötzlich zu scharfen Bosheiten über Minister, Parteileute und alle Welt überging. Dann bleibt er vor seinen schonen Blumen stehen, pflückt einige oder bricht ein paar Früchte, nachdem er sorghch die restlichen gezahlt hat. Als sein altestes Kind, die elfjahrige Prinzessin Louise, einmal einen Pfirsich vom Baumcben weg iBt, gibt es eine groBe Untersuchung, der König ist entrüstet und bestraft seine Tochter streng. Denn er hebt sein Eigentum und verteidigt es leidenschafthch. Im SchloB geht es stül zu. Die Mahlzeiten sind ausgesucht und rekhlich, er hebt vornehme Küche und weiB, sie zu würdigen. Man speist rasch und wartet, ob der König zu sprechen anfangt, was selten geschieht. Nachher sitzt dann die Königin mit ihren drei Kindern, dem Sohn und zwei Töchtern, in ihrem Salon, die Turen zu den Zimmern des Königs bleiben offen, aber er hat verboten, jemals ohne besondere Erlaubnis bei ihm eimmtreten. Man sieht ihn immerzu mit groBen Schriften ernsthaft und nachdenklich durch die weiten Raume gehen — immer wieder, immer wieder. Kein Bliek auf Frau und Kinder, kein Lachen darf ihn storen. Der groBe statthch breitschultrige Mann scheint f ast wie ein stolzes gefangenes Tier in seinem Kafig. Woran er denkt, bespricht er nicht mit den Seinigen, und sie wagen kaum zu flüstern, um ihn nicht zu storen. Denn er wird leicht gereizt und ist dann sehr aufbrausend. Die Kinder können sich kaum einer Iiebkosung erinnern, diese Vaterhand streichelte ihre runden Wangen nicht, die Eltern sind böse aufeinander und die Kleinen fühlen es. Nur den Sohn hebt Leopold, aber der Knabe ist schwachheh und stirbt neunj ahrig. Niemand hat jemals vorher oder nachher den König so verstört gesehen; freilich doch nicht fassungslos genug, um nicht in einem Sondergesetz von Belgien die Begrabniskosten von 70.000 Franken sich erstatten zu lassen. Der Erbe fehlt nun, er, dem alle Arbeit seiner Plane und Hoffnungen gilt, eine lebende Erneuerung seines Besitzes, den Leopold wachsen lassen will, sehr weit, sehr groB. Von diesem Tag an wird er noch viel harter, es ist, als ob er den Töchtern nicht verzeihen wurde, daB sie Frauen sind. Sie nützen ihm nicht. Es sind Prinzessinnen, die sein Geld hmausführen und ausgeben, keine Könige, die das Erworbene behüten und mehren werden. Der Sohneskomplex, wie die Psycho-Analytiker es heute ausdrücken könnten, wird übermachtig in ihm. Sosehr, daB er in seinem UnterbewuBtsein dieTöchter sicherbch haBt. Warumlebensie, diese Zwecklosen und Schadlichen, warumnicht der Sohn, der Mann, der Erfüller, der den Lebensgierigen und Macht wollenden über den Tod hinaus fortset zen könnte? Er wünscht einen Sohn, im königlichen Bett gezeugt. Was helfen ihm seine Bastarde? Es gibt manche, wie in Brüssel geflüstert wird, er ist kein Kostverachter. Aber hier ist ein Thronfolger notwendig, und plötzlich wird Leopold nach Jahren der Entfremdung, des Schweigens, der scharfen Bosheiten und verletzenden Worte zartüch zu seiner Frau, es ist peinlich für ihn, er verachtet sie, und es ist schmerzlich für sie, denn sie hat ihm viel zu verzeihen, und sie vergiBt nichts. Aber sie weiB, daB ihr Beisammensein ganz unhaltbar würde ohne einen Sohn. 1872 erfahrt man, daB die Königin in anderen Umstanden sei; alles ist in neberhaf ter Erwartung. Eine Tochter, die dritte, wird geboren: Clementine, die j üngste nach Louise und Stephanie. Die Eltern sind furchtbar enttauscht, und die Königin empfindet es nunmehr als schmahlich, daB sie nochmals dem Gatten zu Willen war, zürnt lange dem Kinde, das sie an ihre Schwache und Erniedrigung immer erinnert. Grund genug, daB Clementine das einzige seiner Kinder ist, das der König bei sich duldet, nur sie darf zwischen Staats- und sonstigen Geschaften und hastigen, gierigen Liebesabenteuern bei ihm Gesellschafterin sein. Marie Henriette aber verschwindet aus seinem Leben, sie zieht spater in ihr einsames SchloB nach Spa, grollt dem Mann, der Tochter, dem Land, betrauert ihr vergeudetes Leben und altert unfroh. Es war da noch Squib, ihr kleiner Zwergrattler, und der winzige Hund war der einzige in der Familie, mit dem der junge König sich abgab. Niemals wird sonst u> gendeine Gemütsbeziehung zu Tieren von ihm berichtet, in die oft Menschenverachtung gerne sich wandelt. Vielleicht bevorzugte Leopold bloB deshalb Squib, weil es ihm möglich war, mit ihm seine Frau zu argern. Er nahm ihn auf den Arm, wenn er Sonntags zur Messe in die SchloBkapelle ging; denn Frömmigkeit ziemte wohl dem König eines so katholischen Landes, der seine Regierungen aus dieser Partei nehmen muBte. Wahrend die Messe zelebriert wurde, saB der machtige schone Mann da, griff sich gedankenvoll in den braunen Bart, streichelte den angstlichen Hund und setzte manchmal das Glas vor das Auge, um besser zu beobachten, ob die Königin denn auch so recht von Herzen wütend war. Dann schrift er, solcherart mit seinem Gott versöhnt, durch den wohlgepflegten Park, setzte das Tierchen seiner Frau auf das Knie und verschwand. Es ist nun Zeit, uns von Marie Henriette zu trennen, deren Fröhhchkeit hier verdorrte. Selten war eine Köni- gin unbemerkter und schattenhafter, sie war nicht glücklieh und hat niemandem Glück gebracht als ihrem Schwiegervater, der, in Wien als Brautwerber erscheinend, ein österreichisches Staatsies kaufte und bei dieser Gelegenheit natürlich, ware er sonst Leopold der Erste und Glückhche gewesen, den Haupttreffer zog. Für Marie Henriette aber bheb der Coburger die sctüimmste Niete in der Lebenslotterie. Indessen schreitet Leopold ungeduldig und sinnend durch die weiten Sale. Das Haus ist ihm zu eng. Zu klein die Aufgaben Leopolds Hauptgedanke als Herzog von Brabant war, das Land zu erweitern. In Europa ist nichts zu holen, man- mufite glücklich sein, wenn Belgien zwischen den Nachbarn ungefahrdet sich behaupten konnte. Also muBte man ins Weite sehen. Schon sein Vater batte Ahnliches gedacht, aber war nicht kühn genug gewesen, um fest zu greifen. Kleine Siedlungsversuche wurden geplant und scheiterten. Der Sohn sieht die Dinge gröBer. Der Kapitan Brialmont, der nachher als groBer Soldat Belgiens sich erweist, schreibt auf des Herzogs Drangen eine Broschüre über Unternehmungen in überseeischen Landern: Vóflendung des Werkes von 1830. Der Thronfolger versendet die Schrift überallhin, betatigt sich als eifriger Propagandist von GroB-Belgien. LaBt sich Statistiken geben, studiert Landkarten, prüft Ausfuhr- und Produktionsziffern, sucht, was am Geeignetsten ware, besonders China lockt ihn. Er möchte so gerne eine MiHtarmarine schaffen, Expeditionen aussenden. Halt groBe Reden im Senat. „Breiten wir uns aus jenseits der Meere, so oft sich eine Gelegenheit dazu bietet." Entwickelt mit jugendlicher Naivitat seine imperiaüstischen Thesen, und warum sollte gerade er schweigen, wo ringsum überall Koloniën erworben werden und die Erde verfeilt wird? Das übervölkerte Belgien benötigt Gebiete für seine Menschen, seine Industrie, sein Geld. Das ist sein Gedanke, der ihn nicht verlaBt, und ihn, den Weltreisenden, den Machtgierigen lockt dies allein, aber wie er König wird, darf er daran gar nicht denken, denn da gilt es, zuerst einmal Belgien selbst zu behaupten. 1866 hat Belgien nach Königgratz neben sich ein bereits zusammengefügtes Deutschland und einen Führer ersten Ranges, der Bismarck heiBt. Das bedeutet für das kleine Land eine zweifache Bedrohung: eine geringe durch PreuBen und eine groBe durch Frankreich, das angsthch eine „Kompensation" sucht. Leopold schreibt an die machtige Kusine nach London, der er freilich nicht „zweiter Vater" und „geliebtester Onkel", sondern nur Vetter und kleiner König unter vielen ist. „Was Bismarck betrifft, so wissen wir positiv, daB er uns fortwahrend den Franzosen anbietet. Aber all dies beunruhigt mich im Augenbliek wenig." Das hindert ihn nicht Victoria zu ersuchen, in Berlin sollte der englische Gesandte eines Tages Bismarck aufmerksam machen, wie viel England darauf gibt, daB PreuBen gut mit Belgien steht. Das ware eine „gute Sache", aber es ist eine „heikle Angelegenheit, und Bismarck darf nicht.argwöhnen, daB wir uns über ihn beschweren." Dieser Brief ist so katzenklug, daB man mit ihm Mause fangen könnte, und es gibt in ihm kein einziges Wort, das der alte Leopold nicht genau ebenso geschrieben hatte. Zwischen und in den Zeilen schwebt die klare Erkenntnis, wie Bismarck den Empereur doch nur binhalten will, PreuBen benötigt die belgische Unabhangigkeit zu sehr. Napoleon beteuert indessen immer wieder, er wolle keinen FuBbreit belgischen Bodens, beruhigt den belgischen und englischen Minister in Paris, aber weder sie noch Leopold wissen, daB Benedetti inzwischen in Berhn Bismarck einen Bündnisvertrag vorlegt, in dem Frankreich für sich freie Hand in Belgien verlangt. Aber sogar wenn Leopold dies wuBte, er würde doch darauf vertrauen, daB Bismarck es niemals gewahren würde. Alle versuchen zu betrügen; Napoleon die PreuBen, Englander und Leopold, Bismarck die Franzosen, und er ist der Glücklichere, der sechs Tage nach dem Kriegsausbruch Benedettis Vorschlag in den „Times" veröffentiichen laBt: das ist ein gedrucktes Sedan für den Bonaparte noch vor Sedan. Irnmerhin: Belgien muB stark sein, und nun beginnt Leopold seinen lebenslanglichen Kampf um die Aufrüstung seines Volkes, das durchaus nicht die Uniform und das Soldatenspielen liebt. Denn er ahnt, daB dies Spiel Ernst werden muB. Er selbst bbeb persönlich ganz unmüitarisch, versteht davon im Technischen nur eben das UnerlaBliche, aber unerschütterlich bleibt er von der Notwendigkeit eines starken Heer es, eines bewaffneten Volkes und einer allgemeinen Wehrpflicht überzeugt. Diese Ziele stehen ihm unverrückbar vor Augen, er erreicht trotz seiner parlamentarischen Machtlosigkeit, dem Widerstreben der Parteien und des Volkes alle drei, das letzte auf seinem Sterbebett, und da haucht dann der ewig Nörgelnde das bei ihm kaum jemals vernommene Wort: „Der König ist zufrieden." Ware nichts weiter als dies von ihm zuüberüefern, so würde man das Ungewöhnliche im Format und Willen eines solchen Menschen spüren. Wie er in hunderten Unterredungen, Versprechungen, im Ausspielen der Menschen, im Ausnützen der Fraktionswünsche und persönlichen Eitelkeiten hier jahrzehntelang arbeitet und Schritt für Schritt durch keinen Rückschlag entmutigt vorwarts kommt, ist auBerordenthch. Bei dieser Gelegenheit kann noch der ziemlich übersehene, aber doch nicht unwesentüche Umstand vermerkt werden, daB es Leopolds Wille und die von ihm durchgetrotzte Befestigung Antwerpens war, die im vorlaufig letzten Weltkrieg die Deutschen in entscheidenden Lagen aufhielt und derart Belgien samt den umliegenden Landern der Freiheit rettete; wie es scheint, aüerdings bloB vorübergehend. Doch daran tragt nicht Leopold die Schuld. Er wurde als König bei seinem Regierungsantritt glanzend begrüBt, alle Coburger sammeln sich um den Sohn des Mannes, der sie emporgetragen hatte, und der junge Monarch erledigt dann seine Antrittsbesuche in den Residenzen, stellt sich seinen Koüegen vor und sammelt dabei, scharfer Beobachter und Diplomat ersten Ranges, seine Eindrücke. Er sieht den Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich unabwendbar, und da bricht der Streit um Luxemburg aus, Belgien batte Ansprüche anzumelden, in der Regierung sind die Meinungen geteilt, und ein leidenschaftlicher junger Journalist von Genie, Emile Banning, wird Wortführer des Nationalismus. Der König billigt nicht bloB jedes Wort, das Banning schreibt, er kontrolliert schon vorher dessen Artikel, benützt ihn als Sprachrohr und beginnt nunmehr, die Presse vorsichtig, aber mit einer an Bismarck erinnernden Klugheit zu benützen. Belgien hat indessen glücklich dank Leopolds Drangen, Bohren und Tasten ftinf Millionen mehr auBerordentüche Rtistungskredite und fast zwei Millionen jahrlich mehr Müitarbudget, Bagatellen, über die heute 'jeder Kriegsminister und Munitionsfabrikant mitleidig lacheln wird. Jedenfalls nichts, was Leopold zu Unvorsichtigkeiten verleiten könnte. Banning schreibt wohl immerzu, Belgien müsse in Luxemburg seine „natürlichen Grenzen" haben. Das Unglück dabei ist nur, daB jedes Land darunter immer genau dasselbe versteht, was andere Lander begehren, die „natürlichen Grenzen" sind ebenso zweifelhaft, wie die mit ihnen verbundenen Massengraber unzweifelhaft sind. Leopold entschlieBt sich 1867 zum Verzicht auf die luxemburger Ansprüche, aber es qualt ihn, und spater wirft der König die versaumte Gelegenheit den Anderen vor. Illoyal, aber klug; wenn Leopold unrecht hat, so wird er niemals erlauben, daB dies bemerkt wird. Juli 1870 bricht der Krieg zwischen Frankreich und den deutschen Staaten aus. Leopold versucht, Victoria zur Vermittlung in Berlin zu überreden, er selbst erklart sich für zu klein dazu: „Ich glaube, um in Berlin gehort zu werden, muB man eine starkere Stimme als die meine haben." Victoria soll ihm von Frankreich und PreuBen eine Neutrahtatsbürgschaft verschaffen, die er erha.lt. Es ist sein erster groBer Triumph, doppelt wichtig, weil England wiederum, so unerlaBlich die belgische Neutralitat ihm auch ist, doch keine müitarische Hilfe in Brüssel zusagt; keine englische Regierung bindet sich, solange das Messer Albion nicht schon die Kehle ritzt. Aus jenen Tagen vor dem Kriegsausbruch, da alles noch ungewiB ist und Leopold nicht wissen kann, ob es nicht bereits für ihn ein La Panne geben wird, gibt es ein Postskriptum Von ihm, das Bande in einigen Worten kondensiert einschlieBt. „Würden Sie nicht die Güte haben, in einem Ihrer Schlösser die Papiere und Kronjuwelen aufzubewahren?" Dank Moltke bleiben die Juwelen, wo sie sind, und werden sich in dem für sie vorteilhaften Klima von Brüssel reichlich vermehren. Bei Leopold bricht damals der alte belgische HaB gegen Napoleon aus, er warnt nunmehr Victoria vor Frankreich. Kann ihr bald genug schmeichelnde Glückwünsche zu den Siegen ihres Schwiegersohnes senden: „Nunmehr bedeckt sich Fritz mit Ruhm" und laBt im Ankertau dieser Schmeichelei seine Bitte schleppen, PreuBen solle garantieren, keinen Durchbruch durch Belgien zu versuchen. Nicht bloB Deutschland, auch Belgien siegt 1870. Es entwaffnet das seine Grenzen überschreitende groBe französische Heer, bewahrt glanzend seine Neutralitat, seine Wirtschaft bereicherte sich, keinepefahrdroht mehr von Frankreich, fest sitzt j etzt die Krone auf Leopolds Haupt. Nun hat in ihm auch zugleich sein Vater seine Revanche genommen, er mag ruhig im Sarge schlafen. Immer schon sah der Sohn seine Bahn vor sich, aber erst in Sedan öff- nete sie sich ungehindert. Jetzt ist in ihm der Vater nicht mehr zu grofi, jetzt hat er sein Land und sich selbst vor Europa und seinem BewuBtsein legitimiert, und nun beginnt er, sich umzusehen mit jenem raffenden, blitzenden Bliek, den die Menschen noch nicht kennen. Nun, sie sollen ihn noch kennen lemen. Hinaus Auch in Belgien fühlt er jetzt sich sicherer, die Regierung d'Anethan war ihm nicht genug willig im Aufrüsten, Leopold sieht im Ausgang des Krieges von 1870 den Beweis für die Notwendigkeit von Volksheeren, ein Beweis, der „glücklicherweise nicht auf unsere Kosten erbracht wurde." Es gibt allerlei StraBenlarm in Brüssel; der König entlaBt die Regierung, weitet langsam, immer gedeckt durch Paragraphen, die er nach seinem Interesse auszudehnen und auszulegen weiB, seine königliche Macht .aus. Solches unternimmt er durch Jahrzehnte, es ist ein winziger, mühsamer Guerillakrieg, und fast erschütternd zu verfolgen. Denn hier ist ein wahrer Riese an Kr aft durch dünnste Faden eingewickelt, die er da und dort lockert, niemals aber lösen kann. In Europa ist nichts für ihn zu holen, der höchlichst seinem Wesen widersprechend als eines Bürgerkönigs Sohn geboren wurde; da nützen Zahigkeit, Menschenbehandlung, Staatskunst nichts; er muB überreden, statt befehlen, lacheln, statt donnern, Empfange veranstalten, statt erobern, einem Riesen gleich, der Jahr für Jahr Zwirnspulen abwickeln und Knoten aufknüpfen muB. Dies war wohl die Stinunung seiner Lehrjahre, in denen er sich vorbereitete. Arbeit und Qual, dies Land mit Schmeicheln und List taghch erobern zu müssen, um er zu besitzen! Und was war Belgien ihm schon? Er fühlt sich wie eingeschlossen in dieser Enge eines kleinen Staates, wo er keine wahre Macht hat. Zu groB der Vater, zu eng das Haus, zu klein das Land, hinaus! Es gilt, sich ein Stück Welt zu erobern, durchzuführen, was er so oft im Senat ausgesprochen, wovon er traumte, als er Schwager und Schwester nach Mexiko ziehen sah, und er wird kliiger, harter, listiger sein als der weiche, zerrinnende, unentschlossene Habsburger, „ce pauvre Max", wie er ihn mitleidig-verachtlich nennt. Nein, dies Leben hier befriedigt ihn nicht. Immer wieder Akten und Kampfe mit den Ministern, in zwanzig Minuten das Essen hmunterschlingen, die ungeliebte Frau sehen, die Tochter, die ihn daran erinnern, daB er keinen Erben hat.' Nun, die alteste hat er an PhUipp von Coburg verheiratet, kein Schwiegersohn seiner würdig, doch das Madchen interessierte ihn nicht. Audienzen, Streit mit den Parteien um Gesetzchen da und dort, wie klein ist dies alles 1 So spant er urnher, was sich einstecken laBt. Kein ternes Land entgeht seiner Aufmerksamkeit. Er streckt Fühler aus: Mocambique, portugiesische Koloniën? Leider noch vergeben. Aber mit den Philippinen ware wohl etwas zu machen? Spanien ist arm, ist Republik geworden; und einer Republik, so meint er, ist ein Verzicht leichter abzuringen. Ein ungeheures, reiches Gebiet. Und natürhch soll es spanisch bleiben. Wer denkt an Annexion? Leopold erschaudert bei einem solchen Gedanken. Nein, man gründet eine Gesellschaft, so wie einst die Ostindische Compagnie. Man legt Spanien dreiBig Millionen Pfund Sterling hin, einen pathetischen Betrag, um endhch diesen Hidalgo-Bettlern ihre Taschen zu stopfen und Augen zu blenden. DreiBig Millionen Pfund. Das kann Belgien sich leisten. Spanien hat nur durchneunzig Jahre der belgischen Gesellschaft die Ausübung der Hoheitsrechte auf den Insein zu gestatten. Sowie es selbst dort eingreift, muB es das Geld zurückzahlen. Keine Gefahr, Spanien hat noch niemals einen solchen Betrag in Handen gehabt. Es ist ein glattes, einleuchtendes Geschaft, und dabei ist Belgien ein 5 kleiner Staat, der spanische Stolz muB also nicht leiden, Spanien verliert seine Kolonie nicht, wie dies der Fall ware, wenn es mit einer GroBmacht wie England, Deutschland oder Frankreich absclüieBen würde. Die Emissare Leopolds reisen überall hin. Vorsichtige, die einen so weitgehenden spanischen Verzicht für undenkbar balten, raten, sich mit einem „belgischen Tabakmonopol" zu begnügen. Leopold lehnt dies entrüstet ab, er will „durchaus in der spanischen Not ein selbstloser Helfer sein", wie dies seine Vertreter versichern. Intrigen aber Art, aber am Ende fallt in Spanien wieder einmal die Republik, und die neue Monarchie kann nicht mit einem Verzicht auf die reiche Kolonie einziehen. So sagt Madrid denn endgütig Nein. Leopold hat eine schwere Niederlage erhtten, jahrelange Bemühungen, Ausnützung aller Beziehungen, Listen und Bestechungen haben versagt. Soll es also kein Hinaus aus diesem Kafig geben? MuB er immer in armseligen dreiBigtausend Quadratkilometern den König spielen, den hundertundfünfzig Deputierte und Minister an der Hand halten? Soll er hier weiter bauen, Weiber sich holen, sein Edelobst preisen hören? Soll dies alles sein, wo er in sich Krafte fühlt, die ihn zu GröBerem rufen? Der Löwe wiederholt niemals den miBglückten Sprung. Der Fuchs aber sucht sich eine andere Beute. Hat nicht einmal Chlodwig Hohenlohe vom „Fuchsgesicht" des alten Leopold gesprochen? Dieser sah einmal auf der Jagd einen Fuchs mit vieler Vorsicht einen Bach durchqueren, und einmal den Jungen gnadiger einschatzend, dachte er dabei an die behutsam zahe Schlauheit seines Sobnes. Nun, der junge Fuchs wird zeigen, was er vermag. Und wie nach so unsaglichen Bemühungen alles vergebens war, Jahre verloren, da schreibt er nur — ohne Bliek nach rückwarts — seinem getreuen Lambermont: „Ich gedenke, mich zu mfornüeren, ob es in Afrika nichts zu tun gibt." Ein Jahr spater eröffnet König Leopold in Brüssel am 12. September 1876 eine Internationale Afrika-Konferenz. Es gibt, wie er sich indessen „infonniert" hat, in Afrika „etwas" zu tun. Dieses „etwas" ist die Schaffung eines der gröBten Kolonialreiche, ganz in der Stille, unbemerkt, eben aus der eigenen Schwache den anderen abgelistet, gröBtes Wunderwerk, das eine vorsichtige Kühnheit jemals geschaffen hat. KREUZFAHRER Lander entdecken NAHE dem königlichen Schlofi in Brüssel sitzt auf ehernem Pferde ein gekrönter Reitersmann, bartiger Kampier, in der Hand die Kreuzfahrerfahne schwingend: Gottfried von Bouillon, der Held des ersten Kreuzzuges, Erstürmer von Jerusalem und nachher König oder, wie er sich in demütiger Frömmigkeit rennen UeB: Schutzherr vom heiligen Grab. Dem „ersten belgischen König" hatte Leopold der Erste, der mit seinem Einzug in Brüssel sofort Überbelgier geworden war, dieses Denkmal errichten lassen, und sinnreich werden dort zwei sehr verschiedene Zeiten zu Nachbarn. Gottfried, das ist der Glaubensstreiter des kampfenden Christentums, und ringsum sind die groBen Palaste von Banken und machtigen Handelsgesellschaften erbaut, die der neue Glaube des Geldes sich errichtet hat. Ungewollte SymbobUt—nichts konnte mehr Leopoldl.undLeopoldlI. sein, und bei einer hierher einberufenen Konferenz der Geographen drangte sich das Gleichnis vom Kreuzzug von selbst auf. In seiner kurzen Ansprache an die geladenen Gaste spricht denn auch der König von einem „Kreuzzug, würdig dieses JahrhundertsdesFortschritts", und wenn er mit vorsichtiger Bescheidenheit em „wenn ich wagen darf, dies zu sagen" beifügt, so weiB er mit all seiner Klugheit doch selbst nicht, wie sehr er mit dem vermeinthchen und zweideutigen Lob die Wahrheit gesagt hat. In der Tat: Der Kreuzzug, der von hier ausging, war dieses Jahrhunderts und seines Fortschrittes würdig. Leopold hatte nach Brüssel die berühmtesten Forschungsreisenden Afrikas und die bekanntesten Geographen eingeladen. Der Einfall wie seine Durchführung zeugt für ein pohtisches Genie jener seltensten und ge- fahrlichsten Gattung, die Wert darauf legt, sich nicht als Genie bemerkbar zu machen. Zunachst einmal waren Konferenzen, die nicht nach einem Kriege benden wurden, um eine neue Landkarte anzulegen, damals noch selten und schon dadurch aussichtsreicher. Völüg neu war die Begrenzung auf Afrikaforscher. In einer Zeit, die rasch die öffenthche Meinung oder mindestens die öffenthche Neugier als Macht entwickelte, war solcher Einfall in seiner Verbindung von Wissenschaft, Humanitat und Demokratie umso gewinnender, als er von einem König ausging, der sich damit der Welt zugleich als modern und bürgerlich vorstellte. Er zeigte ihr einen tatigen, uneigennützigen, hüfsbereiten Fürsten, der die für die Ausbreitung der Zivilisation wirkenden Krafte zu organisieren wünschte. Indem er sie vereinigte, hatte er sich Berechtigung und Mandat für ins Weite greifende Unternehmungen verschafft, ohne Argwohn zu erregen. Gleichzeitig war es gewiB, daB der Knoten ganz locker sein würde, also weder Belgien noch den König binden konnte. Indem er solcherart die Menschen gewöhnte, ihn in ihrer Vorstellung mit Unternehmungen in Afrika zu verknüpfen, bheb er selbst doch ganz unverdachtig. Sicherlich hatte Leopold damals noch kein bestimmtes Programm für Eroberungen, seine Begehrlichkeit streifte obdachlos und suchend über den Erdball hin, sein Imperialismus hatte noch keine Adresse. Aber mit der Sicherheit des Genies fand er den richtigen Weg, die richtige Zeit und die richtige Form. Er besteht die entscheidende Probe: Nach f ast sechzig Jahren alles prüfend und überblickend, muB man bestatigen, daB er sein Ziel auf keine andere Weise hatte erreichen können. Um ihn sind diese seltsamen verwegenen Manner, die durch Wüsten und Wildnis, mit unsaglichen Gefahren Und Abenteuern gezogen sind, nebst vielen anderen Schweinfurth, Rohlfs, Cameron und Nachtigal, Genossen in einem sonderbar groBartigen Beruf, die oft vorher sich niemals gesehen hatten und niemals nachher sich wieder sehen werden. Jeder besitzt die stolzesten Adelstitel der Kühnheit und Wissenschaft. Der Colonel Grant hat als erster weiBer Mensch an den Quellen des Nil gestanden; der Leutnant Cameron durchquert Afrika und nimmt am 28. Dezember 1874 die von ihm beschrittenen Gebiete für England in Besitz, doch in Downingstreet findet man dies voreilig. Nachtigal betrat das Land der Tibbu Tibesti, war Gast an unbekannten moslimischen Höfen schwarzer Fürsten, büeb fünf Jahre verschollen, wahrend denen er für einen Negerzirkus gegen ein halbes Kamel eingehandelt werden sollte; er wird spater Deutschland seine schönste Kolonie gewinnen. Helden, geadelt durch tausendf ache Wagnis, stehen hier in langen, schwarzen Bratenröcken und hören dem hohen, schonen Mann zu, der, ein König, so bescheiden zu ihnen spricht und ihnen nachher auf ihre Brust seine Leopoldskreuze heften kann, von denen sein Vater achtzehntausend verteilte, so wohlfeil sich Freunde kaufend. Vielleicht halten sie ihn, der verbindlkhe und für sie, die echten Kenner Afrikas, ganz wesenlose Worte spricht, nur für einen unbedeutenden eitlen Phrasenmacher, und sie ahnen gar nicht, wie sehr seine in Allgemeinheiten sich ausdrükkende Harmlosigkeit und nirgends anstoBende Freundlichkeit Absicht ist und wie er, der selbst niemals in jene unbekannten Lander vordringt, ihnen überlegen sein und wie aus ibren epischen Zügen ihm Reichtum und Macht erspriefien wird. Nicht als König, als wohlwollender Amateur spricht Leopold zur Versammlung; ganz vorsichtig wagt er den ersten Schritt, der ihn auf gewundenen Wegen empor führen soll. Er wünscht einen Kreuzzug des fortschrittlichen Jahrhunderts, er beruft sich auf die öffenthche Meinung, die dem Werke gunstig sei, und er empfiehlt sein Belgien als besonders geeignet, um hier den Grundstein zu legen. „MuB ich Ihnen noch sagen, daB ich, Sie nach Brüssel einladend, vonkeinerleiselbstsüchtigen Absichten geleitet war? Nein, meine Herren, wenn Belgien auch klein ist, so ist es doch zufrieden mit seinem Schicksal: ich habe keinen anderen Ehrgeiz, als ihm gut zu dienen." Aber Leopold wünscht als moralischen Erfolg, daB Belgien das Hauptquartier dieser zivilisatorischen Bewegung sei. Er beginnt hier eine Entwicklung, die ihm Hunderte von Goldrnillionen und ein riesiges Imperium bringen wird, mit der Versicherung, daB er von keiner selbstsüchtigen Absicht geleitet sei. Wir werden diesen Worten bei ihm noch oft begegnen; erst, als er seine Beute schon gepackt hatte, wurde ihm nicht mehr geglaubt. Gleich seinem Vorganger Gottf ried ist auch der Kreuzfabrer Leopold bewuBter Propagandist, der die Massen erobern will, auf die es doch, dies betont er, vor allemankommt. Für sie und für die Politiker hat er seine und Belgiens Uneigennützigkeit, für die Geographen und Entdecker die ihnen neue Sensation, einmal Mittelpunkt zu sein wie sonst bloB siegreiche Generale und Opernsangerinnen, und für alle Wortglaubigen hat er die humanen Endziele seiner Programmrede. In ihr findet sich kein einziges Wort, das auf poütische Eroberung oderwirtschaftUche Ausbeutung bindeutet. Leopold hat doppelten AnlaB behutsam vorzugehen, er durfte weder den Argwohn der fremden Regierungen noch jenen Belgiens wecken, dem jeder Gedanke an koloniale Unternehmungen ferne war. Wie sehr, dafür hatte der König gerade vor einigen Tagen einen Beweis erhalten. Bei einer Vorbesprechung der belgischen Delegierten hatte Banning beantragt, ein jeder Staat sollte selbstandig in der Zone seiner politischen und kolonialen Interessen vorgehen, und ein Bund sich bilden, der die einzelnen Expeditionen gegenseitig unterstütze. So würde die künftige Teilung Afrikas in die Wege geleitet und die internationale Aktion mit der nationalen verbunden. Es war nicht möglich, mit wenigen Worten mehr Por- zeil an zu zerschlagen und ungeschickter aus der Schuk zu schwatzen. Die belgischen Delegierten entrüsteten sich und drohten mit ihrem Austritt, wenn ein solcher Vorschlag der Konferenz unterbreitet würde. Eiligst wurde der unglückselige Antrag Banning abgelehnt, aber da man wuBte, daB der Journalist dem König als Sprachrohr zu dienen die Ehre hatte, so wurde vielfach angenommen, daB Leopold hinter dem Antrag stand. Diese Annahme verkumdete jedoch den König. GewiB war es Leopolds Ziel, bei der Teilung Afrikas für sich einen recht saftigen Bissen zu erobern, doch er wuBte, daB noch nicht einmal angedeutet, geschweige gar ausgesprochen werden durfte, woran natürhch alle zutiefst immer dachten. Es harten vorher alk Riten politischer Heucheki zekbrkrt zu werden, kein beunruhigendes Wort durfte f allen, kein zu grelles Licht durfte aufkuchten, alles muBte in einem sanften Zwiehcht bleiben, in dem es nach frommem Weihrauch von Bekehrung und Zivüisation duftete. Viele Jahre lang hat Leopold dieses Halbdunkel bewahren können und in ihm gearbeitet. Der König hat damals dem glanzenden Journalisten, den er noch weiterhin benötigte, durch seinen Privatsekretar beruhigend sagen lassen, daB er Recht hatte — doch dies war das Recht des Imperialisten in seinen verkündeten Absichten, die Wort für Wort jenen entsprachen, die Leopold selbst im Senat ak duc de Brabant ausgesprochen hatte. Aber Banning war bloB gestattet dies zu denken, nicht, es auszusprechen, und so verleugnete der König öffentlich durchaus seinen Schreiber. Aber auch Leopold gkubte mit Banning: „Völker, dfc auf jeden Ehrgek verzichten, sind Völker ohne Zukunft. Ein Volk, das sich an seinen Heimatboden klammert, den Schatten eines Konfliktes fürchtet, hat nicht dasKennzeicheneinerüberlegenen Rasse." Rasse, Krieg, Eroberungen — man sieht, Banning war 1876 ein VorlSufer, der 1934 mehr Zulauf gefunden batte. Leopold jedoch fand, es sei besser, mit List, statt mit Kraft zu arbeiten, wenn man hinter sich bloB ein kleines und friedfertiges Volk hatte, und er wünschte nicht, groBe Absichten laut auszurufen, sondern sie leise zu verwirklichen. So ist er entzückt, in Brüssel die Forscher und groBen Afrikareisenden um sich zu sehen, so legt er als Vorsitzender ihnen einige Probleme zur Beratung vor, wobei er sie auffordert, selbst Anregungen zu unterbreiten, es ist bereits eine Art Völkerbund, den er da, Wilson sehr wenig wesensverwandt, gründet, und das Ergebnis ist denn auch das gleiche: Es wird Beratungen und Resolutionen geben, keine Taten. Der König fordert die Delegierten zu dreifacher Anstrengung auf: die geeigneten Operationsbasen auf der Küste bei Zanzibar wie bei der Congomündung zu bestimmen, die Wege ins Innere mit den notwendigen anzulegenden Stationen zu bezeichnen, nationale Komitees zu grimden, welche die notwendigen Mittelbeizubringen und sich in einem zentralen internationalen Komiteezuvereinigenhatten.AlkWeltaufderKorderenz ist voll Zustimmung für die Anregungen Leopolds; in der Taf, die Anlegung von Stationen ware ein ungeheurer Fortschritt, sagen die Forscher, und erinnern sich dabei all der Gefahren ihrer schrecldichenEmsamkeit in Afrika. Welcher Weg ist aber ztf wahlen, um Afrika zu öffnen, dort StraBen anzulegen? Hier gibt es zwei Vorschlage von zwei Komitees. Der Englander Rawlinson beantragt eine Linie, die bei Zanzibar beginnend bis nach Angola im Westen gehen sollte, die beiden Ozeane verbindend. Drei weitere StraBen sollten von ihr durch den Kontinent ausstrahlen: zu den Nilquellen, zum Zambezi, zur Congomündung. Sonst nichts; die Verwirkhchung natte ungezahlte Goldmüliarden gekostet und pohtisch alles durcheinander gebracht. Das zweite Komitee schlagt bescheidener vor, nur an den Küsten zwei Ausgangspunkte zu errichten und dann langsam dem von Cameron begangenen Weg folgend, Stationen zur Unterstützung der Forschungsreisenden. Wofür sich entscheiden? Die Komitees treten zusammen, die Versammlung wartet indessen. Nicht lange; nach 45 Minuten empf angt sie bereits den KompronüBentwurf eines Einigungsvorschlags. In 45 Minuten wurde die Frage beantwortet, wie ein teilweise noch ganz unbekanntes Gebiet, unendlich grööer als Europa zu eröffnen und zu organisieren sei. Aber niemals spater war von dem einen oder anderen Plan jemals die Rede; all dies war bloB bewegte Luft und bedrucktes Papier, nicht mehr: die 45 Minuten waren also auch schon zu viel. Verbindlich und aufmerksam hörte der König allen zu, er war damals schon ein guter Kenner Afrikas, ohne jemals in jenen Gegenden zu weilen, er las alle Berichte, er sprach hier mit den Prominenten, er prüfte sie auf ihre Eignung, er wird spater die Glanzendsten und Unerschrockensten und Erfolgreichsten für sich zu werben suchen wie ein groBer Manager neu auftretende Boxer und Tenore. Der BeschluB des Komitees war und konnte nor sein ein für die Galerie ausgesprochener frommer Wunsch, aber wichtig war für Leopold, daB aus der Konferenz irgend etwas weiter dauert oder doch zu dauern scheint, ein Gebilde, hinter dem er sich verbergen und seine Aktivitat fortführen kann, nicht als Belgierkönig oder als ehrgeiziger Eroberer, sondern als antreibende Kraft eines für zivilisatorische Aufgaben arbeitenden internationalen Zweckverbandes. „International" — diese Zauberformel war für Leopold unerlaBlich. So schlagt er vor, eine internationale Kommission zu wahlen. Diese soll aus den nationalen Komitees entstehen, es wiren sehr lebensf ahig. Doch es schien Leopold notwendig, daneben ein zweites Untemehmen zu stellen. Dieses sollte rein kaufmannisch sein, mit Forschung allein war nichts anzufangen, und es galt, die beiden Unternehmungen zugleich zu verbinden und nach Bedarf auch zu lösen. Von der A. I. A. war unmöglich der Betrag für Stanleys groBe Expedition zu erhalten, und ware es möglich gewesen, so durfte Leopold dies nicht wollen. Denn die A. 1. A. war eine durchaus offizielle Angelegenheit, ihre nationalen Komitees subventioniert von den Regierungen, und was sie gründeten, entzog sich damit seiner Macht. Hingegen konnte eine undurchsichtige Aktiengesellschaft hier sehr nützlich sein. Niemand wufite, wer hinter ihr stand, auch sie war natürlich .international", um Argwohn zu beschwichtigen, aber sie war als Auftraggeber unentbehrhch, sie hatte Stanley und seine Fahrt zu bezahlen, und ihr Internationahsmus war nur scheinbar, da gab es keine Offiziellen, und der Partner konnte man sich, sowie die Sache glückte, entledigen. MiBglückte sie, so blieb Leopold aus dem Spiel. Hier sieht man alle seine Künste vereinigt: Selbst verdeckt zu bleiben, aus dem Dunkel zu leiten, die anderen für sich arbeiten zu lassen, behebte Schlagworte auszuwerten, Schritt für Schritt an ein groBes Ziel solange zu schleichen, bis er endlich springen darf. Die Gründung war sehr schwierig. Die anderen, die sich an der Sache beteiligen, mochten Ingenieure aus- senden, Stanley sollte da nur als Aufputz dienen. Das paBte Stanley nicht, der übrigens mit Recht ein Versagen von europaischen, im wilden Afrika ahnungslosen Fachleuten voraussah und nach Art des selbstgeschaffenen Genies überhaupt den Fachleuten miBtraute. Der König seinerseits dachte nicht daran, wie die hollandischen Mitbegründer wünschten, von ihm unabhangige Fremde heranzulassen; er traute sich zu, Stanley zu leiten, ohne daB dieser es auch nur bemerkte. Er hatte den Mann nun eingefangen, in Brüssel am königlichen Frühstückstisch ihn bezaubert, war ganz der aufrichtige Bewunderer und uneigennützige Menschenfreund, ein „Traumer'', wie Stanley gern wiederholte. Ohne es zu ahnen, wie sehr er selbst dabei der Traumer war, der sogar nachher, nachdem er schon in Brüssel unterzeichnet hatte, in London versuchte, seine Englander zu bereden, sie mochten doch heber als praktische Geschaf tsleute an Stelle dieses unerfahrenen königlichen Ideologen in das Geschaft einsteigen. Leopold erfuhr es, würgte mit bitterem Lachen seinen Arger herunter und empfing am 25. November 1878 mit seiner hebenswürdigsten Majestat den „reinen Toren", den er mitten in seinem KönigsschloB zur höchst modernen Zusammenkunft einer Geschaftsgründung führte. Es mag wohl das erste Mal gewesen sein, daB im Palast eines regierenden Königs eine Firma entstand, noch dazu eine so seltsame Firma und als sein höchstpersönliches Werk geschaffen, ohne daB bei der Sitzung der König selbst zugegen war; die Tarnkappe saB über der Krone. Nur von der Wand sah ein groBes Portrat des ersten Leopold mit sich zufrieden auf die Anwesenden, und da konnte der alte Coburger auch mit seinem Sohn und dessen Werk zufrieden sein; das Geld und die Macht der Coburger, vom Vater gegründet, war in guten Handen. Achtzehn Herren sind anwesend, unter ihnen auch zwei Englander, dazu die Hollander, der Rest Belgier, darunter der Bankier Lambert, Leopolds goldener S trohmann. Aber alle die Anwesenden konnten noch nicht eine Million Franken aufbringen, die als Gründungskapital des Comité d'études du Haut-Congo in Aussicht genommen war, vorerst wurde nur etwa dreiviertel gezeichnet, darunter 250.000 von dem freigebigen Lambert, 130.000 von den Hollandern, die sich beteiligten, damit die Gesellschaft spater ihren Niederlassungen an der Kuste keine Konkurrenz macht; dazu muBte sie sich verpflichten. Das Geld war als Zeichnung a fond perdu gedacht. In spateren Verhandlungen muBte Stanley Kostenvoranschlage vorbringen, Plane unterbreiten, er sprach gerne und zuversichtHch, und am 2. Januar 1879 war er wohlbestallter Expeditionsleiter des Studienkomitees. Aber die Stationen, die er grimden sollte, gingen unter der ungleich stolzeren Flagge der A. I. A. Die Sache war überaus verwickelt, und eben dies sollte sie sein, aus dem trüben Congowasser war manches herauszufischen. Stanley hatte nun alles, was er benötigte: Auftrag, Geld, Schmeicheleien, so reiste er europamüde wieder nach Zanzibar, seinem Hauptquartier, wo er sich seine Mannschaft für die neue Fahrt anwarb. Er wufite schon vorher nicht recht, für wen er arbeitete, und noch weniger wird er es spater wissen. Denn im Sommer begab es sich, daB die hollandischen Teilnehmer zugrundegingen, der eine versuchte Selbstmord, der andere non, der Konkursverwalter wollte weitere Zahlungen nicht leisten und verlangte das Geld zurück, und das gibt Leopold eine neue Gelegenheit, die er ergreift. Das Komitee hat wie seinerzeit die Geographie-Konferenz ihm ein Sprungbrett geliefert, es würde nun nur noch storen, die Teilnehmer beabsichtigen, sich an einem gewagten Handelsgeschaft zu beteiligen, Leopold aber denkt an unendlich mehr, er muB also frei werden. Der Verdacht ist beschwichtigt, Zeit gewonnen, Stanley bereits in Afrika, das Komitee muB verschwinden, unmöghch, daB jemand wegen einer Einlage von ein paar Tausend Franken Rechenschaft fordern und Leopold hindern darf. So wird eine neue Versanunlung ins SchloB berufen und ihr mitgeteilr, daB nach dem Wortiaut der Statuten die Gesellschaft entweder Nachzahlung leisten oder sich auflösen muB. Aber ein geheimnisvollerWohltater—j eder kermt, keiner nennt seinen Namen—ist bereit, die Einzahlungen mit fünf Prozent Zinsen zurückzuzahlen, falls Auflösung beschlossen würde. Niemand wünscht nachzuzahlen, die paar Aktionare sind entzückt, ihr verlorenes Geld zurtickzuerhalten und noch dazu GenuBscheine auf allfallige zukünftige Gewinne. Sie sind von solch wahrhaft königUcher GroBzügigkeit höchst befriedigt. Auch Leopold hat alle Ursache befriedigt zu sein: von diesem AugenbUck an kann niemand mehr ihm hineinreden. Stanley arbeitet, auch wenn er weiterhin es nicht wufite, als sein Prokurist, der zum ersten Mal in Afrika die blaue Fahne mit dem goldenen Stern aufpflanzte. Eine armselige Handelsgesellschaft war hquidiert; ein groBes Reich konnte gegründet werden. Nein, es kann noch lange nicht gegründet werden, ja es ist wabrscheinhch, daB es damals sogar Leopold ein unerreichbares Ideal schien; er hielt sich indessen an die Realitat. Nichts batte noch Form, alles zerfloB, war ungreifbar und damit auch unangreifbar, worin ein entscheidender Vorteil für den Schwachen Uegt. Wohl waren die Teilhaber der Handelsgesellschaft ausgebootet, aber der Handel bheb vorerst der allein zugestandene Zweck des Unternehmens. Es gilt, so sagt sich der König und verschweigt es genie den andern, zuerst festen FuB zu fassen: als Handelsniederlassung, als humanitare Gesellschaft, als wissenschaftbche Station, alles in einem- Spater wird man sehen. Die Form ist noch zu suchen, das Ideal der Herrscbaft steht unverrückbar vor Leopolds spöttischen, strahlenden, groBen Augen. Zuerst einmal muB die Tamkappe noch fester aufgesetzt werden. Et- was wird aus ihr schon herausfallen, und wenn man klug genug ist und die Andern es nicht zu früh bemerken, kann es ein Imperium sein. Also noch mehr Geheimnis. Stanley wird es eingescharft; Leopold miBtraut da dem Journalisten, der von Berufs wegen Worte machen muö und sich an die öffentlichkeit wendet, und Stanley weiB zu schweigen, berühmt sich dessen selbst nachher, er hat niemandem von dem Auftrag und dessen Absicbten erzahlt, es gilt zu überraschen, einen Vorsprung zu gewinnen. Ein jeder Angestellte des Studienkomitees muB in seinem Vertrag sich zur vollkommenen Gehehnhaltung verpflichten: Er darf niemand eine wissenschaftliche oder kommerzielle Mitteilung über die erforschten Gegenden zukommen lassen, nichts über seine eigene oder die Mission der anderen Angestellten mitteüen, über errefchte oder erhöffte Ergebnisse, und wenn er seine Schweigepflicht verletzt, verbert er nicht blofl seine Vertragsrechte, sondern muB noch zwanzigtausend Franken und Schadenersatz entrichten. Das ist ein wenig zu viel Vorsicht, wenn man blofl forscht und Stationen für Gelehrte einrichtet. Hier soll das Geheimnis ein Geschaft sichern, und ungewifl ist bloB noch die Form des Ge- schaftes: Handelsniederlassung oder ein Staat. Diese UngewiBheit wirkt fast ergötzbeh, wenn man den Briefwecbsel zwischen Leopolds Emissar, dem Obersten Strauch und Stanley best. Das beginnt in Gibraltar, wo sich die Herren zum letzten Mal vor Stanleys Griindungsreise begegnen. Die Hollander sind damals schon ausgetreten, die Gesellschaft wird erst einige Monate spater aufgelöst werden, und da laBt sich schon erkennen, daB man nun in Brüssel ein ganz klein wenig kühner geporden ist. Leopold, denn er hat die Vorschlage verfaBt, die Strauch an Stanley weitergibt, verlangt von Stanley: Landkonzessionen zu erwerben, auf denen StraBen und möglichst viele nutzbare Anlagen entstehen sollen. Dann Stationen, auf denen freie Neger zu beschaftigen sind. Drittens die Neger zu einem Bund freier Negerrepubiiken zu vereinigen, dessen Prasident Leopold ernennen würde; dieser hatte in Europa zu wohnen. Leopold wollte, daB diese seltsame Republik Unternehmungen konzessionieren und Anleihen ausgeben solle. Hier rutscht für einen Augenbbck die Tarnkappe vom Kopf, das schadet jedoch nichts, denn die Welt erfahrt ja nichts von seinem Briefwechsel, und der brave Stanley belachelt bloB den erlauchten Traumer und erklart in seiner Antwort, dies sei mindestens vorerst undenkbar: Die Neger würden ihre Haupthnge beibehalten, der Mensch, auch der schwarze, sei nun einmal ein „langsames, mattes Wesen". Spater einmal, wenn man genügend vorgeschrittene Schwarze als gute Beispiele hingebracht hatte, könne sich dies wohl andern... Mit jenem Wunsch verriet Leopold zum erstenmal sein Ziel, natürlich auch diesmal seiner Art gemaB versteekt. Zuerst, indem er Strauch vorschiebt, dann indem er von „freien Negerrepubliken" spricht, aber sich durch ihren Prasidenten die Verfügung über Land und Menschen und die Mittel hierzu durch Fremde beschaffen will. Hier meldet sich: der kühne Unternehmer, der Mann der Geldzeit, der Imperialist, hier verschwinden Wissenschaft, Christentum und Menschlichkeit, hier wird Geld und Herrschaft gewollt, aber mit allen heuchlerischen Formen, die geboten sind: freie NegerrepubUken, Anleihen ftir öffenthche Arbeiten, ein Prasident. Schon richtet sich in jenem Schreiben das furchtbare Wesen des spateren Leopoldischen Congostaates auf, verschwindet hinter dem wohlwollend ahnungslosen Geschwatz der Stanleyschen Antwort, aber man darf, wie man Leopold kermt, unbesorgt sein: Es wird wiederkommen. Die Firma ist gegründet, ihre Absichten zweifelhaft, ihre Formen fliefiend. Genug, daB sie da ist, bleiben und sich immerzu ausbreiten will. Stanley fabrt nach dem Congo, nach seinem Strom: Diesmal als groBer Herr, als Bnnger des Lichtes, als Bote Europas, das nun hierher kommt und bleiben will, Europa aber, das ist Leopold Coburg in Brüssel, treibt an. lauert und setzt sich fest. Der Punkt, den er mit der Konferenz gewann, dann mit der A. L A., dann mit dem Studienkomitee, dann mit dessen Liquidation immer vorsichtig verbreiterte, wird immer weiter. Negerrepubliken? Gute Seele, habe Geduld, hoffe und arbeite! Geschaft wird eingerichtet Mehr als fünf Jahre bleibt Stanley nun am Congo: bloB em einzigesmal kommt er rasch nach Europa, und sofort drangt Leopold ihn da zur Rückreise, um Souveranitaten emzuhandeln, Stationen zu gründen und drohenden Rivalen zuvorzukommen. Stanley wird einmal ernsthaft krank, die Halfte der Europaer stirbt oder ertragt das Khma nicht, andere tun nicht gut, seine Erzahlungen sind angefüllt mit Klagen über Angestellte, die töricht, zanJrisch, unfahig sind. Er gründet Stationen und findet sie bei seiner Wiederkehr verwahrlost und zerf allen. Seine Mittel sind zu beschrankt, er soll mit hundert Leuten StraBen durch Felsen schlagen, zum erstenmal hallt diese Landschaft von den Sprengungen des Dynamits wieder, und Bulla Matari, den Felsenzertriimmerer, nennen ihn dann bewundernd die Neger. Alle Lasten sind mitzuschleppen, die kleine FluB-Armada ist lacherlich gering un Verhaltnis zu ihrer Aufgabe. Immer wieder fordert er Verstarringen. Nein, nicht Zierbengel, die mit weiBen Handschuhen spazierengehen, nicht Trunkenbolde, die am Aquator des raschen Todes gewiB sind, nicht Abenteurer, die hier ihre Zuchtlosigkeit und Gier herführen nicht kleme Jungen, welche die Sensation einer neuesten Welt suchen und in ihrer Wirküchkeit sogleich hilflos werden, die sind da bloBer Ballast. Ganz Belgien, hierher gebracht, könnte ihm nicht helfen. Er will starke farbige ö Arbeiter, Werkzeuge, Tauschgüter, er kann nicht genug davon bekommen, und alle seine Berichte nach Brüssel variieren dieses Thema, zeigen die MaBlosigkeit der Aufgabe, das Winzige des Erreichten, die Langsamkeit des Fortschrittes, doch auch die GewiBheit des Fortschrittes. Der Oberst Strauch aber antwortet ihm stets, indem er mehr und eiliger Neues verlangt. Und keine Antwort dieses Herrn geht an Stanley ab, die nicht in allen ihren Einzelheiten, ihren antreibenden Wünschen, in ihren stets skh erweiternden Forderungen, in ihrer unerbittbchen Zielstrebigkeit Leopolds Werk ware, er steht hinter allem, er kermt jeden Menschen, der dort am Congo arbeitet oder zugrunde geht, noch gibt es keinen Fernseher und Fernsprecher, und Leopold sieht und hört doch achttausend Kilometer. GewiB, er ist oft nicht zufrieden mit Stanley. Seitdem der Held festes Jahresgehalt erhalt, erobert er für Leopolds Ungeduld zu langsam; besser, ihm für sechs Stationen hunderttausend Franken anzubieten, Afrika sozusagen im Akkordlohn zu besetzen! Er hat auch zu wenig Erwerbssinn, Leopold empfiehlt immerzu Dinge, die auch etwas Geld embringen könnten; die Kosten steigen unheimlich rasch. Gesunde Leute hinsenden, möglichst aus alten starken Eroberervölkern, die Belgier taugen da noch nichts, und heber gleich etwas mehr Manner, denn „die Sterbhchkeit ist stark am Congo", schreibt Leopold aus Ostende und gestattet aus Vorsicht gleichzeitig einem hustenden Minister keine Audienz. Viel Fahnentuch ist an Stanley zu senden, das darf Strauch nicht vergessen; Fahnen sind billigste Eroberungsmittel in Gebieten, wo es noch keine Feuerwaffen gibtl Aber ware es nicht besser, einmal anderthalb Milhonen für eine kleine Kriegsflotte anzulegen, damit die Portugiesen am Congo endbch bescheiden werden? Oder die neuen Unterwassertorpedos, die jetzt in Konstanti- nopel und Amerika versucht werden? Das kame billiger, Leopold verlangt eilige Informationen. Ist er wahrhaftig der ungebüdete, phantastische und unbeherrschte Mensch, als den ihn sein Strauch nachher darstellt, nachdem der König spater auch dieses dann verbrauchten Handlangers sich entledigt hat? Kaum; nur wirkt seine unermüdhche Aktivitat für Gelassene, Einfallsarme, Zweitklassige beklemmend. Immerhin, Leopold spaht wohl nach anderen aus, die Stanley ersetzen könnten, doch der kalte, ihm unsympathische, langsame Englander bleibt vorerst eine nützhche Autoritat. Der Held ist nicht gewöhnt, eine Aufgabe zu unterbrecben, eine Pflicht zu verlassen; aber er wünscht doch Ablösung, vielleicht weil bei all seiner Erfahrung und Führerkraft recht eigentbch das Organisatorische eines groBen Verwaltungstalenteslhm fehlt. Leopold will von England den General Gordon holen, der sich zuerst in China mit Ruhm bedeckt hat, 1800 Pfund jahrhch zahlen ihm jetzt die Agypter als ihrem Verteidiger im Sudan. Leopold will ihn als Stanleys Nachfolger haben. Gordon sagt zu, um den Negerhandel zu bekampfen, schreibt wie ein Missionar mit Traktatchen, und hier wird sogar der fromme Stanley bei aller Bewunderung für den Mann bissig; doch der Mahdi steht auf, Gordon hat den Sudan zu verteidigen, er kann nicht nach dem Congo reisen, er hat heldenhaft sich zu verteidigen und abzuwarten, bis nach dem Fall von Chartum sein abgeschlagener Kopf vor den Derwischen aufgepflanzt wird. Und Leopold wendet sich auch an einen deutschen Forscher Dr. Péschuel-Loesche. Und PeschuelLoesche verspricht alles, kommt an und nicht vorwarts beschimpft hierauf alle Welt, rat, weil nichts ihm gelingt.' zur Auflösung des ganzen Unternehmens und zankt und' stankert in dicken Banden, droht, klagt, berichtet und verschwindet tief beleidigt vom Congo und aus Leopolds Gesichtsfeld. Was am Congo zu schaffen ware, das ist auf mehrere tausend Küometer Stromlange und ringsum Arbeit fur viele Tausende, und wenn diese da waren und dazu viele, viele GoldmiUionen, es ware auch dies noch nicht genug, denn hier ist eine Völkerwanderung von ganz besonderen Menschen notwendig, die solche Sonne ertragen, in diesem steten Wechsel von Glut und Wind nicht erschlaff en, Schwierigstes unermüdet ausführen, engelhaft geduldig gegen die Neger bleiben, dabei tapfer und nie erlahmend. Stellt es sich nicht heraus, daB fast alle Stationen am falschen Ort errichtet werden, weil Stanley sie in leichter Anhöhung aufbauen laBt? Die Arzte warnen vor der Niederung am Strom, den Miasmen des Sumpfbodens, der Feuchtigkeit, die das Fieber bringt. Aber in der Höhe verdirbt der Wind alles, tötet die Menschen durch den jahen Wechsel ihrer bald offenen und geschlossenen Poren, und Stanley hat wieder einmal Ursache, den Fachleuten zu zürnen. Das RUima? Stanley verteidigt seinen Congo: Das Küma ist schon gut, aber die Menschen sind zu schwach, sie wissen nicht, sich ihm anzupassen, sie schlagen seine Ratschlage in den Wind, verspotten ihn als alten Pedanten. Er wird nicht gehort, und er kann nicht überall sein. Das Vertrauen, das er bei den Eingeborenen gewinnt, schwindet wenn dort in seiner Abwesenheit die weiBe Besatrung sich als Herr gebardet. Nun ja, er kommt vorwarts, aber viele Monate vergehen, bis er von Vm nur 33 Küometer StraBe angelegt hat, er muB Sacke voll Bohnen zahlen Vertrage abschheBen, immer wieder Vertrage, sie können davon gar nicht genug haben in Brüssel, er soll Maschinen ausbessern, Streit zwischen Eingeborenen schhchten. Berichte abfassen, und dabei soll er auchnoch Pohtiker, Eroberer und Organisator sein, er plagt sich redlich, und wenn sie dann aus Brüssel immer wieder noch mehr verlangen, so argert er sich ein wenig, doch ïnnerlich behagt es ihm wohl, denn er Hebt es, dasUnmöghche möglich zu machen oder sich mindest damit abzuqualen. Er ist kein Mann des ruhigen Urteils, so sehr er es anstrebt; wer ihm nicht gefallt, wer versagt, der allein tragt die Schuld, es freut ihn wenig, eigene Schuld zu bekennen. Hingegen lobt er alle, die zu ihm halten; er ist ein Genie der Treue, das Leopold sich gefunden hat, sein groBes Geschaft einzurichten. Was soll daraus werden? Der erste Vertrag zum Bau der Station von Vivi ist noch ein ganz ehrenwerter Pachtvertrag. Ein schmaler Grund wird von den Hauptlingen gegen 32 Pfund Sterling in Kattunwahrung abgegeben, dazu monathch 2 Pfund Miete. Das ist, Stanley bemerkt es argerlich, recht teuer, und hier denkt noch niemand an Souveranitat, Negerrepubhken oder ahnliche Dinge. Aber es ist sonderbar, wie solche Miasmen wohl in der Congoluft stecken müssen. Als Stanley nach Europa heimfahrt und dort gar nicht bleiben darf, da empfiehlt auch er, der Negerfreund und Befreier, der Mann der Humanitat, Souveranitat einzukaufen, nicht armselig Grund sich zedieren zu lassen, wie das in Europa taugt. Die Zeit wird reif dafür, daB die A. I. A. Herr auf ihrem Grund wird, alle Welt hndet, es sei einfacher, gleich die Staatshoheit zu gewinnen, das erspart lastigen Zank mit den Einheimischen, sagen sie und denken dabei an den Streit mit den rivalisierenden Kolonialstaaten in Europa. Leopold, treuester Leser der „Times" durch ein halbes Jahrhundert, bat aus ihr das Modell eines solchen Vertrages ausgeschmtten, wie ihn eine englische Gesellschaft mit den Sultanen von Nord-Borneo angefertigt hat. So haben die Enkel der ersten Pioniere in den Vereinigten Staaten sich einen Kontinent nach allen Regeln des Rechts gekauft: hier bast du die Rumflasche, dafür habe ich dein Land und so nebenbei auch noch dich selbst mit deinem Schnapsgift im Leib. Sanford empfiehlt solches Rezept, bei dem die U S A trefflich gediehen sind, das befördert überaus das Wachstum. Es ist dagegen garnichts einzuwenden, sagen alle weiBen Juristen, und der König laBt sich über- all bei den ersten Recbtsgelehrten Gutachten ausarbeiten, und auch noch andere, die beweisen, daB die A.I.A. durchaus befugt sei, solche Vertrage abzuschheBen, diese seien nicht etwa nur für Staaten reserviert. Vielleicht würde ein hoher Gerichtshof der Bateke darüber anders urteüen, ein groBer Professor der Wasunga eine abweichende Auffassung vertreten, doch es gibt glücklicherweise keinen hohen Gerichtshof der Bateke und keinen groBen Professor der Wasunga, sondern bloB nackte Neger, die eine unbezwingliche Leidenschaft für Messingstabe und bunte Tücher haben. Wozu gabe es eine A. I. A., wozu einen König Leopold in Brüssel und einen Stanley mit seinem Stab von Mitarbeitern am Congo, wenn sölche nützliche Leidenschaft ehrenwerter schwarzer Mitbtirger nicht befriedigt werden könnte? Am Anfang hatte man gezögert, und das hat offenbar die Haupthnge Noso, Kiangala, Talente, Nefutila und Nelombo-Katalde gekrankt, sie rasteten nicht, bevor in einem Erganzungsvertrag in Pallabala klargestellt wurde, daB der im Vorjahr von dem wenig erfahrenen Leutnant Van de Velde mit ihnen vereinbarte Vertrag derart aufzufassen sei, daB der Ausdruck „Gebietszessionen" nicht als Ankauf des Bodens, sondern als Ankaut der Oberherrschaft (Suzeranitat) zu verstehen sei. Die Haupthnge unterzeichnen zwar in vollkommener Unkenntnis der Schreibkunst bloB mit einem Zeichen, wobei den Lachenden die Hand geführt wird, andere sehen darin eine heüsame Zauberei, aber es ist ihnen dennoch, wie in vielen hunderten gelehrter Ausdrücke noch naher ausgeführt wird, „vollkommen verstandHch", daB sie die A. I. A. als Oberherrin annehmen, ihre Flagge führen, keine andere (eine Bestimmung, die dem Hauptling in Brüssel noch vollkommener verstandlich ist) dort hissen lassen und überhaupt auf alles an Besitz und Freiheit verzichten, worauf Menschen nur irgendwie verzichten können. Es bleibt, die Geschichte ist eine unvoUstandige Samm- lung von Tatsachen, in vielen Fallen unbekannt was Stanley jenen Hauptlingen für ihre Untemerfung gab, die Verkaufer ahnten garnicht, daB sie sich selbst, ihr Schicksal und ihre Kinder mit jenen Zeichen verkauft hatten, es fehlte damals auch noch an der Möglichkeit einer Tcmnlmaufnahme, welche den Nachgeborenen batte sinnfallig überbefem können, wie Souveranitaten entstehen, die nachher in Parlamentsdebatten und einer Konferenz der ersten Staatsmanner der Welt als Grundlage ihrer Beratungen und Beschlüsse dienten und die Landkarte Afrikas gründbch verandert haben. Man muB dies sehr bedauern. Vertrag auf Vertrag folgt bei Stanley, bei einzelnen gibt es seitenlange Angaben der Neger, die zustimmten, sozusagen schriftlich, und alle diese Erklarungen gesammelt und autorisiert und peinbch genau, denn man ist ehrenwert und niemand darf sich am Recht versündigen, werden in Brüssel aufbewahrt; kein Philatelist besieht mit so glückhchem Lacheln seine vollstandigen Kollektionen von Briefmarken wie Leopold diese Souveranitatsverzichte zugunsten der A. I. A.. Freüich hat nicht er selbst wie seine Abgesandten seine Arme zum Einschnitt hingehalten, auf daB zwischen ihnen und den Negern die Blutsbrüderschaft als Besieglung ewiger Freundscbaft geschlossen würde. Da sitzen die Schwarzen, arglose Kinder, bei ihren Palmen, gehen durch das mannshohe Schilf, der weiBe Mann kam mit seinen larmenden Booten angeschwommen, die schreckbchen Rauch ausblasen, er laBt trommeln, er bringt seltsame Dinge, er spricht schöne Worte, sie trinken gierig sein Blut, sie zeigen sich die Geschenke und er will nur, daB sie dafür irgendwo ein Zeichen hinsetzen, so güt dann der Vertrag. Drollig sind sie, diese WeiBen — ach, meine schwarzen Freunde, Ihr werdet sehen, daB Ihr Euch int, sie sind gar nicht so drollig, diese WeiBen! Es gibt vermutiich nichts, was die Haupthnge nicht ebenfalls zugestanden hatten. Man hat ihnen sicherhch erzahlt, der weiBe Mann werde ihren Streit schlichten, ihnen beistehen gegen Gefahren, er ist so gut und schenkt, man muB da nur eben etwas einritzen auf ein unheimlich weiBes dünnes Ding, das sie nicht kennen und das Papier heiBt. Dann ist der weiBe Mann zufrieden, geht und wird so bald nicht wiederkommen. Er wird aber wiederkommen. „Aus eigenem freien Willen, ohne Zwang, aber gegen substantielle Entschadigungen und sich nur einige, wenige, leichte Bedingungen vorbehaltend, hatten mehr als 450 unabhangige afrikanische Haupthnge ihre SouveraV nitats- und Eigentumsrechte der Association übertragen." So schreibt darüber der entscheidende Zeuge Henry Morton Stanley. Keiner konnte besser als er wissen, wie die Menschen waren, von deren „eigenen freien Willen" er spricht. Aber es ist ihm nicht eingefallen, daran zu zweifeln; nicht etwa, weil er böse oder herrschgierig gewesen ist, er war gut und wollte den Negern wohl und war überzeugt, daB ein weiBer Gort sie dazu bestimmt batte, genau nach der von Stanley allein für richtig angesehenen Form zu leben und zu arbeiten. Er bat genau untersucht, was das Klima Afrikas erfordert, er hat jede Pflanze auf ihre Ertragsf ahigkeit geprüft und den Bodenertrag, übrigens irrig genug, ausgerechnet. Doch niemals kam ihm der Gedanke, daB auch der afrikanische Mensch ebenso wie die Pflanze seine besondere und durchaus uneuropaische Art hatte und nichts Atmendes dazu bestimmt sei, auf seine Ertragsf ahigkeit für andere hin abgeschatzt zu werden. Der Geldzeit glaubend, nahm er ihr Gesetz hin, ohne zu zweifeln, und so lieferte er Menschen, die er auf 27 Millionen geschatzt hat — auch hierin übertreibend —, einer von ihm für höchst human und uneigennützig angesehenen Gesellschaft aus und ihrem Gründer, diesem tatkraftigen Traumer in Brüssel. Doch des Traumers Traume waren langsam Wirklichkeit geworden. Hindernisse gibt es genug, aber das We- sentliche scheint erreicht, die Voraussetzungen für Mehr geschaffen. Nur, daB man bei allem Geheimnis es doch auf die Dauer nicht verheimlichen kann, wenn man einige Millionen Quadratkilometer und noch viel mehr Millionen Menschen sich unterwerfen wilL Nur daB auch andere da sind und raffen wollen. Und daB diese Anderen ebenfalls Expeditionen ausrüsten, ihre KonkurrenzStanleys entsenden und ebenfalls Vertrage ausgrabenund Gutachten vorbringen. Viel ist vollbracht, eine reiche Ernte abgemaht, aber nun kommt die gröBte Schwierigkeit: sie in die Scheune einzubringen. Konkurrenz wird lastig lm August 1879 sind beim könighchen Prasidenten der A. 1. A. zwei französische Herren zu Gast, die eben ivon einer sehr erfolgreichen Durchforschung des OguweBeckens kommen. Frankreich, das in Westafrika schon weite Koloniën besitzt, hat noch wenig Interesse für Erweiterungen seines Gebietes. Der König spurt in dem Grafen Savorgnan de Brazza, der da vor ihm sitzt und so lebhaft zu erzahlen weiB, eine starke Kraft, die er gerne seinen Werken gewinnen möchte. Gerade in diesen Tagen ist Stanley mit seiner Expedition in Afrika gelandet, doch der König kann gar nicht genug tüchtige Heber herbeiziehen. Brazza ist von Geburt Italiener, als Franzose nur naturalisiert, aber sein Eifer für das neue Vaterland ist zu heiB, er lehnt ab, es ware ihm nicht wohl in einer internationalen Gesellschaft, er sieht im Erforschen Eroberung und Macht, darin seinem Gastgeber verwandt, der ihm den Leopoldsorden umhangt und bedauert, daB der kühne, in seinen Entschlüssen rasche Mann nicht sein Freund sein will. So soll er wenigstens nicht sein Feind werden; dieser da, das spürt der Menschenkenner Leopold, könnte gefahrlich werden. Leopold wirkt dafür, daB Brazza von dem französischen Komitee der A. L A. seine nachste Aufgabe zugewiesen erhalt. Wohl weiB der König, daB dieses Komitee im Wesentiichen ganz national eingestellt ist, die Internationalitat bloB als störende, öde, belanglose FönnHchkeit betrachtet. Aber solche Förmlichkeiten binden, sagt sich Leopold, und die vierzigtausend Franken, die er als seine Spende nach Paris für das französische Komitee sendet, werden wohl ein gut angelegtes Geld sein. Denn wenn dieser Brazza ihm nun in Afrika in den Weg kommt, so ist er dann doch im gewissen Sinn auch Leopolds Angestellter, Frankreich also völkerrechtiich und moralisch in eine ungünstigere Stellung gedrangt. Brazza ist rasch, tatkraftig, geistreich, weitbUckend, doch er spricht gerne und nach südlicher Art unbedacht. Bald weiB der König, was ihm droht, und noch dazu hat er seinen treuen Sanford, der zu horchen und auszuholen weiB. Brazza will nach Stanley-Pool gehen, der seeartigen Erweiterung des Congo, dem beherrschenden Punkt seines Mittellaufes und dort sich Land nehmen. Er entwickelt dann in Paris ein sehr schlaues Programm. Kommt er vor Stanley an, so wird er die französische Fahne hissen; kommt er spater, so ist er ein Gelehrter ohne politische Absichten auf seiner Forschungsreise. Es ist die Methode Leopolds, die sich hier gegen ihn wendet. Nur daB des Königs Tarnkappe fester sitzt und er nicht wie Brazza in Amtern und Ministerien und Komitees um Geld und Hilfe betteln muB. So laBt er an Stanley melden, daB Gefabr im Verzug sei: Das Interesse der Unternehmung fordert, daB Sie nicht in Ihrer ersten Station bleiben. Nicht zu verachtende Konkurrenten drohen, uns auf dem oberen Congo zuvorzukommen. Brazza wird versuchen, dem Alima bis zu seiner Mündung in den Congo zu folgen, wo er vor Ihnen einzutreffen hofft. Kein AugenbUck ist zu verberen. Stanley richtet indessen seine erste Station ein, erkampft sich ZoU auf Zoll seine neue StraBe, er ist ein Mann der Methode und begreift durchaus nicht, was die aufgeregten Leute in Brüssel, die gar nichts von Afrika verstenen, von ihm wollen. So gibt er eine Antwort, die in ihrer gekrankten Würde, in ihrem sozusagen sportlichen Entdeckergeist und zugleich in ihrer weltfremden Dummheit — man findet kein richtigeres Wort — unvergleichlich ist: Was Dure Mitteilung über eine französische Expedition den Oguwe entlang nach Stanlèy-Pool betrifft, so gestatte ich mir, Ihnen zu sagen, daB ich mich an keinem Wettlauf zum Stanley-Pool beteilige, weü ich dort schon vor zweieinhalb Jahren war. Fertig, Er hat doch schon Stanley-Pool entdeckt, was macht es da aus, daB ein Anderer nachher auch hinkommt? DaB dieser Andere einfach das Land dort nimmt, den Strom damit entwertet, alle Hoffnungen Leopolds vernichtet, die ganze Expedition zwecklos wird, das übersieht Stanley vollkommen, denn er kermt ja Leopolds Absichten nicht, er weiB nichts von pohtischen Zielen und Eroberungen. Er könnte es wissen: Das so streng bewahrte Geheimnis seiner Expedition, der aufgeregte Brief, der gar nicht deutlicher sein kann, all das Spricht klar genug. Aber nicht für den treuen, langsamen Stanley, der wohl einen Erdteü entdecken, aber nicht umlernen kann. Nochmals laBt Leopold durch seinen Strauch drangen: Wir lenken Ihre Aufmerksamkeit sehr ernsthaft auf die wahrscheinhchen Absichten Brazzas und verpflichten Sie zu der auBersten Anstrengung, um ihn nicht zuvorkommen zu lassen. Wir hoffen, daB er, wenn er bei der Alimamündung zum Congo eintrifft, Sie dort schon findet... Vergebbche Hoffnung, Stanley geht nur Schritt für Schritt weiter. Indessen ist Brazza, so rasch er nur konnte, seinen Weg gegangen, kam zum Stanley-Pool. Hat dort sich vom Hauptling das Land abtreten lassen, eine Trikolore gehiBt und den Senegalesen Malamine als Vertrauensmann dort gelassen. Dann kann er sich das Vergnügen nicht versagen, den groBen Rivalen, den er besiegt hat, aufzusuchen und seinen Triumph zu genieBen. Fünf Wochen spater wird Stanley nahe dem stillen Isangila ein weiBer Mann als Besucher gemeldet: Brazza. Jetzt erst beginnt Stanley langsam zu verstenen, was dies bedeutet. Zwei Tage lang bleibt der Besucher, unterhalt ttm von seinen Unternehmungen, erzahlt ihm von Brüssel und dem König, und teüt ihm so nebenbei mit, daB er in Stanley-Pool den Sergeanten Malamine mit der Trikolore vorfinden wird. Das ist ein winziges Stück von dreifarbigem Tuch, es ist ein Leichentuch für die A. I. A., es begrabt einen ganzen Staat und die Lebensarbeit eines groBen Mannes. Die beiden Kollegen aber sprechen von anderem. Brazza will seinen Erfolg auskosten, in Paris stok das von ihm Erreichte preisen. Er sieht kopfscbüttelnd zu, wie Stanley sich mit der StraBe durch den Berg abqualt; das Werk wird in einem Monat voüendet sein. „Dazu allein werden Sie hier sechs Monate benötigen", meint Brazza mitleidig und mit versteckter Verachtung. Stanley beobachtet dabei sehr englisch, daB Brazza schlecht angezogen ist, einen schabigen Tropenhelm und keine Schuhe tragt. Sein Gefolge ist klein, sein ganzes Gepack kaum fünfzig Küogramm. Viele Jahre spater kann er sich darüber noch nicht beruhigen. Doch dieser unrasierte Schwatzer hat ihn vernichtend besiegt, worüber er kein Wort sagt. Viele Monate spater und jedenfalls viel zu spat erscheint Stanley in Stanley-Pool und wird dort von Brazzas Vertreter Malamine sehr würdevoll begrüBt. Der Senegalese zeigt Stanley die Trikolore und die Abschrift des Souveranitats vertr ages. Wiegelt auch die Schwarzen gegen Stanley auf, der keine Lebensmittel erhalt und zurückgeht. Nachher wird Malamine behaupten, daB Stanley ihn bestechen wollte. Aber was behauptet solch ein Bursche nicht, dem seine regelrechte geschichthche Bedeutung in den Kopf steigt? Er ist ja auch auf das andere Congoufer gefahren und hat angeblich dort wegen Landbesitz unterhandelt, so daB spater Brazza. erklaren wird, die Niederlassung Stanleys Leopoldviile sei auf französischem Boden errichtet. Der Name Leopoldviile und Brazzas Behauptung: das ware ein Waterloo für Leopold. Stanley untersucht indessen gewissenhaft und kann beweisen, daB Brazza unzweifelhaft am linken Ufer keinen Landkauf getatigt hat und auBerdem bestreitet er, daB Brazzas Makoko überhaupt Recht über das von ihm abgetretene Land besessen hatte, er sei nur ein kleiner Hauptling unter vielen gewesen. Schwierige Fragen, man kann ihnen in Regierungsnoten und französischen Senatsreferaten begegnen, wo jener Makoko der einzige Freund Frankreichs genannt wird. Aber es mag nicht eben leicht sein, die verfassungsrechtlichen Zustande einiger Kannibalenhütten zu ergründen, obwohl es gewiB sehr wichtig ist. Aber nicht für Leopold, der eine ganz andere Art hat, Stanleys Langsamkeit auszugleichen und Malamines Spazierfahrten über den Congo abzuwehren. Waterloo liegt wohl in Belgien, aber Leopold laBt sich kern Waterloo bereiten. Da kommt der Chef November Ï882 scblüpft in Cadix gerade noch vor Abfahrt des Dampfers „Harkaway" ein Reisender an Bord, der wenig bemerkt zu werden wünscht. Blieken wir genauer hin, so erkennen wir Stanley, der bei seiner Berichterstattung in Brüssel die neuen Auftrage seines Chefs erhalten hat. Noch immer weiB er nicht, daB er einem Geld- und Ehrgierigen ein Reich errichten soll, doch er weiB nunmehr immerhin einiges, was er früher nicht begriffen hatte. Zwei Jahre sind verstrichen, seit Brazza ihm am Stanley-Pool zuvorgekommen war, und so langsam die anderen auch sind, sie sind jetzt aufmerksam und argwöhnisch geworden; mehr als jemals sind vorerst daher Geheimnis und Eile notwendig. Stanley verlaBt Europa wie ein Defraudant, der seine Spuren verwischen will, gibt sich europaische Stelldichein für Tage, an denen er schon wiederum am Congo sein wird, nennt niemandern das Schiff, das ihn aufnimmt, und mitten im Meer wird die „Harkaway" anders gestrichen und umgetauft, damit die Leute in Paris und Lissabon noch nicht wissen, daB Stanley mit Leopolds Befehlen schon zurückkehrt. Möglich sogar, daB sie ihn zurückhalten würden... Jedenfalls, diesmal gilt es, das Versaumte nachzuholen, das Pfand muB bbtzgeschwind entrissen werden, denn die anderen laufen auch schon, es gilt, Vorsprung zu haben und ihn auszunützen, jeder Tag, ja jede Stunde kann entscheiden. Leopolds einfallsreicher Geist hat den rettenden Ausweg gefunden. Am rechten Congo-Ufer dehnt sich ein sehr weites Gebiet, das von dem Flusse Njari-Kwilu bewassert wird, bis zum Meere. Das ist die VerbindungsstraBe für die Franzosen in Stanley-Pool, allein sie haben dort keine Stationen errichtet und keine Landnahmevertrage abgeschlossen. Er entsendet eine Expedition, die durch das weite Loangogebiet ziehen soll, eben das FluBtal des Njari. Aber der Herr Doktor Peschuel-Loesche, der sie führen soll, kam von Vivi nicht fort. Doch noch ist eine groBe Umgehungsoffensive möglich; ausgeführt von einigen Dutzend weiBer Manner, erdacht von Leopold. Er gibt Stanley seine Befehle: Soviele Stationen am Congo wie möglich, aber auch mit Zweigexpeditionen das ganze gewaltige Gebiet des Njari-Kwüu zu besetzen, auch dort Stationen zu grimden, die blaue Sternenflagge zu bissen, Souveranitaten zu kaufen. Gelingt dies, dann ist Brazza am Congo eingeschnürt, eine winzige Enklave inmitten der A. I. A. Eiligst ziehen die Abteilungen der A. I. A. unter Führung ihrer jüngen Offiziere durch das Gebiet. Stanley verlaBt seinen Congo nicht. Sein engbscher Ofhzier Grant-Elbot empfangt einen versiegelten Auftrag, so strenge wird das Geheimnis gewahrt, der StoB soll die Franzosen unvorbereitet treffen. Elliot erreicht sein Ziel. Der belgische Offizier Van der Velde der A. I. A. marschiert seinerseits auf anderen Wegen ihm entgegen.scMeBtVertrage; nun folgen wahre Eilmarsche, Stationsgründungen, Souveranitatskaufe. Nur den Franzosen zu vorkommen, es ist Wettlauf in einer unerf orschten Welt, Abenteuer ohne Beispiel. Stephanieville, Rudolfstadt, Philippevüle, Baudoinville werden gegründet, alles, was zur belgischen Dynastie gehört, bekommt seinen Platz, die Namen sprechen deuÜich, aber am deutbchsten wird die Sache, als am 9. Marz vormittags an der Kwilumündung Van der Velde mit seinen Soldaten erscheint. Am Nachmittag trifft dort der französische Expeditionsleiter Cordier ein, um sechs Stunden zu spat. Der Njari-Kwilu ist bis zu seiner Mündung in den Handen der A. I. A. Leopold hat seine Revanche genommen. Am 20. Dezember 1882 kommt Stanley in Vivi an, drei Wochen spater beginnen schon Grant Elliot und Van der Velde ihre Expeditionen; am 9. Marz sind sie bis zum Meere vorgedrungen, in acht Wochen haben sie vor den Anderen ein wertvolles Gebiet von hunderttausenden Quadratkilometern mindestens dem Schein nach besetzt, und in diesem Afrika gilt nur der Schein, für alle Falie dem Congoreiche einen andern Weg zum Meere gesichert, was immer die Portugiesen vefsuchen mögen. Acht Wochen : Leistung ohne Beispiel, kaum vorstellbar, und in ihr spurt man Leopolds Eile, seinen stahlharten Willen, sein tiefes Verstehen des Notwendigen. Hier entscheidet der AugenbUck, er ergreift ihn und laBt ihn nicht mehr los. Zur selben Zeit jagen nun ein Jahr lang zugleich Expeditionen der Franzosen und der A. I. A. durch jene vorher nie von WeiBen betretenen Lander. Begreiflich, daB sie gegenseitig ihre Besitzrechte bezweifeln, jeder glaubt früher gekommen zu sein, jeder seinen mit irgendwelchem Hauptling abgeschlossenen Vertrag für beweiskraftiger ansieht. Zeugen hierfür sind nicht zu finden. Die Neger lachen glückhch, wenn ihre Haupthnge dieses unbegreifliche Werkzeug, die Feder, in die Hand nehmen und sie dann ihre Geschenke erhalten; sie werden jedem alles zugestehen. Aber um dies spater zu entwirren, dafür sind dann die Diplomaten da. Genug, wenn man sich vor den Verhandlungen die sicherste und gunstigste Stellung sichert. Als das Spiel durch Stanleys vornehm sportliches Nichtverstehen bereits verloren schien, hat Leopold durch Raschheit und List alles umgeworfen. Für ihn zogen diese Landsknechte in Wettlaufen durch straBenlose Gebiete, sanken ermattet um, rafften sich auf, eroberten oder fielen am Wege. Da waren in seiner Truppe unter dem Angloamerikaner Stanley Englander, Italiener, Schweden; der Deutsche Wissmann erobert ihm das wichtige Kasaigebiet; auf der französischen Seitesteht der Italiener Brazza, Kondottierikampfe im dunkelsten Afrika, auf der einen Seite besoldet von einem hohen und klugen Herrn, der auf der Landkarte alles lenkt, verfolgt, antreibt, horcht, schweigt und weiB, daB er die letzten, entscheidenden Kampfe doch erst hier in seinem Europa wird ausfechten müssen. Nicht bloB die Franzosen wollen den Bissen schlucken, sondern da sind ja auch noch die Portugiesen, die seit Jahrhunderten am Meere sitzen und weit hinauf im Süden der Mündung ihre Kolonie Angola haben, sie bebaupten, daB ihnen nicht bloB die Mündung gehort, sondern schon seit Jahrhunderten das ganze Land am Strom bis über den fünften südbchen Parallelkreis. Sie haben anfangs nicht viel die A. L A. beachtet, doch als sie die Souveranitatsvertrage Stanleys bemerken, fanden sie wenig Geschmack an solchem Sammeleif er. Leopold hatte befohlen, mit den Hauptlingen von Boma erst zuletzt Landabtretungsabkommen abzuschbeBen; er sah voraus, daB dies hier unter den Augen der f remden Kaufleute und nahe der portugiesischen Kolonie viel Wider- stand erwecken müBte, so wollte er die groBe Beate schon vorher eingesarnmelt haben. Aber da fahrt, als der Larm die A. I. A. nicht vertreibt, auf einmal ein portugiesisches Kanonenboot zur FluBmündung, der Kapitan versammelt die Haupthnge, und diese alle sind nun durchaus begeistert, Portugiesen zu werden. Als jedoch die A. I. A. trotzdem in Boma seBhaft bleibt, kommen einige Monate spater sogar drei Kanonenboote, und der Kommandant Capello laBt mitten in der Stadt die portugiesische Flagge hissen. Indessen ist da ein ganz kleines enghsches Kriegsschiff vielleicht nicht nur zufallig ebenfalls anwesend, und dessen Kapitan findet, die portugiesische Flagge mache sich hier nicht gut, sie beleidigt seinen Farbensinn, und so verschwindet sie. Aber der Streit bleibt, und Leopold muB sich sagen, daB er an der Strommündung von Portugal bedroht ist, den Pool beanspruchen die Franzosen für sich. Also ist am Ende doch alles vergebens gewesen? Nicht ganz. Denn die A. I. A. hat ja auch das NjariKwilu-Gebiet besetzt, auch dies ist ein schiffbarer Strom bis zum Meere, wenn kein Weg, so doch rnindestens ein achtbarer Ausweg. Freüich denkt Leopold nicht daran, auf den Congo zu verzichten, allein für alle Falie hat er damit in seiner unergründhchen Tasche ein wertvolles Pfand. Es wird ihm ausgelöst werden müssen. Von wem? Und wie? Fragen, die ihn, nachdem er seine Souveranitaten sauberhch registriert hat, sehr beschaftigen. Nur bemerkt er alhnahbch, daB die Anderen sich so anstellen, als batte er gar nichts, Souveranitat? Nein, wieso denn? Eine humanitare, wissenschaftbche, internationale Gesellschaft kann doch kein Souveran sein! Diese schlimmen Menschen tun aus Bosheit so, als ware alles wahr, was er da in so schonen Worten immer versprochen hatte. Im französischen Senat wird er und die A. I. A. vom Referenten überaus gerühmt, jedoch eben nur, weil er doch kein Hindernis sein könne, daB Frankreich den Congo besetzt. Die Stationen, die Vertrage, all dies 9 gilt nicht, sagen nun die Anderen. Es stellt sich heraus, daB im selben AugenbUck, wo er aus seiner Tamkappe endHch sein Reich herausschütteln wül, die Tarnkappe für ihn zur Gefahr wird. Also fort mit ihr, dieser Mohr hat seine Schuldigkeit getan, nun muB sie verschwmden, damit die anderen vielen Millionen Congo-Mohren ihre Schuldigkeit für Leopold tun. Dies bedeutet: aus einer internationalen, humanitaren Gesellschaft muB ein Staat werden. Es war möglich, ein Reich sozusagen unbeobachtet zu erobern, doch es ist unmögUch, diese Eroberung nachher auch zu verstecken. Jetzt muB er fest bleiben, die Anderen larmen lassen und die letzten Schritte in Afrika unternehmen. Wie er das Land am Njari-Kwilu bis zum Meere hat, laBt er am oberen Congo das Imperium ausbauen, plötzbch wird nach xlem Zögern und der beharrUchen, aber langsamen Methodik Stanleys ein anderes Tempo eingeschlagen. Die Tarnkappe ist abgefallen. Also müssen unzweifelhafte Souveranitatsvertrage den Negern abverlangt, die Grenzen mögbchst ausgedehnt, Stationen errichtet werden, endhch auch in Boma, wo es unter den Augen der wütenden Portugiesen und sozusagen bereits vor einem miBgünstig überraschten Europa geschieht. Anderthalb Jahre spater besitzt die A. I. A. an vierzig Stationen, darunter etwa die Halfte im NjariKwilu-Gebiet. Es fallt Leopold nicht ein, jemanden herauszufordern, aber ebensowenig Rücksicht zu nehmen. Sein ganzes Leben hindurch war er stets bereit, aUes zu nehmen, aber memals Rücksicht. Seine Lebensregel liebte er, so zu fassen: „Man muB sich schon von Zeit zu Zeit einen FuBtritt geben lassen, aber nur unter der Bedingung, dafür drei zurückzugeben, sonst kommt man nicht auf seine Rechnung." Es ist sehr aufschluBreich, wie Leopold auch noch bei FuBtritten an eine Rechnung denkt. Er wuBte, daB sie ihm nicht erspart bleiben würde. Denn jetzt galt ja seine A. I. A. nicht weiterhni als eine harmlose Gesellschaft mit humanitaren Zwecken, sondern sie nahm Land, sie verdrangte andere Staaten, nistete sich ein, schlug Weltrekorde im Eroberungsrennen, sie sendete stets mehr Leute und Material nach Afrika, es war offenbar, daB so viele Millionen nicht planlos vergeudet werden, seine Absichten waren entschleiert, und also muBte er selbst vor sein Werk treten, das durch die Fiktion einer uneigennützigen Privatgesellschaft nicht mehr geschützt war. Wenn die Tarnkappe ihn jetzt nicht mehr deckt, so bheben ihm noch Masken genug, die er vorstecken konnte, ihm eignete ein sicheres Gefühl für die fixen Ideen seiner Zeit, er natte sie mit der Negerbefreiung und Bek'ehrung in den Dienst seines Ehrgeizes gestellt, er wuBte, daB es da noch eine andere gab, die sehr gut zu gebrauchen waT: die Handelsfreiheit, und er war entschlossen, jetzt diese neue Waffe anzuwenden. Wobei ihm vollkommen gleichgiltig war, was er versprach und ob er spater das Versprochene würde einhalten können. Genug, daB es wirkte und im AugenbUck ihn schützte und vorwarts brachte. Ein Teil seines Genies bestand gerade darin, daB er stets das im AugenbUck Notwendige tat, aber zugleich unverrückt auf das Morgen sah, solcherart erwerbend und das Erworbene sofort ausbauend. Von allen Seiten droht ihm Gefabr, er hat keine Verbündeten, sein eigener kleiner Staat nufitraut dem königUchen Werk, halt es für die Schrulle eines ehrgeizigen Spekulanten, da sind das groBe England, Hender Meere und der Kontinente, das machtige Frankreich, das anstrebt, was Leopold erlistete, Portugal, das für sich Recht und Vertrage hat, auch diesen für Leopold furchtbaren neuen Vertrag, den es am 27. Februar 1884 mit England abschloB: Alles scheint aussichtslos und verloren, sowie aus dem ExpeditionsSpiel poUtische WirkUchkéft werden soll. Bestenfalls darf Leopold irgendwo einen Fetzen Land im MitteUauf des Congo behalten, der wertlos und unhaltbar ware. Er hat nunmehr den Ver- trag zwischen England und Portugal zu beseitigen, Deutschland zu gewinnen, vor Frankreich den gröBten Teil der Beute zu schützen, aus der Puppe einer Forschergesellschaft den Schmetterling eines Staates aufsteigen zu lassen, selbst diesen Riesenbesitz einzustecken und dafür die Anerkennung der ganzen Welt zu finden. Dies alles ohne Soldaten, ohne Geld, ohne Macht und eigentiich auch ohne Recht. Nachdem er unkundigen, wehrlosen Schwarzen ihr Land ablistete, muB er die klugen, übermachtigen WeiBen überlisten. So folgt, nicht beglückend, aber bewunderungswert: Zweikampf zwischen Genie und Welt! DURCH SCHWACHE SIEGEN Leopold entdeckt Amerika SELTEN wohl ist ein Mensch vor einer so unlösbaren Aufgabe gestanden wie Leopold im Herbst 1883. Für sich hatte er nur die paar Blockhauser, die Stanley errichtet, und die Vertrage mit Hauptlingen, die jener gesammélt hatte. Das war bestenfalls das Knochengerüst eines Staates, dem noch Körper und Seele fehlten. Gegen sich hatte er alles: Die Wünsche mehrerer Staaten, sich in jenen Gebiet en auszubreiten oder mindestens nicht zu dulden, daB ein Anderer jenes Zwölftel Afrikas für sich in Besitz nahm. Und dieser Andere war überhaupt gar nicht tatsachhch vorhanden. Wer war denn diese Verquickung von Gesellschaften, die je nach Bedarf unter wechselnder Firma erschienen, bald das langst verschiedene Studienkomitee, bald als eine neue Association du Haut-Congo, bald als Association internationale Africaine? Niemand kannte ihre Mitglieder, jeder wuBte, daB hinter ihnen Leopold stand, dessen Name aber niemals öffenthch genannt wurde. Seine Erklarungen, daB er keine politischen Ziele verfolge, wendeten sich nun gegen ihn. Jede reale Macht fehlte ihm; was erreicht schien, das war nur dank den Golcbnilbonen erreicht, die der König damals schon ans Abenteuer gewagt batte. Leopold hatte kein Heer, keine Flotte, keine Nation, keine Regierung und kein Volk hinter sich, ebensowenig irgendeine Wahrheit, denn alles, was er erreicht hatte, war durch Schiebung erreicht. Niemals schien ein Sieg aussichtsloser, und selten hat jemand so vollkommen nur durch Ausnützung jeder Mögbchkeit, durch feinste pobtische Klugheit und blitzenden Verstand gesiegt. Leopold siegte durch Schwache. Indem die groBen Machte ihre Krafte gegeneinander wendeten und so aufhoben, zwang er sich ihnen als kleineres Übel auf. Die Beweise dafür sind in allen erdenklichen Protokollen, Akten, Besprechungen und Briefen jener Jahre, in Papierbergen vieler Archive vergraben, in verwickelten Intrigen, an denen heute nicht einmal mehr die Ereignisse interessieren, bloB die erstaunbche Leistung eben dieses einzigen Menschen zurückbleibt, der aus Geheimnis und List, aus fremdem Neid und eigenen Versprechungen taschenspielerhaft einen Staat zur Anerkennung brachte, der gar nicht existierte, und sich selbst zu dessen unumschranktem Herren machte. Wie hier ein einzelner Mensch sich der Vorurteile, der Eifersucht, des Neides der übrigen Welt zu bedienen wuBte und von ihnen an sein Ziel führen beB, das steigt zum Wunderbaren und macht die verjahrte Geschichte langst verschollener Diplomatenkampfe zur lehrreichen, anregenden und aufregenden Komödie. Die gröBte Schwierigkeit für Leopold bestand darin, einen ersten Punkt zu gewinnen, von dem aus er vorwarts dringen konnte, wie seinerzeit auf der Geographenkonferenz in Brüssel. Seine nachste Aufgabe muBte sein, die Anerkennung der A. I. A. durchzusetzen, was umso aussichtsloser schien, als sie nicht bloB tatsachhch kein Staat war, sondern die anderen noch dazu ein bedeutendes Interesse daran hatten, ihr die Staathchkeit abzustreiten. Aber sowie Leopold auch bloB einen einzigen Staat ersten Ranges gefunden hatte, der die Zweifelhaftigkeit der A. I. A. durch seine Ratifikation auslöschte, konnte er sich darauf den übrigen gegenüber berufen, ihr Argument war, wenn nicht entkraftet, so doch mindestens verdachtig geworden, ein Beispiel war gegeben, die Möghchkeit bewiesen. Wer jedoch konnte dieser rettende Staat sein? Er durfte kern unmittelbares Interesse als Kolonialmacht am Congo haben. Er muBte ferner in den tatsachbchen Verhaltnissen dort wilkommen unwissend sein. Er sollte schlieBhch von Leopolds Besitznahme Vorteüe erhoffen und muBte in seinen primitiven .Vorstellungen beeinfluBt und durch eine rasche Propaganda gewonnen werden. Pas waren die Voraussetzungen des Erfolges. Es war das erste Verdienst Leopolds dies klar erkannt zu haben, das zweite rasch und überrumpelnd vorzugehen, das dritte sich der geeigneten Person und der richtigen Mittel zu bedienen. All dies zusammen ergibt jene Eigenschaft, die man Staatskunst nennt — man spricht von ihr ebenso oft, wie man sie selten findet. Jener Staat war die amerikanische Union, die Zeit, in der ihre Anerkennung reifte, wenige Monate. Leopolds Vermittler war sein amerikanischer Freund Sanford, wenn man das durchaus unleopoldische Wort „Freund" gebrauchen will. Leopold entdeckte als bestmögbchen Stützpunkt für sich Amerika, lieB sich bierauf von diesem entdecken und fand schheBhch mit glanzender Einfühlungskraft, wie es zu gewinnen war. Dazu war erforderlich, ein Cocktail aus moralischen und geschaftlichen Ingredienzien zu mischen, und als solcher Mixer ist Leopold in seiner Zeit stets unerreicht geblieben. Zuerst einmal versprach Leopold den Vereinigten Staaten die vollkommene Handelsfreiheit in den Gebieten der A. I. A. Die groBe Blütezeit des Kapitalismus begann damals leise zu welken, der Schutzzoll drang schon vor, und das wahre Ideal des richtigen Schutzzöllners wie jedes echten Imperialisten besteht darin, daB die Andem sich nicht erlauben durf en, was er sich selbst erlaubt. Nichts konnte den Amerikanern wünschenswerter scheinen, als wenn ein groBer Teil Afrikas ihrem Handel und ihrer Einfuhr frei bbeb. Wer dies versprach, der konnte bei ihnen Gehör finden. Umsomehr, wenn man dabei von Gebieten mit noch unbekannten Schatzen und einem groBen schiffbaren Strom sprach. Bei einem schwachen und bisher noch garnkht vorhandenen Staat konnten die Amerikaner erwarten, daB das Versprechen eingehalten wurde; da heB es sich im Notfalle auch erzwingen, was bei einer groBen europaischen Militarmacht unmöglich oder schwierig geworden ware. Also begannen die Amerikaner auf zuhorchen, als Sanford mit solcber Botschaft zu ihrem Presidenten kam. Immerhin war dieser doch damals wohl zu jedem Wohlwollen, jedoch nicht zur Anerkennung bereit. Denn schlieBheh erkennt man das Vorhandensein eines Staates an bestimmten Merkmalen, die durchaus bei der A. I. A. fehlten. Nun kam der zweite Streich. Die Vertrage mit den Negerhauptlingen und die Gutachten der Juristen wurden vorgezeigt. Wie, sagt der biedere Sanford, könnten gerade wir Amerikaner leugnen, daB ein Staat so geschaff en werden kann ? Das hiefie, unser eigenes Recht an einem groBen Teil unserer Staaten abstreiten, denn was die A. I. A. in Afrika mit den Negern tat, das haben doch unsere Pügervater in Amerika mit den Indianern ebenfalls getan, auch sie kauften Land, auch ihre Vertrage waren giltig, und der KongreB, von dem ich Anerkennung für die A. 1. A. fordere, würde garnicht existieren, wenn unsere Ahnen über solche juristischen Zwirnsfaden gestolpert waren. Auch dies klang gut und einleuchtend, und so wurde es eine Art von Patriotismus für Senatoren und Representanten, die Negerstamme Zentralafrikas dem recbtserfahrenen Coburger anzuvertrauen. Aber dies genügte noch nicht ganz, plötzhch erscheint, von Leopold veranlaBt, ein Buch über Liberia. Dunkel erinnern sich die Amerikaner, daB ausgezeichnete und wohlwollende Christen unter ihnen vor zwei Menschenaltern einige Millionen guter Dollars gesammelt hatten, um freigelassene Negersklaven nach einem Punkt der afrikanischen Küste zu Dringen und dort anzusiedeln. Auch damals gab es also eine Gesellschaft, welche zur Befreiung der Neger einen Staat gründete. Kenner der Geographie und Geschichte hatten aüerdings erwidern können, daB die Hoffnungen sich nicht erfüllt batten, die auf Liberia gesetzt wurden. Es bleibt ohne auBere Zeichen der Zivihsation und ohne innere Kultur, hat nach fast einem Jahrhundert keine Eisenbahnen, keine Stadt von mehr als sechstausend Einwohnern unter zwei Millionen Menschen. Aber woher sollten sich im KongreB solche Kenner linden? Es gibt also, sagt Sanford und alle nicken, eine doppelte und zwingende Analogie, die zu Gunsten des Congostaates spricht: Liberia und wir selbst. Bei der A. I. A. sehen wir, und nun wird Leopolds Agent zu einem wahren Sanford Égahté, einen Bund freier Negerrepubliken, die Gesellschaft ist nur ihr Vormund und Vertreter, der sie gütig ins Völkerleben leitet und zu jenem höchsten irdischen Glück aufsteigen laBt, daB sie amerikanische Bibeln lesen und amerikanische Waren kaufen. Kann sich jemand ein so verworfenes Geschöpf vorstellen, das böswillig die armen Nigger daran hindern wollte und also der A. I. A. die Anerkennung verweigern, was der einzige, aber dafür sichere Weg ist, aus dem Congobecken ein Paradies zu machen, in das jedes Jahr mehr aus den Vereinigten Staaten emgeführt wird? Nein, es gibt glücklicherweise kein solches Scbeusal in der amerikanischen Volksvertretung. Sanford ist es gelungen, den Senatsreferenten Morgan zu überzeugen, er hat ihn und andere bedeutende Persönbchkeiten zu seinen Lunchs und Dinners gebeten, deren Essenswürdigkeit rasch berühmt wurde. Unerforscht bleibt, ob er darin der Weisung Leopolds folgte, der sehr gerne wichtige Geschaftsbesprechungen auf die Mahlzeiten verlegte, bei denen er Selbst nüchtern bbeb, aber dafür sorgte, daB der Gast stets angeregt war. Mag sein, daB Sanford und sein Herr sich in jener Weisheit der Menschenbehandlung begegneten; jedenfalls steht das Ergebnis fest, daB noch niemals im Laufe der modernen Geschichte ein Staat auf solche Weise die Weihen empfing. Denn in dem Referat Morgans wie in der Botschaft des Prasidenten Arthur war jene voUkommeneAhnungslosigfceh und Verwirrung, die Leopold benötigt und Sanford erreicht hatte. Es wurden die verschiedenen Gesellschaften verwechselt, es wurde so gesprochen, als seien bereits überall Negerrepubliken gegründet, denen die Selbstregierung zu übergeben die nachste Absicht der A. I. A. sei, sobald sie nur eben anerkannt ware. Es gab auch keine Bestimmung vön Grenzen, woher auch, da der Staat ja nicht bestand, sondern nur eben eine Flagge hatte. Der goldene Stern im Blau aber wurde anerkannt, dies war umso unerlaBlicher, als ja der „erste Offizier" der A. I. A., wie Morgan stolz unterstrich, ein amerikanischer Burger sei, der so nebenbei auch ein Ruhm des Landes war und Stanley hieB. Es fehlte nur noch, das man sich nicht gleich im KongreB über die Einzelheiten des Wahlrechtes und des Pressegesetzes in den Negerrepubliken unterhielt, und man darf hoffen, daB Sanford auch dann alles Notwendige gesagt hatte. Jubelnde Kabeltelegramme verkünden Leopold den groBen Erfolg; am 22. April unterzeichnet ein erster Staat, eine Weltmacht, daB sie die A. I. A. als befreundeten Staat anerkennt. Der Durchbruch ist gelungen, nun muB die ganze Front aufgerollt werden. Es ist höchste Zeit, denn Europa hangt voll dunkier Wolken für Leopold. Am 27. Februar 1884 hatte England mit Portugal jenen Vertrag unterzeichnet, der alle Hoffnungen des Königs begrub, wenn er durchgeführt würde. Also darf er nicht durchgeführt werden. Wie kann man dies verhindern? Indem man in England selbst eine leidenschaf tliche Kampagne eröffnet, das Parlament in die Opposition bringt, dann 'noch das Deutschland Bismarcks gegen England steüt und dem Vertrag die Anerkennung verweigern laBt, ferner zum erstenmal nach 1870 Deutschland und Frankreich in eine Art Allianz hmemführt gegen diesen Vertrag mit seiner Aufteüung Afrikas. AU dies ist nicht eben leicht, könnte man denken. Leopold hat für all diese Dinge nur sich selbst. Nur? Es ist genug, um zu siegen. Bismarck greift ein Europa hatte damals einen Chef, den es mit widerwilliger Bewunderung ertrug: Bismarck. Für Leopold kam alles darauf an, ihn als Helfer zu gewinnen. Der König hatte in seinem langen Leben viel mit klugen und dummen, mit eitlen und beschrankten, mit leidenschaf tlichen und zahen Menschen zu schaffen gehabt, keiner von ihnen war ihm überlegen, niemals noch war er dem Genie begegnet. Hier also hatte er eine groBe Probe zu bestehen. Bismarck war nie in anderen Kontinenten gereist, sie bedeuteten ihm nur Anhangsel seines Europa, das er kannte und beherrschte. Er hatte für Deutschland keine Kolonialwünsche, sein starker und richtiger Instinkt warnte ihn vor ihnen, und es liegt Tragik darin, daB der deutsche Imperialismus, dem er zugleich Werkzeug und Schöpfer war, ihn gegen Willen und Erkenntnis in die Ferne drangte. Sein Gedanke dabei war, den deutschen Kaufmann zu schützen, nichts weiter, und als er dies durch seinen Botschafter dem ungenügenden und maBig begabten engHschen Minister Granville in Downing Street sagen heB, da stöhnte der Lord verzweifelt: „Oh, dann werden Sie Koloniën haben, so hat es bei uns auch angefangen, ich kenne das..." Zur selben Zeit, da Sanford vor den entzückten Augen der Amerikaner die Negerrepubbken der A. 1. A. erscheinen HeB, drahtete Bismarck dem deutschen Konsul nach Kapstadt, daB die Unternehmungen des deutschen Kaufmanns Lüderitz in Südwestafrika unter dem Schutz des Deutschen Reiches standen, und Nachtigal zog durch das nördhche Westafrika, um dort zu holen, was es noch an herrenlosen Landern gab. Der. Portugiese Serpa, Brazza mit seinen französischen Genossen, nun auch die Deutschen, Leopold hatte also Rivalen genug, wie man sieht! Hatte er weniger harmlos und unauffallig begonnen, hatte er nur ein wenig gezögert, er ware sicherhch zu spat gekommen. Wie stand Bismarck zu Afrika, zur A. I. A-, zu Leopold? Er sah seiner Art nach alle diese Dinge rein europaisch. Er fürchtete Koalitionen, bisher war ihm gelungen, eine solche 1866 gegen seinen Feind zu schaffen, memals aber selbst sie zu erleiden. In Europa galt ihm Frankreich als nicht zu versöhnender Feind, wohl war der Russenzar noch des alten Kaisers Freund, aber Bismarck fühlte dennoch schon die Möglichkeit eines russisch-französischen Bundes, und unter solchen Umstanden muBte England den Deutschen wohlgesinnt bleiben. Sowie Deutschland mit seiner überlegenen militarischen und einer wachsenden industriellen Macht als Kolonisator auftrat, wurde es zu Englands Nebenbuhler. Es war Bismarcks Schuld, trotzdem den Expansionseifer in Deutschland zu begunstigen und sich ins koloniale Abenteuer zu wagen. Von jener Schuld, jener damals neuen und dann anfangs vorübergehenden Konstellation profitierte Leopold, und ganz von oben her gesehen, könnte man in diesem Sinne sagen, daB er Bismarck geschlagen hat. AUerdings erst nach seinem und Bismarcks Tod, doch die Geschichte kümmert sich nicht um die Dauer eines Menschenlebens und legt ihre Rechnung, wann sie will. Die pohtische Lage folgte auch damals einer ihr lieben Gewohnheit: Sie war verwickelt. Also ist das Wesentbche aus ihr herauszuwickeln. Die Besetzung Agyptens durch EnglandhatteFrankreich empfindbchgetroff en. Deutschland vernielt sich dabei neutral, und diese Neutralitat half tatsachlich England. Aber Bismarck wünschte dafür englische Gegenleistungen in deutschen Koloniën, und dies bheb aus. Nun hatte England nach langem Zögern im Februar 1884 mit Portugal jenen Vertrag abgescblossen, der gegen Begünstigung des englischen Handels Portugal eine groBe Besitzmehrung in Afrika zugestand; alle Gebiete bis zu 5 Grad 12 Minuten südhcher Breite, dazu die Congomündung; das ware für die A. I. A. Vernichtung, mindestens hoffnungslose Verkümmerung. Leopold organisierte den Sturm, sein Banning entrüstete sich in einem hinreiBenden Pamphlet gegen die portugiesischen Ansprüche, er selbst schrieb an Victoria nach London, an Fritz nach Berlin, heB durch die Manner der Industrie und Finanz die englische Geschaftswelt bearbeiten, in der man die Portugiesen verachtete. Die englische Regierung muBte versprechen, den Vertrag dem Unterhaus zur Entscheidung vorzulegen, aber auch dies genügte nicht, denn hier hatten auch noch die anderen Machte zu sprechen, ihre Anerkennung war unerlaBlich. Bismarck war entschlossen, sie zu verweigern, wollte über Afrika auf Europa wirken, zttm erstenmal gemeinsam mit Frankreich vorgehen. Nicht als ob er selbst an eine dauernde deutsche Entente mit Frankreich geglaubt batte, aber er wünschte, daB England sie für möglich hielt und ihn dann für den Verzicht darauf entschadigte. In diesem Spiel war Leopold für Bismarck eine neue -Figur. Er unterschatzte ihn und sprach, immer Realist, als Erster in Europa von „belgischen Unternehmungen in Afrika", und begriff nicht, daB es in Wahrheit private Unternehmungen Leopolds waren, ein Unterfangen von fast unvorstellbarer Kühnheit. Er san in dem König bloB einen waghalsigen Spekulanten, der am SchluB zusammenbrechen oder das Land dem Meistbietenden verkaufen würde. In Wahrheit war Leopold mit all seiner Leidenschaft für Gewinn ein Mystiker der Macht, der einzige Mystizismus in der grellen Klarheit seines Wesens, zugleich der vollkommenste Imperialist in reinster Pragung, darin sogar noch Bismarck überlegen. Dieser miBtraute der Person Leopolds, aber die A. I. A. wollte er gebrauchen, wenn es ging. Da er England kolonialpolitisch einzukreisen gedachte, um es für die deutschen Kolonialwünsche und vor allem auch in Europa gefügig zu halten, brauchte er gegen Portugal, dasEnglandsTrabant war, einen Gegenspieler. Dazu wollte er Leopold verwenden; batte England vorher kapituhert, so hatte er ihn fallen lassen. Einmal kam Bismarck der Gedanke, sich selbst an Leopolds Stelle zu setzen. Damals beabsichtigte er, seinen Afrikaspezialisten Rohlfs nach Brüssel zu senden, um alles dort klarzustellen und dem König anzutragen, seine Rechte an Deutschland abzutreten. Mit einigen Millionen Gewinn wird der Coburger glücklich sein, meinte Bismarck wohl. Aber das war nur ein flüchtiger Einfall, und bevor er noch Gestalt annehmen konnte, hatte Leopold diese Gefahr mittels einer Tat von genialer Einf achheit beseitigt; sie wird bald erzahlt werden, einstweüen müBt Ihr noch neugierig bleiben. Vorerst nur dies, daB Bismarck auf den Akt schrieb: Die Reise des Herrn Rohlfs nach Brüssel wird kaum notwendig sein. Es lag dem Fürsten-Kanzler daran, Frankreich zugleich immer mehr in Afrika zu engagieren und es Deutschland zu verpflichten. Er nahm an, daB es dadurch in eine immer scharfere Gegnerschaft zu England geraten würde und dann die Regierungen von Paris und London in sich uneinig, um Deutschlands Duldung werben müBten. So war Bismarcks Plan, Frankreich in jeder Weise zu ermunt ern, aber in dem kommenden Streit nicht hervorzutreten. Seine Voraussetzung dabei war, dafi jedenf alls AfrikafurdiedeutscheNiederlaSsungunddenHandeloffen bleiben müBte; wer immer die neu ent deckten Gebiete erhielt, muBte dies zugestehen. Im Übrigen interessierte ihn Afrika wenig, der Congo gar nicht; in den vielen Hunderten seiner Auftrage an den Staatssekretar, an die deutschen Minister im Ausland, in seinen Bemerkungen zu Vortragen und Denkschriften aus jenen Jahren wird man nur einige Male und sehr beüaufig das Wort „Congo" finden. Der Deutsche soll überall ungehindert arbeiten und reich werden können, und in Europa hat nichts gegen Bismarcks Willen zu geschehen, sonst aber können am Aquator die portugiesischen, die französischen oder die Flaggen der A. I. A. wehen; dies güt ihm gleich. Herr ist doch dann dort wie überall sein Deutschland. Dieser Mann liebte die Macht zu sehr, um ihren bloBen Schein zu schatzen. Bedeutende Manner sind meist zu eng in sich eingeschlossen, um in einem groBen Gegenspieler das Wesentliche zu erkennen. So verkannte Bismarck den König des kleinen Belgiens, das ihm nicht wichtig genug war, und so scheint Leopold mindestens anfangs auch Bismarck verkannt zu haben. Der König hatte nach Berlin einen sehr geschickten Vertrauensmann, den Journalisten Victor Gantier, gesendet, durch den er sein propagandistisches Material ins Berliner Auswartige Amt tragen lieB. Darunter ein Memorial, in dem Leopold sich allzu eifrig und allzu gierig zeigte. Er gab darin als wünschbare Grenzen an: die Congomündung, den ganzen Stromlauf und sein Becken, dazu noch einen breiten Streifen Landes bis zum Indischen Ozean. Nicht genug damit, Leopolds Wunschzettel enthielt auch noch die von Agypten am oberen Nil verlassenen Provrnzen; das ware ein afrikanisches Zentralreich gewesen, das etwa ein Fünftel des Kontinents umfaBt hatte! Man mag annehmen, daB Leopold hier in seinen Forderungen absichtlich sehr viel aufschlug, um spater immerhin mehr zu erhalten, als wenn er sogleich nur das so Erreichbare angegeben hatte, doch das hieB, einen Mann wie Bismarck unterschatzen. Und ebenso durfte dieser harte Wirklichkeitsmensch nicht wie ein pietistischer Geschaftsamerikaner behandelt werden. Dies aber versuchte das Memorandum, wenn es als Rechtstitel und Begründung für die Sudanansprüche der A. I. A. ihre Absicht angab, den Sklavenhandel an seiner Wurzel abzuschneiden und solcherart für immer zu beseitigen. Unbarmherzig schreibt Bismarck bier an den Rand: „Schwindel!", er findet jenes erlösende Wort, das keinem Mitglied des amerikanisehen Kongresses in den Sinn gekommen war. Aber nun liefen die Dinge rascher, und sie liefen trotz Bismarcks Harte dorthin, wo Leopold sie wollte. Frankreich und Deutschland hatten die Anerkennung des portugiesisch-englischen Vertrages verweigert und eine Konferenz angeregt; sie sollte in Berlin stattfinden, wodurch schon auBerhch die entscheidende Stellung Bismarcks angenommen war. England selbst hatte in Lissabon erklaren lassen, daB die Ratifikation des Vertrages undenkbar sei; es war klar, daB es einzulenken wünschte und sich von den Portugiesen zurückzog. Damit war treilich auch die phantastische Hoffnung Leopolds getallen, aus dem deutsch-englischen Gegensatz seinen Staat ins Riesenhafte bis zum Indischen Ozean und weit den Nühinab auszudehnen. Es wird noch zu erzahlen sein, wie unablassig dieser Wunschtraum ihn umgaukelte und wie zah er daran weiter arbeitete; Leopold hat bis zu seinem Tod das Verzichten nicht erlernt. Einstweilen aber muBte er zurückweichen; Bismarck warnte, bestimmte Grenzwünsche auszusprechen, und eine Warming Bismarcks war Befehl. Auch für den König, der in seinen Briefen leicht schmeichlerisch, sehr ergeben und doch schon recht ungeduldig erscheint; niemand war weniger geeignet als Bismarck, eines Anderen Werkzeug zu werden, was dem Brüssler Menschenfanger oft gelang, miBlang hier. Bismarck half ihm wohl, aber nur genau so viel, wie es im deutschen Interesse lag, und immer forderte er dafür von Leopold den Gegenwert. Versprechungen genügten ihm nicht, und für humanitare Beteuerungen hatte er bloB grimmige Verachtung. So laBt er dem deutschen Gesandten nach Brüssel schreiben: „Seine Majestat zeigt die anspruchsvolle und zugleich naive Selbstsucht des ItaUeners, der es ganz natürlich findet, wenn ihm alles bloB für seine schönen Augen gegeben wird, ohne daB eine Gegenleistung dafür von ihm verlangt wird." Leopold ist nun bereit, Deutschland alle Garantien für seine volle Handelsfreiheit im Staate der A. I. A. zu gewahren, wenn es nur endhch dem amerika- nischen Beispiel folgt und die Anerkennung ausspricht. Aber sofort verlangt er seinerseits dafür als Gegenwert, daB Deutschland seinen Markt den Anleihen des neuen Staates öffne, er bedient sich dabei des groBen Bankiers Bleichroeder als Vennittler. Bismarck lehnt ab, er begreift wohl, daB ein Staat, der keine Einfuhrzölle erheben darf, andere Einkünfte benötigt und Leopolds Mittel nicht unerschöpflich sind, aber dann soll der Belgier sich eben anderweitig das Geld verschaffen. Hingegen ist er nun, sowie Leopold keine bestimmten Grenzen verlangt und Deutschland die vollkommene Handelsfreiheit gewahrt, zur Anerkennung bereit. Aber nicht zur Vermittlung bei Frankreich und England, die der Coburger ihm zugedacht hat, er meint, daB Deutschland dazu mit England zu schlecht steht und in Paris als Vennittler nur schaden würde, also Leopold am besten selbst dort seine Sache führen könnte. Wie immer zieht er vor, Reiter und nicht Pferd zu sein. Leopold hat das Mögliche erreicht: Deutschland ratifiziert, unter Bismarcks Vorsitz wird in Berlin eine Konferenz beginnen, der engHsch-portugiesische Vertrag ist verschwunden, ein groBer Schritt nach vorwarts zuriickgelegt. Und mit einer seiner verblüffenden Erschleichungen gelingt es ihm sogar, Bismarck in der Grenzfrage ein wenig hineinzulegen. Wenn auch in der R^tifikationsurkunde von den Grenzen des neuen Staates nicht gesprochen wird, so wird doch darin die Anerkennung für die in einer beigelegten Landkarte aufgezeichneten Gebietè ausgesprochen, und diese Landkarte weiB zwar nichts mehr vom indischen Ozean und dem oberen Nü, sie laBt auch den Landbesitz des Niari-Kwüu fraglich, denn dieser wird von Frankreich beansprucht, und Leopold weiB, daBBismarcksichnichtgegeneinenfnuizösisdi^ wenden wird, aber sonst sind die Grenzen breit genug gezogen, weit über die Expeditionen der A. 1. A. hinaus und das Mündungsgebiet des Congo am linken Ufer wird 10 als „eben erworben" bezeichnet. Leopold zeigt sich hier als der Erfinder der elastischen Landkarte mit ausdehnbaren Grenzen, seine „schonen Augen" leuchten zufrieden, als er die deutsche Ratifikation erhalt, nun kann Bismarck nicht mehr zurück, nun muB er ihm helfen. Der lachende Erblasser Jetzt ist der Augenblick gekommen, zu erzahlen, warum etwa ein halbes Jahr früher der Dr. Rohlfs nicht als Bevollmachtigter Bismarcks nach Brüssel gereist war, um zu erfahren, was denn die Besitzungen der A. I. A. kosten würden und ob Leopold sie oder das Protektorat über sie nicht gegen schone klingende Goldmark verkaufen wollte. Wir wissen, jener Gedanke war durch das gewaltige Gehirn Bismarcks gehuscht und verschwunden, und dieses Verschwinden hatte Leopold bewirkt, der Gefahren nicht ausreifen HeB. Er sah um sich ungewisse Freunde und gewisse Feinde und sein Ziel war, die ungewissen Freunde zu zuverlassigen zu machen und die gewissen Feinde dahin zu bringen, daB sie, wenn auch widerwülig, genötigt waren, seine Freunde zu werden. Wie ihm dies gelang, das ist eine der feinsten poütischen Komödien, die jemals ersonnen und durchgeführt wurdenj nur einem groBen Menschenkenner und also Menschenverachter konnte ein solcher Einfall kommen, er ist von einer bezaubernden Simplizitat und Trost für alle Schwachen. Denn er beweist, wie Schwache, geführt von Geist, am Ende jede plumpe Kraft bemeistert. Am 22. April 1884 hatte der Prasident der Vereinigten Staaten die A. L A. anerkannt. Am 23. April sendete der Prasident Strauch namens der A. I. A. eine Note an Jules Ferry, Chef der französischen Regierung, in der er sagte: „Die A. I. A. wünscht einen neuen Beweis ihrer freundschafthchen Gefühle für Frankreich zu geben; so verpflichtet sie sich, ihm das Vorkaufsrecht auf ihre Be- sitzungen zu geben, f alls sie durch unvorhergesehene Umstande gezwungen ware, sie aufzugeben." Diesem Versprechen geht ein einleitender Satz voraus, in dem die A. I. A. erklart, sie würde unter keinen Umstanden ihre Rechte verauBern, so scheint also das Versprechen ohne Wert, die Zusage ohne Inhalt. Dennoch hat jener einzige Satz genügt, um Leopolds Stellung zu starken, flux am Ende unwiderstehlich zu machen und an sein Ziel zu Dringen. Es gibt kaum ein ahnliches Beispiel so gewaltiger Wirkung mit einem so geringen Mittel, und schon dies müBte genügen, um Leopold eine vielleicht nicht eben noble, aber darum nicht minder verdiente Unsterhhchkeit zu sichern. Der König wuBte, wie allgemein ihm mifltraut wurde. Er hatte Uneigennützigkeit verheiBen, und man sah, wie er sich nun überall mit Eflmarschen und Glasperlen ein Reich zusammenfügte. Er hatte von einer, dann von einer zweiten, einer dritten Gesellschaft gesprochen, und plötzhch wollte er sie der Welt als Staat aufzwingen. Das MiBtrauen in sein Wort war also sehr verstandhch. Nicht minder das MiBtrauen in seine Macht. Ob er nun ein Ehrgeiziger oder ein Spekulant war, niemand bürgte dafür, daB sein Unternehmen ihn überdauerte oder nicht schon bald zusammenbrach. Und jeder in Afrika rivalisierende Staat muBte also suchen, die Schaffung dieses neuen Gebüdes zu verhindern oder doch es so ohnmachtig wie mögHch zu halten, damit es rascher zugrundegehe und er dann als Nachbar sich des Gutes ganz oder teüweise bemachtigen könnte. Also durfte Leopold bei den unausweichhchen Endverhandlungen der Regierungen auf keine wohlwollende Unterstützimg rechnen. Nun genügte nicht wie bei seinen harmlos sich gebenden Anfangen menschenfreundbche Rede, Kreuzfahrergeste, schwungvoller Eifer; jetzt hatte er mit Leut en zu tun, die in Reahtaten dachten und denen mit solcher Propaganda nicht beizukommen war. Die Tarnkappe war notwendig gewe- sen, aber die Leute hatten sie noch in Erinnerung, und deshalb muflte er ihren Argwohn besiegen, indem er sie zwang, seine Bundesgenossen zu werden. Da war Deutschland. Wohl hatte Bismarck nur flüchtig daran gedacht, selbst als Nachf olger und Mitbewerber der A. I. A. zu erscheinen. Aber eine überraschende Entwicklung des kolomalen Ehrgeizes in Deutschland, eine Wendung der groBen europaischen Pohtik konnte diese dammernde Möglichkeit körperlich machen. Indem Frankreich dann Leopolds Nachfolger geworden ware, war Deutschland ausgeschieden, Bismarck wollte ihm in Afrika nicht in den Weg treten, es sollte lieber nach dem Niger, Senegal und Congo als nach den Vogesen sehen. Aber er konnte auch nicht wünschen, daB Frankreich sich dort ein übermachtiges geschlossenes Kolonialreich schuf, es militarisierte, zugleich aus dem Norden, der Mitte und dem Westen des Kontinents Reichtum und Soldaten zog. Daher hatte er nunmehr ein doppeltes Interesse : die Existenz eines Congostaates, der nicht Besitz einer groBen europaischen Macht war, und die möglichste Verewigung jener Existenz, damit die Vorkaufsklausel nicht zu Gunsten Frankreichs anwendbar würde. Vielleicht hat Bismarck, mehr dem Naherenzugewendet, dies damals nicht bis ins Letzte durchgedacht, aber jedenf alls bat er danach gehandelt. Deutschland hat als erster europaischer Staat die A. I. A. anerkannt, ihr die gröBte erreichbare Ausdehnung zugestanden; Deutschland war also gewonnen. Da war England. Es hatte das einleuchtende Interesse, keinen starken Rivalen am Congo zu sehen. Die öffenthche Meinung des Landes war Portugal ungünstig, und Leopold war unermüdlich, das Stürmchen in Presse, Handelskammer, Unterhaus anzublasen. England konnte wohl glauben, selbst Leopold zu beerben, und früher batte er durch seine Unterhandler dies auch halb andeutend in Aussicht stellen lassen. Aber rasch erkannte er, daB ein lachender Erbe ihn verderben, er selbst jedoch als lachender Erblasser sich retten konnte. Umsomehr, als er sich zutrauen durfte, den einmal erfaBten Besitz nie wieder loszulassen. Frankreich, damals fast bis zum Kriege mit England verfeindet, ware eine untragbare Belastung als Nachfolger Leopolds gewesen. Daher muBte die Kusine Victoria genau ebenso wie der harte Bismarck bestrebt sein, ihn als geringeres Übel anzusehen. England war also gewonnen. Da war schlieBlich noch Frankreich. Es bilde te seltsamerweise die einzige ernsthafte Gefahr für Leopold. Brazza hatte als Kommissar der Republik am liebsten alles geschluckt. Frankreich war der Nebenbuhler, der vordringen wollte, wohl nahm es das Vorkaufsrecht hin, aber es gab dafür nur einige allgemeine Versprechungen, jedoch keine völkerrechtlich bindende Anerkennung. Es konnte sich sagen, daB es umso eher ins Erbe kame, je schwacher der Erblasser sei. Tatsachlich hat es sich auch spater so gezeigt: wenn schon ein Staat der A.I.A., dann nur bekümmert und kraf tlos. Solche Gefahr hatte Leopold vorausgesehen, aber dennoch mit Recht erkannt, daB Frankreich in seiner politischen Offensivkraft gebrochen war, sobald es das Vorkaufsrecht annahm. Wer ein Geschenk empfangt, der erkennt damit den rechtmaBigen Besitz des Schenkenden an, sonst wird er zum Hehler. Ware es nicht endhch bei der Konferenz zu einer Einigung gekommen, so hatte bloB ein Schiedsgericht den Streit schlichten können; an einen Krieg wegen der A. I. A. war nicht zu denken. Das Schiedsgericht aber ware durch die französische Annahme des Vorkaufsrechts gezwungen gewesen, seinen Spruch zu Gunsten Leopolds zu f allen. Gerade durch die Zu billigung des Vorkaufsrechts an Frankreich wurde die A. I. A. so gesichert, daB es niemals ausgeübt werden konnte. Frankreich war also, ohne es selbst noch zu wissen, ebenfalls gewonnen. Blieben noch die Portugiesen, die hitzigsten unter sei- nen Gegnern. Aber diese waren, das wuBte er, niemals zu gewinnen, die Untertanen seines Vetters Dom Luis in Lissabon schrieben unermüdlich gegen ihn, bewiesen ihr Recht, als ob es auf das Recht ankame und nicht der Schein des Rechtes genügte, wofür Leopold stets ausreichend sorgte! Seltsame Ironie coburgischen Schicksals, daB die schhmmsten Feinde gerade von einem Coburger regiert wurden, dessen Erzeuger dank denklugen Anweisungen von Vater Leopold als Prinzregent in Lissabon aufgenommen worden war... Leopold der Erste hatte über die Undankbarkeit der Blutsverwandten unwillig den Kopf geschüttelt, Leopold der Zweite zog es vor, alles zu tun, um am Ende die Portugiesen zu isolieren. Sie waren gefahrUch, solange eine GroBmacht sie stützte. Das hoffte Leopold dank seinem Meisterstreich zu verhindern. Was blieb ihnen denn noch als die Erinnerung an vier Jahrhunderte MiBregierung in ihren riesigen Koloniën, die sie nur entdeckt und zugrunde gerichtet hatten? Wogegen Leopold sich als erblich belasteter Musterregent eines Musterlandes aus wies, der noch dazu den vorbildlich frommen und humanen Stanley als seinen Platzhalter vorführen konnte! So muBte schlieBüch auch gegen Portugal das Spiel gewonnen werden. AU dies erreichte Leopold durch ein Versprechen, das unwirksam werden muBte, gerade indem es angenommen wurde. Wieder einmal tat Leopold das einzig Richtige zur einzig richtigen Zeit. Sein Einfall lag so nahe, daB nur ein Genie ihn fassen konnte. Denn nichts ist so bezwingend selten wie das Selbstverstandüche. Futterneid um Afrika So hatte Leopold die Angst der Starken vor einander als motorische Kraft gewonnen, um seine Schwache ans Ziel zu bringen. Die besten SteUungen waren besetzt, die Vereinigten Staaten und Deutschland hatten bereits die A. I. A. anerkannt, alle anderen Anerkennungen waren gewiB, auBer jener Frankreichs und Portugals. Diese schienen damals bloB mit untragbaren Gebietsverzichten zu erkaufen. Der letzte groBe Endkampf, jener um die Grenzen, war nun vom Beginn der Berliner Konferenz an auszufechten. Das dauerte vom November 1884 bis Februar 1885, und diese drei Monate sind voll diplomatischer Tücken und Finessen, ein geheimer, veirwirrender Kleinkrieg, nichts davon findet sich in den Sitzungsberichten, da gibt es nur Anregungen, Anfragen und, wie könnte es anders sein, lange, begeisterte Reden Stanleys. Alles könnte abgekürzt und entschieden werden durch ein Machtwort Bismarcks, das dieser aber nicht aussprechen will. Zwecklos, diesem Hin und Her heute folgen zu wollen, dem Leopold von der Ferne aus beangstigt, ratend und aneifernd zusehen muBte. Jeder wollte einen mögüchst ausgiebigen Broeken aus der afrikanischen Schüssel nach Hause tragen: Franzosen, Portugiesen und Leopold, und sie verbissen sich in die besten Stücke, England an Agypten wurgend, verdaute indessen langsam. Es stellt sich heraus, daB Frankreich die Portugiesen ersichtlich begünstigte. Für sich selbst wollte es die wichtigsten Stationen am linken Congoufer beim Pool, wodurch der neue Staat zerrissen worden ware. Aber Leopold hielt sein Pfand am Njari-Kwüu fest, ohne welches Gebiet Brazzas Eroberungen ohne Verbindungen büeben. Es war unvermeidlich, hier Verzicht gegen Verzicht auszutauschen, aber die Diplomaten mufiten erst drei Monate wild kampfen, einige Male „niemals" sagen, bevor sie sich ins Unvermeidüche fügten. Die Portugiesen verlangten zuerst fast alles, ihre Kanonenboote lagen in der Congomündung, es hieB, sie würden dort angreifen, und Leopold heB erklaren, er würde dann die A. I. A. aufiosen, vorher alle Stationen zerstören, er könne Belgien nicht der Gefahr eines Konfliktes mit zwei Machten aus- setzen, von denen die eine ein Garant der belgischen Neutralitat sei. So stark fühlte er sich bereits in seiner Unentbehrlichkeit, er wuBte, daB ohne die A. I. A. eine Einigung unmöglich ware, und wie er seine Schwache ausgenützt hatte, so nützte er nun auch seine Starke aus. Ferry verkennt dies, er versucht plötzlich, wieder einmal zu fragen, wer denn diese A. I. A. sei, es geht ihm auf die Nerven, daB sein gröBerer Gegenspieler ein König ist, den er beschuldigt, bei den Höfen von London und Berlin Deckung zu finden, der Nachfolger Gambettas will sich, da Bismarck ihm mit verdachtiger GroBmut die Leitung der geheimen Verhandlungen überlaBt, als Führer erweisen, aber er kommt nicht vom Fleck, er mufi leugnen, daB er den Portugiesen sich verpflichtet hat, so bietet er sich den Abgesandten Leopolds als ehrlicher Makier an, aber er selbst will seine schone fette Provision für Frankreich dabei gewinnen, warnt indessen Brazza, jetzt irgendwie in Konflikte zu kommen. Brazza, von der Gattung der Kontinentenfresser, gehorcht ohne Begeisterung. Wieder einmal taucht der sagenhafte Makoko auf, der Brazza auch die Suzeranitat am linken Congoufer verkauft haben soll, und die eleganten europaischen Staatsmanner schreiben dicke Noten über die schwarze Majestat. Die Herren der A. I. A. haben, man versteht es, eine sehr geringe Meinung von ihm; für sie ist Makoko ein kleiner, armseliger Hauptling, ein „roitelet", der am linken Ufer überhaupt nichts zu sagen hatte, höchstens gabe es dort einzelne Untertanen von ihm, verachtbche Emigranten. Für die Franzosen aber ist er ein treuer Allüerter, ein Fürst von feinem Innenleben, dem man es doch nicht antun könne, daB er plötzhch unter die Herrschaft der A. 1. A. kame, Makoko ertragt durchaus nicht die blaue Fahne mit dem goldenen Stern, er muB die Trikolore sehen. Also ein Schiedsgericht? Bitte, sagen beide Parteien. Doch die Franzosen wollen es in Afrika haben, die A. I. A. in Europa. Untersuchung in Afrika, das hieBe Vertagung der Konferenz, die natiirlich ohne Grenzbestimmung nicht vorwarts kommen kann, die Presse beginnt zu klaffen, die Pariser Zeitungen wissen genau, daB ihr Makoko der richtige sei, die Portugiesen bestatigen es, aber in Brüssel weiB man es wiederum anders. Und Bismarck wird ein wenig ungeduldig, er hat Wichtigeres zu tun, schnauzt die Portugiesen und die Leute der A. I. A. an, sie mochten sich endhch einigen. Schacher ohne Ende, und am Ende muB Ferry bekennen, daB er sich zu viel unterfangen hat, es ist doch besser, wenn die Verhandlungen in Berlin unter Bismarcks Augen fortgesetzt werden. Bismarck aber ist gar nicht zu sehen, er laBt bloB gelegentlich aus der Ferne winken, und begreiflicherweise regt er sich erheblich weniger als Leopold auf, der verzweifelt um alles kampft. Will man ihm sogar nicht auch noch die Ausfuhrtaxen verbieten? „Sie wollen meinen Ruin", schreit er empört auf, und es gibt—niemand will, niemand kann Leopold ruiniereh — am Ende auch kein Verbot von Ausfuhrzöllen. Freilich, die fünf Millionen, die er für seine Aufwendungen amNjari-Kwilu von denFranzosen haben möchte, sind uneinbringbar. Banning schreibt stets erglühend ein Memorandum mit den schönsten Beweisen für die Berechtigung dieses Anspruchs; aber Ferry ist nicht neugierig, er weigert sich, es zu lesen. Am Ende müssen die Portugiesen doch die beiden Hafen am Meer rechts von der Congomündung bekommen, dazu Boden so weit wie ihr Portugal, wenn sie schon im Wesentlichen auf alles Übrige verzichten. Das ganze linke Ufer erha.lt die A. I. A., den Strom bis zur Mündung und 35 Kilometer Küste, fast zweieinhalb Millionen Quadratkilometer mit zwanzig, nach anderer Schatzung Stanleys fast dreiBig Millionen Negern. Es werden bald viel weniger sein, es sind heute keine zehn mehr. Aber von dieser Möglichkeit Und Gefahr hat damals kein Mensch in Berlin und Paris gesprochen, niemand auch bloB daran gedacht. Das war unwichtig; wichtig bloB, wer die etwas gröBere Scheibe Afrika erhalt, als damals halb Westafrika in Scheiben geschnitten wurde. Nun ist es also endhch so weit, die Meute hat sich müde geklafft, auch Frankreich hat die A. I. A. anerkannt, die Grenzen sind annahernd bestimmt, doch es gibt da noch immer eine Schwierigkeit, die sonderbarste, die sich erdenken laBt; Portugal verlangt, daB ihm ein Ultimatum gestellt wird. Denn sein nationaler Stolz ist tief beleidigt, seine Volksseele kocht, so erklaren seine Vertreter, die Cortes müssen das Gefühl haben, von dem bösen, übermachtigen Europa gezwungen zu sein, sonst unterzeichnen sie den Vertrag nicht. Bismarck hat ein tiefes Verstandnis für diesen Wunsch, der seine Achtung vor dem Parlamentarismus kaum wesenthch gesteigert haben dürfte, und die drei Machte senden also ihr Ultimatum nach Lissabon: Dies sind unsere Bedingungen, sie sind anzunehmen. Binnen dreier Tage. Worauf Portugal befriedigt ist, es hat seine neuen Haf en, noch mehr Koloniën, die es verkümmern lassen kann, und schheBlich hat es noch dazu sein Ultimatum. So wird am 15. Februar 1885 unterzeichnet. Alle sind nun doch ihrer Finessen, Wendungen, Kombinationen, Antrage, Vorschlage, Vermittlungen sehr überdrüssig, und Leopold wird wohl noch viele Jahre hindurch dem verlorenen Njari-Kwüu nachtrauern, aber er gesteht immerhin im Dankschreiben an seinen Bevollmachtigten Lambermont, daB recht viel erreicht sei. Seine einbekannte Devise ist, daB man nicht loben solle, Lob ist unnützer Zeitverlust, wogegen Tadel nützlich ist, damit man es dann spater besser mache. Hier lobt er nun doch ein wenig. Er könnte zufrieden sein: Aus seinem Willen allein und einigen Millionen hat er ein Reich gegründet, achtzigmal gröBer als sein Belgien. Noch ahnt man nicht, was es birgt und was es hergeben kann, doch alle Hoffnungen sind erlaubt. Er hat gesiegt: gegen einen Vertrag, auf dem die Unterschrift Englands stand, gegen den Argwohn Bismarcks, gegen die französische Habgier, gegen die Ansprüche der Portugiesen, gegen die Schwerfalligkeit Stanleys, gegen die widenvillige Gleichgiltigkeit seines eigenen Volkes. Es ist ein vollkommener und fast unvorstellbarer Sieg, aus Geheimnis, Raschheit, List erzeugt, sein glorreiches Kind. Nun kann wohl das Siegesfest gefeiert werden. Das Siegesfest Am 23. Februar 1885 in der feierlichen SchluBtagung der Konferenz entdeckt die Welt etwas sehr Merkwürdiges: den König Leopold als groBen Mann und Sieger. Bis zu diesem Tage ist in allen Verhandlungen noch niemals sein Name genannt worden, es gab eine anonyme Gesellschaft, die A. I. A., die einige belgische Herren als ihre Vertreter entsendet hatte; alle Welt wuBte, daB diese Gesellschaft von Leopold nicht etwa bloB gegründet und geführt wurde, sondern daB sie nur aus ihm allein bestand, aber jedermann respektierte den Schleier. Im Augenbhck, da der Staat anerkannt und sein Gebiet best irnmt war, erschien plötzhch vor aller Welt der König, trat ins volle Licht, und er wird es nunmehr bis zu seinem Tode niemals mehrverlassen,wirdbewundert,beschimpft, gehaBt, umkampft werden, aber von jetzt an immer ohne Tarnkappe, es ist, als ob er sich für so langes Verstecktsein entschadigen wollte; alle Schein werfer f allen auf ihn, er bleibt unbewegt, von nichts angerührt. Von jenem 23. Februar 1885 an wird er fast ein Vierteljahrhundert nicht etwa durch seine Macht eine Zentralgestalt der europaischen Geschichte, sondern durch die einleuchtende Gewalt seiner Persönbchkeit ein Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er gehort künftighin nicht nur einem kleinen Land, sondern kraft seines erstaunbchen Sieges und seiner sich offenbarenden Einzigartigkeit der gesamten Zeit. Die Diplomaten verkünden laut seinen Ruhm und sparen nicht die Segenswünsche für den neuen Staat, der in ihre Völkerfamihe eintritt. „Ein glückliches Ereignis", sagt der Deutsche. „Der neue Staat verdankt seine Geburt dem edelmütigen Streben und der aufgeklarten Initiative eines in ganz Europa geachteten Fürsten und ist von seiner Wiege an der Ausübung jeglicher Freiheit geweiht worden", sagt der Franzose, dem sich sogar der Portugiese anschlieBt. „Seit vielen Jahren hat der König aus rein philanthropischen Grimden weder persönliche Bemühungen, noch Geldopfer gescheut. Die Welt im Allgemeinen betrachtete seine Bestrebungen mit Gleichgiltigkeit, hier und dort fand Seine Majestat etwas Sympathie, jedoch war dies mehr die Sympathie des Beileids als die der Ermutigungen; man meinte, daB das Utiternehmen über seine Krafte hinausginge, zu groB sei, um Erfolg zu haben. Jetzt sieht man, daB der König rechthatte und seine Idee keine Utopie war." Sagt der Englander, und alle anderen folgen ihm, und so ofnziell solche Lobsprüche, so heuchlerisch sie nach all dem Zank und Tücke klingen, sie sind dennoch viel aufrichtiger, als sie scheinen. Denn alle spüren das Verbluffende solcher Leistung und solchen Aufstieges, wo aus einem Nichts, nur aus zahem Willen eines Einzelnen ein groBes Reich wird. Vergessen ist, was vorher war, und es gab einen, dessen ehrliches Kindergemüt überhaupt niemals etwas bemerkt hat: Stanley. Er hat nach dem Traumer Leopold nun auch „die feste, gerade Aufrichtigkeit Bismarcks" entdeckt, er registriert die „enthusiastischen Frankfurter" bei seinem Vortrag und das zu seinen Ehren in Wiesbaden gegebene FestmahL er halt auch vor den Diplomaten lange Vortrage über den Congo, die mit der Wirklichkeit einer naheren und ferneren Zukunft in nichts übereinstimmen, er ahnt garnicht, wie wenig alle sich um ihn kümmern, wie leicht komisch er in Berlin wirkt — wie ein Dilettant unter Fachleuten — er, der doch den Congo entdeckt hat. Aber eben nur geographisch, nicht politisch. SelbstbewuBt, gutglaubig und ahnungslos lauft er durch dies aufgewühlte Getriebe, das sein Herr in Brüssel gemeistert hat. Nun beginnen langsam die Belgier aufzuhorchen. Sogar und fast zuletzt die Belgier. Sie erfahren, daB sie einen groBen König haben. Europa bewundert ihn, Europa schenkt ihm ein Reich. Die Belgier sind teils geschmeichelt, teils argwöhnisch. Das ist alles sehr weit und sehr zweifelhaft, und wahrend sie ergeben den König beglückwünschen, sieht man fünf Millionen Menschen um Maas und Schelde, die besorgt ihre Taschen zuhalten, keiner ihrer schonen, dicken Silberbatzen soll in den Congo f allen. Indessen gehen Adressen und Huldigungen weiter. Inmitten einer damals schon fast aufgeteilten Erde ist eines der gröBten Kolonialreiche geschaffen worden; dies ist ein Wunder, und wie es geschaffen wurde, das erst ist das Wunder im Wunder. Einer ist nicht erschüttert, ist gleichmütig gebüeben: Leopold selbst. Keine Spur von Eitelkeit ist in ihm, dazu ist er viel zu hochmütig. Der Larm um ihn ist ihm unbehaglich; denn das weckt nur den Neid. Genug, daB er selbst weiB, wie groB er ist; überflüssig, daB es auch die anderen wissen, das hindert nur seine nachsten Schritte. Und erst jetzt erwartet ih" ungeheure Arbeit. Ein Staat ist anerkannt worden, doch der Staat ist noch gar nicht da, gleicht einem Rahmen, in den erst das Bild hineingemalt werden muB. Europa hat ihn ans Licht gezerrt, doch nun muB er noch seine Belgier überlisten, damit sie ihm erlauben, diesen Staat zu übernehmen. Unausdenkbare Schwierigkeiten erwarten ihn, wahrend er wieder sich seine Masken umbindet; da ist auf einmal der junge Herzog von Brabant mit seinen nationalistischen Aneiferungen, der Belgien ein Imperium schaffen will, und dort ist der fromme Freund des Kardinals Lavigerie zu sehen, der die Neger bekehren will, und nun erscheint auch noch der fürstliche Gönner der Wissenschaft und des wirtschafthchen Aufschwungs. AU dies fliefit aus seinem Bart hervor, schone Antwort auf schone Rede, er zeigt sich genau so, wie die Welt ihn zu sehen wünscht. Diese Welt, in der niemand ihn noch erkannt zu haben scheint, auch Bismarck nicht, dem er höfiich dankt, man könnte den Mann vieUeicht noch spater benötigen. Und nichts hat Leopold indessen vergessen, nicht die zweihunderttausend Quadratkilometer, die er den Franzosen, nicht die hunderttausend, die er den Portugiesen am Ende doch zuwerfen muBte, nicht die Lander am NU, es gibt so Vieles, das er haben möchte. Und dabei mufl er erst noch gewinnen, was ihm der Vertrag bestatigt hat. Wie es gewinnen? Zuerst von seinen Belgiern. Dann gegen seine eigenen Versprechungen und gegen die Wirklichkeit. Was hat Leopold? Die Erlaubnis, einen Staat zu grimden. Doch dieser Staat ist, so wie er ihn wül, unmögUch. SCHULD SCHULDEN VERKLARUNG Leopold belügt sein Land ËEOPOLD Vater, konstitutioneller Musterkönig, war sehr unzufrieden mit der belgischen Verf assung. Leopold Sohn war es auch, und als er den Congo nehmen wollte, wurde er es noch mehr; denn es gab in diesem unangenehmen Gesetz den Artikel 62. Die Belgier, die 1830 groBe Angst hatten, dafi ihr Land in irgendeiner Form an Frankreich kommen könnte, gestatteten ihrem König nicht, auch in einem anderen Land ohne ihre ausdrückbche Erlaubnis König zu werden. Zweidrittehnehrheit in Kammer und Senat war dafür erforderlich. So sah sich Leopold vor die groteske Schwierigkeit gestellt, eine Anerkennung, die ihm zwölf Staaten — und teüweise widerwillig genug — gewahrt hatten, dann erst in seinem eigenen Land durchzusetzen. Dieses Land war reich geworden ohne Koloniën, es hatte keine Kriegsflotte und kein Volksheer, es kannte seinen König als verschlagenen und eigensüchtigen Mann, dessen groBe Eigenschaften es weniger ahnte als fürchtete. Viele nahmen ihn als Machtbesessenen, sie wollten nicht wegen eines Afrika, von dem sie nichts wuBten und dessen Wert mindestens zweifelhaft war, in allerlei gefahrlichen Streit mit europaischen Staaten geraten, sie, die doch neutral erklart waren. Andere, die meisten, man kann sagen, fast alle fürchteten, daB der Congo Belgien viel Geld kosten könnte. Unzweifelhaft batte ihr König schon fast sein ganzes Vermogen in Fieberlöcher und Wasserfalle ausgestreut: damals wenigstens zehn Goldmillionen. Was geschieht, wenn er nicht weiter kann? Würden dann nicht sie aushelfen müssen? Wenn die Belgier Leopold ein wenig kannten, so kannte er sie genau und zürnte ihnen wegen ihrer Kleinbchkeit, die nicht gab, was er verlangte. Man muBte sie beruhigen, daB die Liebhaberei ihres Königs sie nichts koste. Schon lange vor der Anerkennung in Berlin hatte der König bei seinem Ministerprasidenten Malou vorgetastet. Aber das war ein schwerfalliger, miBtrauischer Mann, mit dem er sich nicht gut stand, Malou sprach stets bloB von Schwierigkeiten. Leopold benötigte einen Premier, der nicht nur selbst keine Bedenken wegen des Congo hatte, sondern sie bei den Parteien zu zerstreuen wuBte. Als die regierenden Katholiken bei den Gemeindewahlen Stimmen verloren, entdeckte Leopold ebenso plötzlich wie gerne, daB er kein Vertrauen mehr zu zwei Ministern hatte, so erzwang er den Rücktritt des ganzen Kabinetts und suchte sich aus ihm den zuverlassigen Nachfolger, dem er nachher bescheinigte, daB er der eigentliche Schöpf er des Congostaates sei: Bernaert. Malou warnte seinen Nachfolger: „Man wird versuchen, Sie auf einen schlüpfrigen Boden zu ziehen." Der Boden war weit genug mit seinen zweieinhalb Millionen Quadratkilometern. Aber Bernaert ereiferte sich für Leopolds Plan und bewunderte aufrichtig den König. Doch er hatte die Zustimmung der Kammer nicht erreicht ohne Leopolds lenkende Kunst. Sehr kennzeichnend, daB Leopold nunmehr und gerade hier keine Schiebung wollte: Er hatte rullig an der A. I. A. festhalten und writerhin durch einen Strohmann regieren können; so hatte die belgische Verfassung nicht ins Spiel kommen müssen. Aber er fühlte wohl, daB solche Umgehung ihn gebunden hatte und zu gefahrlich war. ErmuBte durch ein ausdrückliches Mandat Belgiens für alle gedeckt werden, er konnte auch sonst nicht so offen den neuen „Unabhangigen Congostaat" als sein persönliches Eigentum behandeln, er wollte ungehindert Herr sein, wo niemand ihm dreinreden durfte. So wich er hier der Schwierigkeit nicht aus, sondern durchbrach sie. Er heB seinen Banning mit der liberalen Opposition verhandeln, er warb bei allen Parteiführern, er wendete alle Künste seiner Dialektik und Verführung an und vor allem wahlte er jenes Mittel, dem er schon bisher seine Siege zu Verdanken hatte: unbedenklich zu versprechen, Was der Andere wollte. Was wollte Belgien? Nicht irgendwie gebunden sein und kein Geld für den Congo ausgeben. Gut, sagte Leopold, ich will eine reine Personalunion, ihr seid zu nichts verpflichtet, alle Gefahren übernehme ich, alle Vorteile sind für euch. Belgien wird in meinem Afrika Absatzmarkte finden, dort Bahnen bauen, Handel treiben. Euch kostet das keinen Centime. Genau so hatte er den Frommen die Negertaufe und Sklavenbefreiuug, den Amerikanern, Englandern und Deutschen die Handelsfreiheit versprochen, was konnten sie da noch gegen ihn ein wenden? Die Belgier horten dies gerne, doch es gab immer noch Unglaubige. Was geschieht aber, wenn das Congogeschaft schlecht geht und der König nicht mehr weiter zu bezahlen vermag? Können wir ihn dann im Stich lassen? Und wenn er dann den Congo aufgeben mufl, so dürfen wir nicht dulden, daB er nach dem Vorkaufsrecht an Frankreich fallt, das würde England und Deutschland gegen uns erzürnen und also müBten wir selbst dann doch den Congostaat übemebmen? Keine Furcht, entgegnete Leopold. Ich gebe jahrüch eine Million von den dreieindrittel meiner Zivüliste. Eine halbe MiUion wird aus Ausfuhrzöllen und Steuern eingehen. Das ist doppelt so viel, wie das reiche Frankreich im Jahresdurchschnitt für seine Senegalprovinz und Gabun ausgibt. Auch dies klang gut, die Annahme schien sicher, hinderte aber nicht ein dumpfes Unbehagen in Belgien. In Kammer und Senat gab es nur wenig Widerrede, aber gar keine Begeisterung, bloB eben ergebene Worte für den König, es war nun nicht wohl möglich, Nein zu sagen. Formal war Belgien zu nichts verpflichtet, es schien ein vorteü* li haftes Abkommen für das Land. In Wahrheit aber erwies es sich als vorteilhaft für den König und als sehr kostspielig für das Land. Denn Leopolds Berechnung hatte den Nachteil, nicht zu stimmen, im nachsten Jahre brachte der Congo bloB 74000 Francs, und alsbald begann der unablassige Kampf des Souverans des Congostaates mit der Regierung des Königs der Belgier, um das belgische Geld nach Afrika zu leiten. Noch sind wir in diesem Augenblièk nicht so weit. Aber man muBte dorthin kommen. Denn es war eine offenkundige Lüge, daB die Personalunion Belgien frei heB und bloB den König band. Er hat bald genug nachher sich bemüht und es den Franzosen sogar mit afrikanischemLand bezahlt, damit sie sich bereit erklarten, ihre erste Hypothek auf die Congoerbschaft in eine zweite zu Gunsten Belgiens zu verwandeln. Es war klar genug, daB nur Belgien der Nachfolger Leopolds in Afrika sein konnte. Was auch der könighche Brief an Beernaert sagte, wie immer die Erkubnis Belgiens für Leopold formuliert war: Belgien blieb gebunden, es konnte unmöglich im Notfall seinen König in Konkurs gehen lassen oder sich mit dem machtigen deutschen Nachbar verfeinden, indem er den Congo an Frankreich verkaufte. Und so unglaublich es klingt, er hat damit spater auch, freilich nur eben wie aus Not, bei Beernaert gedroht, um die Brieftaschen seines Volkes für sich zu öffnen. Das Risiko war überwalzt. Alle Gefahr war auf Belgien geschoben, aber das Land natte dafür kein Recht erhalten. Offiziell wuBte es garnichts vom Congostaat, dieser war ein fremdes Land, das nur Leopold gehörte. Die Endabrechnung der Zukunft stand so, daB der Nutzen an den König, der Schaden an sein Land nel. Zur selben Zeit, in der seine patriotische Uneigennützigkeit und Opferbereitschaft gefeiert wurde. Ware der Congostaat sofort eine belgische Kolonie geworden, so ware die Sache im Rahmen der kolonialen Expansion Europas klar und sau- ber gewesen. Aber Leopold dachte nicht daran, er wollte herrschen, wollte keine Parteien, Abgeordnete, Minister hineinreden lassen, sich in Afrika sozusagen von der konstitutionellen Einschnürung Europas erholen, und er wurde so, durch keine Verfassung, kein Recht und nicht einmal durch die Grenzen europaischer Gesittung und die Kontrolle einer zuschauenden AuBenwelt in jenen abgeschlossenen Gebieten gebunden, der unums(±rankteste Autokrat seiner Zeit. Aber unter der Devise: Für Belgien. Er hat nun die Erlaubnis, und da mag am Congo statt einer Proklamation ein Geschaftszirkular genügen, denn Leopold hebt Pathos nur, wo es ihm nützt, sonst bleibt er nüchtern. Sein Colonel de Winton teilt den Missionaren und Handlem im ganzen Staate mit (es dürften einige den Brief nicht erhalten haben, denn es gab dort weder AdreBbuch noch Post), daB Leopold nunmehr ihr Souveran sei und ihnen Recht und Zivilisation hefern werde. Am i. August steüt er sich ebenso ungewöhnhch formlos modern allen Regierungen als Souveran des unabhangigen Congostaates vor. Jetzt ernennt er seine Regierung, drei Staatssekretare, die alle nur seine Handlanger sind. Die Lüge der A. I. A. verschwindet nunmehr. Die neue Lüge an Belgien schlaft noch; sie wird aufwachen. Leopold belügt die Welt Das Mandat, das Belgien ihm gegeben hat, war nur möglich, weil vorher die Welt ihm das ihrige erteilte. Weshalb tat sie dies? Weil er ihr alles verheiBen hatte, dessen sie bedurfte. Man wollte inmitten aufgeklarter Geldmacherei hören, daB die Menschheit gehoben, die Wissenschaft gefördert, das Christentum ausgebreitet würde. Leopold sagt zu, die Menschheit zu heben, die Wissenschaft zu fördern, das Christentum auszubreiten. Dies genügt noch nicht; wenn Leopold seinen Congostaat erhielt, so muBte er vorher zugestehen, daB das Gebiet frei sein würde für alle Völker, jedermann würde dort sich niederlassen, anbauen, kaufen, verkaufen können, was er wollte, kein Einfuhrzoll würde erhoben werden. AU dies war vortrefflich gedacht, aber es war dann undenkbar, daB der Congostaat aus sich heraus bestehen könnte. Denn es gab dort kein reichesentwickeltes Volk, aus dessen Abgaben der Staat sich Mittel schaffen konnte, und es gab ja auch noch garnicht einen Staat. Dieser war wohl anerkannt, aber Anerkennung ersetzt nicht Brükken, Hafen, StraBen, bebaute Felder, eingerichtete Fabriken. Der Staat muBte erst geschaffen werden. Kein gewöhnhcher Staat, sondern eine ganze Welt war einzurichten, muBte erst nuUtarisch gesichert, erforscht, geordnet, aufgebaut werden. Das erfordert Geld, mehr Geld als auch der reichste Privatmann gewahren kann. Fande sich jedoch ein solcher Nabob, so darf er auf viele Jahre, vermutUch auf Menschenalter hinaus nicht an Verzinsung denken. Leopold war weder ein Nabob noch ein uneigennützigerWohltater. Es war seine Schuld, daB er alles versprach, als ware er beides. Und aus dieser Schuld wuchsen seine Schulden, die damals begannen und sich steigern muBten, wenn niemand die Ausgaben ihm abnahm, aber ihm doch, was ihn selbstverstandlich dünkte, das Wesentüche der Einkünfte und jedenf alls aUe Herrschermacht überüeB. Ein reicher Staat konnte wagen, eine Kolonie zu grimden; die MilUarde würde ihm, wenn er die Kolonie behielt, bei guter Verwaltung und Glück spater reicnUch zurückkommen oder seine Bürger doch anderweitig entschadigen. Für Leopold galt dies aUes nicht. Er versprach hierin das Unmögbche, und er versprach es unbedenklich, weü er nur an die Befriedigung seines Imperialismus dachte und durch keine Zusage sich gefesselt fühlte. Was woUte die Welt noch? Bekampfung des Sklavenhandels? Er hatte dagegen gewiB nichts einzuwenden, wenn die Araber seine Untertanen und Arbeiter nicht mehr töteten und fortschleppten. Doch auch diese Bekampfung kostete Geld, und die Hebung der Eingeborenen noch viel mehr Millionen. Eine durchaus unlogische und in sich selbst verliebte Zeit verlangte von ihm solche Lügen, und so log er eben; gewiB war die Schuld nicht bei ihm allein. Doch nachher wurde er allein von der tobenden und enttauschten Welt als Schuldiger erklart. Die Menschheit war mitschuldig geworden, und er half sich gegen Selbstvorwürfe, indem er die Menschen verachtete, wozu ihn schon seine Überlegenheit führte. Alle wollten Geschafte machen, er auch, und er f and sich die Gelegenheit, sie selbst zu machen, die Anderen daran zu hindern. Aber noch war dies damals nur ferner Hoffnungsnebel und er voll Sorge mitten in seinem Triumph. Sicherlich, er hatte die Welt betrogen: Mit seinen Gesellschaften, seinen selbstlosen Beteuerungen, seinen Versprechungen, aber seit warm gründet man ein Imperium nütFibelsprüchen? Nicht die Gründung mit ihren notwendigen Lügen war ihm vorzuwerfen, nur dies entscheidet, was er aus dem Imperium machen wird. Musterstaat, Ausdehnung der Zivilisation, Licht ins dunkelste Afrika, so hieB es ehedem, dies verkündete auch sein Stanley und rechnete schon auf den Penny aus, was jeder Nigger taglich erarbeiten und verzehren würde. Leopold ware damit einverstanden, doch jetzt muB endhch mit dem Bahnbau um die Falie begonnen werden. Und Stationen gebaut, und alle Berichte fordern: Geld. Sein Vermogen ist fort, das Vermogen, das der alte Leopold so sorglich gehauft hatte, ohne Bedenken gab es der Sohn nach Afrika, aber er ist entschlossen, es von dort wiederzuholen und noch viel mehr dazu. Davon hat er der Welt nichts gesagt. Die Welt ist dumm, sie zwingt dazu, sie zu belügen. So gab er ihr, was sie wollte. Leopold belügt sich selbst Nun sitzt er in der Festvorstellung des Theaters de la Monnaie in Brüssel; ein glanzender Anblick, alles, was Rang und Reichtum hat, Prunktoüetten, Uniformen, Orden, Juwelen. Am anderen Tage empfangt er zweitausend geladene Gaste in seinem SchloB: Gartenfest. Brüssel iUuminiert. GroBe Tage sind dies, Sonnenhöhe seines Lebens; Belgien feiert Leopolds fünfzigsten Geburtstag. Noch sieht er statthch aus, schoner Mann mit machtigem, nur leise ergrauendem Bart; kaum merkbar, daB der linke FuB hinkt. Lacheln mit Majestat. Um ihn ist die Königin, zu dem Ehrentag wieder einmal aus ihrer grollenden Verbannung hergeholt. Die Töchter kamen: Louise, die Jüngste, die nur einen Prinzen Phüipp von Coburg heiratêtê; der Gatte sitzt zartlich nahe von ihr. Und da ist Stephanie mit ihrem jungen hübschen Gatten, dem Kronprinzen Rudolf von Osterreich, einem geistig angeregten, lebhaften Menschen. Ganz Europa huldigt jetzt Leopold, dem Reichsgründer, der sich durchgesetzt hat; es hat sich doch herumgesprochen, daB da in Brüssel ein sehr ungewöhnlicher Mann König ist. Das Volk, nun ja, sein Volk, sonst kritisch und gerne nörgelnd, tut, was seines Amtes ist, es jubelt und steht Spaher, Brot haben sie, Feste werden ihm auch gegeben. Alles sieht heute nach Glück tind Erfolg aus um Leopold. Und alles ist Lüge. Diese Königin, seine Frau, haBt ihn. Diese zartlichen Kinder sind ihm fremd; die jungen Enen sind unglücklich und sie werden in den.furchtbarsten Skandalen und Tragödien explodieren, welche das Jahrhundert zu verzeichnen hat. Dieses Volk, das ihm zujauchzt, wird ihm seine Liebe entziehen und strenge beurteilen. Dieser Reichtum wird so bedroht sein, daB ihm die Wucherer mit seinen unbezahlten Wechseln ins SchloB dringen. Dieses Imperium, das er sich schuf, wird mit Blut bespritzt ihm Millionen Flüche bringen. Er aber wird all dies überwinden und nur immer einsamer und ungeliebter sein. Fünfzig Jahre. Glanz. Alles scheint bisher geglückt. Woran denkt er jetzt, der Musik nicht hebt und gerne der Oper nicht zuhört, in soldier Stunde, die zur Einkehr mahnt? Vor ihm steht die ungeheure Aufgabe, die er selbst sich gesucht, mit aller Kraft seines verschlagenen auswegkundigen Geistes aus dem Nichts gegen eine Welt zu sich gezwungen hat, damit er sie bewaltige. Es ware zu denken, daB er nun hingeht in jene Welt, die ihm als Herrn überantwortet ist, die Luft dort schmeckt, die Magie der Landschaft spurt, die schwarzen, ihm ausgelieferten Menschen kennen und erkennen wilL Es ware groB, wenn er jetzt an die gewaltige Aufgabe dachte, die ersten Fundamente einer Organisation zu legen, nicht einer bloB bureaukratischen Verwaltung, sondern mit neuen Ideen, in ihm schon gereift angesichts der neuen Mission, die ihm anheimgestellt ist. Dies würde erfordern, daB er demütig ist und opferbereit. Sein Ziel über sich hinaus und nicht in sich selbst sieht. Ware er nicht groB, aber sentimental und mit Ehrfurcht behaftet, vor allem mit jener Ehrfurcht vor der eigenen Vergangenheit, an der man das Verantwortungsgefühl eines Menschen, sein Ethos abmessen kann, so würde er seinen Weg zurückdenken. Er war sehr seltsam, sehr verschlungen und nicht eben sauber, dieser Weg. Hier nebenan kam er zur Welt, schon nicht mehr in Coburg, sondern in Brüssel, und dies hat er auch als Überpatriot immerzu betont. Aber von Coburg über Brüssel strebte er in die Weite der Welt wie sein Vater, suchte, tastete, litt an diesem Belgien, das den Machtigen in einen Karig sperrte: Kafig das kleine Land, die bindenden Gesetze, alles. Er lift es, er bewaltigte es, denn er ist ja klug. Aber er will mehr, sind da nicht die Gelehrten, die Afrikaforscher, sonderbare Gesellschaft um ihn; der sich der Welt als Kreuzfahrer, fromm für seine Katholiken, wissenschaftlich für seine Liberalen vorstellt? Ja, so fing es an, und von da aus ging es empor. Da fand sich Stanley, der Mann und der Strom, und er nahm beide, es war nicht leicht, aber es glückte. Und dann half die Tarnkappe ihm, die ihn den Menschen verbarg, sie war eintraglich, aus der Anerkennung der Welt und auf der Landkarte kann er berechnen, was da herausfieL Sicherhch, es wurde ihm nichts geschenkt, er muBte tausend Listen üben, Gefahren abwenden, doch es gelang ihm, durch Schwache zu siegen. Nun ist er, ohne es zu ahnen, an der groBen Wegscheide angelangt; der eine Weg führt ihn zu sich selbst, der andere über sich hinaus. Er geht zu sich selbst. Er war stets sein Ziel, er allein. Er wird niemals jenes Afrika sehen, das er an sich gerissen hat, jene Erde und Wasser, jene Landschaften und Walder, jene Natur und Menschen, sie sind ihm nicht Aufgabe, sondern nur Befriedigung von Ehrgeiz, müssen ihm seine Geltung bestatigen, werden: Geschaft und Geld. Er ist nicht demütig und opferbereit. Er verlangt Opfer, aber er bringt sie nicht. Für wen sollte er verzichten? Kein Erbe ist da. Der Sohn starb. Der Neff e ist ihm gleichgiltig, die Tochter sind ihm ferne, ihre Gatten, diese Prinzen neben ihm, kennt er kaum. Belgien? Nun ja, es wird einmal das afrikanische Reich erhalten müssen, aber vorher muB von dort herausgeholt werden, was nur möglich ist. Was ist ihm Belgien? Er benötigt es, er ist nicht nur als König, sondern auch zum König geboren; schlimm genug, daB es so klein ist, man sich da mit Winzigkeiten herumschlagen muB, nur immer bitten, niemals befehlen, also zur List gezwungenl Wenn ein Sohn da ware, einer, in dem er sich selbst erkennt, Fortsetzer und Vollender, Überwinder des Todes, Bürge der Ewigkeit, alles könnte dann wohl anders sein. Aber in diesem pronkenden Thea- tersaal mit seinen zweitausend aufgeputzten Menschen, die alle ihn feiern, fehlt der einzige, den er benötigt: der Sohn. Er ist nicht groB genug, in Anderen, in der Aufgabe den Erben zu finden. Der Ungeliebte hebt sich selbst zu sehr. In ihm lebt statt des Sohnes der Vater weiter, der immer nur sich selbst wollte: sein Land, seinen Ruhm als Orakel Europas, als Beispiel der Könige, immer mit dem besitzanzeigenden „sein". Leopold hat hinzugefügt: sein Afrika. Er weiB noch nicht, was er daraus machen kann, daran zu denken hatte er nicht Zeit, solange er nur daran denken muBte, wie er es sich aneignen konnte. Nun ist es da, ist nicht Volk, Aufgabe, Schicksal für ihn, sondern ein gewaltiges Objekt, aus dem man viel herausholen wird, um die Schulden zu bezahlen und machtig zu werden. So verknüpfen sich Schuld und Schulden bei Leopold, binden ihn an dem groBen Tag seines Lebens. Er kann, er wird manchmal sehr lacherlich, hassenswert und sogar verachthch werden. Niemals aber kann er klein werden. Die Majestat des Vollkommenen, des durchaus einmaligen Menschen ist unzerstörbar um ihn, schützt ihn mehr als jeder Purpurmantel. Mehr noch: Er wachst zu einer Gestalt, in der wir eine ganze, nun vergangene Epoche wie in einem vollendeten Abbild besehen können. Er hatte ihre Harte, ihre Lügen, er wuBte dies selbst nicht, er hielt alles für geboten, was ihm half, die Anderen zu überwinden und sich selbst Vorteil zu bringen, er sah nicht das Lebendige, sondern nur, was es ihm eintrug, er hat niemals den Nebenmenschen entdeckt, er wollte besitzen, nicht helfen, genieBen, nicht lieben, herr sehen, nicht erheben. Aber all dies wollte er ganz, niemals wich er zurück, sein strahlender, unbarmherziger Wille duldete kein KompromiB, sein unwiderstehheh scharfer Geist sah alles Schwache und Halbe um sich und gebrauchte es zu seinem Vorteil. Aus ihm log seine Zeit, und aus niemandem hat sie vollkommener gelogen. Er kannte nur den Burger, nicht den Menschen; nur das Geld, nicht den Wert. Rings um dieses glanzende Theater in seinem reichen Land hungerten und verkamen in dunklen Kohlengruben und stickigen Fabriken Hunderttausende seiner Belgier, er hat es nicht nur nicht gewufit, sondern niemals wissen wollen. In seinem neuen Imperium warteten Millionen von atmenden Geschöpfen auf ihn, er sammelte ihren Hausrat in seinem neuen, kostbaren Museum, er nahm sie selbst als Kuriositat zu seiner Ergötzung, zweibeinige schwarze Maschinen, von einer weisen Weltordnung bestimmt, ihm Geld zu machen. Auch die Zeit, die er lebte, sie gehorte ihm. Er war ein belgischer Leopold: So wurde sie seine Zeit. ZWISCHENSPIEL ZWISCHENSPIEL Jugend NUR die Mutter hat den Knaben geliebt, ihr Kummer war seine riesige Nase, die ihn entstelite und erst viel spater durch den machtigen Bart, der das bedeutende Gesicht verlangerte, kleiner wirkte; sie war rührend entschlossen, ihn trotz seiner Nase schön zu finden. Früh starb sie ihm fort, und die Gefühlstemperatur um den klugen, in Selbstbewunderung erstarrten Vater stieg in den weiten Salen des Brüsseler Hofes selten über Null. Als der Staatsstreich Napoleons befürchten lieB, der Vorkampfer für nationale Einheitsstaaten könnte nach Belgien greifen, schien es Leopold Vater, dessen Schlachtfelder fürsthche Ehebetten waren, dringend, den Sohn mit einer Prinzessin aus einem groBen Hause zu verheiraten, um eine machtige Dynastie an der belgischen Selbstandigkeit zu interessieren. So muBte der Herzog von Brabant fast noch als Knabe auf die Brautschau gehen, wobei nicht der Mann seine Frau, sondern der Schwiegervater seine Schwiegertochter wahlte. Der Musterkönig kam, wie konnte es anders sein, mit einem Musterprinzen, beide wohlerzogen, gemessen und Klugheit aus allen Poren schwitzend, so daB die boshafte Chronik der groBen Hofwelt von Berlin und Wien über den in jenen Reaktionsjahren besonders unbeliebten konstftutionellen Belgier genug zu spotten hatte. In Berlin scheint sich die geeignete Prinzessin nicht gefunden zu haben; aus Wien kam dann die Braut. Der Herzog, über sein Alter ernst und lehrhaft, kümmerte sich wenig um sie, er fand sich in Brüssel unbeschaftigt, sein Vater gab ihm nirgends Raum. So reiste der Prinz viel, wozu seine zweifelhafte Gesundheit zugleich Vorwand und AnlaB bot, und dem König war es recht, den Nachfolger nicht um sich zu haben. Als dem Herzog das erste Kind, eine Tochter, geboren wird, fahrt er bis in den fernen Osten, das republikanische Amerika meidend, besieht sich schon ausgebeutete Lander und solche, die noch der zugreifenden Hand des Kolonisators harren. Der Vater krankelt, doch er ist zah; so laBt sich die Wartezeit des Herzogs mit Sehen und Lernen nützlich ausfüllen, und das NÜtzhche ist der Stern schon seiner Jugend, aus der keine flammenden idealen Aufwallungen zu berichten sind. Als die Arzte dem heimgekehrten Sohn melden, daB sein Vater bald sterben muB, sagt er, sich aufreckend: „Ich bin bereitl" Damit endigt eine Jugend, die es nicht war. Arbeit MaBlos wie in Allem war Leopold auch in der Arbeit. Als Friihaufsteher verlangert er den Tag, und da er seine Gesundheit als wertvollsten Besitz betrachtet, so sorgt er sich um sie, unterlaBt spater keine Kur, folgt jeder Vorschrift des Arztes, geht viel in seinen Garten spazieren, so rasch, daB der Adjutant ihm kaum folgen kann. Schluckt taglich groBe Mengen heiBen Wassers, von deren Heilkraft er überzeugt ist. lBt viel und hat stets Zeit, die Liste der Gerichte durchzugehen, die ihm vom Hofkoch vorzulegen ist; autokratisch streicht er, was er nicht wünscht, es bleiben dann immer noch mehr als ein Dutzend Gange für eine Mahlzeit der Hoftafel zurück. Die Speisestunden werden genau eingehalten, die Frau und die Kinder schweigen, solange er sie nicht anredet, was selten genug geschieht. Er spricht gerne, viel und sehr pointiert, aber fast immer haben seine Bemerkuffgen etwas Verletzendes, er schont nur jene, die er augenblicklich benötigt. Niemals versagt er sich eine Bosheit; er ist doppelt überlegen: durch sein Königtum und seinen rücksichtslosen Geist, und indem er mit beiden herrscht, entfernt er die Menschen von sich. Stundenlang empfangt er die Minister; wenn er nicht im Lande ist, liest er aufmerksam jeden Bericht und gibt Befehle, die wie Ratschlage klingen, und Ratschlage, die in Wahrheit Befehle sein wollen. Als der Congo gewonnen ist, vervielfacht sich noch seine Arbeit. Nichts darf ohne ihn geschehen. Er interessiertj sich für jede Ernennung; er benützt Ordensauszeichnungen und Titel mit virtuoser Meisterschaft, um zu belohnen, anzueifern oder durch Verweigerung zu bestraten. Jedes Zeitungsblatt im Land, jede aufallende Meldung in der auslandischen Presse wird von ihm beachtet; wo er beeinflussen und Stimmung machen kann, unterlaBt er es nie; aufler Bismarck gibt es Niemanden in Europa, der so virtuos die damals erst beginnende Wissenschaft der Propaganda beherrscht. Wenn er London, Berlin, Paris, Wien besucht, so sendet er, fast unfehlbarer Menschenkenner, seinen Regierungen die interessantesten Winke; darüber hinaus sieht er und oft genug er allein die groBen Möglichkeiten und Gefahren der Weltpolitik. Den deutschen Angriff spurt er schon, bevor die Deutschen selbst etwas davon ahnen, als unvermeidliches Ende des Wilhelmismus, und wie der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand die czechische Grafin Chotek heiratet, meint Leopold, daB dies eine glanzende Gelegenheit für Frankreich ware, österreichUngarn von Deutschland zu lösen; doch der Pariser Antiklerikalismus würde da alles verderben, das ware eben der Fluch der Demokratie... Die „Times" best er sein Leben lang aufmerksam in allen Spalten; wenn er noch so müde ist, er schlaft nicht eher ein, bevor er sie absolviert hat. Dazu verfolgt er alle Meldungen und Ereignisse der Wirtschaft, immer bedacht, sie für sein eigenes Vermogen und für Belgien auszunützen. Mit Empain beteiligt er sich an den verschiedensten Unternehmungen, mit Morgan in China und anderswo, und wie Sir Martin Conway einen bolivianischen Kautschuktrust gründet, interessiert sich Leopold daran. Er ist König, Diplomat, Spazierganger, Geschaftsmann, Gourmand, Lebemann, Bau- herr, Obergartner, und er hat für alles Zeit; aber dafür erspart er sich durchaus Zeit und Gefühlsregungen des Gatten sowie des Vaters. Noch als Siebzigjahrigerister unermüdlicher als alle seine Minister, und wenn einer von diesen nach fast dreistündiger Audienz erschöpft fortgeht, laflt Leopold den nachsten eintreten. Immer ist er dabei mitten in der Sache, paBt er seine Argumente dem besonderen Menschen vor sich an, um ihn für seinen Willen zu gewinnen; nur ungerne laBt er sich überzeugen, daB er selbst einmal Unrecht gehabt haben könnte, und wenn überzeugt, zürnt er innerlich dem siegreichen Gegner, benützt die nachste Gelegenheit, um ihm eine Falie zu stellen. Dies ist ihm besondere Lust, den Anderen in eine schwierige Lage zu bringen und zu sehen, wie er darin sich abzappelt. Er hebt, dort zu fragen, wo der Andere keine Antwort weiB oder aus bestimmten Grimden sie ihm nicht zu sagen wagt. Dann spielt er wohl manchmal sokratisch den Ahnungslosen. Doch solches Spiel beüebt ihm bloB dort, wo sein Gegenüber ein bloBes Werkzeug oder Handlanger ist; er wird sofort vorsichtig, gewinnend, verführerisch, wenn er den Menschen vor sich für irgend etwas benötigt. Als sein Vater stirbt, drückt er im ersten Ministerrat jedem der Herren die Hand, und gerade weil Leopold für hochmütig galt, ist der Ministerprasident Vandepeereboom davon sehr begeistert und wird alsbald sein Bewunderer. Das hindert Leopold jedoch nicht, es abzulehnen, daB bei seiner ersten Thronrede Frau und Kinder mit ihm unter dem Thronhimmel stehen und ein riihrsames lebendes Bild stellen; sie stenen weit abseits, er allein ist König und so bleibt es. Dies steigert sich beim Greise dann bis zu der seltsamen Gewohnheit, vor Dienern von sich nur in der dritten Person zu sprechen, sie scheinen ihm kaum würdig, sein königUches „Ich" zu vernehmen, er erteilt Auftrage: „.Bringen Sie ihm heiBes Wasser! Rufen Sie ihm den Arzt!" „Er", das ist der groBe König, der dann wiederum, wo er Menschen gewinnen will, sehr jovial sein kann, sich zu Scherzen herablaBt, aber dem Anderen kein Heraufsteigen gestattet. Immer war Tatigkeit ihm Bedürfhis und Erfrischung, und wenn wegen seiner vielen Reisen die Gegner ihm Faulheit und Vernachlassigung seiner königlichen Pflichten vorwerfen, so war dies entweder Demagogie oder MiBverstandnis. Unablassig arbeitete sein Geist; umso hastiger, je mehr er Jahre, und Macht haufte, nur daB sein Schaffen da immer vielfaltiger und bizarrer wurde, ein Gewirr von Listen und Planen, in denen er Belgien, den Congo und sich selbst verstrickte. Genufi So sah ihn die Welt: den Weibern immerzu nachjagend, sich an allen Freuden der tarifierteh Liebe ergötzend, bei den Tanzerinnen hinter den Kulissen der Pariser Oper, in den kleinen Kabinetten der mondainen Restaurants mit Kokotten, von denen man gerade sprach, wahllos genieBend und fast durchaus Frauen von minderer Qualitat, seehsch unbeteihgt, zahlend, schlingend, gierig. So wurde er ihr, ohne daB sie damals sich dessen bewuBt wurde, zum Sinnbild einer Zeit, die viel Geld machte und dann für das Geld schlemmte, praBte, und sich weiBes junges Frauenfleisch kaufte. Indem er König war, dazu noch groBer Geldmacher und aufierlich durch seinen machtigen Bart wie ein Symbol der Würde schien, galt er den Menschen aUerdings, wie sie heuchelten, als lasterhaft, aber innerlich bewunderten sie ihn als ihren Gebieter. Was sie aufreizte, das war seine Kühnheit, mit der er seine Freuden nicht verbarg, doch mit lüstem neidischer Anerkennung beschaftigen sie sich mit ihm. Da war zuerst „Margot, die Königin des Congo" in Brüssel, Halbweltlerin, die mitten durch die Residenz in der 12 königlichen Kutsche fuhr. Die Otero, die d'Alencon und vor allem Cléo de Mérode, die hübsche junge Tanzerin, die sich seiner Gunst rühmte und ihm zu seinem Spitznamen „Cléopold" verhalf. Überflüssig zu erforschen, ob sie langere Zeit seine Freundin war, es war eine Welt, dié Abwechslung liebte, keine anderen Freuden kannte als den raschen GenuB. Man wurde immer reicher, was war da natürlicher, als daB man dicke Havannazigarren rauchte, im Dezember fleckenlose Pfirsiche aB, auserlesene Gerichte verschlang und hübschen Künstlerinnen die kostbaren Kleider von dem gepflegten Leibe zog. Dies war GenuB, war Glück. Es hat nicht den Anschein, als ob Leopold feinere Beziehungen zu den Frauen jemals gesucht hatte. Unersattbch wie in der Arbeit war er auch im GenuB, doch wenn er bei gefalligen Frauen auch ein charmanter Gesellschafter war, so schien ihm dies fast bis zu seinem siebzigsten Jahre nur eben eine angenehme körperhche Notwendigkeit, aber ohne jede ernsthafte Bedeutung. Niemals hat er über geistige und seebsche Dinge mit jenen Frauen gesprochen, niemals bei ihnen auch nur den Mannerwunsch gehabt, der Erste und der Einzige zu sein. Es genügte ihm durchaus, daB sie ihm gefielen, nettes, menschliches Spielzeug, das jedoch niemals zu kostbar werden oder gar von wichtigen Dingen ihn abhalten durfte. Kein Gefühl war dabei beteibgt auBer einer rastlosen unsauberen Gier; er kaufte sich die Frauen, wie er sich Schlösser oder Automobile kaufte, er hat gelegenthch in Paris diese Umgebung sogar geschafthch ausgenützt. Denn wenn die Verhandlungen mit den Leuten im französischen Kolonialamt oder im Quai d'Orsay zu schwierig wurden, da war es angezeigt, die Herren einmal zu einer kleinen, übrir gens stets gemessenen Andeutung einer Orgie einzuladen; bei Champagner und mit hübschen Frauen um sich konnte der König irgend einen Vertrag leichter vorteilhaft in Ordnung bringen. Hier fühlte sich dann Leopold durchaus auf einer Lebenshöhe, wenn erin solchen seltenen Augenblicken seine beiden sonst sauberlich geschiedenen Weiten der Arbeit und des Genusses siegreich vereinigte. Immer mehr hatte er sich von allen Hemmungen befreit. Man hatte ihn als jungen König verdachtigt, Kunde bei jener Londoner Kupplerin gewesen zu sein, die angeblich minderjahrige Madchen der reichen Lebewelt zuführte; im jenem „Pall Mali Gazette"-Skandal war, übrigens wenig beweiskraftig auch sein Namen genannt worden, ein Pamphletist hatte daraufhin gegen Leopold eine Schmahschrift „Sahgaud II." drucken lassen, ohne von ihm vor den Richter gestellt zu werden, und so unwahrscheinhch schon auBere Umstande jene Beschuldigung erscheinen lassen, so wenig, dies darf man sagen, hatten Leopold moralische Hemmungen zurückgehalten. Er hat sich nichts versagt, was ihm GenuB war, und er kannte die Liebe nicht als Werbung, als Selbsthingabe, als innere Vereinigung, sondern nur in ihrer bequemsten und einfachsten Form; so heB sie MuBe genug, sich mit den ernsthafteren Dingen zu beschaftigen. Er kaufte und nahm, er herrschte auch hier als König, er hatte mit Treue und Gefühlen, an die er nicht glaubte, nichts anzufangen gewuBt, er entspannte sich solcherart und blinzelte feinschmeckerisch, schon auskostend, der nachsten kleinen Frau zu, die ihm gefiel. Niemals ahnte der reiche König, wie arm er war. Geist Tausende Briefe, Reden, Gesprache, geschliffene Worte Leopolds sind der Macht, dem Herrschen, dem Geld, der Staatskunst gewidmet, es sind keine bekannt, die sich mit Werken der Kunst beschaftigen, nur wenige, welche abstrakte Erörterungen zur Geschichte bringen, die ihn naturgemaB unter allen Erkenntnisdingen noch am meisten anzog. Wohl sah er als Bauherr den Zweck, doch er war zu sehr Kind seiner stüwütigen, ihrer Minderwertig- keitinnerlichbewuBten Zeit, um sich zu einer kaltenSachlichkeit empor zu arbeiten, die eigentiich innerüch ihm gelegen ware, wenn er nicht zu sehr Glanz, Pracht und Geltung gewünscht hatte. Was er bauen liefi, und da er sich befehlend oder mindestens anregend sehr damit beschaftigte, ist er für jene ganze Architektur verantwortlich, ist fast durchaus auf Schein und Prunk angelegt; ein verspateter Renaissancefürst, ohne zuverlassige Mörder undGiftbecher ins neunzehnte Jahrhundert verbannt, liebte er Renaissancestil: Saulen, Schmuck, Ornamente, Architektur war für ihn eine in Stein ausgedrückte Herrschaft im Raum, weshalb er das Seelische, die zum Himmel strebende Keuschheit der Gotik verabscheute. Er war kühn nur in seinen Absichten, ohne eigenes Wesen in ihrer Durchführung. So lieB er ungeheuere Festsale bauen, und wenn er schon nicht, wie Thiers nach Sedan angeregt hatte, auch König von Frankreich werden konnte, so wollte Leopold doch für Belgien der Sonnenkönig sein, nur eben zwei Jahrhunderte spater, der also unmittelbar geradewegs in einem Renaissance-Lift aus seinen Salons zu seinem königlichen Hofzug fahren konnte. Ein Mensch ohne feinere Beziehungen zu den Frauen, ja zu den Menschen überhaupt, mufite auch ohne Beziehungen zur Kunst sein. Er nahm diese bloB als Schmuck, sie hatte zu dienen, es fehlte ihm an Demut und innerer Bereitschaft, ihr jene Unabhangigkeit zu gestatten, die er als rechter König niemandem zugestehen konnte. Niemals hat er das Gemalde eines neuen Künstlers seiner Zeit gekauft, dafür auch nur ein Auge gehabt, niemals auch bloB bei Erwerbungen alterer Werke, seinen vielen Bestellungen für den Glanz seiner Schlösser eigenen Geschmack gezeigt. Musik war ihm ein störendes Gerausch; ihre seelische Gelöstheit, ihre offenbare Zwecklosigkeit muBte ihm geradezu verhaöt sein. Das Theater nahm er nur eben als| gesellschaftlichen AnlaB. Kein Urteü von ihm über irgend ein groBes Buch seiner Epoche, über einen ihrer führenden Geister wird überliefert. Er las und sprach flieBend die dreiWeltsprachen; es istanzunehmen, daB er niemals eine Zeile von Nietzsche, Flaubert, Tolstoi, Ibsen, Dostojewski, die seine Zeitgenossen waren, gelesen, zweifelhaft, ob er auch WoB ihre Namen gekannt hat. Alles, was nicht unmittelbar Eroberung war, schien ihm unverstandlich und der Beachtung eines ernsthaften Menschen unwürdig, es entging ihm dabei völUg, daB eine Zeit am sichersten durch ein Genie vom Geist her zu erobern ist. Wenn eine Kunstausstellung Geld brachte, eine Stagione den Fremdenverkehr von Ostende heben konnte, so hatte sie für ihn dadurch Bedeutung, jedoch eben nur dadurch. Er glich da einem Kaufmann, der das führt, was die Kundschaft wünscht, aber innerlich überzeugt bleibt, daB ihre Wünsche töricht sind. Dabei war er gewiB einer der amüsantesten Causeure seiner Zeit, es gibt kleine Gesprachswendungen, fast tiefsinnige Bemerkungen von flun, die in ihrer geballten Lebensweisheit, in ihrer zusammengefaBten Menschenkenntnis ganz unvergleichhch sind. Doch sie haben alle irgendeinen praktischen, dem AugenbUck und seinem Vorteil verhafteten Zweck oder sind nur eben Ausdruck seiner ironischen Weltverachtung. Als der Anarchist Rubino auf ihn schieBt und sein Begleiter Oultremont dabei verletzt wird, sagt der König, hochmütiges Nichtverstehen spielend: „Was hat der Oultremont nur dem Volke getan, daB es ihm so übel mitspielt?" Ein anderes Beispiel: Der König ist mit seiner Geliebten in Ostende, alle Welt spricht davon, wie der Greis sich off en mit der fibel beleumundeten Person zeigt. Nun ladet der König, stets bedacht, sich den Katholiken als Schützer der Kirche zu empfehlen, den alten Pfarrer von Ostende jede Woche einmal zu sich als Gast ein. Das ist ein heiliger und einfacher Mann, und die Frommen fordern ihn auf, er solle dem König ihre Klage vorbringen, Leopolds Betragen errege öffentUches Argernis. Der brave GeistUche ver- spricht es denn auch, aber er ist dann zu verschüchtert, um es zu wagen, seine Unsicherheit und Verlegenheit fallt dem König auf; er solle doch nur zu ihm, seinem alten Pfarrkinde, ohne Scheu sprechen. Der Priester rafft sich nun auf und sagt, ohne den König anzusehen: „Man erzahlt sich, der König hatte eine Gehebte." Leopold beugt sich zurück, setzt sein Einglas auf, betrachtet strenge den Pfarrer: „Und Sie haben dies geglaubt?" Der arme hilflose GeistUche weiB nicht, was antworten, stottert. Der König fahrt, halb lachend, halb mit gespielter Entrüstung fort: „Nun wohl... man hatmirgestern das Gleiche von Ihnen erzahlt, Herr Pfarrer, aber ich—ich habe es nicht geglaubt!" Womit die ganze Sache erledigt ist, ohne Ableugnung, sogar ohne Lüge; ein dialektisches Meisterstück. Oder als letzte Probe diese: Die Angestellten aus dem Zivilkabinett des Königs finden öfters die angenehme Möghchkeit, eintragliche Aufsichtsratstellungen anzunehmen; man bietet sie ihnen gerne an, weü man, zu Unrecht, glaubt, dadurch EinfluB auf den König zu gewinnen. Natürlich muB der Monarch in solchen Fallen seine Erlaubnis erteüen, die er aber immer gerne gewahrt, weil er dank jenen ZubuBen seine Leute schlechter bezahlen kann. Nun aber ereignet es sich, daB eine Person seiner nachsten Umgebung den Antrag erhalt, in den Aufsichtsrat der Suezgesellschaft einzutreten; dies ist eine der höchst bezahlten Sinekuren der Welt. Der betreffende Herr fragt den König, ohne den Namen Suez zu nennen, ob er annehmen dürfe. Der König bewilligt es und fragt dann nur, welche Gesellschaft es ware. Wie er es vernimmt, sagt er leichthin, es ware ihm doch lieber, wenn der Sekretar es ausschlage. Dieser erlaubt sich nun die Frage: Warum? Der König sieht ihn an und lachelt: „Die Suez? Sie würden mich dann weniger lieben." Hier erkennt man den König, der seine Leute von sich abhangig halten will, den Burger, der im Tief sten von der AUmacht des Geldes überzeugt ist, den Mann von Geist, der eine solche zynische Formulierung findet, deren miBtrauische Verachtung nicht zu überbieten ist. Diese Antwort enthalt, wie der Tropfen das Meer, schon den ganzen Leopold, sie konnte nur von einem Manne kommen, der niemals sein Zimmer, ja auch nicht einmal die Kabine auf seiner Jacht für zwei Minuten verlieB, ohne vorher alle Papiere fortzuraumen und. jeden Schrank sorgfaltig zu verschlieBen. Sein unerbittUcher Zynismus schont nicht einmal sich selbst. Als ihm bei der Congoausstellung in Antwerpen ein Honing schmeichelt: „Das alles verdanken wir Euerer Majestat", entgegnet er kurz: „Nein — das alles verdanken Sie den steigenden Kautschukpreisen!" Er sieht in Berlin, wie der Kaiser seine Truppen im Parademarsch vorbei denberen laBt, eine Revue mihtarischer Macht, und meint, ironisch aufseufzend: „Da bleibt uns Königen wahrhaftig bloB noch das Geld!" Es schien ihm, der nicht das starkste Heer und das gröBte Reich besitzen konnte, die Form, um als Besitzer des gröBten Reichtums doch gebieten zu können. Er lehnt es als Greis ab, geizig gescholten zu werden: „Ich stehe am Ende meines Lebens — glaubt man, ich will mich in einer eisernen Kasse begraben lassen?" Bildnis „Heuchler" sagen die Leute. Aber dieser extreme, widerspruchsvolle Mensch ist nicht so einfach in ein Wort einzuschlieBen. Er war auch Heuchler, war es sehr und war es vollkommen, doch dazu noch von jener groBartigen, herausfordernden Aufrichtigkeit, wie sie nur die rücksichtslosen Zyniker besitzen, und sein auBeres Wesen vereinigte ebenso wie sein inneres diese scheinbar unvereinbaren Gegensatze. Der lange, stets sorgsam betreute facherartig sich ausbreitende Seidenbart stand wie eine Maske vor seinem Gesicht, gab der Erscheinung etwas biblisch Patriarchenhaftes, log Gutmütigkeit und Würde in sie hinein und lenkte ab. Nicht zu vergessen: Es war damals die Epoche der reprasentativen Barte, welche die Gesichter verbargen, bei Leopold kam noch dazu die harte bis über den buschigen Schnurrbart reichende Gebieternase, die gekniff enen Genieöerhppen ganz verdeckt, das schlaue Gesicht erhellt von den spöttischen hellbraunen Augen, die im Zorn stahlblau zu bUtzen schienen, und er erzürnte sich leicht. Den machtigen kahlen Schadel tragt er fast immer bedeckt: von der Generalskappe, auf Reisen lieber von einem halbhohen steifen Zylinder oder einem breitkrampigen Strohhut, unter dem er gerne an der Riviera wandelte. Er kümmerte sich wenig um seine auBere Erscheinung, die ihn schon auBerlich durch seine GröBe die Anderen tiberragen lieB. Die Uniform des belgischen Generals, die er, der ganz Unmilitarische, in Belgien immer trug, war oft ebenso fadenscheinig wie die bequemen Anzüge, in denen er unoffiziell sich in Frankreich erging. Er hatte nach 1870 der Republik gegrollt, war damals haunger nach Deutschland und England gereist; je alter er wurde, je mehr er die unkontrollierte Leichtigkeit des Lebens, die gefalligen Frauen, die gute Küche und das witzige Wort liebte, desto haufiger suchte er dann Frankreich auf. Seine Kleidung war bloB bei offiziellen Anlassen sorgsam; es wagte kaum jemand, ihn darauf aufmerksam zu machen, wenn ein Knopf abgeschabt war oder ein Rock Falten warf. Nie ware es Leopold eingefallen, Mode machen zu wollen. Denn nur dort, wo sein Vorteü es gebot, unternahm er es, auf Schein zu achten. Dennoch wirkte er elegant und mehr noch: in jeder Gesellschaft bezwingend. Hoch und machtig, aber nicht massig stand er da, stets ein ganz unverbindhches, spöttisches Lacheln auf den Lippen, einen Scherz auf Kosten eines Anderen auf der Zunge, mondan, wenn es Nutzen bringt, und wenn es für seine BeUebtheit in Paris ska empfiehlt, dann opfert er sich und besucht sogar die Oper. In Augenblicken der Ruhe gerne den Daumen in der huken Achselhöhle, den Kneifer auf dem Nasenrücken, wenn er mit Mannern, das Einglas ins Auge rückend, wenn er mit Frauen war. Er spricht auffallend langsam, nachclrücklich, jedes Wort betonend, die schone Stimme manchmal naselnd und belegt, aber tiefer werdend, wenn es gilt, die Pointe zu bringen, sie manchmal mit einem spöttischen „Heh!" leicht unterstreichend und sich surückbeugend, um sie auszukosten. Der Typus eines vollendeten Gesellschafters in einer Zeit, die das Wort noch pflegen konnte und den Geist schatzte, stets das Gesprach mit einer anmutigen Frivolitat oder einem amüsanten Sarkasmus lenkend und aus den Erfahrungen seiner ungeheueren Kenntnis der Menschen und Dinge spendend, nur dort versagend, wo seine scharfen Urteile zugetragen, die Betroffenen verletzten oder seine Überlegenheit von Kleineren als Demütigung empfunden wurde. Sonst vollendet in seiner Art, jeden Menschen einzunehmen. Wie Clemenceau Ministerprasident wird und zu befürchten ist, daB der belgische Sozialist Lorand, der Clemenceau befreundet ist, diesen gegen Leopold eingenommen hat, fa'hrt der König unangemeldet im Ministerpalais vor und laBt bei Clemenceau seine Karte abgeben: Leopold II roi des Beiges. Wartet und wird vorgelassen... Bezwingt ihn schon durch jene absichthche Formlosigkeit, plaudert eine Stunde mit ihm und hat Clemenceau, der wahrlich schwer zu gewinnen war, für immer gewonnen. Andere wie Felix Faure, den eitlen Parvenu, fangt er sich durch herablassende Majestat und verabredet mit ihm die gemeinsame, dann miBglückte französisch-belgische Aktion am Nil; doch es war nicht Leopolds Schuld, daB die Mahdisten von Kitchener geschlagen wurden. Die Vornehmen entzückte er gelegentlich durch eine Derbheit des Pariser Argot, die Lebemanner durch gute Zoten, die Frauen durch die Sachlichkeit, mit der er ken- nerhaft von ihren Körpern, von Schönheit und GenuB sprach. Zu den Frommen trat er als Evangelisator, zu den groBen Machern als überlegener Genosse, zu den Belgiern als erster Patriot des Landes, nach Bedarf könighch, national, glaubig, lüstern, witzig, geschaftserfahren, und was verborgen, gemischt und zweif elhaf t in ihm war, das verdeckt der machtige weiBe Bart, der paradoxal über Orgiën glanzend als auBeres Merkmal seinen Ruhm noch steigert und, ein schneeiges Symbol kraftiger und unersatthcher Greisengier, über dem Jahrhundertanf ang weht. Handschrift Aus der Schüderung eines Schriftendeuters, dem ein Brief des alten Königs (der Sachverstandige wuBte natürhch nicht, wer schrieb) vorgelegt wurde, einige Worte: „Mensch, der aus denlferven lebt und aus ihnen auch seine Hinderungen und Zusammenbrtiche erlebt. Eigensinn und Bewegüchkeit in einer ganz eigentümlichen Weise gemischt. Hartnackigkeit, aber noch gröBer ist die Agressivitat. Die Lust am Herrschen dominiert. Es kreuzen sich hier Hingabe ans Objekt und der — car tel est notre plaisir — entschlossene Wille, etwas zu finden, zu erreichen. Der Verstand ist bohrend, aber nicht kalt, die ganze Persönlichkeit ist affektbestimmt von höchster Durchschlagskraft. Er schreibt den Leuten die Linien vor, die sie dann auch einhalten. Arbeitet bei Menschen mit Suggestion. Ein groBer Mathematiker ist er dann doch nicht. Ich fühle, daB ihm körperliche Schwierigkeiten, Katastrophen, schwerste Behinderungen bevorstehen. (Der Brief Leopolds war zwei Jahre vor seinem Tod geschrieben, zur Zeit seines notwendig gewordenen Rückzuges, ewiger Zankereien mit der Gehebten, sinkender Kraft.) Es besteht ein starker Drang, sich zu verhullen. Explosive Persördichkeit Von ungeheurer Arbeitskraft, würde sicherlich mit Wonne chirurgisch arbeiten. Dispo- niert treffiich, aber es liegt irgendwo ein nicht zu definierender Knacks vor. Ist sehr, sehr sinnlich, wechselnd, in der Sinnüchkeit nicht erstklassig, aber immer hundertprozentig dabei. Ungleich und nervenunterworfen." Dieses Gut achten, fast unheinuich ins Tiefste seines Wesens dringend, erklart manches, was oberflachliche Beurteiler überraschen mag. Leopold war zugleich genau und verschwenderisch, er haute die gröBten geschaf tlichen Konstruktionen auf und versagte immer bei kiemen Berechnungen. Seine juristischen Bauten waren genial, doch er war hilflos vor juristischen Tatsachen, die er dann ungeduldig dem Fachmann überlieB, den er, darin Stanley verwandt, mehr benötigte als schatzte. Er glich einem Feldherrn, der Plane ersinnen, aber keine Kompagnie führen konnte. Das „Nervenunterworfen" ist das einzige, was nicht völlig für sein ganzes Leben stimmen mag; es gilt freihch gewiB für den greisen Leopold von 1907, aber als Mann hat er sicher seine Nerven beherrscht. Geradezu genial scheint das verraterische „car tel est notre plaisir" des Autokraten, das die Schrift des in Verfassung Geduckten zu verhullen bestrebt ist und doch verrat. Man könnte auch sagen, daB er nicht bloB bei den Frauen „hundertprozentig dabei war", sondern in allem, was er mit seinem „beweghchen Eigensinn" anstrebte. Sein Sieg kommt, die Schrift offenbart dies, aus seinem Wesen; seine Niederlage aus der Zeit, die am Ende starker sein muBte als er, da er so unvorsichtig war, sehr alt zu werden. Charlotte Wenn man die Menschen um Leopold betrachtet, seine Nachsten, Schwester, Frau, drei Tochter, so wird man erkennen, daB sie alle ihm nicht die „Nachsten" gewesen sind; von diesen fünf Frauen hat er überhaupt bloB der jüngsten Tochter dauernd Zugang zu sich gestattet, wobei er aber stets der Verlangende, niemals der Gebende gewesen ist. Und, vielleicht die Jüngste ausgenornmen, sind alle diese Frauen wie von einem ungeheueren Verhangnisse getroffen, sie erleiden die schrecklichsten Schicksale und auch dort, wo er nicht unmittelbar daran Schuld tragt, ist er mittelbar verantworthch, (auBer bei seiner Schwester). Es ist nicht nur, als ob er Unheil bringt, er schafft auch dieses Unheil durch sein Tun oder Abwehren, und seltsam wir kt bei den Menschen seines Blutes ihre Ahnlichkeit des Wesens, nur verzerrt und ohne seine gewaltigen Gaben, seinen ordnenden Verstand, seine Menschenbeherrschung. Gleich ihm sind sieherrschsüchtig wie die Schwester Charlotte, pronkend und sinnheh wie die Tochter Louise, rücksichtslos und hochmütig wie die Tochter Stephanie. Sie alle zerbrechen an ihrem Wesen, Uur er allein vermag sich trotz und mit diesem Wesen zu behaupten. Charlotte, wie ihr Vater mit berechtigter Zufriedenheit feststellt, eine der schönsten Prinzessinnen, heiratet den attesten Broder des Kaisers Franz Joseph von österreich, den Erzherzog Maximüian. Das ist ein begabter und zerfahrener Prinz, der in seinem verhinderten Tatendrang sich sehr unglückheh fühlt; der kaiserhche Bruder ist kleinlich und argwöhnisch, angstlich am Gewordenen f esthaltend. Charlotte hebt ihren schonen Mann glühend, ihr brennender Ehrgeiz traumt das GröBte für den Gatten. Da finden einige mexikanische Emigranten, die gegen ihren kirchenfeindlichen Diktator Juarez ein Kaisertum gründen mochten, Maximüian ware eben der Richtige für sie. Napoleon der Dritte sucht einen leichten Erfolg und fernen Kriegsruhm, dazu eine versteckte Herrschaft im reichen Mexiko; Maximilian soll dort Kaiser werden mit französischen Soldaten, Geld machen für französische Unternehmen, das wird der französischen Kaiserkrone frischen Glanz geben, österreich und Frankreich gegen das drohende PreuBen Bismarcks fester verbinden. Charlotte drangt den nur scheinbar noch zögernden, in- nerlich freilich schon bereiten Erzherzog in das Abenteuer; es ist militarisch, diplomatisch, pohtisch unmöglich, auf Voraussetzungen aufgebaut, die sich samthch als irrig erweisen: im Sezessionskrieg siegt der Norden, der keine neue Monarchie als Nachbar dulden kann, in Mexiko steht niemand hinter dem Habsburger. Aber Leopold Vater, so klug er im Einzelnen rat, laBt sich doch blenden, und sein Sohn beneidet Schwester und Schwager um die Möglichkeit aus dem Vollen schaffen zu können: Mexiko ist groB und reich, kein Parlament kann da den Herrscher binden. Charlotte unternimmt, was ihr Bruder spater ebenso verwegen, aber pohtisch weitskhtiger, weniger auffallig, durch Geheimnis gedeckt, im Congo wagt. Als dann das Abenteuer immer aussichtsloser wird, reist sie zurück nach Europa, um dort für ihren Traumthron Hilfe zu suchen. Spricht und schreibt manchmal wie ein Staatsmann, kommt sich sehr pohtisch vor, lebt aber in Ibusionen, und wie Eugenie und Napoleon ihr endhch nein sagen müssen, ist sie vernichtet. Sie erkennt nicht, daB sie von Anfang an geirrt, die Krafte falsch eingeschatzt hat, sie kann nicht gleich ihrem Bruder maBlosen Willen durchrealistische Erfassung des Wirklichen bandigen und leiten, und nachdem ihr ihre verzweifelte Zu(Iringhchkeit in Paris nichts genützt hat, glaubt sie in Napoleon, in dem kranken, niedergehenden Abenteurer des Staatsstreiches und seiner ratlos welkenden Eugenie Damonen zu sehen, Fürsten der Hölle, das böse Prinzip, schreibt verwirrte Berichte im Stil der Apokalypse an Maximihan, der sich mit einer zusammengeschmolzenen Schar letzter Söldner noch an einen schmalen Streifen mexikanischen- Bodens klammert, irrt ruhelos umher, will schlieBhch vom Papst Hilfe erbitten, er solle Napoleon bewegen, ihr zu helfen. Versteht nicht, daB Napoleon ihr nicht mehr helfen kann, daB der Papst diesem auch gar nicht mehr zureden könnte, der ohnmachtige Pius IX., der selbst nur dank französischen Trappen sich mitten im geeinten Italien in Rom noch zu halten vermag. Schwere Beklemmungen, Nervenkrisen verwirren die junge Frau, so spricht sie endlich mit dem Papst, hört auch hier wieder das fürchterliche Nein, glaubt nun alle Welt gegen sich verschworen, man will sie toten, die Teufel stehen gegen sie, ihren Maximilian und*ihr schönes, ternes, groBes Kaisertum, das Wasser, das man ihr im Vatikan reicht, ist vergiftet, sie fleht, man möge sie nicht vertreiben, ihr Gefolge wolle sie ermorden, sie weigert sich, das Asyl zu verlassen, zum ersten und einzigen Mal schlaft im Vatikan eine Frau: Charlotte, der man ein Lager bereitet, die schóne, zur Narrin gewordene Kaiserin. UngeheuerUch ist diese seelische Zerstörung, Charlotte hat noch vor einigen Monaten staatsklug scheinende Briefe verfaBt, die in Manchem an die Klarheit ihres Vaters und Bruders erinnern, und plötzhch hat die Unertraglichkeit dieses Sturzes sie zerbrochen: ein Fall, nicht nur medizinisch selten, sondern menschhch erschütternd, noch erschütternder aber ist das grauenhafte Nachspiel. Charlotte lebt weiter. Ihr Gat te wird in Mexiko erschossen, sie erfahrt es nicht, sie ist eingeschlossen in einem belgischen Schlosse, sehr nahe von Laeken, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt, ein halbes Jahrhundert lang, überlebt ahe: die Fürsten, die sie im StichlieBen, ihre Kronen und Dynastien. Der HöUenfürst Napoleon Und seine Eugenie werden gestürzt, sie erfahrt es nicht und lebt, Franz Joseph, der sie duckte, verdirbt mit seinem Reich, sie erfahrt es nicht, spricht im Dunkel mit ihrem Maximilian, wird manchmal lebhaft, sieht sich als schone junge Frau in der kaiserlichen Loge von Mexiko, gebietend, die Truppen abreitend, schreit dann auf und betrachtet die Nüsse, ob ihre Schale auch unversehrt sei und niemand Gift hinein traufeln konnte. Leopold hat die Schwester als junger König einigemale besucht, ist dann dem schrecklichen Schauspiel im- mer mehr ausgewichen; von der ganzen Familie erschien nur manchmal Clementine, die jüngste Prinzessin, bei der wahnsinnigen Tante, die nicht wuBte, was diese fremde Frau bei ihr wolle. Dem König war die Narrin unheimbch; er war aberglaubisch und selbstsüchtig, er meinte, die Begegnung bringe ihm Unheil und jedenfalls verdarb sie ihm dié Stimmung. Trotz solchem Aberglauben hat er wahrend der Notzeit Charlottens Vermögen in sein Congo-Unternehmen geworfen, und vielleicht hat er nur dank diesen Millionen noch das notwendige Geld gefunden, um sich am Congo zu behaupten. Also hat Charlotte zwar nicht sich selbst ihr Mexiko erhalten, wohl aber dem starkeren Bruder sein Reich sichern können, und auch dies hat sie niemals erfahren. Grausamer Scherz des Fatums, noch verscharft, indem sie dadurch am Ende immer reicher wurde, aus jenem Afrika strömte das Gold immerzu zu ihr, auch dies erfahrt sie nicht, und um ihr Erbe zankten sich dann die Glaubiger ihrer Nichte. So lebte Charlotte immer weiter, wurde mehr als achtzig Jahre alt, aus ihrem Traumreich heimgekehrt in ihr altes Belgien und allem doch nur noch femer, seitdem sie dort weilte. Schien manchesmal ruhigere lichte Augenbhcke zu haben, sah forschend um sich, der Bruder war nicht da, der einst mit ihr auf dem Kinderball getanzt hatte, wobei die Mutter, die gute Louise Marie bemerkte, daB er schlecht tanzte, schlechter als der Jongere, der Graf Philippe von Flandern. Für Leopold erwies es sich aber nicht nötig, gut zu tanzen, das erfuhr jedoch seine Mutter nicht, die tot war, das erfuhr auch seine Schwester Charlotte nicht, die lebte und doch auch tot war, dabei sinnlose Schatze haufend. Sehnsüchtig wurde ihr Ende von einem Haufen von Wucherern und Glaubigern ihrer Nichte Louise erwartet. Sie ahnte es nicht, ahnte nichts von der dunklen Krone, die der Bruder sich aufgesetzt hatte, der unten in den weiten Garten ruhelos ging und plante und erreichte, was ihr und ihrem schonen, wirren, stets schwankendem Max versagt gebHeben war. So überdauerte sie, die wahnsinnige Ahnfrau ihres Hauses, den klugen Vater, den genialen Bruder, schrie angstlich zu den Damonen, die nach ihr griffen und sah sterbend, sechzig Jahre nach dem Tod ihres jungen Gatten, ihn in Glorie vor sich und sie beide umjubelt auf dem Balkon ihres Kaiserpalastes in Mexiko. Marie Henriette Talleyrands Nichte, die Herzogïn von Dino, die in der gut en Schule ihres Oheims die geistreiche Bosheit gelernt hat, schreibt fiber den jungen Brautigam Leopold, seinen Vater und seine Braut Marie Henriette: „Die Braut sieht recht traurig aus. Ich bedauere auch den jungen Herzog, denn das sind zwei Kinder, die sich nur widerwillig heiraten. Das stort die vaterlichen Gefühle aber gar nicht. Leopold I. geht seinen Weg mit leisem, aber sicherem Schritt, ohne sich um den Arger des einen und die Seufzer der anderen zu kümmern. Er hat so recht das Gesicht für seine Rolle; mehr vertrocknet als gealtert." Marie Henriette, in Ungarn aufgewachsen, lebhaft, lustig als ungebardige, hübsche, geliebte Prinzessin über die PuBta reftend, ein frommes, wildes Naturkind paBt gar nicht zu diesem lehrhaften jungen Menschen, der wie ein langes Kind aussieht und über kluge Dinge wie ein Fünfzigjahriger spricht. „Denke Dir, ob er amusant ist für seine junge Frau, die er als Herr und Meister behandelt 1" An dem steifen Brüsseler Hof wird die jungverheiratete Herzogin von Brabant geduckt von dem strengen, gebietenden Schwiegervater und von dem Gatten, der ihr gleichgültig und mit unverhohlener Geringschatzung begegnet. Manchmal bricht die Heiterkeit ihrer zwanzig Jahre unwiderstehHch durch. Maximilian berïchtet seinem Bruder, daB sie bei einem offiziellen Brüsseler Empfang mitten ih der Rede eines komischen kleinen Rabbi- ners einen Lachkrampf hat, den sie mühsam hinter einem riesigen BlumenstrauB ungeschickt verbirgt. Kurz vorher aber schreibt sie genau nach vier Wochen Ehe einem alten Freunde, dem Maler Petter nach Wien, in einem Briefe: „Meine arme Mutter, dieser Engel, beginnt zu begreifen, was sie angerichtet hat. Sie glaubte, mich glücklich zu machen und sieht jetzt das Gegenteü. Wenn Gott meine Gehete erhört, werde ich nicht mehr lange leben, oder alles muB sich andern." Das sind die Fhtterwochen dieses Kindes, nichts sollte sich andern. Und das blieb fast ununterbrochen ihre Stimmung, bis sie als alte Frau, verlassen von dem gehaBten Mann, zerzankt mit ihren Töchtern, dem geliebten friihverstorbenen Sohne unermüdhch nachtrauernd, stirbt. Empfindsam, unterdrückt heiter, leicht verletzt, dilettantisch die Künste liebend, zerflieBt sie in musikalischen Stimmungen, die Leopold verachtet; er bezeugt ihr immerzu seine Geringschatzung. Sie sucht sich einen Kreis von Künstlern und Musikern zu schaffen, nimmt sich wohl auch vorsichtig die Freiheit ihrer Gefühle, die der vor aller Welt ungetreue, auch nicht einmal den Schein wahrende Gatte für sich als selbstverstandliches Recht beansprucht; mindestens glaubt man in Belgien, von ihr Begünstigte zu kennen. Jedenfalls ist sie dabei vorsichtiger als er, der sicher gerne sich von ihr trennen würde, und sie, nachdem sie ihm keinen Erben mehr gibt, geradezu in Verbannung schickt. Sie verheiratet ihre alteste Tochter Louise an den Coburgischen Prinzen Phüipp, dessen Güter in Ungarn liegen; es führt sie dabei die Hoffnung, wieder öfters nach Ungarn kommen, vielleicht sogar spater, vom Gatten getrennt, in dem geliebten Land ihrer Jugend bleiben zu können. Der HaB gegen den Gemahl übertragt sich bei ihr allmahlich auf das Land, dessen König er ist; sie ist das Opfer dieses verwünschten Belgiens geworden, eine verachtete Königin und gedemütigte Frau, stets beleidigt und voll Rachsucht. Wer immer Leopold feind- 13 lich gesinnt ist, steigt bei ihr; sehnsüchtig erwartet sie seine Niederlage, sein Unglück ware ihr Triumph, und wie er im ersten Jahrzehnt des Congo immer tiefer sich in Schulden verstrickt, spaht sie in seinem Gesicht nach Zeichen der Sorge; wann endlich wird der VerhaBte verzweifeln? Wann wird Gott ihr Unglück an dem Bösen gerecht haben? Er verachtet ihren Dilettantismus, ihr zerfahrenes Schwanken zwischen Gefühl und Bosheit, ihre Ahnungslosigkeit in Gelddingen, schlieBlich wird ihm Marie Henriette sogar noch für die Empfindung der Verachtung zu schattenhaft unwichtig. Nur einmal wird er nach zwanzigjahriger Ehe ein paar Wochen zartlich zu ihr; da soll sie noch einmal sich ihm hingeben, damit er wieder einen echtbürtigen Erben erhalt, da der Knabe starb. Und wie dann eine Tochter geboren wird, Clementine, da wirft er Marie Henriette weg, sie hört kein gutes Wort mehr von ihm durch dreiBig Jahre, und sie leidet noch mehr über die Demütigung, daB sie ihm zuWillenwar. Dann kommt das klagliche Altern in Spa. Kaum, daB man sie manchmal zu einem offiziellen AnlaB herbeiholt. Louise ist unglücklich in ihrer Ehe, Stephanie auch, die Königin kann nicht getröstet als Habsburgerin ihr Alter in österreich verleben, sie zürnt den Töchtern, wie sie aller Welt zürnt, auch mit Clementine vertragt sie sich am Ende schlecht, diese geht von ihr zum Vater, unterwirft sich dem Feinde, versucht im Kriege ihrer Eltern neutral zu bleiben. Leopold, der für alles, was ihm durch den Sinn fahrt, Millionen bereit, für alle Frauen der galanten Welt eine offene Hand hat, spart an dem armseligen Hof der Marie Henriette. Nicht genug, daB sie ihm nichts war und ist, er verbirgt es ihr niemals. In allem ist sie besiegt: Der Gatte, dem sie vier Kinder geboren hat, verachtet sie und sie vergüt es ihm mit einem ohnmachtigen HaB; sie hat nicht einmal die Freude, ihm schaden zu können. Der Sohn stirbt ihr. Die Tochter verderben, sie glaubt an denSchwachsinn Louisens, an den standes- widrigen Abstieg Stephanies, ist ann, krank, einsam. Wie sie langsam stirbt, kommt niemand zu ihr, der Gatte, . neben sich die junge Freujidin, unterbricht nicht einmal ^^seine Kur, als er zu ihr gerufen wird und wartet erst vor^ sichtig ihren Tod ab, um sich überflüssige Gemütsbewe'"^"gungen zu ersparen. Ihr NachlaB aber, nachher von ihm verkauft, ist so armlich, daB alle Welt erstaunt. Nur Louisens Glaubiger traumten von einer Gütergemeinschaft, in der Marie Henriette mit Leopold gelebt hatte; nein, sie hatte weder eine Gemeinschaft der Güter noch des Gefühls mit diesem Mann, und es bleibt ein Geheimnis, ob ein gnadiges Schicksal ihr doch mindestens die bescheidene Genugtuung gewahrt hat, ihn betrogen zu haben. Marie Henriette, nicht bloB der Famüie, sondern auch im Wesen Marie Antoinette verwandt, war noch unglücklicher als die Frau Ludwigs des Sechzehnten, wenngleich ihr Unglück weniger sinnfallig und die Gemüter aufwühlend war. Leopold: das war für sie fast ein halbes Jahrhundert hindurch die tagliche Guillotine. Louise Mehr als vier Jahre ist Leopold schon verheiratet, als dem Krankelnden das erste Kind geboren wird; nach der sanften GroBmutter Louise getauft. Das hübsche blonde Madchen, das sich spater gerne daran erinnert, damals die „Sonne Belgiens" genannt worden zu sein, hat als friiheste Eindrücke um sich: einen König GroBvater, der unnahbar bleibt und mit seiner Familie nur brieflich verkehrt, einen halb gleichgültigen, halb strengen König Vater, eine schone, unglückliche, immerzu gekrankte Mutter. Ist es wahr oder WoB romantische Erfindung Louisens, daB ihr Vater die Zehnjahrige einmal ertappte, wie sie einen geheimen Brief ihrer Mutter deren Liebhaber zutrug und, dem Vater Brief und Rede verweigernd, seit damals seine Gunst für immer verlor? Kaum wahr- scheinlich, Leopold ware der Mann gewesen, dem Kind die Botschaft gewaltsam zu entreiBen und Louise hatte nebst anderen Eigenschaften von ihrem Vater auch jene übernommen, niemals eigene Schuld zu bekennen. Jedenfalls: Sie hat keine Erinnerung an ZartUchkeiten ihres Vaters für sie bewahrt auBer einer einzigen Blume, die er aus seinen Gartenhausern ihr einmal brachte, und dies ist wenig für ein Menschenleben. Wohl aber hat sie vieler spateren Zeugnisse seiner Abwehr und nachher seines Hasses zu gedenken. Rasch sucht der König sie zu verheiraten. Louise, die sich nachher, in ihren langen Elendjahren an vieles erinnert, was niemals geschah, erzahlt, daB Prinz Philipp von Coburg, sehr reicher Verwandter, ihre Mutter umwarb und diese daramTiin ihm ihre Tochter gleichsam zur Ablenkung als Gattin anbot, sie empfindet nicht, wie sehr sie mit solcher Erzahlung das Andenken der von ihr so überschwenglich geschilderten Mutter beleidigt, sie behauptet, daB Philipp selbst; ihr dies spater erzahlt hat. Sie ist noch sehr jung, der um vierzehn Jahre altere Mann gef allt ihr, doch schon nach der Hochzeitsnacht flieht sie entsetzt in den nachtlichen Park und wird nachher von ihrer Mutter beruhigt: sie wünscht ihre eigene Unschuld und die Brutalitat des Gatten zu unterstreichen. Nun lebt sie mit ihm zwanzig Jahre bald am Wiener Hof, bald in der Budapester groBen Gesellschaft, fühlt sich unglücklich neben dem lüsternen Mann, der ihr pikante Bücher gibt, sie ans Trinken gewöhnt und lasterhaft ist. Das alte Palais Coburg scheint ihr düster, voll mit unheimlichen Dingen, sie lebt dort mit ihrer tauben Schwiegermutter, hat zwei Kinder, um die sie sich wenig kümmert, und will die schönste, die eleganteste Prinzessin im glanzenden kaiserlichen Wien sein, vergeudet aus dem Vollen, bestellt sich ihre Toiletten dutzendweise, es freut sie, zugleich den geizigen Gatten zu argern und die Mode zu machen. KaiseT Wilhelm bittet sie bei einem Wiener Be- such, seiner Frau Hüte zu senden, Victoria Augusta sehe immer aus wie das Pique-As. Als üppige Schönheit strahlt sie auf allen Festen und Ballen wie von ihrem Landsmann Rubens gemalt, und Theodor Herzl flüstert einmal, wie er sie in der Loge sieht: Eva nach dem SündenfalL In ihrer ratlosen Leichtfertigkeit, in ihrem unbeschaftigten, auf ein Erlebnis wartenden Temperament ist sie zwar ungleich unbedeutender als ihr Vater, aber doch gleich diesem ein schwieriger Mensch, und Philipp, gewiB nicht so arg, wie ihr HaB ihn malt, ist wenig geschaffen, sie zu verstehen und zu lenken. Bei emer Praterfahrt fallt ihr ein junger Reiterofïizier auf, wie er ein schwieriges Pferd bandigt, sie laBt den Wagen halten und sieht neugierig, im UnterbewuBtsein schon begehrhch vergleichend, zu. Der junge Offizier, ein Graf Mattachich, verhebt sich sofort in sie, und diese Leidenschaft, die ihn ins Verderben stürzt, bleibt ihm nebst ritterlicher Verehrung für die Frau durch wenig Himmel und viele Hollen seines Lebens bis zu seinem Tod. Er erreicht es, in Abbazia ihr vorgestellt zu werden, erhalt den Auftrag, ihr einen Marstall einzurichten; das bringt die beiden zusammen und hilft gleichzeitig, den Gatten zu ruimeren. Mattachich wird ihr offizieller Liebhaber, sie zeigt sich mit ihm (hundert Koffer mit Toüetten folgen ihr) auf der Kurpromenade, sie ware nicht Leopolds Tochter, wenn sie den Skandal scheuen würde. In wenigen Monaten spricht ganz Wien und bald die ganze Gesellschaft Europas, lüstern erschauemd, von diesem Verhaltnis, der Gatte schweigt, aber Franz Joseph stellt Louise zur Rechenschaft, sie ist wie in Verbannung. Nachts fahrt sie insgeheim aus Wien nach Brüssel, fleht ihre Eltern an, sie mochten ihre Zustimmung zur Scheidung geben; Marie Henriette, des eigenen ehehchen Unglücks eingedenk, ware einverstanden, doch Leopold sagt der Tochter, sie hatte ja den Gatten als spanische Wand; was hinter dieser vorgehe, bekümmere niemand. Gibt ihr also eine Lektion in Lebensweisheit, mit der sie, Frau, Prinzessin, Liebende, nichtsanzufangen weiB; sieentrüstet sich über diesen Rat. Leopold sendet sie noch am selben Tag zum Gatten zurück, er duldet bei anderen kern öffenthches Argernis, er weiB immer, was sie ihm, nie, was er selbst ihnen schuldig ist. Es ist jedoch nicht bloB die Liebe, die louise bedrangt; der Gatte ist geduldig, und mit ein wenig Vorsicht könnte sie sehr wohl nach dem Rat des Vaters ein verstecktes Glück sich schaffen. Doch sie hat Milbonenschulden aufgehauft, ihre Einkaufe sind sinnlos, sie muB haben, was sie sieht, und da kommt ihr die Erfahrung von Mattachich zu Hilfe; als aristokratischer k. u. k. OfFizier weiB er, daB es Wechsel gibt und Wucherer, die dafür Geld auszahlen. Allerdmgs haben Wechsel eine unangenehme Eigenschaft: den Verfallstag. Nun, dannprolongiert man. Doch die Wucherer wollen sich jetzt nicht mit der Unterschrift der Prinzessin begnügen, man weiB, wie toll sie verschwendet, die Geldgeber verlangen nunmehr auch die Unterschrift ihrer Schwester Stephanie, der Kronprinzessin von österreich. Warum nicht? Auf dem gestempelten Wechselpapier ist also auch noch „Stephanie" zu lesen. GewiB ist, daB die Kronprinzessin nicht unterschrieb, gewiB auch, daB Mattachich spater dies gewuBt haben muB. Ebenso gewiB auch, daB er selbst, weltkundiger als die Frau, die Falschung, die auch nach dem Urteü der Schriftkmidigen nicht von seiner Hand ist, nicht veranlaBt hat. Mögbch, daB Louise, vollkommen ahnungslos in allen Geldsachen, selbst das „Stephanie" beifügte, sie benötigte das Geld, es war so einfach, es mit einem einzigen Wort sich zu beschaffen, und von Gesetz und Paragraphen wuBte sie nichts. Walnscheinlicher, daB einer der Wucherer die zweite Unterechrift beifügte, vertrauend, daB niemand es zum Weltskandal eines Protestes und öffentiicher Verhandlung gegen die Tochter des Königs und die Schwester der Kronprinzessin kommen lassen würde. Niemals ist die Geschichte dieser Falschung aufgeklart worden; sie war der AnlaB zu dem schlimmsten Skandal einer Hofjustiz seit der Halsbandgeschichte; nur mangelte ihr das Nachspiel der französischen Revolution. Nun reist das Liebespaar ins Ausland, dorthin, wo Franz Joseph und Leopold sie nicht verfolgen können. Wiederum fehlt ihnen, als sie an der Riviera weilen, das Geld. Louise will in London ihre Tante Victoria bitten, kopflos genug, da die tugendhaft strenge alte Königin sie gewiB entrüstet von sich stoBen würdë. Die Liebenden wissen gar nicht, daB Victoria selbst eben nach dem Süden fahrt, ihre Züge begegnen sich. Dann sind Louise und Mattachich wiederum an der blauen Küste, an der auch Leopold weilt. Er weigert sich, seine Tochter zu sehen, doch alle Geschaftsleute der Riviera und noch die Geldagenten aus Paris kommen zu ihm, belastigen ihn auf der StraBe, um Zahlungen für seine Tochter zu verlangen, die bei aller Welt pumpt, Juwelen auf Wechsel kauft, um den Schmuck sofort zu halbem Preis gegen bar zu verkaufen. Wer würde der Frau eines reichsten Prinzen, der Tochter des Kautschukkönigs, der noch dazu König der Belgier und glücklichster Geschaftsmann ist, nicht leihen? Aber da rückt der Prinz in den Zeitungen von Nizza ein, daB er für die Schulden seiner Frau nicht aufkomme. Leopold laBt sich von Detektiven bewachen, welche die zudringlichen Glaubiger seiner Tochter fortdrangen müssen, und nun stürzen die beangstigten Lieferanten und Wucherer in die Hotelzimmer des Liebespaares, schleppen alles von dort fort, Leibwasche und Tafelgeschirr mit dem coburgischen Wappen wird feügeboten, die saumigen Zahler bedroht und beschimptt, in den Koffergebirgen der Prinzessin gewühlt, ihre Pferde gepfandet, es ist ein Sport für ganz Europa. Franz Joseph befiehlt dem Prinzen, der so nebenbei auch östeneichischer General ist, den Liebhaber seiner Frau zum Zweikampf Zu fordern, widerwillig entschheöt sich der betrogene Mann dazu und wird zu allem noch leicht verwundet. SchüeBUch flüchtet das Liebespaar von der Riviera, wo es keinen ruhigen Augenblick mehr hat, nach dem kroatischen SchloB des Adoptiwaters von Mattachich. Der Offizier droht, er trage stets einen Revolver bei sich und würde auf jeden schieBen, der sich ihrem Asyl nahe. Louise scheint entzückt von dem romanhaften Abenteuer, trinkt und hebt. Mattachich hatte „aus Gesundheitsgründen" um seine Entlassung aus dem Heeresverband angesucht, er wird zur arztlichen Untersuchung volgeladen; als Offizier muB er gehorchen, wenn er kein Deserteur sein wüL Wie er vor dem Arzt nackt steht und nun endhch ohne Revolver ist, erscheint die Müitarkommission, die ihn verhaftet. Einige Stunden spater tritt vor die nun ganz verlassene Louise der Anwalt ihres Gatten, empfiehlt ihr ein Sanatorium bei Wien; sie ist zufrieden, wenn sie nur nicht zu Prinz Philipp zurückkehren muB. Sie ist von diesem Augenblick an durch sieben Jahre eine Gefangene. Bei Mattachich meldet sich ein Unterhandler mit dem Angebot: er soll im Ausland verschwinden, alle Schuld auf sich nehmen, dann kommt er nicht vor das Gericht. Der Offizier wirft den Vennittler hinaus, was allein schon seine Schuldlosigkeit beweist. Nun setzt sich die Justiz in allerhöchste Bewegung. Mattachich wird vom Militargericht in geheimer Verhandlung als Falscher nach Befehl abgeurteilt; sechs Jahre Zuchthaus wegen Wechself alschung. Die Epauletten werden ihm von den Schultern gerissen, er wird in der Strafanstalt besonders strenge behandelt. Louise wird in die vornehme sachsische Heilanstalt Linderhof als Schwachsinnige überführt; Gerichtsarzte bezeugen, was sie sollen. Der Wiener Coburger hat seine Rache, der Brüsseler Coburger seine Rune. Endhch ist also alles in Ordnung. Es gibt alkrdings Larm in der Welt, aber diese hat schheBlich auch erheblichereSorgen, so wird sie stfll. Der Gatte gleicht die Schulden aus und zahlt reichHch viel. Leopold gibt keinen Sou und beschrankt sich darauf, dem Arzt in Linderhof, man könnte besser sagen: dem Kerkermeister anzuraten, er „moge die Narrin nur streng halten." Nicht ein einzigesmal fallt es ihm oder seiner Frau ein, ihr krankes, von allen verlassenes Kind zu besuchen, und schon dadurch wird bestatigt, daB Leopold wohl wuBte, Louise sei, wenngleich krankhaft verschwenderisch, gewiB nicht im gemeinen Sinn des Wortes eine „Narrin". Kein Brief von ihr wurde beantwortet, niemand durfte für sie in Brüssel sprechen. Es entrüsteten sich einige Zeitungsartikel, das war alles. Aber in seinem Kerker kampfte Mattachich für sie und sich. Es gelingt ihm, Nachrichten in die AuBenwelt zu schmuggeln, eine InterpeUation und Debatte im österreichischen Parlament erregt Sensation, und auf Befehl Franz Josephs wird Mattachich der Strafrest von zwei Jahren nachgesehen. Kaum entlassen, sucht er wieder in Verbindung mit Louise zu kommen, an ihrer Befreiung zu arbeiten, er wird beaufsichtigt, er ist fast ohne Mittel, dennoch gelingt es ihm Helfer zu finden. Linderhof wird immer mehr von Detektiven bewacht, seitdem er sich in der Nahe zeigt; aber endhch nach fünf Jahren, nach Schmach, Kerker, unsaglicher Mühe, sieht er wieder die Geliebte, sie verrat sich dabei nicht, eine kurze Begegnung wird möghch, doch ausgekundschaftet. Noch mehr Aufsicht, die Zimmerschlösser werden verandert, die Schlüssel abgezogen, neue Polizisten und Geheimagenten aufgestellt; aber um Mattachich finden sich einige Menschen, die dieses Unrecht empört, die nicht ruhig schlafen können, wo Leopold der Vater ausgezeichnet schlaft. Ein Kuraufenthalt der Prinzessin gibt endhch eine Gelegenheit, ein Kellner macht den Vennittler, tragt Botschaften hin und her, eine Geheimsprache wird verabredet, wo Tee und Mokka Besonderes bedeuten, ein erge- bener Freund unterzieht sich einer Kur, mietet sich im Paxterrezimmer ein, und Louise tauscht die Wachsamkeit ihrer Kerkermeister, indem sie Kopfwaschung vorschützt, sich früh zurückzieht, ganz die Zufriedene und Arglose spielt, dabei insgeheim packt und im entscheidenden Augenblick ihr Htindchen beruhigt; wenn es zu bellen anfangt, ist alles verloren. Sie beschwört das Tier, streichelt es flehentlich, der Hund versteht, seufzt sanft und bellt nicht. Louise schleicht ins Parterrezimmer, dann durch den mondhellen Garten, findet den bestellten Wagen, verbirgt sich in Berlin, wahrend alle Welt sie auf dem Weg nach Paris sucht; erst einige Wochen spater kommt sie dort mit Mattachich an. Um sie tobt aufschaumend der Jubel des befriedigten Rechtsgefühls, es ist zugleich eine Verurteilung Leopolds. Die französischen Sachverstandigen bestatigen nun ihrerseits im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen die geistige Gesundheit Louisens, auch sie, wie sie es sollen: die Wahrheit der Wissenschaft erweist sich als eben so dehnbar wie der Kautschuk Leopolds. Da kommt einmal, als Louise vor Schulden wieder nicht weiter kann und alle Welt dabei von ihrem ungeheuerlichen Schicksal und den Millionen ihres Vaters spricht, Sam Wiener zu ihr, belgischer Senator, groBer Anwalt und Faktotum Leopolds, der ihm alles besorgt: Verbindungen nach Italien, Gegenkundgebungen für Leopold in England wahrend des Congostreits, Abfindung von gefahrlichen Angriffen, chinesische Beteüigungen, Unterhandlungen mit dem Sultan von Marokko, überall ist Sam Wiener dabei. Nun soll er auch mit Louise sprechen. Nein, er hat ihr nichts von vaterlichen Gef ühlen, von Verzeihung zu erzahlen, sondern ihr eine Offerte zu bringen: Wieviel verlangt Louise, um Mattachich, ihren Gelier> ten, ihren Retter aus der Irrenanstalt, zu verkaufen? Es gibt da einen hübschen Besitz bei Köln, der auf sie wartet, und 150.000 Francs jahrlich lieBe es Leopold sich ko- sten, wenn Louise dort stillund ganzlichohne Mattachich lebt. Nun scheint der König doch endhch von der geistigen Gesundheit seiner Tochter überzeugt zu sein, sonst ware sein Angebot unerklarlich. Aber sie ist so wahnsinnig, es abzulehnen; sie hat nichts, um ihr Hotelzimmer zu bezahlen, und dennoch will sie nicht die Sicherheit, die Ruhe, den Reichtum, sie bleibt bei dem gealterten kranken Freund, den Kerkerjahre und Aufregungen zerbrochen haben, sie jagt Sam Wiener hin aus und sie verkennt völlig die vaterliche Huid dieses Angebotes. Sie fühlt sich durchaus als Leopolds Tochter, sie meint wohl, ihr eheliches Unglück und ihr Skandal waren des Vaters Schuld gewesen, der sie bedenkenlos in jene Ehe sendete und sie nachher, als sie sich durch Scheidung retten wollte, wie einen nicht angenommenen Brief an den Gatten zurückgehen heB. Leopold hat hier zum erstenmal einen Skandal abzuschwachen gesucht, vermutlich nicht um Louisens willen, aber weil die Weltentrüstung für seinen Congo sehr bedenklich wird. Er kann sich also sein Geld sparen, er wird Louise nie mehr sehen und nicht mehr den Jubel hören, der sie in Brüssel begrüBt, als sie dort, alt, arm, vergramt, einzieht, um seinem Sarge zu folgen. Dann lebt und bettelt Louise noch zwanzig Jahre überall herum, bei allerhöchsten Verwandten, bei der Tochter, führt ein arnüiches Dasein, der getreue Mattachich, dem sie bis zum Tod „Königliche Hoheit" blieb, stirbt, als ihr Gigolo verleumdet und in Wahrheit der einzig Ritterhche in jener fürstlichen Welt, Louise versucht Prozesse wegen des Nachlasses ihrer Mutter, dann ihres Vaters, güt im Krieg den Belgiern als feindliche Ungarin, den Deutschen als Belgierin, flieht gehetzt vor Deutschen und Bolschewiken und stirbt verlassen in einem kleinen Pensionszimmer. Einige Tage vorher erscheint ein Abgesandter des belgischen Hofes bei ihr; für Erbansprüche an ihre Tante Charlotte werden ihr Millionen nach Be- friedigung ihrer Glaubiger nun viel zu spat angeboten. S» versteht es nicht mehr, sie, die so viele Millionen zerrinnen lieB, wendet kaum noch den Kopf, senkt nur müde die Hand und denkt ihr abenteuerliches Schicksal durch, alle zerstórt, sie selbst ein gehetztes, elendes Leben, der Sohn geheimnisvoll bei einer Dirne erschossen, der geliebte Freund Mattachich, der sie gerettet, tot, die Mutter einsam und böse ausgelöscht, die Tante, deren Millionen ihr da auf ihr Sterbebett gelegt werden, wahnsinnig, der Vater kampft noch als Toter mit ihr, und will sie um ihr Erbe betrügen, sie aber hat in aller Erniedrigung niemals sich unterworfen. Leopolds Tochter, noch in der Verzerrung ihres Wesens ist er wohl zu erkennen. Sein harter Wille, seine Gabe der Versteltang, mit der sie endhch doch ihre Warter überlistet, seine Kraft der Propaganda, seine Sinnlichkeit. VieUeicht hat er eben wegen dieser schmahlichen Ahnlichkeit sie so unerbittlich von sich gewiesen, mit seinem starksten HaB gehaflt. Stephanie Auch sie heiratet nach Wien; die Verbindung BrüsselWien scheint zum Unglück bestimmt. Anfangs sieht alles hier rosig aus; Kronprinz Rudolf von österreich ist der Erbe eines groBen Reiches, ein junger, geistig bewegter, aufgeschlossener, liebenswürdiger Mensch voll verschiedenster Interessen. Louise hat ihm als junge Frau von ihrer Schwester gesprochen, er reist nach Brüssel, er verloot sich, Leopold ist sehr zufrieden, das ist doch ein nützlicher Schwiegersohn, das hebt die eigene Macht und gibt Möglichkeiten. Stephanie ist hübsch, die jungen Leute lieben sich, aber Rudolf ist ungeduldig, wülensschwach, sehr wechselnd in den Stimmungen, Franz Joseph, kalt, förmlich, eifersüchtig, allem Neuen abgeneigt, laBt ihm keinen Raum. Rudolf, am Wirken gehindert, flüchtet sich in den GenuB, hat viele Freimdinnen, Stephanie genügt ihm geistig nicht, sie regt sich über Etikette und Mode auf, reizt ihn durch Eigensinn und Eifersucht, eine Tochter wird geboren, die Frau verreist für langere Zeit, laBt Rudolf allein, er verstrickt sich immer tiefer in Liebesgeschichten, erfahrt von den Arzten, daB Stephanie ihm kein Kind mehr geben kann. Die Gatten zanken sich immer böser, Stephanie verfolgt den ungetreuen Gatten, sie keift mit ihm, statt ihn zu fesseln. SchheBhch ist da eine junge Rivalin, überaus ehrgeizig, eine Baronin Mary Vetsera. Der Gattin gegenüber sitzend zeigt Rudolf bei einer Hoftafel seiner Nachbarin Louise das Bild Marys auf der Innenseite seiner Tabaksdose, flüsternd: „Ist sie nicht schön?" Und dann: „Ich komme von ihr nicht mehr los." Will sich von Stephanie scheiden lassen. Der Kaiser verwehrt es ihm; undenkbar in dem katholischen österreich, noch undenkbarer dann eine zweite unebenbürtige Frau. Er soll sein Ehrenwort geben, mit der Baronesse zu brechen. Stephanie beschwert sich, wül ihm überall f olgen, die Szenen hören nicht mehr auf, und Rudolf fühlt, wie kalt und abweisend der Vater, wie hoffnungslos dieses Reich ist, das auf ihn wartet, dem er helfen möchte, das er in letzter Stonde noch durch Erneuerung retten wüL Nein, das ist unmöglich, Franz Joseph duldet nicht Geist, Freiheit, Entwicklung; Rudolf kann in der Hofburg nicht atmen, trinkt und liebt, betaubt sich in Orgiën, der Vater wird achtzig Jahre und alter werden. (Wurde es auch; hatte Rudolf weiter gelebt, er ware erst als Sechzigjahriger Kaiser geworden, gerade zu dem von ihm vorausgefühlten Zusammenbruch.) Er sah seine Existenz hoffnungslos, seine Plane undurchführbar, so tötet er sich im JagdschloB Mayerling mit der Freundin. Das freiwillige Verschwinden des jungen und hochstrebenden, geistig freien Prinzen und das Geheimnis seiner letzten Stunden hat die Phantasie der Menschheit immer wieder bescMftigt; vielleicht empfand sie dunkel, daB sein Tod die Agonie eines groBen Reiches und unabsehbare Verwirrungen einleitete; noch immer ist der Krieg um die österreichische Erbfolge nicht ausgekampft. Leopold trifft die Nachricht inmitten seiner schwersten Geldkampfe um den Congo. Mit seiner Frau reist er zu Rudolfs Leichenbegangnis; es scheint, daB auch ihm in Wien mitgeteilt wurde, Rudolf sei inmitten einer Orgie erschlagen worden, so schreibt er aus Wien seinem Bruder: „Es ist sehr wichtig, daB die Selbstmordversion aufrecht erhalten wird... einzige Möglichkeit, um einen unerrneBlichen Skandal zu vermeiden." Sehr gefaBt und mit dem Wichtigsten beginnend, fangt sein Reisebericht mit der Versicherung an: „Unsere Reise ist sehr unangenehm gewesen..." Er fahrt zu seiner gedemiitigten unglückbchen Tochter, die nicht bloB den frtiher geliebten Mann, sondern ihre groBen Hoffnungen begraben muBte; er steigt nach Marie Henriette aus seinem Salonwagen aus und gibt zuerst den Auftrag, für morgen den Generaldirektor der österreichischen Landerbank zu ihm zu berufen, den er zu einer Syndikatsbeteiligung bei seinen Congolosen bewegen will; dann erst wendet er sich zu seiner verzweifelnden Tochter und gestattet ihr, ihn zu umarmen. Ist am nachsten Tage acht Stunden bei der Weinenden. Aber nach jener sentimentalen Höchstleistung seines Lebens hat er innerlich die Angelegenheit Hquidiert. GewiB ist die Sache mit Rudolf ihm peinlich, doch kaum mehr; er wuBte die Ehe, die sein Ehrgeiz gestiftet hatte, unglücklich, er hatte kaufmannisch gesprochen, Rudolf schon als Aktivposten für sich abgeschrieben. Unangenehmer ist ihm, daB die Landerbank nicht dem Congosyndikat beitreten wird. Leopold f ordert Stephanie nicht auf, zu ihm nach Brüssel zu kommen, ihren Schmerz bei ihren Eltern zu beruhigen; er will die Töchter, die er aus Belgien abgeschoben hat, nicht mehr dauernd um sich, khnt Retourwaren ab. Stephanie, jung, oberflacMich, ver- gnügungssüchtig, führt nun das leere Dasein einer Kronprinzessin-Witwe, sehr ihrer Schwester zugetan, aber diese doch in ihrem Unglück dann ebenfalls verlassend; sie will sich nicht mit Louise kompromittieren, indem sie der zu Unrecht Eingekerkerten beisteht. Dumme Zwistigkeiten um den Vorrang beim Hof bekümmern Stephanie, bis sie schheBlich versucht, in einer zweiten Ehe mit einem ungarischen Aristokraten den unleidlichen Verhaltnissen zu entkommen. Franz Joseph, der seinen Sohn gegenüber Stephanie als schuldig empfindet, willigt ein; doch Leopold verweigert seine Zustimmung, obwohl Stephanies Heirat durchaus nicht unwürdig ist, sie hat in Wien weiter zu trauern, ihr Glück interessiert ihn nicht, man hat den Eindruck, daB er die Gelegenheit sucht, gekrankt zu sein, bitter beklagt er sich über die Undankbarkeit seiner Tochter, und von dem Augenblick an, da Stephanie Grafin und spater Fürstin Lonyay wird, hat er nun auch sie abgeschrieben. Im selben Jahr, da et so unerbittlich auf Legitimitat sieht, beginnt er vor dem Angesicht der ganzen Welt eine Liaison mit einer kauflichen Frau letzten Ranges, die ihm, Ersatz für Louise und Stephanie, zwei Kinder gebaren wird. Clementine Die jüngste Prinzessin, entstanden aus der Demfitigung ihrer Mutter und der Hoffnung des Vaters auf den Sohn, war die einzige, die, wenngleich mit Schwankungen, ihre Beziehungen zu Vater und Mutter aufrecht erhielt. Es muB nicht eben leicht gewesen sein. Oft hatte Clementine die Schmahungen und Klagen der unbeherrschten Mutter zu vernehmen, oft gab es in der Umgebung ihres Vaters ihr peinlich unerwünschte Begegnungen mit Damen, was ihr Vorwürfe und sarkastische Bemerkungen Leopolds eintrug. Die Prinzessin bheb allein, unfroh alternd. Ihr war die Ehe mit dem Kronprinzen Humbert von Italien angetragen, aber dagegen wehrte sich die katholische Partei; keine belgische Prinzessin sollte als Frau des Kirchenraubers neben dem „Gefangenen im Vatikan" in Rom als Königin sitzen. Spater wurde ihr die Verbindung mit dem Grafen von Turin, einem anderen, der Krone ferneren Savoyer vorgeschlagen; doch dieser behebte wiederum der Prinzessin nicht, die durch die unglücklichen Ehen ihrer Schwestern vorsichtig geworden sein mag und sogar das für sie steife und unfreundhche Brüssel einer Ehehölle vorzog. Bis sie den Prinzen Napoleon, der im Brüsseler Exü als Haupt der gestürzten Dynastie lebte, heb ge wann; sie und er schon reife Menschen. Doch da sprach Leopold ein Veto aus; er fand, daB eine Heirat seiner Tochter mit dem Pratendenten die Beziehungen Belgiens zur französischen Republik gefahrden könnte. In Paris, wo man die Aussichten der Napoleons gering einschatzte und den Prinzen Victor als wenig ehrgeizig kannte, hatte niemand daran gedacht; doch Leopold war da eben französischer als die Franzosen. In Wahrheit wohl, weü er Clementine, dieser einzigen Person aus seiner Famüie, mit der er viel beisammen war, die Unabhangigkeit nicht zugestehen wollte. Sie batte natürlich nur sein, nicht ihr Leben zu leben; heiraten, dies hieBe, ihn verraten. Das Gefühl lehnte er in dieser Herzensaffare wie in jeder ab; er fand die überzeugendsten Begriindungen für seine Weigerung, erklarte, es bedrohe Belgien, wenn seine so intelbgente Tochter Führerin des Bonapartismus würde, er könnte dann gegen den Prinzen Napoleon, wenn er sein Schwiegersohn ware, nicht vorgehen, ihn nicht aus Brüssel ausweisen, er forderte Woeste und andere Politiker auf, darüber mit aementine zu sprechen, der Ministerprasident sollte ihm einen Brief als Protest der Regierung gegen den Heiratsplan senden; er versuchte alles, um Clementine einzuschüchtern. Kaum weü er so sehr an ihr hing; er hatte damals sich schon die Geliebte gef unden und liefl sich von Clementine nicht mehr wie manchmal früher auf seinen Reisen begleiten. Doch nachdem er mit der Frau und zwei Töchtern gebrochen hatte, die Welt gegen ihn raste, bedurfte er dieser letzten Tochter um sich, sie hatte ihm sozusagen Famüiengefühle zu bestatigen, welche die sentimentale öffentliche Meinung wünschte, ihm ein seelisches Alibi zu liefern. Er suchte dies sogar durch von ihm bestellte Aufsatze in den Brüsseler Zeitungen zu erreichen, in denen er von Clementine den Verzicht auf ihre Ehe als belgischen Patriotismus forderte. Die Prinzessin wollte den Vater schonen, fürchtete den offenen Bruch mit ihm, heB sich ebensowenig aber wie Louise ihre Gefühle abkaufen; der König hatte ihr eine erhöhte Rente und gröBeren Hofhalt angeboten als Entschadigung für den Verzicht auf ihre Liebe. Clementine gehorchte, lernte aUmahlich zu verschwinden, wie er sein Privatleben zu beginnen wünschte. Sie geduldete sich also wie ihr Vater bei der Eroberung seines Imperiums, unterwarf sich nur scheinbar wie er, behielt ihr Ziel im Auge wie er, auch sie sein wesensahnliches Kind. Hat viel Bitteres schlucken, ihre Jugend unbedankt verblühen sehen, aber sie allein hielt an der Würde ihres Hauses fest, duldete am Ende auch die Enterbung, ohne gegen ihr Vaterland zu prozessieren, fühlte sich als belgische Prinzessin und stand lauernd im Schatten. Hat sehr rasch nach des Vaters Tod dann den Prinzen Napoleon geheiratet, natürlich ohne daB die Beziehungen zwischen Belgien und Frankreich darunter gelitten hatten. Aber jene Sorge Leopolds war ja auch nur als Maske vorgebunden: die Tochter, letzte und einzige, die ihm geblieben war, hatte zu seiner Verfügung zu stehen und zu warten. Und Clementine wartete: Auf ihres Vaters Tod. *4 Glück Niemand kann ergründen, ob Leopold glücklich gewesen ist. GewiB ist, daB er Erfolge wenig genoB, aus Erreichtem ins noch nicht Erreichte und Unerreichbare strebte, hnmer ungeduldiger und hastiger wurde. Kein ZufaU, daB er sofort sich ins Automobü verliebte. Er hatte sehr viel Geld und nur noch wenig Zeit; er meinte, das Automobü spare ihm Zeit, es war eine Gelegenheit mehr, aus Belgien zu verschwinden, möglichst unbemerkt, er schützte dabei sogar Krankheit und Kuren vor, denn die Angriffe wegen seiner Abwesenheit mehrten sich im Land, seine Minister wagten ergebenste Andeutungen, er muBte, da die Entscheidung über den Congo fiel, wenn auch widerwülig, gewisse Rücksichten auf die öffenthche Meinung nehmen. Mit seiner Regierung feüschte er hartnackig und unermüdlich um jeden Tag seines belgischen Aufenthaltes. Die Karikatur wurde nicht müde, ihn mit einer seiner Frauen im Kraftwagen hinter dem Motor zu zeigen, er heB sehr schnell fahren, heute würde es freüich lacherhch langsam scheinen, doch er war damals fast tollkühn, lernte noch als Siebzigjahriger zu lenken. LieB sich noch bei seinem letzten Pariser Besuch in den Autosalon fahren, besah sich alle Modelle, interessierte sich für alle Neuerungen und bestellte die besten Wagen. Hat die ersten Anfange des Flugzeuges gesehen und gespurt, welche ungeheuren Veranderungen es besonders dem Congo bringen könnte. Doch er wuBte, das war nichts mehr für ihn, das ging bloB die Zukunft an, und so interessierte es ihn weiter nicht. Immer mehr liebte er die Ortsveranderung, sein Hofzug, der berühmteste in Europa, stand immer unter Dampf, konnte gar nicht schnell genug fahren, und jede kleine Verspatung betrachtete er wie eine ihm zugefügte Beleidigung. Die Socialisten warfen ihm seinen Luxus bei der Ausstattung dieser Salonwagen vor, doch wenn er hier verschwendete, stieg er dafür seelennihig in Paris in eine alte Kutsche, bezahlte die Taxe, betrachtete amüsiert das StraBenbüd, trog, wenn er der Gesellschaft ausWeichen konnte, einen verbrauchten Anzug und freute sich jeder kleinen Sparsamkeit. Obwohl er wieder ernsthaft plante, eine Nachbildung des Palazzo Vecchio aus Florenz mitten in Ostende als Attraktion aufzustehen und dafür Millionen zu opfern; nur sein Tod hat ihn gehindert, diesen Greuel aufzurichten. Zwischen Geiz und Verschwendung, zwischen unmaBiger Arbeit und ebensolchem GenuB, zwischen Hochmut und dem Wunsch, sich gelegenthch zu encanailHeren, zwischen absichthcher Frömmigkeit und selbstverstandhchem Zynismus jagte er durch die Welt, die er nicht beherrschen durfte; Reise war dabei ihm die bescheidenste Form der Eroberong. Die furchtbaren Schicksale um ihn berührten ihn nicht, die schrecklichen Beschuldigungen gegen sein Werk nahm er niemals als Tatsachen, sondern bloB als politische Aktionen; was jeden anderen zerbrochen hatte, war ihm bloB AnlaB seine Fahigkeiten zu steigern, Manchmal beugte er sich zartlich über Blumen, beobachtete er spielende Kinder, da suchte eine unterdrückte Seele ans Licht zu kommen. Aber da batte er seinen Ehrgeiz, sein Ziel, seine Bosheit, seine Aufgaben, seine Herrschsucht, seine Gier nach Frauen, Geld und Macht, und er jagte sein Leben weiter, viel schneller als die ersten Automobile es ihm gestatteten; sein Geist wirbelte in die Weite und schlug jeden Rekord. ZWEITER TEIL EIN BÖSER GROSSER KÖNIG KÖNIG Kanonen f * ROSSE Menschen sind selten, so müssen groBe ■ -^pKönige noch seltener sein. Fast ein halbes Jahrhundert lang ist Leopold die einzige Persönhchkeit ersten Ranges unter allen Kronentragern Europas gewesen (England sieht auch nach Europa, aber ist nicht Europa), und die Grausamkeit des Schicksals wollte, daB sein Land klein und seine Macht eingeschrankt gewesen ist. Er hat diese Tatsachen hingenommen, denn er war klug, aber niemals sich ihnen unterworfen, denn er war auch z§h. Unausgesetzt hat er als König der Belgier gekampft, die Friedlichen zu rusten, die Nüchternen an Prunk zu gewonnen, die Genügsamen in Imperiabsten zu verwandein und die Freien ganz sacht unter seine Führung zu bringen. Mit dem Scharfsinn, dem Zeitgefühl, der Menschenbehandlung, dem FleiB, die er dafür aufgewendet hat, hatte er als Herrscher in Wien oder Petersburg, Berlin oder Paris das Anthtz unseres Planeten geandert und ware eine der groBen Gestalten der Geschichte geworden, vieUeicht, wahrscheinbch sogar Fluch und Verhangnis, jedenfalls aber entscheidend. Von der Natur zum Bef ehlen bestimmt, hat er überreden, erschmeicheln, erhsten müssen, um Kleines zu erreichen, und das trankte ihn mit Bitterkeit. Der einzige, der letzte groBe König Europas wird vom Schicksal verurteüt, in Brüssel als gekrönter Prasident neben der Macht zu stehen und doch ihren Schein auf sich zu tragen. Eine ironische Tortur, die er dadurch zu ertragen versuchte, daB er überzeugt sein wollte, Belgien zu lieben. Leopold war jedoch in Brüssel nur so etwas wie Napoleon in Elba. Aber lebenslanglich. Immer wieder hat er vor den Menschen und sich selbst diese Liebe zu Belgien beteuert, er war unablassig be- strebt, es wehrhaft, gröBer, reicher und daher nach seiner Überzeugung auch glücklicher zu machen, sein Wille trieb die Belgier unausgesetzt aus dem ruhigen Behagen des Augenblickes, er sah Gefahren voraus und witterte Möghchkeiten, seine in der Realitat voraussehende schöpferische Phantasie trieb stets an, und so war er ein recht unbequemer König. Umsomehr als er mit zunehmendem Alter nicht mehr Vorsicht und Rücksicht kannte, seine Ungeduld wollte alles selbst schaffen und die Früchte sehen ; je alter er wurde, desto rascher muBte Belgien in den Fortschritt hinein laufen, damit er sich noch am Anblick erfreuen konnte. Vor allem aber sollte Belgien so geschützt und stark wie möglich sein. Niemals konnte Leopold als Imperialist an den Frieden und an den papierenen Schutz der Neutralitat glauben. Was 1870 noch glücklich gelang, würde sich nicht mehr wiederholen. Er spürte die Wetter aufsteigen, und gerade weil er an die Überlegenheit der deutschen Macht glaubte, war er überzeugt, daB der deutsche Angriff erfolgen werde. Wie fast alle Monarchen der Erde vor 1914 war er sozusagen von Berufs wegen deutschfreundlich; eben deshalb sollte Belgien Festungen haben, in Anerkennung der deutschen Kraft gut gepanzert sein, es lag auf der Heerstrafie, und der armselige Haufen seiner bezahlten Ersatzmannschaft muB te in eine moderne Armee der aUgememenJMenstpfiicht umgewandelt werden. Niemals vergiBt er dies, er sucht die einfluBreichen Manner zu gewinnen, treibt seine Kriegsminister an, hunderte von Briefen an seine Minister drangen stets darauf, geben Ratschlage, wie die Propaganda am besten zu führen sei, und als die Kammer 1887 mit sieben Stimmen ablehnt, da wendet er in einer groBen Rede, die sein Banning schreibt und er andert und dann wieder von dem Ministerpresidenten Beernaert zensieren lassen muB, sich gegen die Kammer an sein Volk. Die Katholiken toben gegen ihn, er bleibt unerschüttert, und langsam erreicht er alles: die Befestigungen von Namur und Liittich zuerst, dann jene von Antwerpen, auf seinem Sterbebett schUeBHch die Wehrpflicht. Vor seinem Volke und den Parteien fühlte er, was notwendig war. 1904 sagt ihm Wilhelm in Berlin, daB der Krieg unvermeidlich sei und Belgien dabei nicht neutral bleiben dürfe. Verspricht ihm Burgund und das französische Flandern, Belgien würde eine Mittelmacht werden statt eines Kleinstaates. Der alte König ist so aufgeregt über das Vernommene, daB er in seiner Verwirrung die Kappe verkehrt auf den Kopf setzt, ohne es zu wissen, und so groB ist die Angst vor seinem Zorn, daB niemand ihm dies zu sagen wagt. Er beruft sich gegen Wilhelm auf seine Kammern, auf seine beschrankte Macht, er flüstert am Bahnhof zu Bülow, er hoffe, der Reichskanzler würde unüberlegte Schritte zu hindem wissen, er schreibt nach London, vor allem aber an seine Minister, Antwerpen wird nun auch befestigt; aber wahrend der Schutz in Wahrheit gegen Deutschland gedacht ist, laBt er sich durch einen Mittelsmann in den deutschen Zeitungen loben, als ob Belgien einen französischen Angriff fürchte und sich dagegen ruste, und er ist ganz glücklich, als er prompt darauf in der „Revue des Deux Mondes" heftig angegriffen wird. Verirrt man sich ein wenig im unbegrenzten Reich des „wenn", so mag man erwagen, was geschehen ware, wenn Leopold nicht mehr als dreiBig Jahre so leidenschaf tlich daran gearbeitet batte, Belgiens Abwehrkraft zu organisieren. Ein Belgien nur mit einigen Söldnern und ohne Festungen hatte den deutschen Durchmarsch keinenTag auf gehalten, kein englisches Heer hatte französischen Boden betreten können, es hatte niemals eine erste Marneschlacht, hingegen aber einen ganz anderen Krieden von Versaüles gegeben. Genau so wie er beun Wettlauf um den Congo Brazza schlug, indem er Njari-Kwilu als künftige Kompensation vorwegnahm, so gewann Leopold nach seinem Tode die Freiheit Belgiens, indem er den femdlichen Angriff um die entscheidenden Tage verzögerte. Noch im Sarg hat dieser erstaunliche Mensch gesiegt. Die Welt sieht nur das Ergebnis und denkt nicht, wer es möglich gemacht hat, noch weniger daran, mit welcher Hartnackigkeit hier ein Geldmensen und Lebemann nur aus seinem hellen Verstand heraus ohne UnterlaB sein ganzes Leben sich gemüht hat, um dieses Ergebnis zu erreichen. Wer belgische Geschichte zu schreiben hatte, der müBte von Drohungen und Listen, Herausforderungen und GegenstöBen erzahlen, von Ministern, die an ihre Majoritaten, von Parteien, die an ihre Wahler denken; aber all dies war doch nur der unendheh schwerfalHge Rohstoff, aus dem Leopold sein Werk schuf. Ein durchaus unsoldatischer Mensch, den das Metier gar nicht interessierte, der sich bei Manövern langweilte, von Strategie nichts verstand und dem Dividendenziffern und Bilanzen erheblich wichtiger waren als Kriege. Dieser oberste Kriegsherr konnte seiner Natur nach im Kriege bloB ein Geschaft sehen, und Geschaft war für Leopold, wobei man gewinnen muBte. Er kannte sein königliches Handwerk und die Geschichte gut genug, um als glanzender Redner den Heroismus zu feiern, doch das Militar war ihm, dem Mann der List und Überredung, nur ein notwendiges Übel. Aber als unerbitthcher Menschenkenner glaubte er keiner Ideologie, und seine Delegierten wehrten sich in seinem Auftrag im Haag gegen den -Zarenvorschlag des Schiedsgerichtes, weü er darin eine Gefahr für die kleinen Staaten sah. Belgien war reich, es lag auf dem groBen Westwege der Kriege, es war allezeit Schlachtfeld gewesen, und Leopold wollte reich und König bleiben, also muBte das Land geschützt sein. 1890 drangt er darauf, daB in Boma eine Batterie angel egt wird; die neuesten und starksten Kruppgeschütze laBt er kaufen, die Belgier glossieren dies unwillig. Aber Leopold sagt, wahrend die Offiziere noch schwanken und er nicht weiB, ob er im nachsten Monat von seinen Glaubigern Stundung erhalt: „Ich muB die gröBten Kanonen von allen haben!" Zur selben Zeit fragt ein Missionar einen Congoneger, warum er als Aufseher zur grausamen Auf sieht bei der Zwangsarbeit sich bereit fande und erhalt vom Schwarzen die Antwort: „Weil ich lieber Jager als Wüd bin." Leopold wollte stets die gröBten Kanonen haben, und er war beber Jager als Wild. Geld Miüt man im Geiste der Epoche Leopolds den Fortschritt nach dem Geld, so war sein Belgien das fortschrittlichste und reichste Land der Erde. Die dichteste Bevölkerung auf den Quadratküometer gerechnet. Mehr als drei Viertel in Industrie und Bergwerken tatig, von bilbgem eingeführten Getreide lebend. Alle Ertragnisse und Spareinlagen steigend. Die Verzinsung der Staatspapiere sehr niedrig. In den Ausfuhrmengen an fünfter Stelle, und auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, an erster. Belgien ist eine der groBen Kapitalsmachte der Erde. Es kann gemeinsam mit Morgan daran gehen, die chinesischen Bannen zu bauen, und Leopold ist dabei der eifrigste Vennittler und Antreiber; als die Amerikaner mit Gewinn aus dem Geschaft herausgehen müssen, weü die Chinesen ihre Bannen selbst haben wollen, ist Leopold, der Li Hung Tschang umworben hat, ganz unglücklich, er will nicht ein paar Millionen mehr, sondern Macht. China bleibt sein alter Traum, die Weite des Raumes lockt ihn. Er interessiert sich für Geschafte in Syrien, Albanien, er sendet Agenten nach Marokko und laBt sogar sich auf seiner Jacht hinfübren, um selbst zu sehen, was dort zu holen ist. Die groBen Bankiers sind sein hebster Umgang. Empain, aus der Armut empor gestiegen, wird vielfacher Millionar und durch Leopold Baron; er ist sein Geschaftsfreund, und man behauptet, daB der König ihm als Lohn die wertvolle Konzession der Antwerpener StraBenbahn verschafft hatte. Die Karikatur zeigt ihn zusammen mit Empain. Wie er den jungen deutschen Kaiser einmal sieht, redet er ihm sofort zu, mit einigen Millionen sich an groBen afrikanischen und asiatischen Geschaffen zu beteiligen, die Kaiserin ist ganz entsetzt, daB Wilhelm sich mit dem sittenlosen Leopold einlassen will, er wird dabei nur sein Geld verheren und an seiner Seele Schaden nehmen, meint sie. Um Wilhelm zu locken, verspricht der König ihm, er würde vermitteln, daB ein Deutscher Oberkommissar in Kreta würde; Wilhelm ist natürlich sehr begeistert und will dafür von Bülow belobt werden, der erschrocken abredet, weü Deutschland davon nichts hatte als den HaB der Turken und eine undankbare Aufgabe. Natürlich hat Leopold gewuBt, daB niemand die schadliche Ehre wünschte, deshalb konnte er sie anbieten, und er durchschaute Wilhelm, der nie genug Scheinerfolge haben konnte, so wollte er ihn gewinnen. Ein winziger Zug, aber er zeigt zugleich den Menschenkenner und den Coburger, der Geschaft und Königtum verbindet; einen Reisenden in Kautschuk und Elfenbein nennt ihn spater einmal der dann verstimmte Wilhelm. Leopold aber hebt die groBen Geldleute, sie sprechen zu seiner Phantasie.-er schatzt sie, interessiert sich dabei gar nicht für ihren Taufschein, sondern für ihre Vermogen und die Geschafte, die sie bringen; er kennt ihren EinfluB und verwendet sie wie Bleichröder, dank welchem er sich mit Bismarck einigt, auch gerne für politische Auftrage. Er horcht, sucht immer Kompagnons und Tips; so hochmütig und stolz er auf sein Königtum ist, so getallen ihm diese Menschen, die neuen Nabobs, die aus dem Nichts kommen, Weltmarkte beherrschen, Preise diktieren, Trusts grimden. Belgien lebt nicht von seiner Scholle, es ist auf die Welt angewiesen, so will er hören, was jetzt zu fabrizieren, zu modernisieren, zu exportieren i§t, will es dann in seinem Lande anregen, er schreibt darüber den Ministern, laBt sich die ersten Industriellen und Bankleute Belgiens kommen, hierfür schlagt sein Herz, nicht für die Uniformen und Kriegsvorbereitungen, die man natürhch auch haben muB, denn damit muB das Geld verteidigt werden. „Es ist die erste Pflicht eines Königs, sein Land zu bereichern", wiederholt Leopold immer wieder, und dieses Geld muB sich zeigen, muB prunken; derselbe Mann, der die Pfirsiche auf einem SpaHerbaum zahlt, ist einer der gröBten Bauherrn seiner Zeit, legt weite Boulevards an, viel zu groB für die Gegenwart, aber er glaubt, die Zukunft würde da schon hinein wachsen, er kauft Grimde, erweitert seine Schlösser, Millionen auf Millionen werden da angelegt, Museen, Nationalparks.Fürstensitz am Mittelmeer.riesige Steinkasten bei Ostende, noch mehr, es kann nie genug sein. Das Geld will sich sehen, sich genieBen, seine Macht sich bestatigen. Der Geschmack dieser Bauten ist zweifelhaft, sie borgen von allen Stilen; denn die Geldzeit empfindet in all ihrem Fortschrittswahn die Vergangenheit doch als innerlich edler, reiner, geschlossener. Er kampft für neue Hafenbauten, als Siebzigjahriger in Gent ein treffend, überreicht er schon am Bahnhof dem Bürgermeister einen Bauplan. Drangt bei allen Bürgermeistern Belgiens auf machtige stadtische Bauten, reist nach Deutschland, nur weü dort gerade auf neue Art eine FluBregulierung unternommen wird. Nichts ist ihm zu groB oder zu kostspielig. Aber er wirft niemals eine Milhon hinaus, ohne zwei neue sich zu holen. Die Wertsteigerungen seiner Grimde gehören zu den besten Kapitalsanlagen, von denen man je gehort hat. Wie er einmal an der Riviera Clemenceau trifft, so will er ihn dahin bringen, daB beim königlichen Besitz in Cap Ferrat eine StraBe gebaut wird: sie kostet „nur" sechs Millionen, sagt Leopold; wenn der Staat, dasDepartement, dieGemeinde jeeinehergeben..." „So geben Majestat die restlichen drei"? fragt Clemenceau unschuldig. Der König sieht ihn an, schweigt und spricht von anderem. Seine schöpferische Aufmerksamkeit kennt keine Rast { so wie er für sich immerzu an neue und gröBere Unternehmungen denkt, so will er sie auch für Belgien. Ob es Umbauten an seinen eigenen Schlössern sind oder Bahnhöfe, weite StraBen, durch noch kaum bewohnte Felder gezogen, immer will er schon die Zukunft zu sich zerren. Nichts scheint ihm unmöglich oder zu verwegen. Wie sollte er auch? Wahrend seiner Regierung versechsfacht sich der Güterumsatz Belgiens, steigt die Produktion des Landes noch mehr, und was könnte einem Mann unerfiillbar scheinen, der wie er sich ein Imperium erzwangen hat ? Sein Land ist reich, er selbst ist reich, und beide müssen immerzu noch reicher werden. Dieser Reichtum muB jedoch unablassig neu wagen, das Geld darf nicht müBig bleiben, aber zu unbegrenzter Phantasie im Erwerben und Ausgeben gesellt sich eine kiihle Nüchternheit in der Realitat. Als Spekulant und sogar als Verschwender rechnet Leopold genau, im Fieber seiner Geldwut bleibt sein Kopf ganz kalt, und kein Fall ist bekannt geworden, daB jemals ihn jemand betrogen hatte. Für Belgien setzt sich dies darin um, daB es vollkommener als irgend ein anderer Staat Europas der kapitalistischen Entwicklung sich anpaBt, Es steigen die Sparanlagen, die Kurse aller Werte, die Grundpreise, die Dichtigkeit der Bevölkerung, die Ziffern des Budgets, alles ist in Hausse, und Leopold wirk?sinnbüdhch wie ein König dieser Hausse. Es ist, als ob sein innerster und, wenn die Blasphemie gestattet ist, sein heüigster Glattben auf sein Volk übergeströmt ware: Das Geld ist gut und ihm gehort die Ewigkeit. Leopold, starker Zweifler, ist gestorben, ohne jemals an diesem Glauben zu zweifeln. Gesetze Langer als das erste halbe Jahrhundert ist Belgiens Innengeschichte eine Familienangelegenheit von wohlhabenden Leuten gewesen. Das Parlament regiert, aber es wird nur von etwa einem Zehn tel aller erwachsenen Manner gewahlt. Es gibt zwei Parteien, Liberale und Katholiken, der ernsthafteste Gegensatz zwischen ihnen bleibt, ob die Kinder von Geistlichen erzogen werden sollen. Leopold mufite dies ganz gleichgiltig sein, aber er war gezwungen, es sehr wichtig zu nehmen; gerne vermittelte er als gekrönter Schiedsrichter, wodurch er an Geltung steigen muBte. Die Katholiken, zum Glauben entschlossen und verpflichtet, glaubten zugleich auch an die Heüigkeit der Belgien schützenden Neutralitatsvertrage und waren deshalb die hartnackigsten Gegner von Rüstungen und Dienstpflicht; dies trennte Leopold von ihnen. Aber sie waren nicht bloB die Starksten im Lande, sondern als Verfechter von Autoritat und Tradition die Stützen des Königtums, und seine natürlichen Bundesgenossen. Oft zürnten der König und sie mit einander, aber immer wieder mufiten sie dann sich finden. Als die Liberalen zur Mehrheit kamen, unterzeichnete Leopold Schulgesetze, welche die Macht des Klerus einschrankten; als dann die Katholiken den Liberalen bei den nachsten Wahlen einige tausend Stimmen abnahmen, wurde die Schule wiederum der Kirche anvertraut, und wie die Bürgermeister der grofien Stadte als protestierende Vertreter des Liberalismus zu ihm kommen, verweist er sie mit f reundlichem Achselzucken auf seine konstitutionelle Pflicht. Sie hat ihn dennoch nicht gehindert, maBigend zu wirken, die allzu intransigente Regierung, die ihm am Congo hinderlich war, aus der Macht zu drangen und seinen Beernaert, den Mann der mathematischen Mitte, zum Regierungschef aufsteigen zu lassen. Er heB sich durch keine Entriistung der Einen wie der Anderen einschüchtern, er wufite zu gut, daB beide Parteien ihn benötigten. Leopolds feines Ohr hörte genau, daB dieses Geschrei keine Drohung war, sondern nur Zank zwischen Begüterten, die zu ihm gehörten. Aber die Sache wird bedenkUch, sowie die dunkle Masse, die neun Zehntel der Ausgeschlossenen aufsteht und in seinem Belgien waaien und regieren will. Immer heftiger drangen sie nach dem allgemeinen Wahlrecht. Das Land ist lange in wachsender Garung, die Sache wird einmal so arg, daB die Regierung Leopold aus dem Ausland eüigst nach Brüssel zurückruft, Achtzigtausend ziehen durch die StraBen von Brüssel, und ptótzlich bricht, als die Zensuskammer immer noch zögert, der Generalstreik aus, der erste in der Welt, ein Vorzug, wie er ihrem höchstkapitalistischen Lande geziemt. Die Kammer gibt erschreckt nach, und der König ist weitblickend genug, bier sich nicht vorzuwagen. Aber wie nun das Wahlrecht erweitert und die Verfassung verandert werden muB, meldet er als entrechteter König genau so wie das entrechtete Volk seine Ansprüche an. Zum erstenmal soll in Anwesenheit eines Coburgers die seinem Vater seinerzeit aufgenötigte Verfassung revidiert werden, ist dabei nichts für Leopold zu holen? Er will ein Veto gegen Prinzenehen, das ihm mehr Autoritat gibt und das Hausvermögen wahrt, vermehrte Macht des Senates und vor allem gegen die Kammer das vom König aufzurufende Referendum. Die Volksabstimmung, Steigerung der Demokratie, soll als Zasarismus ihn gegen die Übermacht der Parteien schützen, er traut sich zu, nicht bloB der König, sondern auch der Führer zu sein; er möchte durch die Kammer das Volk und durch die Volksabstimmung die Kammer beherrschen. GroBer Redner, glanzender Propagandist sieht er hier eine neue Aufgabe, die seinen Ehrgeiz leekt. Aber die Parteien fürchten für sich und sie fürchten ihn; Volksabstimmung erinnert an die Plebiszite des schmahheh gestürzten Louis Napoleon, er kann nichts von seinen Forderungen durchsetzen und muB das durch Zusatzstimmen verwasserte allgemeine Stirnmrecht unterzeichnen. Die Idylle des biirgerlichen Belgiens scheint nun abgeschlossen; die Republikaner, die Re volu tionare, seine erbittertsten Feinde ziehen in die Kammer ein, aber wahrend sie ihn aufs wildeste beschimpten, sammeln sich drei Viertel der Kammer um den König; er wird zum Symbol des reichen Belgiens, das sich gegen den Umsturz behaupten will und wird. Die Gesetze der sozialen Fürsorge werden durchgeführt, ohne Widerstand folgt er der unwiderstehhchen Zeitmode. Aber wahrend das Ausland oft den Ausbruch einer belgischen Revolution erwartet, trotzt er, seiner Art nach die Krafte abschatzend, dem Sturm, und seine Autoritat steigt im Land unablassig. Guter Hasser, erklart er, niemals würde er in das gleiche Wahlrecht einwilligen, er dekoriert Gendarmen, die auf rebellierende Arbeiter schieBen, ein zweiter Generalstreik bricht zusammen, der Soziahsmus erlebt bei Wahlen einen Rückschlag, die flamischen Teile des Landes halten fest zu den Katholiken, und die Sozialisten beginnen zu erkennen, daB Leopold zu stark für sie sei, die GemaBigten unter ihnen bekommen Oberhand, debattieren über Beteiligung an der Regierung, die Leopold niemals zugeben würde. Er, der sich für alles interessiert, hat keinerlei Interesse am Aufbau der Arbeiterbewegung, diese Menschen ohne Geld sind ihm fremd und unheimhch, Arbeiter sind ihm bloB Abnehmer für Waren, Massen, die man auf breite neue Boulevards führen, in machtige Parks Sonntags einlassen darf, nichts von ihrem Wesen geht zu ihm, sein bürgerliches Denken ist so fest ummauert, daB er diese Grenze seines Ich niemals überschreiten kann. Sein Instinkt empfand Menschen als bedenklich, die keinen Besitz hatten und die Republik ausrufen wollten, niemals wollte er in ihr Leben luneinsehen und alle Tricks der guten Könige, die leutselig und gerührt die Hauser der Armen besuchen, 15 in Schachte steigen, sich mit dem Volk verbrüdern, verschmahte er nicht aus innerer Reinhchkeit, vielleicht sogar nicht einmal aus Hochmut, sondern weil sie ihm so ferne waren, daB er an gar keine Berührung mit ihnen dachte. Er wollte ihnen nichts böses, denn wenn auch sie auf stiegen, so wurden Belgien und er sicherer und reicher. Doch da gab es eben keine Brücke; sie waren ihm ebenso notwendig wie bedenklich. Was den Besitz bedrohte, schien Erschütterung einer allein giltigen Ordnung; nicht einen AugenbUck glaubte er an den Wert sozialer Schutzgesetze, an eine Berechtigung des aUgemeinen Wahhechtes; es muBte verderbhch sein, das freie Spiel der Krafte zu storen. Er gab im Kleinen nach, weil er muBte und all dies für eine Art Versicherungsprarnie gegen Republik und Revolution hielt, doch er war viel zu sehr Individualist, um die Mystik einer Massenbewegung zu verstehen; ihn interessierte dabei bloB, daB sie eine Macht war, eine feindhche dazu, also etwas, das man überUsten und fesseln muBte. Wie seiner mit seinem Ruf nach der Dienstpflicht auch zugleich das Wahlrecht herbeiführte, erkannte er niemals, und man darf sogar sagen, daB die belgischen Gesetze, so sehr der Kampf um sie, Schule, Verfassung, Wahlordnung, Rüstungen und Heer, sein Leben ausfüUten, ihn nur genau insoweit interessierten, als sie Belgiens Macht und damit die seinige sicherten. Ein verhinderter Autokrat ghch er, was das Schicksal ihm versagt hatte, durch alle Künste seiner tiberlegenen PersönUchkeit aus, er konnte schmeicheln, gewinnen, aber auch drohen und zurtickstoBen, und je alter er wurde, desto harter kam die Verbitterung darüber heraus, daB er nicht immer befehlen durfte. Als jemand so taktlos ist, einmal zu ihm in einer Redewendung zu sagen: „Majestat müssen", da zürnt er: „Ein König gibt Befehle, aber empfangt von niemandem Ratschlage", das törichtste und selbstverraterischste Wort, das von dem klugen weltlaufigen Manne überlie- fert wurde und nur aus dem tiefen Leid seines verletzten Hochmutes kommt. Er ahnt, daB die Welt, die er geschaffen hat, auf ausgehöhltem Boden steht; er wfll sie durch Harte schützen, schreit höhnisch einem Beamten seines Justizdepartements, der ihm zu viel begnadigt, zu: „Hoch die Mörder! Alle sollen leben, alle in Freiheit!'' Gesetze sind ihm Schutz des Besitzes, er, der immer neuen Besitz sich schafft und dessen Ideal es ist, der reichste König des reichsten Volkes zu sein, zahlt zu diesem Volk die Besitzlosen nicht, sie sind ihm in seinem Belgien ebenso weltenferne wie die Neger in seinem Congostaat. Immer mehr verdrangt die Sorge um den Congo, die Freude an der Macht am Congo alles andere in ihm. Belgien wird ihm zum Mittel, am Congo sich behaupten zu können. Kann er es noch? Zur selben Zeit, da das Volk in Belgien aufsteht, blutige Unruhen ausbrechen, die Dienstpflicht von der Kammer verweigert wird, das allgemeine Wahlrecht unwiderstehhch im Anmarsch ist, beginnt die schümmste und gefahrbchste Zeit seines abenteuerbchen Lebens. Er, der nur an Geld glaubt, der spater so reich werden soll, der könighche Spekulant und gekrönte Abenteurer, bat alles auf eine Karte gesetzt; vor ihm Schulden, die er nicht bezahlen, Versprechungen, die er nicht halten kann. Jahre der verwegensten Listen beginnen, Dinge ereignen sich, die offensichtheh strafbar waren, wenn nicht ein König sie getan und der Erfolg sie gerechtfertigt hatte. Was geschieht? Der Souveran des Congo erpreBt beim König der Belgier, die schmahbch siegreiche Geschichte solchen jahrelangen Feldzuges ist nun zu erzahlen. GRIFF IN VIELE TASCHEN Ich verlange nur wenig ^ TON 1885 bis 1895 hat Leopold das aufregende Da\J sein eines groBen Abenteurers geführt, der in ein ▼ machtiges tind zweifelhaftes Unternehmen seinen ganzen Besitz schleudert und niemals wissen kann, ob es nicht am nachsten Tage zusammen bricht. Aber wahrend dieses Jahrzehnts hat er so nebenbei auch noch sein Kolonialreich zuerst zur Anerkennung gebracht und es dann bürokratisch organisiert, Tausende von Berichten gelesen, Auftrage der verschiedensten Art erteilt, groBe militarische Expeditionen ausgerüstet, Lander zu erobern versucht, sein Königreich durch schwerste innere Krisen geführt, fremde Regierungen gewonnen, die eigene beeinfluBt, war Diplomat, Propagandist, Redner, Journalist, Börsenmann, Verwalter, König, schlechter Ehemann und guter Lebemann, er hat getan und bewaltigt, was ein Dutzend Manner ersten Ranges kaum voUbringen können, und inmitten von beangstigenden Schwierigkeiten ist er kaum für Augenblicke schwach geworden. Seine nachste und dringendste Aufgabe war es, für Geld zu sorgen; er hatte nun sein Imperium, doch nicht die Mittel, es zu erhalten. Zwanzig oder mehr Millionen, alles, was er besaB, war bereits im Congo angelegt, und, wenn er nicht durchhalten konnte, weggelegt. Das Erbgut seiner wahnsinnigen Schwester Charlotte, deren Vormund und Vermögensverwalter er war, hatte er ebenfalls als Zwangsanleihe verbraucht, wohl wissend, daB er nicht wie ein Privater zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Alles war zu wenig, mufite zu wenig sein, denn der Congostaat konnte erst spater Gewinn bringen, umso mehr und umso rascher, je mehr man vorher dorthin gebracht hatte. Aber niemand schien bereit, in unbekannte Fernen sein Geld zu tragen; das Vertrauen, das Leopold für den Congo hatte, war nicht ansteckend. In einem der vielen Briefe und noch mehr Unterredungen, in denen Leopold von seinem Ministerpresidenten Beernaert Unterstützung forderte, schreibt er: „Ich verlange nur wenig: Man möge diejenigen, die gewillt sind gegen gute Garantien dem Congostaat Geld zu borgen, dazu autorisieren." Eine groBe Pramienanleihe von 150 Millionen soll in Belgien zur Zeichnung aufgelegt werden. Lieber einmal 150 als zweimal je 100 Millionen, meint Leopold; denn wenn die ersten 100 nicht im Kurse steigen, so waren die zweiten dann nicht anzubringen. Belgien hat natürlich keine Garantie zu leisten, strenge wird an der Fiktion festgehalten, daB der Congostaat Belgien gar nichts angeht, er bleibt die reine und augenbhcklich höchst kostspielige Privatangelegenheit eines Mannes, der zufallig zugleich auch König der Belgier ist. Doch Leopold hofft, daB seine Belgier ihre Brieftaschen öffnen und zeichnen werden. Um die Zukunft und Entwicklung des groBen afrikanischen Staates, der Belgien zur Verfügung steht, zu sichern, fehlt nur noch die Möglichkeit, eine Losanleihe auszugeben. Schwungvoll und überschwenghch beschreibt Leopold alle Vorzüge des Congo, „der Indien an Fruchtbarkeit nicht nachsteht", subskribiert nur rasch —: Zum ersten, zum zweiten, zum driften Mal! Ein Los kostet hundert Francs und wenn es nach Leopold ginge, bloB zwanzig, denn auch die Armsten sollen zeichnen, das ist „Geld der Kneipe entrissen" und, was er beizufügen vergiBt, dann in seine leere Tasche gleitet. Aber da widersteht doch sogar sein Beernaert, der auch nicht in eine ErmaBigung des Emissionsstempels einwiüigen kann, es würde doch gar zu schlechten Eindruck machen, gerade den König der Belgier von einer allgemeinen belgischen Abgabe zu befreien. Leopold versteht dies nicht ganz; wo sein Vorteü im Spiel ist, entgehen ihm solche Feinheiten, aber er muB schlieBlich den Stempel zahlen ganz wie jeder andere Belgier. Hingegen laBt er durch Beernaert einen Druck auf die Banken ausüben, damit sie ihre Kornmissionsgebühr um ein Prozent ermaBigen. Dann irrt sich der König bei den Tabellen eines Ziehungsplanes und natürlich nicht zuseinemNachteil; Beernaert ist anfangs peinlich betroffen, aber der Irrtum jener Berechnung ist, Leopold gesteht es gleichgiltig und unbeschamt, durch allerhöchst ihn selbst verschuldet, schreibt dies mit seigneuraler Herablassung dem Minister, und nun schweigt sein konstitutioneller Vasall. EigentHch ist nicht einzusehen, was dies alles den belgischen Ministerprasidenten angeht, denn jene Anleihe ist eine finanzielle Angelegenheit des Congostaates, doch solche Unterscheidung gilt bloB, wo Belgien, niemals aber, wo Leopold aus ihr einen Vorteil zieht. Er quartiert seine Ministerien des Congo in den belgischen Regierungsgebauden ein, er verfügt über die belgische Regierung und verwendet überall den EinfluB des Königs der Belgier für sein afrikanisches Reich. Die Anleihe wird von dem Parlament ohne Widerspruch autorisiert; Leopold könnte also 150 Millionen von den belgischen Sparern erhalten. Doch es stellt sich heraus, daB sie gar keine Eüe haben. Erst ein Jahr spater wagt man, die Congorenten zur Zeichnung aufzulegen, und zwar nur armselige zehn Millionen zu 83 Prozent, aber auch das ist noch viel zu viel, alsbald sinken sie auf 73; der König muB sie zurückkaufen, es gelingt ihm nicht, den Kurs über 85 zu treiben; damit erlischt die Optionspflicht der Banken auf den Rest. Leopold will die belgische Nationalbank heranziehen, wie ein Ertrinkender nach allem greift; das ist natürlich unmöglich, das Volk ist nüchtern und argwöhnisch, die Welt paBt auf. Spater versucht man es mit sechzig Mülionen, die Banken haben sich geweigert, Lambert, der königliche Vertrauensmann, springt ein; weit über die Half te bleibt liegen, auch die andere Halfte strömt zurück, wiederum muB Leopold zurückkaufen, belehnen, Wechsel ausstel- len, seine Zivüliste zur Verpfandung anbieten, die Wechsel dann prolongieren lassen, die Glaubiger werden ungeduldig und drohen. Die Königin, die ihn nach übhcher Trennung einmal wiedersieht, ist erstaunt über die Veranderung seiner Züge; er scheint verfallen, der lange Bart plötzlich ergraut, seine Stimmung ver stort, fast verzweifelt. Obwohl ihr Schicksal noch immer an jenes ihres Gatten geknüpft bleibt, sieht sie seine Verzweiflung mit verborgener, vielleicht sogar ihr selbst unbewuBter Freude. So ist denn dieser starke Mann, der ihr Leben zerbrochen hat, doch von einem gerechten Schicksal bestraft worden, er sinkt, er fallt... Fallt er? Es sieht so aus, aber, bezeichnend genug, wir haben kaum ein anderes Zeugnis solcher Verstörtheit Leopolds als jene Schilderung seiner gekrankten Frau. Wenn die Kaufleute mit ihren unbezahlten Rechnungen drangen, die Schulden anschwellen, die Staatssekretare des Congo ratlos zum Souveran kommen, so verspottet er sie, lehrt sie die Tricks saumiger Schuldner, meint höhnisch: „Ihr seid wie die Leute, die unglücklich sind, wenn sie ruiniert sind oder von Selbstmord sprechen^ wenn sie Schulden haben! Daran denke ich niemals." Er streicht, Entbehrung markierend, eine Platte bei den taglichen üppigen Mahlzeiten der königlichen Tafel, er muB, was ihn schwerer an kommt, im Congo die Ausf ührung seiner Plane vertagen, er sucht neue Geldgeber und findet sie da und dort, denn ein König wie er kann auch mit EinfluB bezahlen. Aber Belgien ist zu schwerfallig, um ihm rasch folgen zu wollen, es ist auch zu klein, um es zu können, und so versucht er immer wieder, die Congorenten an anderen Börsen anzubringen. In Wien wehren sie sich, so soll Beernaert den österreichern drohen, daB alle österreichischen Werte in Belgien nicht mehr gehandelt werden, wenn die Congolose in Wien nicht zur Notierung zugelassen werden. Wieder einmal muB der König daran erinnert werden, daB die Privatangelegenheiten des Con- gosouverans keine Verbindung mit belgischen Staatsakten haben. Doch das Leben gestattet solche künstlichen Zweiteilungen nicht, und Leopold ist sehr lebendig. Das Geld verknecht sich, es hat Angst vor dem Congo, aber Leopold verfolgt es schonungslos, gebraucht alle Waffen und dringt in jeden Schlupfwinkel, wo es sich verbergen möchte. Immer wieder beruft er sich vor Kardinal und Nuntius darauf, daB sein eigentliches Ziel die Evangehsation sei, er bedrangt Leo den Dreizehnten in Rom mit Bitten, er moge als Oberhirt ihm helfen, und wenn man Leopold glauben möchte, was der Papst nicht tat, so ware der Congostaat eine Art Kirchenstaat, best immt ausscblieBhch für Negertaufen; doch der Staat sei unmöglich, wenn Leopold nicht Geld erhalte, also müBten die kirchHchen Kreise für die Zeichnung propagandistisch wirken, am liebsten möchte er, daB von jeder Kanzei aus gepredigt würde, es sei Christenpflicht, ihm möglichst viel Congolose abzunehmen, dies sei ein AblaB der Simden und erwirke die ewige Seligkeit. Und in einem solchen Briefe steht unmittelbar darauf zu lesen, es sei sehr wichtig, zwei groBe Bankiers, die auch Deputierte sind, für die Finanzierung zu gewinnen. Nichts kann stark, schmerzHch, erschütternd genug sein, um den König auch nur einen einzigen Augenblick von diesem Ziele abzulenken. Als sein Schwiegersohn Rudolph in Mayerling plötzlich geheimnisvoll stirbt, seiner Tochter Stephanie die Kaiserkrone entgeht, die Regierung ihm ihr Beileid ausdrückt, da antwortet er vor der Reise nach Wien: „Ich danke Ihnen für die Teilnahme, die Sie und Ihre Kollegen bei dem Unglück empfinden, das so jah über uns hereingebrochen ist. Ich kenne die Gefühle der Minister und zahle auf ihre Sympathie in der schrecklichen Prüfung, die Gott uns auferlegt hat. Tun Sie alles, was Sie nur tun können, um Herrn Van Neus zu helfen, noch einige Aktienpakete anzubringen, es ware mir sehr angenehm. Ich drücke Ihnen traurig die Hand." Man darf ruhig behaupten, daB seit Erschaffung der Welt in ahnlicher Lage kein anderer Mensch als Leopold einen solchen Brief hatte schreiben können: Prüfung von Gott. Pla>> zierung der Aktien angenehm. Oder Papst, Kirche, Bekehning und Werbung um zwei Bankiers. Nur Leopold allein konnte solche Empfindungsbriicken bauen und auf ihnen nicht schwindlig werden. Aber was hilft es? Die freiwilligen Zeichner finden sich nicht, die Banken weigern sich hartnackig, das Ausland gestattet nicht die Notierung, die Entwicklung im Congo erweckt wenig Vertrauen, die Schatze, die Leopold dort finden will, zeigen sich nicht, alles stookt dort, Stationen müssen aufgelassen werden. Leopold kann sich nicht tfittschen: Aus dem freien Willen von Zeichnem, mag er noch so sehr durch VerheiBungen und begeisterte Schilderungen angefeuert werden, kommen die Millionen nicht, die er benötigt, nicht nur um sein Werk fortzusetzen, sondern auch, um es nur auf recht zu erhalt en. Mehr noch: Der schmahlichste Bankrott nicht bloB des Congo, sondern seines Souverans ist unaufhaltsam, wenn ihm nicht der Griff in bisher zahe verteidigte Taschen gelingt. Das Volk, das sonst einem Staat gibt, wovon er lebt, hat am Congo weder Geld noch Taschen, es ist also vorerst für Leopold unverwendbar. So scheint es, als ob die Zweifler recht behalten, er wird einer höhnischen Welt das Beispiel eines Königs geben, der in Konkurs gehen muB. Aber es scheint eben nur so, und Leopold weiB zu genau, daB ein belgischer König nicht in Konkurs gehen kann; zu sehr ist seine Autoritat mit jener der herrschenden Klassen verbunden, sein Zusammenbruch würde auch sie treffen, sogar mit sich reiBen. Also ist er entschlossen, scharfere Mittel anzuwenden. Was ihm nicht freiwillig gegeben wurde, das muB erzwungen werden. Die belgischen Sparer wollen ihre Millionen nicht dem Congo anvertrauen; dann muB eben der belgische Staat an Stelle seiner furchtsamen Sparer tieten. Es wird nicht ausreichen, aber dann wird doch der tote Punkt überwunden sein, und sowie sie müssen, werden sie auch wollen. Übrigens hat Leopold noch andere Pfeile in seinem Köcher. Nein, die Königin hat sich geirrt, sie kermt ihn immer noch nicht; man kermt niemals, wen man haBt. Ihr Gatte wird nicht zusammenbrechen, der königliche Hofhalt nicht aufgelöst, mag er auch seine ganze ZiviUiste als Deckung anbieten, wohl wissend, daB Belgien seinen König nicht ohne SchloB, Adjutanten, Bediente, Kutschen, Park, Heizung und Licht verkommen lassen kann. Wie jeder, der siegen will, sieht er im entscheidenden Augenblick bloB das gebieterische Gebot der Stunde vor sich. Wie lautet es? Geld muB gefunden werden Zwei Drohungen standen ihm zur Verfügung, und man kann sagen, daB beide Revolver ungefahrhch waren. Denn es war Leopold unmöghch, sie abzuschieBen, ohne sich selbst zu treffen. Dennoch konnte er die Karte ins Spiel bringen, da sein Wille der starkere war und er besser zu bluffen verstand. Die erste Drohung war jene mit seiner Abdankung. Nach einem finanziellen und moralischen Niederbruch am Congo ware er tatsachbch als König undenkbar gewesen. Niemand aber, der Leopold kannte, konnte sich ihn vorsteUen, freiwülig auf die Krone verzichtend. Dazu war sein Herrscherwille zu ungebrochen, seine Aktivitat zu leidenschafthch. Hingegen konnte man sich auch 1890 ein Belgien ohne Leopold den Zweiten denken, wenngleich der anhebende Kampf um das Wahlrecht, die soziale Garung einen festen und weitbbckenden Herrscher sicherlich gerade damals erforderten. Tatsachbch hat der König in verhüllten Worten mehrmals angedeutet, er könne nicht König bleiben, wenn das Land sein nur Belgien gewidmetes Streben verkenne, das ihn an den Congo geführt hatte. Doch er hat wohl gespurt, daB es gefahrlich ware, dies zu sehr zu betonen oder deutlich auszusprechen. Er war miBtrauisch, er wuBte, wie unbequem er vielen geworden war, so muBte er fürchten, beim Wort genommen zu werden. Viel ernster war seine zweite Drohung: ihre Durchführung hatte Belgien tatsachlich mitten ins Herz getroffen. „Eine Liquidation des Congo würde eine VerauBerung an Frankreich sein (damals war das Abkommen mit Frankreich noch nicht geschlossen, das Belgien die erste Servitut auf den Congo zugestand); sie würde mir persörüich Gewinn bringen, aber unserer Neutralitat schaden; weder Deutschland noch England würden dies Belgien verzeihen. Also: Geld muB gefunden werden." Der König war unermüdhch, immer wieder darauf hinzuweisen, daB er mit dem Congo-Unternehmen Belgien ein groBes Opfer bringe, er mühe sich ab, er werde von Glaubigern bedrangt, habe sein persönhches Vermogen hingegeben und er könnte jederzeit 'durch Verkauf des Congo aller Sorgen ledig sein und viele Millionen verdienen. Die Drohung war stets verhüllt, sie hob bloB den Edelmut des Monarchen scharf er hervor. Nein, er wird den Congo nicht verkauf en, er bewahrt ihn für Belgien auf, dem dort sich ein reicher Markt und ungeheure Möglichkeiten öffnen, aber was geschieht, wenn Leopold nicht weiter kann? Dann muB er doch verkaufen, und da ware es allein nützlich und würdig, wenn Belgien selbst der Kaufer ware. Nun ist das Volk wenig gewült, sich in ein bedenkhches Abenteuer zu stürzen, und also muB ihm der Glauben gelassen werden, daB seine EntschluBf reiheit gewahrt bleibt. Und gleichzeitig wünscht Leopold natürlich, solange er lebt, unumschrankter Herr im Congo zu bleiben. Beides scheint unmöglich zu vereinigen, aber vielleicht laBt sich doch etwas konstruieren, das über die Not des Augenbhcks hinweg hilft, Leopold einige ZusatziniUionen verschafft und Belgien morahsch so bindet, daB es morgen das tun muB, was es heute durchaus noch nicht tun will. Dazu muB zuerst einmal eine moralische Pflicht Belgiens festgestellt werden; Leopold ist unermüdlich bemüht, diesen Gedanken in alle Köpfe zu hammern. Dann muB gezeigt werden, wie bedenklich es ware, wenn Belgien solcher Pflichterfüllung ausweicht und wie es sich damit in Konflikt mit jenen groBen Staaten brachte, von denen seine Existenz abhangt. Endhch aber gilt es, eine Form zu finden, die trotzdem Belgien weder zur Übernahme des Congo noch zu unbegrenzten Leistungen zwingt, also die Schaffung einer belgisch-afrikanischen Kolonie in die Zukunft rückt, aber die Zahlung an Leopold in die gegenwartigste Gegenwart. So werden wir nun sehen, wie er zwei Wege beschreitet, auf denen er vor Jahren zu seinen groBen Erfolgen kam: den Verkauf seiner Erbschaft und die Einberufung eines internationalen Kongresses. Er ist in einem Alter, in dem auch die Starksten dazu neigen, ihre schöpferischen Eingebungen zu variieren, und hier war dies besonders lockend, wo der glückliche Ausgang des ersten Males die Wiederholung empfahl. Besonders vollendet ist die Kunst, mit der er seine eigene Notlage auszuwerten und aus seiner Verschuldung wie aus der Stockung im mittellos gewordenen Congostaate Nutzen zu ziehen weiB. Immer ist die Verantwortung den Anderen zugeschoben. Das französische Vorkaufsrecht war nicht etwa ein gewagtes Mittel, durch das er sein Belgien in die Gefahr eines Konfliktes mit den Garanten seiner Neutralitat brachte, sondern er sicherte dadurch Belgien ein afrikanisches Imperium; wenn es dieses nicht finanzieren will, so ist dies wiederum nicht Leopolds Schuld. Wenn Leopold sich in Schulden gestürzt hat, so heB er nicht etwa abenteuerlich sich auf ein Wagnis ein, das über seine Kraft ging, sondern er wollte, Behagen, Vorteü, sein Vermogen preisgebend, seinem geliebten Volk eine groBe und aussichtsreiche Kolonie verschaffen. Kommt er dann den- noch jahrelang am Congo nicht weiter, wird pohtisch und wirtschaftlich die Entwicklung aufgehalten, so tragen bloB jene die Schuld, die kurzsichtig die Kittel zum Ausbau ihm verweigem. Er hat zuviel Verantwortungsgef ühl, um solchen Zustand andauern zu lassen, er achtet zu sehr den freien Willen eines Volkes, das sich selbst regieren will; er denkt nicht etwa daran, seine Belgier nötigen zu wollen. Nur, er gibt ihnen eine Gelegenheit, die so offenbar gunstig ist, daB sie nicht umhin können sie zu ergreifen. Er hat seinerzeit den Franzosen die Nachfolge nach ihm am Congo geschenkt, und das Geschenk war die glanzendste diplomatische Kapitalsanlage für den Schenker. Schon hat sein Unterhandler in Paris jene Gabe ihres Wertes berauben können, indem er das Vorrecht Belgiens durchsetzte, das die Franzosen schheBHch dem König der Belgier nicht wohl abstreiten konnten. Leopold wird nunmehr, da die Wechsel sich nicht mehr prolongieren lassen und man die Zusendungen nach dem Congo fortsetzen mufi, seine Erbschaft nochmals verschenken. Diesmal an Belgien, und es wird wiederum ein vortrefniches Geschaft sein, mindestens Zeitgewinn in sctüimmster Bedrangnis. So sendet Leopold sein Testament an Beernaert, jenes beispiellose Schriftstück, in dem zwanzig Millionen Menschen und zweieinhalb Millionen Quadratküometer Boden wie eine Zimmereinrichtung erbrechtlich vermacht werden, und indem er spendet, öffnet er endhch die Taschen der Belgier, es ist nur ein kleiner erster Griff; unbesorgt, die nachsten werden ergiebiger sein. Wir Leopold der Zweite hinterlassen GewiB hat es sich schon ereignet, daB jemand das Recht auf seine Erbschaft verkauft hat, kaum jemals vor Leopold wird er aber dazu die eigenartige Form einer pathetischen Schiebung gewahlt haben. Das Testament sollte feierlich wirken, groBmütig scheinen, ihm alle Gefühle der Belgier und einige ihrer Franken gewinnen, und schheBlich muBte es noch in seiner Auswirkung vieldeutig sein. Der König hatte mit Beernaert verabredet, daB Belgien in einem Gesetz dem Congostaat 25 Millionen zur Verfügung steilte; fünf auf die Hand, zwanzig in zehn Jahresraten. Dann konnte Belgien sich 1900 entscheiden, ob es den Congostaat übernehmen oder von diesem die Rückzahlung des Darlehens verlangen wollte. An sich hatte das Testament damit gar nichts zu schaffen; aber es war doch die psychologische Voraussetzung des Vertrages. Der König erklarte in seinem Briefe nochmals alle Vorteile, die Belgien aus der Kolonie ziehen würde, enthüllt nicht ohne SelbstgefaUigkeit die Wunden, die sein Vermogen am Congo erlitten hatte und erklarte Belgien als Erben seiner international beglaubigten Souveranitatsrechte. Nur wenn Belgien gewiB war, daB der Congo ihm gehören würde, war die Zahlung der 25 Millionen denkbar. Aber es wollte keinesfalls zur Übernahme des Congo gezwungen sein, und der Vertrag bekraf tigte ausdrücklich, daB Belgien in seinen Entschlüssen frei bheb. Es war 1900 frei, zwischen Erwerbung und Rückzahlung zu wahlen, und es war ebenso frei, ob es nach Leopolds Tod die Erbschaft antreten woüte. Nur Leopold selbst war gebunden. Seltsam genug hat niemand damals sich mit der heiklen Frage beschaftigt, ob Souveranitat privatrechtlich wie ein bloBer Vermögenswert vererbt werden könne, und ganz unerörtert bheb auch, was denn mit dem Congo geschehen würde, falls Belgien ihn weder 1900 noch nach Leopolds Tod zu erwerben wünsche. Wenn seine Erben das Reich nicht übernehmen konnten oder wollten, so -hatte sich der phantastische Zustand ergeben, daB ein ungeheures Gebiet plötzlich herrenlos geworden, und eine sozusagen völkerrechtlich sanktionierte Anarchie eingetréten ware. Aber nur das Volk des Congo hatte hier protestieren können, und dieses Volk war staatsrechtbch völhg willenlos, und man darf vermuten, daB die Schwarzen gar nichts davon erfuhren, wie in Brüssel fiber sie verfügt wurde. Sie wurden durch Leopold vertreten, und er war entschlossen, sein Imperium bis zu seinem letzten Atemzuge zu bewahren. Dann muBte Belgien doch das Reich übernehmen, ob es wollte oder nicht, es gab gar keine andere Möglichkeit. Nur lag es nicht in Leopolds Interesse, daB dies zu genau durchdacht oder gar plump ausgesprochen wurde. Leopold wollte den Eindruck erwecken, zu schenken, aber tatsachbch befi er sein Erbversprechen sich bezahlen. MaBig im Vergleich mit dem wahren Werte des Gebietes; indessen waren die 25 Milbonen, welche den Belgiern die gesamte Kaufsumme schienen, in Wahrheit für Leopold bloB eine kleine Anzahlung. Die Bedingungen muBten so verführerisch locken, daB kein Mensch in Belgien Nein sagen konnte, und tatsachbch ging dann auch das Gesetz ohne jeden Widerspruch durch. Und gerade durch die Harte der Bestimmungen war der König, so seltsam es khngt, am besten geschützt, mindestens ein König wie Leopold, der mit seinem eigenen Volke ein solches Geschaft abgeschlossen hatte. Denn was konnte geschehen, wenn Leopold nach Vertragsablauf einem Belgien, das den Congo nicht zu übernehmen wünschte, die 25 Millionen zurückzahlen muBte ? Doch nur (hes: Er würde sie nicht bezahlen. Woher hatte er sie auch nehmen können? Das Land konnte ihn doch nicht wohl pfanden, und vermutbch hatten dann andere Glaubiger sich auf frühere Rechte berufen. Was immer auf dem Papier stand und die Deputierten und Minister in der Kammer beruhigend sagten, war bloB abstrakte Wahrheit. Die konkrete hingegen ergab: Leopold war nicht gebunden. Wohl aber war es überaus wahrscheinbch, daB er, wenn es notwendig würde, mit weiteren For- derungen an Belgien herankommen würde. Denn sowie es bereits zehn Millionen für die Congobahnen und nun noch 25 Millionen hergegeben hatte, stand es unter dem psychologischen Zwang, diese Summen spater nicht verloren zu geben und auch weiteres Geld nachzuwerfen. Verweigerten es die Belgier, so bedeutete dies rnindestens nachtraglich eine moralische Entlastung für den König. Man hatte also sagen können, daB ihn der anscheinend so drückende Vertrag nur scheinbar belastete, wenn es nicht tatsachbch in ihm zwei ernsthafte Gefahren gegeben hatte. Die erste war die vom Congostaat übernommene Verpflichtung, keine weiteren Schulden ohne ausdrückliche Einwüligung Belgiens innerhalb des Jahrzehnts ï.890— 1900 aufzunehmen und Belgien vollkommenen Einbhck in die Gebarung des Staates zu gewahren. Die zweite war der Verfallstermin; Leopold wollte das Land bis zu seinem Tode behalten, aber schon 1900 konnte Belgien ihm sein Imperium abnehmen, und Leopold war durchaus entschlossen, über 1900 hinaus zu leben, so genieBend und herrschend wie möglich. Wenn er sich trotzdem zu diesem Vertrag entschloB, so geschah es, weü er zur Abwehr der beiden Gefahren über zwei ausgezeichnete und unwiderstehliche Gründe verfügte. Da war vorerst einmal der Zwang, unter dem er stand; er muBte sofort sich Geld beschaffen, und anderweitig war es nirgends zu fin den. Dann noch sein sicheres Gefühl, das vermutlich auch schon sein geheimer EntschluB war: den Vertrag nicht einzuhalten. Er wird, wenn es notwendig würde, trotzdem für den Congo neue Schulden machen, er wird weder Abrechnungen an Belgien senden, noch sich in Brüssel irgendwie hineinsprechen lassen, und schlieBüch wird er auch nach 1900 den Staat behalten; er traute sich durchaus zu, dies 1900 zu erreichen. Jedenfalls hat er zehn Jahre und 25 Millionen gewonnen mit der Anwartschaft auf weitere, und Belgien hatte dafür als Gegenwert nur einen Fetzen Papier. Hielt man sich an die Worte, die auf diesem Fetzen Papier standen, dann allerdings war Belgien ein Wucherer und der arme Leopold ein Opfer seines ihn ausbeutenden volkes. Aber wenn Leopold sich nicht an diese Worte hielt, dann war es ein ausgezeichnetes Geschaft für ihn, und also scheint das Mitleid, das in der Kammer Frère-Orban dem geschadigten König aussprach, verfrüht und übertrieben. Nein, Belgien hat seinen König mit dem Vertrag nicht hereingelegt. Das Gegenteil laBt sich nicht eben so unbedingt behaupten. Denn als bald darauf wieder kein Geld in der Congokasse war, da lieh sich Leopold fünf Millionen bei dem Antwerpener Bankier Brownde Tiège aus; sehr geheim, denn es war ein runder, klarer Vertragsbruch. Und 1894 war Leopold gezwungen, ihn einzugestehen, denn das Darlehen muBte zurück gezahlt werden und Belgien die Schuld übernehmen. Aber niemand war so unzart, Leopold auf seine VergeBHchkeit aufmerksam zu machen, niemand auch jemals neugierig genug, vom Congosouveran irgendwelche Abrechnungen oder genaue Mitteüungen über das bevorschuBte Afrika zu verlangen; der Erbe wartete ergeben, was dem Erblasser beliebte und übersah geflissentlich, daB er für jenes Erbrecht immerhin schon 25 Millionen bezahlt hatte. Noch mehr: Als jene zehn Jahre verflossen waren, da heB Belgien die Frist verstreichen, obwohl jetzt Beernaert dagegen auftrat, Beernaert, bei dessen Rücktritt Leopold geweint, der Getreueste seiner Getreuen, auch er nunmehr gekrankt und Mann der Opposition. Aber Belgien verlangte rooï weder den Congo noch Rückzahlung und Zinsen von 30 Mühonen, es bewahrte bloB sein nacktes und durchaus theoretisches Annexionsrecht. Jedermann wuBte eben, daB Leopold unter keinen Umstanden den damals schon zur Goldgrube gewordenen Congostaat hergeben würde; er war wohl früher bereit gewesen, ein Denzit, nicht aber heute, einen ÜberschuB abzutreten, Beernaert schwieg ge- 16 krankt und wurde überstimmt; Parteien und Regierung scheuten Skandal und Konflikt, und also hatte Leopold wieder einmal richtig gerechnet, vertrauend auf seine vom Schicksal ihm gewahrte Kr aft, immer zu nehmen und niemals zu geben. Es ist leicht, ihn zu belacheln; es fallt schwer, ihn nicht zu bewundern. Er bat mit groBen und feierbchen Worten seine Anstrengungen und Opfer vor Belgien geschildert, er hat sich vor aber Welt selbst aufgebahrt, um damit Geld zu holen. Es ware ungerecht, darin blofi Heuchelei zu sehen; sie war unlösbar auch mit Wahrheit gemischt, und indem er mit List und Wortbruch seine eigene Macht mehrte, hat er doch auch als groBer König gehandelt. Denn er wollte für sein übervölkertes Belgien mit Recht (dem Recht des Imperialisten und des voraussehenden Politikers) ein groBes Gebiet, das ihm Rohstoffe heferte; für das starkste Exportland des Kontinents war dies besonders unerlaBhch. Er sah, daB sein Volk dazu noch nicht bereit war, er selbst jedoch hatte dafür alles gewagt, nun gab es kein Zurück mehr, er ware dabei gestürzt und Belgien der wertvoll scheinende Besitz entgangen. Also war er gezwungen, List anzuwenden, die Belgier in die Falie zu locken und sie, gewiB zu seinen und, wie er sicherbch meinte, auch zu ihren Gunsten ein wenig zu betrügen. Morabsten mögen ihn verachten. Aber Moralisten gronden keine Reiche, lenken keine Völker und hinterlassen nicht gehaufte Goldmübonen. Dazu gehort eine Persönlichkeit wie Leopold und, aus ihr aufsteigend, noch etwas. Was denn? Ein glanzender Einfall Nein, man muB von glanzenden Einfallen sprechen; die Einzahl anwenden, heiBt Leopold verkleinem. Nicht immer sind sie erfolgreich, dann stellt sich eine von ihm unabhangige Entwicklung gegen ihn; oft geht die Unbedenklichkeit seiner Einfalle ins Abscheulicbe, ihre Kühnheit ins MaBlose. Manchmal aber sind sie wie bei dem Anerbieten seines Erbes schöpferisch; zweimal rettet er sich damit sein Afrika; zuerst indem er es dadurch grimden, dann indem er es erhalten kann. Ein Beispiel der ersten Kategorie: General Boulanger, halber Rebell, ist nach Brüssel geflüchtet; Leopold darf annehmen, daB er, so nahe Frankreich, der französischen Regierung gefahrlich erscheinen könnte. Er möchte ihn gerne als Pfand behalten. So schreibt er an Beernaert, es ware „ein glanzender Einfall", bei dieser Gelegenheit die französische Regierung an ihre Verpflichtungen gegen den Congostaat zu erinnern. Er will durchaus Boulanger aus Belgien nicht abreisen lassen. „Man soll Boulanger warnen, aber ich glaube, es ist besser (man kennt die Zukunft nicht) dies in aller Höflichkeit zu tun." Und dann wiederum: „Boulanger ist unsere letzte Karte." Zu sagen: Boulanger ist pohtischer Flüchtling, Belgien güt als freiestes Land, Leopold aber nimmt den verunglückten Diktator bloB als eine gute Gelegenheit, die französische Regierung zur Notierung der Congorenten an der Pariser Börse zu nötigen. Aber da vielleicht Boulanger ein neuer Louis Napoleon werden könnte, soll man sich immerhin auch mit ihm verhalten. Ein glanzender Einf all, nmriecht er nicht gut. Andere folgen. Der Kardinal Lavigerie sucht den Kampf gegen den Sklavenhandel zu organisieren. Von der Kanzei der Sainte Gudule in Brüssel ruft er die Christenheit zu diesem heiligen Kriege auf, und der König, der in argwöhnischen Augenblicken den Kardinal für eine Art von sehr gefahrlichem französischen Agenten halt, erkennt, welche Möglichkeiten diese fromme Propaganda ihm öffnet. Er rechnet sie sich in Geld aus; dies ist nicht nur seiner Natur gernaB, sondern angesichts seiner Notlage (erst ein halbes Jahr spater wird der Vertrag mit Belgien unterzeichnet sein) zwingende Notwendigkeit. Hier in Brüssel beschritt er mit der Geographiekonferenz die erste Stufe seines Höhenweges; nochmals soU eine Brüsseler Konferenz ihm helfen, und wieder verschweigt er sogar vor den Vertrautesten seine wahren Absichten. Er will nicht weniger erreichen als die Revision der Berliner Akte, welche ihm am Congo die Hande binden. Er hat auf Einfuhrzölle verzichten müssen, er nennt jenen erzwungenen Verzicht heute ein „diplomatisches Verbrechen", er wird plötzlich zum Moralisten, der es für unsittlich erklart, einen Staat zu grimden und zugleich ihn aller Existenzmittel zu berauben, und vergiBt dabei nur: daB niemand ihn an den Congo gerufen hat, daB er dorthin ging nicht als Staatengriinder, der sich eine Kolonie schaffen will, sondern als uneigennütziger Mann der MenschHchkeit, als Förderer der Wissenschaft und als Christ. Was alles gar nichts mit Einfuhrzöllen zu tun hat. Und daB dann er selbst, um die Anerkennung der A. I. A. als Staat durchzusetzen und die Portugiesen zu überbieten, mit dem Angebot der Handelsfreiheit hervortrat. Damals war sie als Versprechen notwendig, heute ist sie als Tatsache ein Hindernis, und Leopold ist entschlossen, es zu beseitigen. Aber er kann keinen offenen Vertragsbruch wagen, also wül er die Revision, und dazu muB er alle Staaten um sich beisammen haben. Ferner darf er ihnen vorher garnichts andeuten, denn sonst kommen sie natürlich nicht nach Brüssel zur Konferenz. So laBt er Lavigerie weinen, beschwören, predigen, donnern, und dann ladet er alle Unterzeichner der Berliner Akte ein. Zweck: Bekampfung des Sklavenhandels, Schutz der Neger und, dahinter versteekt, Schutz der WeiBen vor den Schwarzen. Unmöglich, hier abzulehnen: Materiell wie moralisch soll ein unzweifelhaftes gemeinsames Interesse der sich selbst zivilisiert nennenden Staaten géfördert werden. Im Oktober 1889 beginnt die Konferenz, wieder ist Leopold ihr geistiger Mittelpunkt, sind Diplomaten, Afrikaforscher, Missionare um ihn, nochmals wird die Kreuzfahrerstimmung heraufbeschworen, zur selben Stunde, da es „am Congo Wechsel regnet und was für Wechsel!" Die Vertreter bezeugen besten Willen, sind eifrig mit Antragen. Nicht nur Verbot des Sklavenhandels, sondern Verhinderung von Skla ventransporten, Verbot des Waffenverkaufes, Kontrolle über die Ausgangspunkte der Skla venjager. Zur Rettung der Eingeborenen wird sogar an ein Verbot der Alkoholeinfuhr gedacht und immer gehören die Delegierten des Congostaates zu jenen, deren Antrage am weitesten gehen. Die Waffenhandler, die Brauer hingegen lassen durch ihre Diplomaten drangen, man dürfe nicht ganz das Geschaft vergessen, doch die extremsten Antrage werden trotzdem angenommen; so scheint ein rascher und erfolgreicher Verlauf der Konferenz gewiB. Bis eines Tages der König seine Delegierten ins SchloB beruft und ihnen einen Auftrag erteüt. Als bei der nachsten Sitzung das ProtokoU unterzeichnet werden soU, bittet der Chef der Congo-Delegation um das Wort, er hat eine Erklarung abzugeben. Der Souveran des Congostaates habe Gewissensskrupeln; wenn er aus Mangel an Mitteln nicht in der Lage sei, die zu übernehmenden Verpflichtungen zu erf üllen, so müsse augenbhcklich festgelegt werden, daB niemand deshalb gegen ihn einen Vorwurf erheben dürfe. Alle Welt ist verblüfft; die Erklarung schlagt wie eine Bombe in den Saai. Denn sie bedeutet, daB der Congostaat sich das Recht vorbehalt, Sklaventransporte auf seinem Boden nicht zu verhindem, dort Gewehre und Schnaps und alle Kriegsmittel an die Eingeborenen für Raubzüge und Auf stande in den anderen Koloniën zu ver kaufen; ganz Afrika ware dadurch aufs auBerste gefahrdet, die Konferenz nicht bloB gescheitert, sondern eine unertragliche Lage für alle geschaffen. Die Diplomaten schweigen betreten; sie scheinen einen Antrag zu erwarten, der aber vorerst nicht er- folgt. Denn es ist klar, daB bier ein bestirnmter Wunsch Leopolds erfüllt werden soll durch das Mittel der Pression; seine Skrupel müssen ihm in klingender Münze abgelöst werden. Der deutsche Vertreter, der einzige, den der König in sein Spiel eingeweiht und dessen Zustimmung er sich schon vorher gesichert hat, fragt an, ob die Congodelegation etwas vorzuschlagen hatte. Nein, sie hat keinen Antrag; man beschlieBt, drei Tage zu warten, damit sie neue Instruktionen einholen könne. Dann fallt die Maske; Leopold wül das Recht haben, zehn Prozent Einfuhrzölle zu erheben. Das kann die anderen einige hunderttausend Franken jahrlich kosten; ein Scheitern der Konferenz ware aber nicht bloB ein Weltskandal, sondern es würde an SchutzmaBnahmen und nim'tarischen Sicherungen in Afrika ein Vielfaches beanspruchen. Hatte sich Leopold nicht durch das Geheimnis geschützt, so waren die anderen Staaten nicht nach Brüssel gekommen oder hatten vorher von ihm Verzicht auf seine Forderung verlangt; so aber hatte er sie überrumpelt und sie waren gefangen. SauersüB wird er in der SchluBtagung ofhziell gefeiert, doch die moralische EinbuBe durch seine Erpressung, die Verbindung von Bekehrung und Sklavenbehandlung mit Geschaft ist vielleicht ein zwar glanzender, aber doch gar zu peinhcher Einfall. GewiB, Leopold hat gesiegt, aber er hat bei seinem Siege viel verloren. Vor allem seine altesten und treuesten Helfer. Émüe Banning, der groBe Journalist, sein glühender, reiner und leidenschaftlicher Propagandist trennt sich von ihm, ebenso Lambermont, der in Berlin für Leopold kampfte und eben auch in Brüssel Prasident der Konferenz war, die Paladine des Congostaates wehren sich. Leopold duldet keinen Widerspruch; es entsteht eine Feindschaft bis zum Tod. Banning schreibt aufgeregte Memoiren, die erst ein Kenschenalter nach seinem Tode veröffentlicht werden und voU Bitterkeit sind; in seinem Grimm hat er sich der Königin genahert und sie mengen beide ihr Gift zusammen, die verlassene Frau und der geniale Krüppel. Banning hatte sich einen idealen Leopold ertraumt, Menschenfreund und Schaff er eines groBen Belgiens, es empört ihn, wie dieser Traum nun aufhört und er die Wirklichkeit sieht: den Mann, der für seine Mitwirkung an Negerhebung und Seelenrettung Geld erpreBt. Leopold sucht ihm verst andlich zu machen, was unbezahlte Wechsel und leere Kassen sind, daB zuerst das Geld notwendig sei, dann könne man an Ideale denken. Doch Banning versteht dies durchaus nicht, seine Enttauschung führt ihn zu einer Heftigkeit, die der gereizte König nicht ertragt, er wird Banning bei keinem Empfang mehr grüBen, er sieht hochmütig vor aller Welt durch diesen Mann, der seine starkste Hilfe war, als ware er Luft, und kaum besser ergeht es Lambermont. Leopold benötigt Werkzeuge, keine Genossen, und die Wege des realistischen und des ideologischen Imperialisten trennen sich hier. Banning wollte für sein kleines Vaterland ein groBes Imperium; Leopold für sich, den groBen König, ein groBes Reich. Immer deutlicher wird er dem Büde unahnlich werden, das Banning sich von ihm gemacht hat. Aber noch ist einer da, der immerzu an ihn glaubt: Stanley, dessen Schnurrbart schon schneeweiB wurde, der immer aber weiterhin in Leopold bloB den Traumer und groBen Menschenfreund erblickt. Nach dem Ablauf der Konferenz erscheint Stanley zur selben Zeit, da Belgien endhch mit dem Geld herausrückt, in Brüssel, und diesmal kommt er ganz omziell, wird er nicht versteekt, nein, Brüssel huldigt ihm, er halt eine Versammlung ab, in der er die Belgier lehrt, die ganze Uneigennützigkeit ihres Königs zu erkennen, und Leopold, der ihm als Ersten das GroBkreuz seines neuen Ordens, des Afrikasternes, umhangt, laBt ihn lange erzahlen, er kann ihn nun hier noch einmal brauchen, und es interessiert ihn wohl auch, etwas von diesem fernen Afrika zu vernehmen, das er beherrscht, aber niemals betritt. Der aberglaubische König hatte Stanley immer wie einen Talisman betrachtet, schatzte ihn als Glücksbringer. So hatte er ihm auch für seine halb groteske, halb triumphierende Rettung Emin Paschas, der gar nicht gerettet sein wollte, die ganze Congoflotte air Verfügung gestellt. Spater fordert Leopold, von der Verwaltung des Congostaates unbefriedigt, Stanley auf, dorthin zurückzukehren. Aber Stanley lehnt ab, schimpft in seinen verschwiegenen Tagebüchern über die unfahigen Omziere und die schmahliche Verwaltung des neuen Staates, und will weiter nichts mehr mit dem Congo, der ihn enttauscht hat, zu schaffen haben. Aber seine Enttauschung wendet sich nicht wie bei Banning gegen Leopold selbst. Dazu dachte er nicht scharf genug, war seine Eitelkeit noch zu satt. Der König feiert nun sein persönliches Jubilaum: Ein Vierteljahrhundert seit seiner Thronbesteigung. Die Stimmung im Lande bei den Bürgem ist gut, sie benötigen den König gegen die aufsteigende Begehrlichkeit der entrechteten Masse, die sich drohend meldet. Er hat sein Imperium, in das er sein ganzes Vermogen gesteckt hat und für das er sich in Schulden stürzte, dem Lande vermacht, sein Edelsinn ist also bewiesen. Alle hoffen, daB nun am Congo alles in Ordnung kommen wird. Nur Leopold weiB es besser. Sicherlich, er hat gesiegt, er hat nunmehr die Zölle, aber sie werden, da es keine Kaufer und Verbraucher am Congo gibt, fast nichts einbringen, und er hat auch die paar Millionen von Belgien, die aber vertrocknen, bevor sie hinströmen. Denn es ist viel zu wenig, und niemand erkennt dies genauer als der König, der so lange ungeduldig gewartet haf. Alles ist noch zu machen, alles 1 Der Congostaat ist viel zu klein, die Grenzen unsicher, begehrliche Rivalen ringsum, und Leopold sieht ungeheure Aufgaben vor sich, Möglichkeiten, die seiner glühenden Phantasie sofort zu Notwendigkeiten werden; gierig zuckt seine starke Hand; für wen ist diese Welt groB, für wen ist sie reich? Für ihn allein. So viel will er raffen, durchsetzen, erzwingen: das Imperium verdoppeln und es eintraghch machen. Er weiB nicht, wie ihm dies gelingen kann, aber er weiB, daB es ihm gelingen muB. Dabei wird er immer wieder weiterhin um neue MilHonen zu kampfen haben; denn in so viele Taschen er auch gegriffen hat, es reicht nicht aus, um auch noch nach so vielen Landern zu greifen. GRIFF NACH VIELEN LANDERN Feind im Haus |UR der Verleumder wird sagen, daB Leopold I sein Wort nicht halt; er halt es sogar immer, wo -JL. ^| es in seinem Interesse liegt. Im Zeichen des Krieges gegen die Sklavenhandler hatte er seinen Aufstieg begonnen, nun eben noch in Brüssel die Konferenz einberufen, bei der er dafür den Gegenwert in Zöllen erhielt. Jetzt kann er endhch versuchen, ans Werk zu gehen und sein Versprechen einzulösen, so knapp auch seine Mittel, so betrachthch seine Gegner sind. Leopold beginnt, vom Kardinal Lavigerie und einigen frommen Gesellschaften unterstützt, seinen Kampf gegen die Sklavenhandler. Viele seiner Zeitgenossen, auch solche, die spater ihn strenge verurteüten, meinen, daB er anf angs die Befreiung und Hebung der Neger aufrichtig als sein Ziel betrachtete und erst spater Geldnot und Herrschsucht ihn von seiner ursprünghchen frommen Absicht abgelenkt hatten. Wer diesen Menschen mit der Erbschaft seiner vaterlichen Eigenschaften, seiner inneren GeschlossenheitundunMndigemlchtrieb.seinemlangegeduckten, schon im Jüngling heftigen Machthunger erkannt hat, der wird vermuthch finden, daB solche sanften Verteidiger ihm Unrecht tun und seine ungütige GröBe verkleinern. Jedenfalls aber ist es als Ergebnis festzustellen: Wenn Leopold mehr und erfolgreicher als irgend ein Anderer die Neger Zentralafrikas von den Raubzügen der Sklavenhandler erlöste, so hat er sie für sich, nicht für sie selbst befreit. Dem Kardinal Lavigerie, der in überschaumender Dankbarkeit ausruft, die Nachwelt würde den König an die Spitze der gröBten Wohltater der Menschheit stellen, sendet die Nachwelt diesen ven einem heiligen Idealisten auf sie ausgestellten Wechsel unter Protest an die Weltgeschichte zurück. Dies sagt nichts gegen den gewaltigen Mann, der so nebenbei auch die Sklavenhandler vernichten lieB, es entfernt ihn nur von einem Platz, auf den er nicht gehort: jenen der Moral, und steilt ihn dafür dorthin, wo er gebietet: in die Tat. Sein afrikanisches Haus wollte er so groB wie möglich und sich selbst Herr im Haus; die Existenz von Feinden, die brandschatzend einfielen und die Menschen verschleppten oder töteten, war damit unvertraghch; Leopold muBte entschlossen sein, die Neger zu schützen, schon weil es seine Neger waren. Dar aus entstand für alle Staaten mit afrikanischen Besitzungen eine gemeinsame Aufgabe, da es in unbewohnten Gebieten keine festen und abwehrenden Grenzen gab. Es war die Voraussetzung für alle künftigen Fortschritte und Eroberungen; doch Leopold war viel zu ungeduldig, eines nach dem anderen zu tun, so versuchte er, sowie er nur irgendwie es vermochte, alles zugleich. Kaum hatte er 1890 das Geld Belgiens, so ungenügend es war, erhalten, so begann er, seinen Staat gleichzeitig zu sichern und zu erweitern. Die Sicherung war einem Leutnant Dhanis und seinen jungen ehrgeizigen Offizieren anvertraut. Leopold folgte dem vorsichtigen Rat von Stanley, wantte eine nicht zu weit vorgeschobene Operationsbasis, und dann fing jener Krieg im tiefsten Afrika gegen die arabischen Sklavenhandler an, der zwei Jahre überdauerte und voll unvorstellbarer Greuel war. Die Araber, kriegerisch und mit Feuerwaffen bewehrt, kamen von Osten über Tanganika ihren uralten Rauberweg, die kleinen Scharen Leopolds mit ihren rasch gedrillten schwarzen Soldaten lieferten ihnen zahllose Gefechte. Niemand kann die Zahl der Toten abschatzen, viele geben sie mit siebzigtausend an, der gefangene Feind und die Gefallenen waren Nahrung finden Sieger, die Neutralen dienten als Proviant, die Stamme wendeten sich je nach der wechselnden Kriegslage bald den WeiBen, bald den Arabern zu, die Bedrohten verlieBen ihre Dörfer und flohen in die Wildnis, wo sie ver- hungerten. Das Ergebnis war, daB der Sieger über die Araber, der Leutnant Dhanis, als erster Kriegsheld Belgiens von Leopold zum Baron erhoben wurde, was ihm nachher nicht gut bekam, denn von da an verlieB ihn sein Kriegsglück. Doch die Araberwaren nach zahem Widerstandvernichtet, Tippu-Tib, den Stanley, um ihn besser kontrollieren zu können, einst zumWali von Stanleyville ernannt, hatte sich schon vorsichtig vorher zurückgezogen und in seinem Zanzibar weniger bestrittene Erwerbszweige gesucht; die Neger muBten nun nicht mehr die Araber fürchten, sie waren einen sehr sclüirnmen Feind los; aber andere noch schlimmere traten an seine Stelle: die Schlafkrankheit und der Congostaat. Es war Leopold nicht bestimmt, dieses Sieges froh zu werden; sowie im Frühjahr 1894 die letzten Schwarme der Sklavenhandler vernichtet waren, hatten sich die schwarzen Soldaten des Congostaates an mehr eren Orten gegen ihre weiBen Omziere erhoben. Ware ihr Aufstand zwei Jahre früher losgebrochen, dann ware nichts von einer mehr als zehnjahrigen Arbeit Leopolds übrig geblieben. Aber diese Verspatung des Aufruhrs war kein Zufall, denn er entstand ja eben aus der Büdung eines schwarzen Heeres, wie es zum Kampf gegen die Sklavenhandler unerlaBlich war. Die Neger bekamen Feuerwaffen in die Hand, sie hatten Gelegenheit, die Schwache der emdringenden WeiBen zu erkennen; die Ferne der weiBen Welt von ihren Gefühlen, zerstörtes Leben und Zwang erzeugte in ihnen HaB. Die ofhzielle belgische Geschichtschreibung sieht in jenem Söldnerkrieg, der seit den Tagen Karthagos das unvermeidliche Schicksal jeder kriegsführenden Geldmacht zu sein scheint, mehr einen technischen Fehler: Es wurden zu viele Krieger aus dem arabisierten Stamm der Batelelas genommen, dadurch war es unmöglich, die verschiedenen Völkerschaften der Soldaten gegen einander auszuspielen. Schon Stanley hatte darauf hingewiesen, wie leicht Afrika sich infolge der Vielfaltigkeit der Negerstamme von WeiBen unterwerfen heBe; die Schwarzen verstenen sich nicht, verachten sich, durch die einen sind die anderen festzuhalten. Möglich, daB die jungen Congo-Offiziere zu wenig an das „Divide et impera!" gedacht hatten; die Batelelas waren zivilisierter, inteUigenter und kriegstüchtiger als die meisten der übrigen Völker, so büdeten sie in manchen Stationen und der Festung Kinschassa die Mehrheit, und nun wendeten sich die Vorzüge seiner Söldner gegen den Congostaat. In Luluabourg begann die Meuterei, sie sprang von einem Ort zum anderen, die umherziehenden Schwarme mordeten weithin das Land aus; Afrika sah in jenen Jahren herzlich wenig von den verheiBenen Segnungen der Zivilisation, es war in Blut und Brand getaucht. Es ware zweifellos wirksam und vèrführerisch, jenen Aufstand als einen Befreiungskrieg der unterworfenen Neger gegen ihre weiBen Bedrücker anzusehen, bei den Batelelas von 1894 an die belgischen Freischarler zu denken, die zwanzig Jahre spater ihr Vaterland gegen eindringende Feinde verteidigten, doch die Geschichte erzahlt uns von keinem schwarzen Andreas Hofer, und der Vergleich ware trügerisch. Es gab in Zentralafrika kein Gefühl für ein geschandetes Vaterland, keine nationale Erhebung, sondern Söldner, deren Nahrung und Lohn nicht rechtzeitig kam, weil damals in Brüssel Leopold kein Geld mehr auftreiben konnte. Es gab auch noch den Widerstand von primitiven Menschen, welche plötzbch die neuesten Errungenschaften europaischer Mordindustrie in die Hand bekamen und glaubten; nunmehr selbst die Herren spielen zu können. Doch wenn sie auch die gröBten Kanonen gehabt hatten — hinter ihnen stand kern Herrscherwille und kein Leopold. Immerhin hat der Aufruhr noch, nachdem er zwei Jahre lang gebrannt hatte, weitere Jahre geglimmt; erst 1900 war er vollstandig erloschen. Es ware genug gewesen, jeden anderen Menschen nieder zu werfen und zu bre- chen: zwei Jahre lang Feldzug gegen die Araber, unrnittelbar darauf der Söldner krieg, all dies zugleich mit unbezahlten Rechnungen und der Unmöghchkeit, weitere Millionen sich zu beschaffen. Leopold aber ist mitten in anderen groBen Planen und Unternehmungen, er unterhandelt in Europa mit Staatskanzleien, denn sein alter groBer Herrschertraum, der Bismarcks Unwillen erregt hatte, steht unverrückbar vor ihm: die Coburger als Pharaonen. Der Congo gehört ihm trotz Sklavenhandlern und Meuterern, aber da wird er auch schon ihm zu klein. Vorwarts zum Nil! Drang nach dem Nil Der Nil hatte sich dem jungen Prinzen als starkstes Reiseerlebnis eingegraben. Die Anziehungskraft des gewaltigen Namens, dessen Wasser die Urgeschichte der Menschheit umflieBen, hat Leopold immer festgehalten. Hier wurde er maBlos, hier verrechnete sich der Rechner, wandelte sich der Realist zum Romantiker, verkannte er die Möglichkeiten, vergrub er nebst den Leichen von vielen Hunderten seiner Helfer auch Dutzende seiner Millionen in heiBen Sand, und unterlag am Ende. Dies feststellend und nach schnöder Menschenart den Erfolg als Gradmesser der Leistung nehmend, verkennt man leicht, daB Leopold niemals kühner, niemals in seinen politischen Konzeptionen gelenkiger und schwebender, in seiner Raschheit genialer, in seinem Willen zaher war als in diesem Unternehmen, an dem er sich ein Jahrzehnt lang mühte. Die Kraft, die er anwendete, um sich am Congo festzusetzen, war sicherlich groB; aber sie war kleiner als jene, mit der er zum Nil strebte, ihn immer wieder erreichte und dann aufgeben muBte. Doch weil sie keine Folgen hatte, ist sie nur eben eine Arabeske in der Zeichnung seines Lebensbildes, und es scheint überflüssig, sie lange zu betrachten. Sonst müBte man die Landkarte zur Hand nehmen, viele Namen nennen, viele Schicksale erzahlen, und alles ware am Ende doch unbekannt und bloB Fachwissenschaft. Wozu dies? Besser nur an das Epos in Afrika und an die Komödie in Europa kurz zu erinnern. Sowie Belgien 1890 den Congovertrag mit Leopold abschlieBt, laBt dieser sofort durch van Kerkhoven die gröBte Expedition ausrüsten. Ziel: Oberlauf des weiBen Nil, Vorland des Sudan, aus dem die aufstürmende islamitische Grundwoge des Mahdismus die Englander fortgeschwemmt hatte. Kerkhoven verlangt eine Stromflotille, zweihimdert WeiBe, tausende von Schwarzen, nichts ist ihm und dem König zu viel. Aber die Schwierigkeiten des Transportes waren zu groB, so muB zu Leopolds Schmerz das Format verkleinert werden. Am Wege tapfere blutgierige Stamme, Überfalle, endlose Verhandlungen mit zweifelhaften Sultanen, Kampfe, wieder Kampfe. 1892 stirbt van Kerkhoven geheimnisvob, angebhch durch das Versehen seines Gewehrtragers getötet; niemand wird da jemals die Wahrheit wissen. Seine Nachfolger erreichen erst Jahre nach dem Aufbruch ein recht bescheidenes FlüBchen, das aber immerhin ein Nil ist, die blaue Goldsternflagge Weht über dem ewigen Wasser, doch die Mahdisten sind zu stark, die Congotruppen müssen zurück. Indessen arbeitet Leopold überall in Europa. Die Englander, von den Mahdisten bedrangt, scheinen schwach geworden, fürchten, daB Frankreich sich hinter dem Sudan am Oberlauf des Stromes festsetzt, so müBte ihnen das schwachere Belgien dort angenehmer sein, und Leopold offeriert sich denn eifrig. Ergebnis ein doppelter Pachtvertrag zwischen England und Congo. England überlaBt das weite Gebiet des Bahr el Ghasal, nördhch dem Congostaat bis zum linken Ufer des weiBen Nü, der Congostaat seinerseits ein Band am Ufer des Tanganikasees, notwendig für die Kap-Kairobahn von Cecü Rhodes. Gutes Geschaft für beide; der Vertrag wird unterzeichnet. Aber Frankreich und Deutschland sind gar nicht zufrieden, protestieren drohend, England weicht zurück, und Leopold steht nun allein mit einem undurchführbar gewordenen Vertrag. Genau so wie früher die Portugiesen; damals war er der Sieger, nun ist er der Besiegte. Will es aber durchaus nicht bleiben. Einige Monate vorher war der Krieg gegen die Sklavenhandler beenB Leopold; indem er es geben HeB, hatte er es für sich genommen. Dies hatte begonnen mit den erkauften Souveranitatsrechten. Die Kolonisatoren benehmen sich, als ob sie mit hochentwickelten, rechtskundigen Europaern zu tun hatten, die gleich ihnen juristische Unterschiede und pohtische Begriffe zu f assen vermogen; es ist ebenso, als ob man sich von einem dreijahrigen Kind, dem man die Hand führt, gegen ein Zuckerplatzchen ein Haus verschreiben hefie; doch so prachtig gediehen ist die Heuchelei, daB die Kolonisatoren nur die Unterschrift sehen und alles Übrige übersehen wollen. Nun konnte man weiter gehen. In zivüisierten Staaten gehort jeder Boden, der keinen bestimmten Eigentümer hat, dem Staat. Das ist eine selbstverstandbche und berechtigte Bestimmung. Denn in vielen Jahrhunderten hatten vorher die Menschen durch ihre Arbeit die Erde, soweit sie nur vermochten, schon in ihren Besitz genommen; der frei gebbebene Teü war der geringere und wertlosere, der, alsStaatseigentum von der Gesamtheit der Volksgenossen beaufsichtigt, ihr zugute kam. Die gleiche Bestimmung jedoch in einem dünn bevölkerten Tropenland, das keine Stadte und kein Bauerntum kennt, bedeutet die Enteignung und Ver- sklavung der Menschen. Dies geschah mit dem Dekret Leopolds vom 17. August 1889, ziemlich genau hundert Jahre nach dem Pariser Bastillensturm. Vermutlich hat er anfangs mit jener Verfügung keine weiterreichenden Absichten verfolgt; er wuBte, daB ahnliche Bestimmungen in der Theorie vieler Kolonialstaaten sich finden, es konnte Vorteil bringen, und also erliefi er das Dekret. Er hat es vorsichtshalber gar nicht einmal in seinem Bulletin Officiel erscheinen lassen; es war damals nur eben eine geheime Weisung an die Congobeamten, unbekannt der übrigen Welt einschlieBlich der solcherart aller Zukunft beraubten Congo-Neger. Leopold schwieg nicht etwa aus Rücksicht auf seine afrikanischen Untertanen, sondern auf Europa und Amerika. Diesen hatte er in den Berliner Akten feierlich die Handelsfreiheit am Congo zugesagt. Nun aber gehort doch zum Handel zuerst der Boden, sicherlich in Gebieten, in denen es ja aufier ihm gar keinen anderen organisierten Wert gab. Durch das Bodenmonopol an unbebauter Erde war tatsachlich der ganze Congo dem fremden Handel entzogen und Eigentum des Staates geworden; Staat aber war nur ein Pseudonym für Leopold. Kein Vernünftiger konnte bezweifeln, daB die Sache den Versprechungen der A. I. A. und dem Geist der Berliner Akte widersprach; aber sehr wohl war es möglich, sie dem Buchstaben des Rechtes anzupassen, und dahin strebte der Souveran in Brüssel. Er wuBte, daB mit Juristen sich gut arbeit en laBt, daher besorgte er sich Gutachten bei den ersten Gelehrten; je gelehrter sie Waren, desto eher durfte er erwarten, daB sie sich bloB an die Form und nicht an den Geist des Abkommens halten würden. Sie, unter ihnen der berühmte belgische Jurist Picard, entdeckten, was Leopold durchaus entdeckt sehen wollte. Indem der Staat sein Recht auf den unbebauten Boden verkündigte, handelte er als Eigentümer, nicht als Kaufmann, also habe er die Handelsfreiheit nicht verletzt. Abseits der Wirkhchkeit im luftleeren Raume der Abstraktionen hatten die Sachverstandigen hiermit auch eine tragfahige juristische Konstruktion errichtet. Denn, wenn der Staat Grundherr des unbebauten Bodens ist, dann kann er auf diesem seinen Besitz ais privater Eigentümer fremden Handel verbieten; als Souveran jedoch hat er damit nichts zu schaffen, der andere Boden bleibt ja dem Handel frei. Nur daB jener andere Boden auch nicht ein Tausendstel des Congostaates war, daB es bei Primitiven, die nichts von Bodenbewirtschaftung wuBten, abseits ihrer Hütten und kleinen Pflanzungen überhaupt nichts anderes gab als Erde, die sie jeweüs nach Bedarf nahmen und dann wieder aufgaben. Mit jenen Gutachten war also die Handelsfreiheit aufgehoben, doch das muBte natürlich nicht schwarz auf weiB herausgesagt werden, wurde vorsichtig verschwiegen und getarnt. Aber in seiner Befriedigung sendet Leopold allen Beamten am Congo das Gutachten Picards und schrieb ihnen dazu: „Dieses Gutachten sei llire Bibell" Wir werden bald erkennen, welche Sittengesetze aus dieser Congo-Bibel hervorgingen. Doch schon jetzt meldet sich eine Erinnerung, daB Leopold in jenen vielen Jahren, als er von der Bekehrung und Hebung der Neger so eifrig und schön sprach und sich damit Zustimmung und Begeisterung gewann, vermutlich eine andere Art Bibel gemeint haben dürfte. Vorerst wuBte niemand von der kleinen staatsrechtlichen Untersuchung, die Leopold zur Beruhigung seines empfindlichen Gewissens vorgenommen hatte. Noch weniger von der geheimen Verordnung an seine Agenten. Es war einstweilen nichts mehr als Theorie, wie sie ahnlich auch in anderen Landern ausgesprochen war. Es gab nur da einen wesen tlichen Unterschied: Leopold war kein Theoretiker. Er hatte durch jene Verordnung wieder einmal einen festen Punkt gewonnen, und durch die Gutachten hatte er diesen Punkt gegen Fremde geschützt. Aus einem Reich mit Handelsfreiheit, Konkurrenz und fremder Kontrolle war in aller Stille sein Privateigentum geworden, man könnte sagen: die gröBte Privatdomane unseres Planeten. Leopold benötigte Geld, er muBte es sich aus dem Congo holen. Um dies zu erreichen, bedurfte er eines Monopols, durch das er alle anderen ausschalten konnte. Am 21. September 1891 kommt das Dekret, das alles aus den Wolken der Rechtswissenschaft auf die afrikanische Erde führt, die Praxis beginnt, nachdem die Theorie ihre Schuldigkeit getan hat. Leopold fordert die Congo-Beamten auf, samtliche Werte des Congostaates, vor allem Elfenbein und Kautschuk dem Staat zu sichern. Das bedeutete nichts weniger als die vollkommene unentgeltliche Enteignung aller fremden Kaufleute und der Eingeborenen, denen bloB ihre Hütten, Haustiere und Werkzeug blieben. Die Neger hatten Elfenbein und Kautschuk den Staatsagenten abzuliefern; der Handler, der es ihnen abnahm, machte sich der Hehlerei schuldig. Der Neger, der weiterhin tat, was er und seine Ahnen bisher ungehindert und selbstverstandlich getan hatten, war zum strafbaren Dieb, der Kaufmann, der in ein vertragsmaBig offenes Land gekommen war, zum Hehler geworden. Man hatte denken können, daB eine solche Mitteilung immerhin den Betroffenen rnitzuteüen war. Leopold war anderer Ansicht; auch dieses Dekret bheb monatelang geheim und ist im Bulletin, das im Congostaat die Stelle von Reichsgesetzblatt, Presseagentur und Parlamentsprotokollen zu vertreten hatte, überhaupt niemals veröffenthcht worden. Aber von jenem AugenbUck an begann der Congo langsam, Ertragnisse zu verzeichnen, und als das neue System Leopolds voU durchgeführt wurde, stiegen diese Ertragnisse; sie füllten jene Armada, die ihn 1895 vor dem Zusammenbruch rettete. Wie die Neger darüber dachten, wird noch darzusteUen sein; die WeiBen am Congo reagierten sofort lebhaft. Es gab stSrksten Widerstand, vor allem der belgischen Gesellschaf- ten, die eben begonnen hatten, am Congo Elfenbein und Kautschuk zu sammeln. Der König muBte einem Skandal ausweichen, seine SteUung war 1892 noch viel zuschwach, um aUen zugleich zu trotzen, er erkannte, daB er in seinem HeiBhunger gar zu voll in die Schüssel gegriffen hatte, so zog er sein erstes Dekret zurück und erbeB ein anderes, in dem er den Congo in drei Teile abgrenzte, von denen er einen ganz, den anderen ein wenig dem freien Handel überbeB. Das Congogebiet war so groB, daB auch ein Teil davon den Handlern genügte; so hatte er ihnen ihre Entrüstung abgekauft. Bei den Negern erwies sich dies als nicht notwendig. Die Unbegrenztheit des noch nicht erschlossenen Gebietes erlaubte es dem König nicht, es allein auszubeuten; so forderte er die Gründung von GeseUschaften, doch sie muBten regelmaBig ihm für seine Erlaubnis die Halfte ihrer Anteüscheine oder ihres Ertrages geben. Derart behielt er tatsachbch die gesamte Produktibn in der Hand und sicherte sich für ihre Eintreibung eifrige Helfer. Hier begegnen wir der Anglo-Belgian India Rubber, abgekürzt Abir, doppelt bemerkenswert durch die Höhe wie durch die Schmach ihrer Dividenden, es fehlte ihr nicht an Genossinnen, die alle bestrebt waren, den Congo dem Handel zu öffnen, wozu ihnen wie Leopold jedoch der bloBe Landraub nicht genügte. Denn was half dem Souveran sein Eigentum an der Erde, wenn er nicht Arbeiter fand, welche ihm ihre Erzeugnisse möghchst unentgeltlich beferten? Der Landraub konnte nur emtragüch werden, wenn er durch den Menschenraub erganzt wurde. Trage Menschen Ein Staat, so ausgedehnt wie etwa ein Viertel Europas, war zu improvisieren, die Mittel des Eigentümers klein, seine Bedürfnisse groB, seine Ungeduld glühend. Für den Bau von Eisenbahnen, Stationen, Bef estigungen, StraBen konnte Leopold bloB seine Neger gebrauchen; die WeiBen ertrugen das Klima nicht, waren viel zu anspruchsvoll und kostspielig gewesen, die Völkerwanderung aus Asien, an die er gedacht hatte, lieB sich nicht verwirküchen. Der schwarze Mensch war da, stark, wohlfeil, und wehrlos, er muBte nur ergriffen werden. Leopold ergriff ihn- Dem Dekret der Landnahme f olgte jenes der Versklavung. Auch dieses klang natürhch durchaus human, und in Europa ware dagegen kaum viel einzuwenden gewesen. Jedes Volk der Erde muB Steuem entrichten, nicht wahr, warum nicht die Congoneger ? Nur gibt es dort nirgends Geld; die Eingeborenen besitzen bloB sich selbst, daher müssen sie eben mit ihrer Person bezahlen. Ihr einziges Eigentum besteht in ihrer Arbeitskraft, also ist die Steuer in Arbeit zu leisten. Es wird ihnen vorgeschrieben, daB sie für jeden Negerkopf sechs bis vierundzwanzig Franken jahrlich zu entrichten haben, aber kaum einer unter Tausend mag jemals auch bloB einen Franken gesehen haben oder wissen, was er ist. Daher wird eine Tabelle aufgesteüt; die einen haben Lebensmittel zu lief ern, die sie sammeln müssen; das Entgeit wird vom Staat furiert und, soweit es Marktpreise gibt, tief unter diesen, wodurch sich die Steuer noch erhöht. In jenen Gebieten aber, in denen Kautschukwachst, ist die Steuer in Kautschuk zu entrichten, wobei für ein Küogramm dreiBig oder fünfzig Centimes angenommen wird, zur Zeit der Erlassung des Dekretes etwa ein Zwölftel bis Achtel, spater nicht einmal ein Zwanzigstel des Erlöses. AuBerdem müssen für öffenthche Arbeiten die ' Neger fünf Jahre lang bereit sein. Vermuthch werden Statistiker beweisen können, daB in der übrigen Welt die Steuertrager noch mehr als fünf Jahre ihres Lebens für 1 den Staat arbeiten müssen, wenn man alles genau berechnet. Auch werden sie sagen, daB vierundzwanzig Franken noch immer weniger sind als die Opfer der Eu- ropaer und Amerikaner für ihre Gemeinschaft, doch solcher Vergleich ruht auf der gleichen Lüge, der wir bei den Souveranitatskaufen und dem Staatsmonopol auf die unbebaute Erde bereits begegnet sind. Der Urmensch und der Geldmensch sind eben nicht zu vergleichen. Dieser hat sich in Geschlechterfolgen schon der Notwendigkeit angepaflt, jener hingegen weiB nichts von der Arbeit, die ihm aufgezwungen wird. Er begreift weder ihren Nutzen, noch empf angt er vom Staat dafür einen Gegenwert in Kultur, denn diese ist ihm fremd, unerwünscht und feindhch. Am Congo lebten Menschen, die zumeist ihr ganzes Leben lang kaum wenige Wegstunden von ihrer Hütte sich entfernten, sie fischten oder jagten ein wenig, sie pflückten Früchte oder hatten aUenf alls kleine Gemüsegartchen sich angelegt, sie lagen im Schatten, sie schwatzten und lachten, sie fürchteten sich vor den Damonen um sich, die man beruhigen und versöhnen muBte, üir Dasein war wie ein Dammern zwischen Lust und Schrecken, doch immer war ihnen die Arbeit im Sinn Europas fremd. Die WeiBen waren nun eingedrungen und verlangten von ihnen, daB sie schwere Lasten immerzu auf ihren Rücken im Sonnenbrand schleppen soUten, Teüe von Schiffen, eiserne Geratschaften, Steine zerschlagen. Sie sendeten sie in die Walder, Kautschukpflanzen anschneiden und den Saft heimbringen. Wie soüten sie dies wollen, wie es auch nur begreifen? Jeder Eid kann darauf geschworen werden, daB Leopold, der an alles dachte, daran niemals gedacht hat; er sah im Neger bloB ein zweiheiniges Geschöpf, das ihm sein Imperium aufbauen und viel Geld schaffen soUte. So viele schone Worte er über ihre Erhebung sprach und über das Licht, das er nach Afrika hringen wollte, es war stets nur sein Wunsch gewesen, mit solchen Reden die Europaer zu gewinnen, damit sie ihn nicht hinderten; er sagte es, weü sie eben gerade dies horen wolken; kein Gedanké kam ihm jemals, daB er verpflichtet sei, es einzuhalten, nicht blofl, weil er es versprochen hatte, weil er allein jenen Worten sein Imperium dankte, sondern aus einer brüderlichen und menschhchen Pflicht. Leopold hat sich den Congoneger, wie er tatsachhch war, niemals vorgestellt, dieser war ihm bloB ein schattenhaftes Etwas, geboren, ihm Kautschuk zu sammeln und Lasten zu schleppen, damit er auch noch zum Nil dringen und in Europa prunkende Bauten aufführen könne. Ein solcher Mann hatte mehr als zwanzig Milhonen schwarzer Menschen als Eigentum empfangen. Als er starb, waren es nur noch zehn. Dies ist schreckHch, und dennoch gibt es etwas, das noch schrecklicher ist: Dies namlich, daB Leopold gezwungen war, so zu sein, wie er war. Er hatte nur die Wahl, sich selbst oder die Neger zu verderben. Die zweite Lösung war ihm sympathischer. Leopold muBte. Im Augenbhck, da er als Einzelner den Congostaat erhalten hat, den er vorher sich erlistete und ge wann und den niemand ihm damals nehmen konnte, war sein ganzer Weg schon vorbestünmt. Dies konnte kein Kolonialreich wie andere werden. Ein zivilisierter Staat, der die Erde ferner Zonen mit ihren primitiven Menschen in seinen Besitz nimmt, hat zumeist jene zwei Dinge, die dafür unerlaBlich sind: Zeit und Geld. Der Coburger hat weder das eine noch das andere. Auch Staaten können ungeduldig sein, grausam werden, sich nicht einfühlen in das Wesen der ihnen Unterworfenen; die Kolonialgeschichte aller Zeiten und Völker hefert dafür die beschamendsten Beweise. Doch solche Schuld mufl ins Ungeheure aasarten, wo ein einzelner Mensch, ein herrschsüchtiger, eigenwilliger, feifenschaftlicher, von nieman* dem kontrollierter Mensch eine Kolonie als privates Eigentum erhalt. Leopold war gezwungen, sofort Geld zu machen. Ein Staat konnte langsamer gehen, er nicht. Der Staat hatte schrittweise die Neger an Arbeit gewöhnen können. Hatte ihnen das Beispiel gegeben, wie Plantagen anzulegen, Felder zu bebauen sindj hatte die Kinder erzogen, die Erwachsenen unterrichtet, in ihnen Bedürfnisse erweckt, ihnen gezeigt, wie sie diese durch Arbeit befriedigen können. Er hatte zuerst mit aUerdings unvergleichhch grö Beren Kosten Verkehrsmittel geschaffen, Bergwerke und Fabriken errichtet, Hauser gebaut, und er ware gewiB gewesen, daB dann ailmahhch die Neger ihrerseits gewonnen wurden, Werte zu erzeugen und zu verbrauchen, er hatte solcherart einen ungeheuren Innenmarkt geschaffen, den Staat der Neger, aus dem dann mit den Eingeborenen die weiBen Kolonisten Nutzen gezogen hatten. Dazu waren zwanzig, vielleicht dreiBig oder vierzig Jahre und vermuthch einige hundert Milhonen notwendig. Ein Staat hat Jahre und Milhonen, Leopold hatte sie nicht, nur Glaubiger, Ehrgeiz, Habgier. Und dazu noch die Neger, um Glaubiger, Ehrgeiz, Habgier zu befriedigen. Darin ist die Entwicklung des Leopoldischen Congostaates zwangslaufig gegeben. Dies festgestellt, ist zu sagen, daB das uimeimhche Experiment, eine pr imit i ve und unbekannte Welt ausschliefihch auf sofortige Geldproduktion hin auszubeuten, hier exempelhaft zur Belehrung durchgeführt wurde. Denn Leopold war durch nichts gehindert, klüger und harter als alle, reiner Zweckmensch, gedrangt durch Schulden in Europa und Machttraume am Nil, mehr wohl durch die Angst des Afternden, der sein Ziel noch erreichen will, j eine extreme Natur, die sich bloB im AuBersten genügen kann. Ihm war eine müBige Erde mit tragen Menschen überantwortet, er will aus ihnen herausholen, was sich inur herausholen laBt und alle die Milhonen dann in die Ferne schleppen, daB sie in Europa glanzen und ihn erfreuen, seine Macht bestatigen, den Glanz seines Königtums vererben. In Afrika baut er in einem VierteljahrhunI dert keine einzige Schule, es fehlt an Lazaretten und Arz- Iten, er denkt nicht an Musterwirtschaften, an Erziehung und Hebung der Neger, es ist Instinkt, nicht Zufall, wenn er niemals seinen Congo betritt, das könnte sogar ihn be- irren, man kann nur dort ganz rücksichtslos sein, wo man die Folgen nicht sieht, Auge und Herz storen. Alles geschieht, um mehr Kautschuk und Elfenbein zu raffen, nichts, was nicht sofort Geld embringt. Nun ist ahes dafür vorbereitet, und er ware nicht Leopold, wenn die Vorbereitung nicht ganz unverfangheh ausséhen würde, gestützt durch tausend Grimde der Logik und des Staatsrechtes, gehoben durch Gutachten und gedeckt durch das Geheimnis. Denn erwülgar nicht, daB ihm jemand da hinemschaut; die fremden Handler sind verdrangt, die emheimischen seine Mitschuldigen, die Offiziere tatendurstig und auch teilweise finanziell an den Ertragnissen der Ausbeute interessiert. Sieht nicht aUes lobenswert aus? Der Staat hat sich die unbebaute Erde zugesprochen? Das gesehieht überall. Die Untertanen müssen Steuer bezahlen? Das ist keine Besonderheit des Congo, und wenn die Neger dort kein Geld besitzen und deshalb ihre Steuern in Arbeit entrichten müssen, Lasten schleppen, Elfenbein und Kautschuk sammeln, so ist dafür Leopold nicht verantwortlich. Nichts kann unschuldiger sein. Aber was in der Zivüisation Unschuld ist, wird Schuld in Afrika. FleiBige Peitsche Von Leopold aus gesehen, stinunt die Rechnung. Er hat die Erde, er hat die Menschen, die für ihn arbeiten müssen. Wenn der Kautschukpreis steigt, und er beeüt sich, immerzu zu steigen, dann ist alles in Ordnung. Nur eine Kleinigkeit muB noch vorher erledigt sein: Was gesehieht, wenn die Neger nicht für Leopold arbeiten wollen? Das ist namheh nicht bloB möghch, es ist sogar gewiB. Niemals haben die Schwarzen im europaischen Sinn gearbeitet; sie holten sich, was sie konnten, um den Hunger ihres Tages zu stülen, ob es Bananen, Fische, ein Tier der Wüdnis oder ein erjagter Mensch war. Das genügte ih- nen. Sie verstenen nicht, warum sie plötzlich nun das Elfenbein, das sie gefunden, abzugeben haben. Warum es ihnen verwehrt wird, einmal einige Schritte weiter von ihrer Hütte noch anzupflanzen. Warum sie in die Walder gehen sollen, um dort die Kautschuklianen zu ernten, dann das Erarbeitete den weifien Mannern abgeben müssen, um von diesen ein BaumwoUtuch oder ein Stück Seife oder ein Packchen mit Salz zu erhalten, das ihnen als Entgeit gegeben wird. Da und dort haben die Schwarzen Kautschuk an fremde Handler verkauft, sie wissen, daB sie dort viel mehr für das Kilogramm erhalten als die dreiBig oder fünfzig Centimes, die der Staat bewilligt und ihnen auf ihre Steuer verrechnet. In den Waldern sind böse Dornen, das Dickicht undurchdringlich, sie fürchten sich, die Leoparden zerreiBen sie dort, und in den Leoparden sind ihre Toten, die böse sind, weil sie gestorben sind und an den Lebenden sich ra.cb.en wollen. Das wissen die WeiBen nicht, diese unheimhchen fahlen Teufel, die da zu ihnen gekommen sind und immer nur Kautschuk von ihnen wollen. Die Schwarzen aber fürchten sich, sie wollen nicht Frau und Kinder und ihr Dor f verlassen und in den Waldern Kautschuk sammeln, von tropischen Regengüssen gepeitscht. Sie wollen auch durchaus nicht für alle die hunderte fremder Leute, die da unter Führung der WeiBen plötzlich auf eine Station kommen, um dort eine Eisenbahn anzulegen, Hühner, Eier, Gemüse, Brot liefern. Tatsachlich besteht für sie nicht der geringste vernünftige Grund, dies zu wollen. Sie leben dann nur gedrückter, gefahrlicher, sie haben Aufgaben und Arbeit vor sich, beide ihnen noch unbekannt, und nichts wird ihnen dafür gegeben, was sie f roller oder reicher macht. Also werden sie wollen müssen, das weiB der Herr in Brüssel, der sonst gar nichts von ihnen weiB. Alles ist vorbereitet.umsie zu zwingen und sie so zu halten, daB sie ihm nicht entkommen können. Nicht nur, daB sie kein Geld baben, man hat es so angelegt, daö sie niemals solches in die Hand bekommen; planmaBig wird die Entwicklung der Geldwirtschaft am Congo verhindert. Denn man will die Arbeit der Schwarzen, nicht die paar armsehgen Francs, andere Arbeiter sind nicht verhanden und kamen zu teuer. Vierzig Stunden im Monat haben sie Kautschuk zu sammeln. Das scheint nicht viel, nicht wahr? Nur, daB die Walder stundenlang von ihren Dörfern liegen, daB Wolkenbrüche ausbrechen, sie allein sind in einer ihnen unbekannten Welt und voU Angst. AuBerdem haben sie den Agenten jede Steuerzahlung persönbch zu bringen; manche müssen 150 Küometer durch weglose Wüdnis gehen, um einen Steuerwert von anderthalb Franken hmzutragen. Beim Kautschuk wird die Quahtat bemangelt, das Gewicht stimmt nicht, es gibt gefalschte Waagen, mit denen man sie betrügt. Es kann auch gar nicht anders sein, denn aüe Staatsbeamten, und diesen sind sogar jene der Abir und anderer GeseUschaften gleichgestellt, erhalten Pramien je nach der Höhe des von den Negern abgebeferten Wertes. Die Beamten sind schlecht bezahlt, sie leben überreizt von der Hitze in ewiger Gefahr einsam, krank und sehnsüchtig nach Europa, sie wollen rasch viel Geld machen, sie folgen dem Beispiel ihres obersten Gebieters. Es ist wahr, daB sich da manchmal jemand entrüstet: namhch die eifersüchtigen Konkurrenten in anderen Kautschuklandern über das Leopoldische Dumping. Dann wird natürlich alles abgeleugnet, Zeugen sind nicht leicht zu finden, und da die Pramien als unmoralisch gelten, nennt man sie alsbald Beitrag zu den Erbebungskosten, dann werden sie in Punkte Verwandelt, die den Beamten und Expeditionsführern angerechnet werden und schbeBbch wiederum als Pensionsbemessung versteekt. Der Namen der Tarnkappe wird gewechselt, aber das System bleibt, daB der WeiBe umsomehr verdient, je mehr der Schwarze sich qualt. Zuerst geht man zu den Hauptlingen, sie haben Leute für die Arbeiten zu liefern. Grundsatzlich ist es erlaubt, fünf Jahre lang die Neger zur Arbeit zu zwingen. Die Haupthnge geben, was sie an Skla ven besitzen; denn trotz allen Reden in Brüssel gibt es natürlich noch Sklaven. Aber indem sie vom Congostaat übernommen werden, gelten sie als „befreit", so tugendhaft ist man am Congo. Die Befreiung besteht darin, daB sie mit Lasten beladen werden, als wandelnde Gerippe am Wege umfallen, mit der Nilpferdpeitsche vorgetrieben werden, so lange sie noch können. Diese Peitsche beginnt nunmehr ihre groBe Rolle am Congo zu spielen, sie wird zum Symbol des neuen Systems, das mit Leopolds Dekreten begonnen hat. Indessen genügt sie nicht. Die Haupthnge finden oft nicht genug Menschen für die beanspruchten Arbeiten; die Neger flüchten sich in die Wüdnis, der Staat kann ihnen dort nicht folgen, also halt er sich an die Haupthnge, er nimmt sie fest, laBt sie selbst zwangsweise arbeiten, wenn sie ihm nicht genug Arbeiter liefern oder die Steuerleistung hinter dem Voranschlag zurückbleibt. Dies tut sie immer, dafür ist schon dadurch gesorgt, daB die Neger, die kein Geld erhalten, mit zu hoch angerechneten, für sie meist unnützen Waren betrogen werden. Der Staat nimmt als Geiseln Weiber und Kinder der Flüchtlinge, von denen in den Grenzgebieten viele Tausende auf französische oder portugiesische Erde entkommen; die blaue Goldsternfiagge wird unbeliebt bei den Negern. Doch ntan kann den Druck ja noch verscharfen. Man kann zur Eintreibung Leute ins Negerdorf setzen, bewaffnete schwarze Soldaten, welche die Ablieferung zu regeln haben. Oder man kann sogar Strafexpeditionen ausrüsten. AU dies wird aus Brüssel bestimmt, wobei jedoch darauf verwiesen wird, daB man dort sich zurückhalten müsse, wo es Missionare oder gar fremde Konsuln gibt oder die Grenze zu nahe ist. Der Congostaat liebt die Diskretion und laBt sich nicht gerne beim Regieren zusehen. Für Leute, die Geld machen wollen, laBt sich ein trefflicheres System gar nicht erdenken. Die Neger müssen liefern, der Handler wagt, wie er will, bestimmt den Preis, den er will, gibt als Zahlung Waren, die er will. Niemand kontrolhert ihn. Es gab einige Störungen; in der sogenannten Freihandelszone wurde infolge der Konkurrenz der Gesellschaften den Negern etwas mehr für den Kautschuk bezahlt; solcher Unfug winde bei Erneuerung der Konzessionen abgestellt. Auch verdarben die Neger in ihrer Verzweiflung die Kautschukpflanzen; sie glaubten, daB sie leben könnten wie früher, wenn es keinen Kautschuk mehr bei ihnen gabe. Der Staat bewies ihnen, daB sie sich irren. In fünfzebn Jahren hat Leopold an vierhundert GoldMilhonen für Kautschuk aus dem Congo herausgeholt, und kein Stanley war mehr da, um wie einst bei den Sklavenhandlern eine Verhaltniszahl zwischen erbeutetem Gold und vergossenem Blut auszurecbnen. KAUTSCHUK HOLLE Eingang VOR dreiBig Jahren wurde ein Dokument verfaBt, das den umfassendsten und unwiderleghchsten Bericht über die verruchtesten Greuel enthalt, die menschliche Habgier jemals ungestraft begangen hat: es ist das ProtokoU der auf engbschen Druck Ï904 nach dem Congo entsendeten sogenannten Untersuchungskommission. Es ist niemals veröffentbcht worden. Diese Tatsache entscheidet, um aUes zu entkraften, was zur Verteidigung der Congobibel und Kautschukhölle und zur Verdachtigung der anklagenden Zeugen vorgebracht wurde. Schon damals lagen die Angaben von mehr als dreiBig WeiBen vor, unter deren Augen immerzu unvorsteUbare Verbrechen verübt worden waren, jene von Reisenden, Agenten und Offizieren des Congostaates, Missionaren und Konsuln. Vielleicht darf man ihnen Costermans, den Generalgouverneur zurechnen, der bei der Rückkehr der untersuchenden Herren nach Boma sich dort die Kehle durchschnitt. Amerikaner, Englander, Deutsche, Franzosen, Belgier, Italiener, Schweden klagten an. Dies ist zu erwahnen, weil Leopold sofort sich mit der Beschuldigung wehrte, die „Greuelpropaganda" bezwecke nur, England in den Besitz des gedeihenden Congostaates zu setzen. Möghch, daB einige engbsche und deutsche Pobtiker an eine Teilung des Congostaates unter ihre Lander dachten und die furchtbaren Enthullungen daher befriedigt aumahmen; dies hat jedoch mit ihrer Wahrheit oder Unwahrheit nichts zu tun. Es fanden sich ehrenwerte Leute, die im Congostaat geweilt und nichts von jenen Schrecknissen gesehen hatten. Die meisten von ihnen lebten am unteren, relativ zivibsierten Teile des Stromes oder nicht in den Kaut- schulrprdvinzen. Das Gebiet des Staates ist viermal so groB wie Frankreich, es war im wesentlichen ohne Wege und ohne Hilfe der Behörden kaum jemand Gelegenheit gegeben, etwas zu sehen, was er nicht sehen durfte. Die f remden Handler waren durch das Verbot des freien Handels, Staatsmonopol mit Konzessionen ausgetrieben, zwei von ihnen, Stokes und Rabinek, unter Vorwanden sühnelos getötet, von Fremden bloB die Konsuln zugelassen, die tausend Meilen abseits wohnten, und die paar Missionare, deren Ansiedlung der Staat zu seinem Bedauern nicht hindern konnte. Es war Bef ehl gegeben, in ihrer unmittelbaren Natie vorsichtig zu sein. Wer immer gonst in dem Congostaat unangenehme Dinge sah oder weiter gab, der muBte für Erwerb und Leben fürchten. Als im Gericht von Boma bei einem für den Congostaat peinlichen ProzeB ein farbiger enghscher Untertan die (öffenthchen) Verhandlungen nachschrieb und abdrucken heB, wurde sein Geschaft boykottiert und er zum Selbstmord gezwungen. Der Belastungszeuge Moray mit Anklagen in Europa bedroht, wird von einem gefalligen FluBpferde angebhch ertrankt. Ein itahenischer Kapitan Baccari, der im Auftrag seiner Regierung die Verhaltnisse am Congo untersuchen soll, findet Sublimat in seinem Wein. Die meisten von den wenigen Reisenden, die sich in jene abgeschlossenen Lander verirrten, wollten weder Gefahr laufen, noch sich Ungelegenheiten machen. Es gab in der Kautschukhölle also fast nur freiwillige oder gezwungene Mitschuldige Leopolds. Dies berücksichtigt, wird man staunen, nicht daB sich nur etwa dreiBig Tatzeugen für unvorsteUbare Verbrechen fanden, sondern daB sie sich gefunden haben. So ist das Wenige, das bekannt wurde, sicherhch bloB der winzigste Teü einer grauenhaften Wirkhchkeit, und auch von diesem Wenigen kann in abgerissenen Satzen nur Einzelnes berichtet werden; noch kein armer*Buchstabe für jeden TodesschreL Nun schweigt der Schriftsteller, und der Bericht spricht. Reportage aus der Hólle Leutnant Tilkens schreibt (in Briefen): „Kommandant Verstraeten besuchte meine Station und beglückwünscht mich sehr warm. Er sagte, sein Bericht werde von der Quantitat Kautschuk abhangen, die ich beizuschaffen im Stande ware. Meine Quantitat wuchs von 360 kg. im September auf 1500 im Oktober, und vom Januar an wird sie 4000 pro Monat betragen, wodurch ich einen monatlichen ZuschuB von 500 Franken verdiene. Bin ich nicht ein glücklicher Mensch? Und wenn ich so weiter fortfahre, so werde ich innerhalb zweier Jahre einen ZuschuB von 12.000 Frankenerreichen." Dann aber: „Der Dampfer Van Kerkhoven kommt den Nil herauf, er wird 1500 Trager verlangen. Unglückhche Schwarze! Ich kann gar nicht an sie denken! Ich frage mich, wie ich eine sogroBe Zahl auftreiben kann." Und: „Sümpfe... Hunger... Erschöpfung. Wie viel Blut wird wegen dieses Transportes fiieBen müssen! Schon dreimal habe ich die Haupthnge mit Krieg überziehen müssen, die nicht an dieser Arbeit teilnehmen wollen. Die Leute ziehen vor, im Walde zu sterben, als auf diese Art zugrunde zu gehen. Wenn ein Hauptling sich weigert, so bedeutet das Krieg, vollendet gute Feuerwaff en gegen Speer und Lanze! Ein Hauptling hat mich soeben mit der Klage verlassen: „Mein Dorf ist zerstört, meine Frauen sind getötet!" Aber was kann ich denn tun? Ich bin oft gezwungen, diese unglücklichen Haupthnge so lange in Ketten zu legen, bis sie für mich ein oder zweihundert Trager sammeln. Sehr oft finden meine Soldaten die Dörfer leer: dann greifen sie die Frauen und Kinder." Und dann seinem Major: „Ich sehe eine allgemeine Empörung voraus. Die Eingeborenen sind des Reginies müde — der Tragerarbeit, des Einsammelns von Kautschuk, der Beschaffung von Nahrungsmitteln. Wieder muBte ich drei Monate kampfen mit nur zehntagiger Ruhepause. Ich habe 152 Gefangene. Zwei Jahre lang habe ich in diesen Gegenden Krieg geführt, trotzdem habe ich nicht die Leute zur Unterwerfung gezwungen; sie ziehen vor, zu sterben. Was kann ich tun? Man bezahlt mich für meine Arbeit. Ich bin ein Werkzeug in den Handen meiner Vorgesetzten und führe ihre Befehle aus, wie es die DiszipUn verlangt 1" Glave, von Stanley empfohlener junger Englander, schreibt schon 1884 (also noch vor den Dekreten), nachdem er zweitausend englische Meilen durch den Congostaat gezogen ist: „Überall Kautschuk und Mord, Sklaverei in ihrer schlimmsten Gestalt. Die Missionare smd dem Staat so ganz auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, daB sie über barbarische Vorkommnisse nicht nach Hause berichten." Murphy, amerikanischer Missionar, erzahlt in den „Times", daB ein Staatskorporal beim Kautschuksammeln eine Frau fragt, wo ihr Kautschuk und ihr Mann sei; die Frau sagt, der Mann fische, den Kautschuk bringe er mit. Der Korporal sagt, du lügst, erschieBt sie, der Mann kommt mit dem Kautschuk, sieht sein totes Weib und erschlagt den Korporal. Hierauf Strafexpedition, welche den groBen Ort Solima in Asche legt und viele Leute tötet und verwundet... In Bosira werden wegen verweigerter Ablieferung von Kautschuk nach Aussage eines Stabsofhziers 1800 Menschen getötet. Im selben Monat flüchten einige Soldaten vom Staatsdampfer bei der Stadt Bombumba. Der Offizier verlangt ihre Ausheferung vom Hauptling; aber die Soldaten sind schon fort. Worauf der Hauptling verwundet, seine Frau vor seinen Augen getötet und ihr Kopf abgeschnitten wird, um ihr das Halsband zu nehmen. AuBerdem 24 Tote, einer der bewaffneten „Polizisten" (Capitas oder Waldhüter genannt) schneidet sieben Hüchtlingen, darunter einem kleinen Madchen, die Hande ab; das Madchen lebte noch und er- holte sich... Die Soldaten hetzen die Neger in den Wald, Kautschuk sammeln; wer nicht geht, wird niedergeschossen. Die abgeschnittene linke Hand gilt als Beweis für den Kommissar, daB die Soldaten ihre Patronen nicht verschwendet haben (es sind auch Frauen-1 und Kinderhande darunter). Der Kommissar erhalt zwanzig Centimes für jedes Küogramm Kautschuk. Senator Picard, Verfasser des von Leopold als „Congobibel" empfohlenen Gutachtens ist nachher in den Congostaat gereist, im „kultivierten" Eisenbahnclistrikt hat er folgende Eindrücke: „Bewohner verschwunden. Heim verbrannt, groBe Aschenhaufen zwischen verlassenenPalmenhainen und niedergetretenen Bananenf eldern. Greuel unmenschlicher Auspeitschungen, Niedermetzlungen, Ausplünderungen und Entführungen. Flucht, um Rettung im Gebüsch oder Schutz im französischen oder portugiesischen Gebiet zu finden..." Beim Pool auf der KarawanenstraBe notiert er: „Andauernd Schwarze, die auf bloBem Kopf ihre Ladung schleppen — niedergebrochen, Lasttiere mit schmachtigen Affengelenken, verkürnmerten Gesichtszügen und starren Augen, weitaufgerissen infolge der dauernden Bemühung, ihre erschöpften Gheder im Gleichgewicht zu erhalten. So kommen und verschwinden sie zu tausenden, herbeigeschleppt von dem Staat, dargeboten von den Hauptlingen, deren Sklaven sie sind und die ihnen ihren Lohn rauben—so schwanken sie den Weg entlang, mit gekrümmten Knien und vorgetriebenem Bauche, übelriechend, bedeckt mit Ungeziefer, in ungeheurer Prozession über Berg und Tal, sterben vor Erschöpfung am Wegrand oder im heimatlichen Dorf nach überstandener Wanderung." So sieht der groBe Gelehrte sein Gutachten über das staatliche Bodenmonopol ittustriert... Reverend Clark findet Ï893 in Ikoko mindestens 4000 Menschen; 1903 sind es nur noch 600. Viele von den Soldaten getötet, die anderen entfiohen, leben wie wüde Tiere im Busch und sterben dort bald. Schreibt dem Kommissar Fievez, er möchte all dies dem König Leopold vorlegen, der sicher nichts von den graBhchen Bedingungen der sogenannten Gummisteuer weiB. Und wiederum in Briefen (an viele Personen in vielen Jahren): abgehauene Hande... wilde Soldaten auf Wehrlose losgelassen. Wenn sie in einen Ort kommen, ist niemandes Eigentum und Frau sicher. Wenn sie Krieg führen, sind sie Teufel. An der Spitze der Kanoes zusammengebündeltes Etwas: die Hande... Werf en vor der Mutter den Saugling ins Wasser, denn „ihr weiBer Mann will nicht, daB sie Kinder bringen." Vor dem Reverend wird den Schuldigen gedroht, sie wiirden gepeitscht werden, aber Clark hört nachher, wie der Kommissar den Befehl widerruft, der natürlich nur des Scheines halber gegeben war. Und Clark fragt verzweifelt: „Ist es denn keinem einfluBreichen Amerikaner möglich, dem König der Belgier persönlich mitzuteüen, was in seinem Namen geschieht?" Gott segne dich, guter Clark! Das war 1896, und es wurde da für mehr als sechseinhalb Milhonen Franken Congokautschuk verkauft gegen nicht einmal drei im Vorjahr — dies allein ist es, was Leopold wissen will. Léon Berthier notiert in sein Tagebuch: „Der Kommandeur von Imesse ist fortgegangen, um das Dorf M'Batschi zu bestrafen, das mit der Steuerzahlung ein wenig im Rückstand ist. Kanoe mit Congostaat-Soldaten kehrt von der Plünderung von M'Batschi zurück. DreiBig getötet, vierzig verwimdet. Armes Dorf! Ruinen elender Hütten! Man geht von diesem Schauplatz der Verwüstung gedemütigt und herzenstraurig fort, erfiült mit unbeschreibhchen Gefühlen." Der englische Missionar Scrivener besucht Leopolds Krondomane als erster weiBer Mann auBer den Staatsangestebten: Flüchtlinge erzahlen furchtbare Dinge von Mord und Hungersnot. Nur noch 300 Menschen; wo vor sieben Jahren mindestens 3000 gelebt. Herz wird schwer bei Kunde von Bluttaten und Grausamkeit. Und wie töricht, die Leute massenhaft im Seedistrikt abzuschlachten, weil sie nicht genug Kautschuk bringen! Jetzt ist hier ein leeres Land und als unvermeidliche Folge ein sehr verringerter Ertrag an Kautschuk... Stationskommandant ist zu gutherzig, wird vom Distriktskommandanten in Brief, den Serivener sieht, getadelt.er rede zu viel und schieBe zu wenig, seine Leute batten bei letzter Unruhe bloB einen Mann getötet. Bei WeiBen Kautschuk einziges Gesprachsthema. Anderer Chef steht an Türe des Magazins, wo Neger Kautschuk abbefern; ist die Quantitat zu wenig, erschieBt er den Neger, Flüchtbnge die gef aBt werden, stellt er auf der Station hintereinander und erschieBt sie mit einer einzigen Kugel aus seinem Albinigewehr, um keine Patronen zu verschwenden... So ist ein zahbeicher Stamm verschwunden. Neger erzahlen ihm: Zu viele weiBe Manner kamen vom Strom her, hatten Flinten, unmöghch sich zu wehren. Befahlen uns, für Soldaten Hauser zu bauen; wir gehorchten. Dann Befehl, Soldaten samt ihren Frauen zu füttern, wir gehorchten. Dann Befehl, Kautschuk herbei zu schaffen tind Versprechen, dafür kleine Belohnung zu geben. Wir freuten uns zuerst. Aber dann muBten wir Kautschuk umsonst befern. Wir murrten, Soldaten schossen einige von uns tot und trieben uns in den Wald, und wenn wir nicht rasch genug befen, schossen sie wiederum. Durf ten unsere Toten nicht begraben, hatten keine Zeit, viele von uns starben im Wald vor Hunger und Kaite. Wir schleppten, als die Toten zu viele wurden, sie einfach neben die Hütten ins Gras. (Scrivener zahlt in nachster Nahe 36 Schade!). In Ibab kein Haus verschont. In Mbongo nur Sammeln von Kautschuk, lange Reihen zitternder Manner, denen man in ihre kiemen Körbe etwas Salz zuwirft, dem Hauptling zwei Meter bedruckten Baumwollstoff. Der Forschungsreisende Grigan erzahlt von dem Grenzgebiet des Congostaates gegen England: „Die Congosol- daten überschritten die Grenze, fiihrten junge Frauen und Vieh fort und haben tatsachbch alte Frauen gebunden und verbrannt. Ich mache diese Angaben nicht leichtsinnig, ohne sie geprüft zu haben. In den Dörfern fehlten die Frauen. Die Eingeborenen versicherten mir, daB weiBe Manner beim Verbrennen der Frauen zugegen waren, beschrieben mir sogar das AuBere der Offiziere. Überab sah ich Skelette in Stebungen, die entsetzbche Geschichten erzahlten!" Sir Roger Casement, erigbscher Konsul, hat im Staatsauf trag den Congo bereist; sein Bericht war das erste amtliche Dokument, das über die KautschukhöUe in einem britischen WeiBbuch veröffenthcht wurde und unmittelbar Veranlassung dafür bot, daB Leopold mindestens der Schein einer Untersuchungskommission abgezwungen wurde, die Welt aufhorcht; sein Congostaat hat sich von diesem Schlag nicht mehr erholen können. Sir Roger Casement, irischer Patriot, ist spater im Weltkrieg wegen Emverstandnisses mit Deutschland hingerichtet worden; dies beeintrachtigt in nichts die Glaubwürdigkeit seiner Berichte. Sie sind übrigens auch durch die Meldungen der Konsuln Thesiger und Smith, durch die schon angeführten Zeugnisse und die viel zahlreicheren, die nicht mehr wiedergegeben werden können, bekraftigt. Casement, genauer Kenner des ganzen tropischen Afrika, bemerkt : Furchtsamkeit der Eingeborenen, die erst aufhört, wie sie erkennen, daB er kein Congobeamter ist. Sieht einen verstümmelten, handlosen, ebjahrigen Knaben, einzigen Überlebenden einer sechsköpfigen Familie, die anderen gemordet. Auch andere Armlose. Einem Dorf wird eine Strafe von 55.000 Messingstaben (der Stab gilt einen Sou) auferlegt. Einwohner muBten deshalb ihre Frauen und Kinder verkaufen. Dort kein lebendes Haustier. Zehnjahriges Madchen muBte zur Erganzung der Kaufsumme hingegeben werden. Manner klagen, ihr Leben sei wertlos. Straten werden nach Wiükür der Beamten ver- hangt, in dem Congobudget nicht verrechnet, sondern gehören dem Kommandanten, der sie auferlegt. 72.000 Kugelpatronen werden in drei Jahren von einer Gesellschaft für ihre Kautschukgewinnung benötigt. Der schwarze Korporal, der Kautschuk bringen soll, erhalt Patronen; für jede f ehlende muB er eine rechte Hand vorweisen. Wenn eine Patrone von dem Capita auf der Jagd verschwendet wird, schneidet er einem lebenden Menschen die Hand ab, damit die Rechnung stimmt. Am MajombofluB in sechs Monaten sechstausend Patronen verbraucht, das bedeutet sechstausend tote Neger — und noch mehr, da die Kinder von den Soldaten mit ihren Gewehrkolben erschlagen werden... Kautschukpflanzen werden immer seltener. Neger müssen fünf bis sechs Tage gehen, um noch in fernen Waldern sie zu finden. Berechnung, dafl der Schwarze nach Steuersatz etwa 450 Franken Kautschuk abliefern muB und dafür im Jahr etwa 12 Franken erhalt... Im Jahr! Das AppeUationsgericht von Boma, zu einer Verhandlung gegen einen Beamten, der am MongaUamassakre beteiligt war, gezwungen, sagt in seiner Urteilsbegründung: „Es muB in Erwagung gezogen werden, daB die Leiter der konzessionierten Gesellschaft, wenn nicht durch formehe Befehle, so doch durch Beispiel und Duldung, ihre Agenten verleitet haben. Rechte, Eigentum und Leben der Eingeborenen nicht im geringsten zu berücksichtigen, ferner Waffen und Soldaten zu gebrauchen, um die Eingeborenen zur Ablieferung von Erzeugnissen und Arbeitsleistung für die Gesellschaft zu zwingen, wie auch dazu, diejenigen als Aufrührer und Verbrecher zu verfolgen, die versuchten, sich den gewaltsamen Auflagen zu entziehen. Vor allem aber haben sogar gewisse Behörden geduldet und gestattet, Frauen zu verhaften und in Haft zu behalten, um die Dörfer zur Iieferung von Produkten und Arbeitern zu zwingen." Aussagen von der durch den ganzen Staat reisenden 19 Untemuchungskomnussion, Auszüge aus den Aufzeichnungen der bezeugenden Missionare Greenfell, Harris, Stannard, Mprrison, Shepherd und anderer: lm Reich der Abir wird der Hauptling Isekifasu von Bolima ermordet, seine Frau und Kinder von den kannibalischen Wachen aufgefressen; die Hauser der Eingeborenen mit Eingeweide, Leber und Herz der Ermordeten behangen, öffenthche Auspeitschungen, von sechs Ngombemannem jeder hundert Hiebe mit der Nilpferdpeitsche. Frauen und Kinder wochenlang in Hutten eingekerkert, erstikken im Unrat. Frau, die ihrem Mann treu bleiben wollte, wird Bein abgeschlagen (arztliche Untersuchung bestatigt dies). Eingeborene, die andere Dörfer aufsuchen, werden eingekerkert. Flufi darf nur mit einem von Kautschukagenten gezeichneten PaB befahren werden, der oft sogar Missionaren verweigert wird. Verantwortung bei Verbrechen niemals festzustellen, Wache beruft sich auf Agenten, dieser auf Direktor, und dann steekt es immer. Beschwerden von Negern aussichtlos und gefahrlich; wenig Zivilbeamte, diese nicht erreichbar, weil Neger ohne Erlaubnis des Agenten sein Dorf nicht verlassen darf. Ohne Anzeigen der Missionare ware kein einziges Verbrechen bekannt geworden. Daher Bedrohungen der Missionare, falsche Anzeigen gegen sie, Versuche, ihnen das Leben in den Kautschukdistrikten unmöglich zu machen. Infolge Raubbau ist 1904 der Kautschukbestand in vollem Rückgang. Niemals wird Wachtposten fürbegangene Morde bestraft. Sechzehn Esandazeugen geben an, wie ihre Famüienangehörigen bei Eintreibung des Kautschuk ermordet wurden. Der Nachfolger des gemordeten Bolimahauptlings Isekifasu kommt mit zwanzig Zeugen und legt 110 Zweige auf den Tisch, jeder bedeutet einen Mord um Kautschuk. Die gröBten Zweige für die Haupthnge, die groBen für die Manner, die Iriirzeren für die Frauen, die kleinsten für die Kinder. Die Wachen zeigen ihm die Leichen der Seinigen und sagen: Jetzt wirst du uns doch Kautschuk Dringen! Und so geht es weiter: Schadel von Kindern zerschmettert, Mord, Leichen aufgefressen, Wachen werden von Agenten ausgepeitscht, wenn sie nicht genug gemordet hatten, Wegen ehelicher Treue verstümmelte Weiber. Kommission hört stundenlang, tagelang solche Erzahlungen; in einem einzigen Distrikt über zweihundert nachgewiesene Morde; in den nachsten viel mehr. Der Agent der Abir erwahnt, daB 143 seiner Wachen im Lauf der Jahre von den Negern ermordet wurden, die Kommission antwortet ihm, daB eben dies die Sache nur schlimmer macht: „wenn diese wohlbewafmeten Leute von den wehrlosen Dorfbewohnern getötet wurden, wie graBlich müssen die Schandtaten gewesen sein, die so verzweifelte Vergeltung herausforderten!" Ein Dorfhauptling bringt einen Strick mit 42 Knoten und ein Bundel von 50 Blattern; jeder Knoten ein Mord, jedes Blatt ein Raub. Hinter jedem Klagenden stehen Hunderte, die ferne oder schon erschlagen sind, nicht sprechen können oder nicht zu sprechen wagen. Ganz dünn und erschreckt schreit der Congo, sehr langsam schwillt der Schrei an, aber unwiderstehhch. Satans Dividenden Die Ertragnisse der verschiedenen im Congostaat arbeitenden Handelsgesellschaften waren durch etwa ein Jahrzehnt hindurch sehransteigend und gehörten vermutlich zu den höchsten, mit denen ehrenwerte Burger jemals erfreut wurden; sie bewegten sich gerne zwischen fünfzig und vielen hundert Prozent jahrlich. Die Abir, deren energische Geschaftsgepflogenheiten eben angedeutet wurden, hatte anfangs bloB 232.000 Franken eingezahlt, die ihr Jahre hindurch Millionen einbrachten, einmal in einem einzigen Jahr fünf. Es ist durchaus anzunehmen, daB ihre Aktionare und alle anderen, die aus der Kautschukhölle reichhchen Gewinn zogen, fromme Christen oder aufgeklart und human denkende Zeitgenossen waren, die sich höflich entschuldigten, wenn sie jemand versehenthch auf den FuB traten und hilfreich beisprangen, wenn irgend einer sich in die Hand schnitt, daB etwas Blut tropfte. GewiB war alles ihnen unbekannt, was am Congo geschah, um dort die Kautschukerzeugung so erfolgreich zu steigern, das waren interne Geschaftsgepflogenheiten, die in Brüssel und Antwerpen niemanden etwas angingen; wenn dann die AngesteUten und Agenten und Offiziere und Direktoren nach Europa kamen, so schwiegen sie, freuten sich, Afrika entkommen zu sein und ihr Bankkonto vermehrt zu wissen. Niemand sagt und hört gerne MBliche Dinge; sie vorzubringen, ist unschickhch, und am bequemsten ist, sie nicht zu glauben. Das System Leopolds war, den Congo eilig auszubeuten, nicht ihn langsam zu heben; alles andere folgte aus solcher Erbsünde. Er muBte die Neger fest anpacken lassen, um durch sie rasch sehr viel mehr Kautschuk zu erhalten. Plantagenbau war damals noch unbekannt; nur durch Terror heB sich die Steigerung der Kautschukmengen erzielen. Brasihen, anderes Kautschukland,. hatte keinen Leopold und keine Abir; es hat in denselben Jahren, in denen am Congo der Ertrag sich vervielfachte, ihn nicht einmal verdoppeln können, obwohl die immerzu steigenden Kautschukpreise verlockend genug waren. Dies beweist, daB vom Standpunkt sofortigen Nutzens aus gesehen, Leopold und die Abir durchaus im Recht waren. Dabei war bloB zu vemachlassigen, daB sie sowohl die Menschen wie den Kautschuk zugrunde richteten. Schon nach nur wenigen Jahren war der Bestand erschöpft, die Beibringung immer mehr erschwert und dadurch verringert. Bald darauf gab es so gut wie kein Sammeln von Rohkautscb.uk mehr; er findet sich heute in der Gtitererzeugung am Congo kaum noch an letzter Stelle. Wer auf zwanzig Jahre voraus dachte, muBte-dies erkennen. Doch die Gesellschaften wollten gar nicht an die Zu- kunft denken, sondern in wenigen Jahren marchenhafte Gewinne erzielen, und Leopold muBte seine Schulden bezahlen, Privatkriege am Nil fahren, Palaste bauen, Parks arrondieren und für Freundinnen Schlösser einrichten. Weder die Geldleute noch ihn bekümmerte es, was nachher kam — und ebenso wenig interessierte sie es, was in den Jahren ihrer Gewinne am Congo geschah und mit wie viel Blut ihr Kautschuk vermengt war. Sicherlich hat Leopold niemals Greuel befohlen, wahnte sich inmitten unzweifelhafter Schuld vollkommen unschuldig. Wozu hatte er Negerhande benötigt ? Was sollte der Feinschmecker mit Kannibalenschmausen anfangen ? Er hat sich höchlichst über jene entrüstet, die ihn als verantwortlich erklarten. Er hat immer nur gewollt, was notwendig zum Verbrechen führte, doch das Verbrechen selbst nicht an sich her an kommen lassen; gleich den Negern blieb er in sein Ausbeutungssystem verstrickt, sie als seine Opfer, er als NutznieBer. Um immer mehr Kautschuk aus dem Congo verbrachten zu können, war notwendig, erstens die Neger zum Sammeln zu nötigen, zweitens nicht ernstlich zu bezahlen, weil dies die Ertragnisse zu sehr geschmalert hatte, drittens dorthin Leute zu entsenden, die ein Interesse an steigender Ablieferung hatten, und viertens dann immer diese Leute zu decken; wenn sie Vorwürfe oder gar Gericht zu fürchten hatten, konnten sie nicht erfolgreich arbeiten. Fünftens war zu verlündern, daB irgend jemand neugierig zusah und sich entsetzte und Larm schlug. Sechstens waren solche Anklager dann zu vernichten oder, wenn dies nicht gelang, einzuschüchtern und zu verdachtigen oder ihre Behauptungen als Lüge zu erklaren. Der Neger fürchtete sich vor der Arbeit, sie war ihm ungewohnt. Niemals war er freiwillig zu ihr bereit, auBer wenn er gut bezahlt worden ware und mit dem Ertrag sfch nach seiner Lust hatte kaufen können, was er wollte, und auch dann hatte er, Kind des Augenbhcks, nicht so bald systematisch und gleichmaBig die Walder abgesucht. Weil Leopold dies wufite, hatte er sich das ganze Land zugesprochen, wodurch die Neger gar keine anderen Erwerbsmögbchkeiten hatten, und weil er ausbeuten wobte, duldeten er und seine Geschaftsfreunde keine fremden Handler, welche dié Preise hatten verderben können; seit Menschengedenken war in keinem Land das Staatsmonopol so vollkommen durchgeführt wie im Congostaat, der feierhch im Zeichen der vollkommenen Handelsfreiheit gegründet worden war. In keiner anderen Kolonie als nur eben dort wurde ein fremder Handler unter einem Vorwand aufgehangt, ein anderer gefesselt und, als er das Gericht von Boma anrief, auf der Reise von den schwarzen Soldaten getötet; das genügte dann doch, um abzuschrecken. Also hatten die Congoneger keine Wahl. Als Mitinteressenten und zugleich Mitschuldige hatte Leopold an zweitausend Agenten im Land, die ihrerseits an zwanzigtausend Schwarze, teüweise Kannibalen, als Soldaten ansteUten und nun auf die fremden Stamme losbeBen. Söhne der Wüdnis, die Feuerwaffen bekamen, ihre mörderische Macht auskosteten und bestraft wurden, sowie sie nicht genug Kautschuk erpreBten. Nur ganz selten, wenn ein Fall infolge ungünstiger ZufaUe sich nicht ganz verschweigen heB, kam es Zu Anklagen, und da deckte das System die Schuldigen; bloB die Anklager wurden gefaBt und als Schuldige erklart. Erhob ein Missionar in seiner Gewissensnot und heiliger Empörung Anklage, schlug er Larm, dann starb ér plötzbch oder erkrankte oder er wurde als engbscher Agent oder übelwoUend erklart; die gemarterten Neger, die er als Zeugen anrief, wurden eingeschüchtert und widerriefen; es gibt dafür die unzweideutigsten Beweise. Europa wuBte von aU dem nichts; es soUte nichts wissen dürfen, und Leopold selbst woüte nichts wissen. So voüstandig abgeschieden war damals sein Afrika, so sehr war dessen Absperrung ihm gelungen, daB viele Jahre hindurch kaum hie und da ein paar Buchseiten, Missionarsbriefe oder Zeitungsartikel etwas von der Kautschukhölle am Congo berichteten. Zwanzig Jahre hindurch bheb alles Wesenthche unbekannt, und fünf Jahre langer bheb Leopold noch Herr am Congo. Sicherlich, einige Kenner ahnten und wuflten schon Bescheid. 1896 antwortet Josef Chamberlain, im Unterhaus, damals englischer Koloniabninister, daB Neger aus Rhodesia im Soldatendienst des Congostaates miBhandelt und getötet worden seien und jetzt ihnen der Mihtardienst dort verboten ware. Itahen untersagt ebenfalls seinen Offizieren, in die Congo-Armee einzutreten. Dort kauft sich der Staat Soldaten; sie erhalten je nachdem 90 und 65 Franken Prarnie, Kinder, die mindestens ï Meter 20 Zentimeter hoch sein müssen, Ï5 Franken. Kaum anzunehmen, daB alle ihre weiBen Antreiber mordgierige Narren sind, doch immer wieder erkennen sie, daB sie peitschen, brennen, morden müssen, sonst liefern sie nicht genug Kautschuk ab, verheren ihre Stellung und müssen dann noch den ReisevorschuB zurückzahlen. Können auch gar nicht auf den Staatsdampfern zurückreisen; auch sie also sind Gefangene des Systems. Genug Gescheiterte, Entwurzelte, Bösartige mit geduckten und nun losgelassenen Trieben mögen darunter sein; sie entfalten sich in der glühenden Sonne, niemand wehrt ihnen, die Neger sind ihnen preisgegeben, so toben sie sich aus. Tropenkoller, vereinzelte Verbrecher, sagt dann der Staatssekretar in Brüssel und seine Presse, die es als patriotische Pflicht betrachtet, ibren König und sein groBes, vielbewundertes Werk zu decken; schheBhch sind es zumeist Belgier, die im Congostaat wir ken, und Belgien ist ja der Erbe. Aber es scheint, daB der TropenkoUer dort abe erfaBt, und die Verbrecher werden stets entschuldigt, milde beurteilt, selten verfolgt und wenn, dann begnadigt. Ware es anders, so würde das System zusammenbrechen. Der Beweis hiefür wird nach Leopolds Tod ziffernmaBig er- bracht; sowie Pramien für Agenten und Arbeitszwang für Neger aufhören, stürzt der Kautschukertrag immer mehr; er muB eben mit Blut begossen werden. Über den Umfang dieser Blutproduktion fehlt jede Statistik, und neuerdings neigt man zu der freundhcheren Ansicht, die früheren Schatzungen der Anklager und „Pamphletisten" waren übertrieben gewesen, es sei nicht wahr, daB die Bevölkerung auf die Halfte wahrend des Vierteljaluv hunderts Leopolds am Congo gesunken sei. Auch hat an der Verringerung gewiB die Schlafkrankheit einen groBen Anteü. Immerhin ist festzusteüen, daB groBe volksreiche Gebiete, die Stanley deshalb besonders ausführhch bei seiner Entdeckungsfahrt erwahnte, fast bald darauf wie ausgestorben waren. Lord Cromer fallt dies bei einer Nüfahrt vor Lado besonders auf: das englische Ufer voll Dörfer, deren Einwohner dem Dampfer fröhlich zuwinken, jenes des Congostaates leer und wo man Eingeborene sieht, flüchten sie erschreckt vor dem Schiff. Die vielen Tausende und Zehntausende der Gemordeten sind nur der kleinste Teü der Opfer, die anderen sind in die Wüdnis geflüchtet und dort verdorben, ernahrten sich schlecht, wurden leichte Beute der immer mehr sich ausbreitenden Krankheiten; jedenf alls hat das Licht, das Leopold nach Afrika bringen woüte, sehr viel Ahnhchkeit mit einem Höüenfeuer. Im gleichen Verhaltnis mit dem Steigen des Kautschukertrages sank die Menschenzahl und ebenso merkbar ihr innerer Wert und ihr Glück. Trotz Sklavenjagden und Menschenfressereien waren die Congoneger weniger krank, furchtsam, rechtlos, waren sie fröhlicher und reicher, bevor Stanley den Strom bezwang und das Geheimnis ihrer Existenz ihnen raubte. Durch ein Vierteljahrhundert hat sich nichts von dem erfüUt, was in den Predigten des Kardinals Lavigerie, in den Büchern von Stanley, in den Reden der Diplomaten, in den Verhandlungen der Kongresse und in den VerheiBungen von Leopold ver- sprochen wurde. So seltsam spielt das Leben: Zur selben Stunde, da die wilden Soldaten ein friedliches Dorf am Congo überfallen und dessen Menschen langsam ausmorden, da jene Gebiete, die er als erster betrat, voll HaB, Grauen und Martern sind, steht der alte Stanley, schon vom Tod gezeichnet, in dem schonen G art en, den er sich inmitten der guten englischen Landschaft um seinen stattlichen Herrensitz angelegt hat. Neben ihm seine Frau, und heiter taufen sie den durchflieBenden breiten Bach Congo, kleine Rinnsale nach den Nebenflüssen des stromenden afrikanischen Riesen, Stanley benennt friedhche Platzchen und schattige Winkel nach den blühenden groBen Ortschaften, die er als Erster betrat, und er ahnt nicht, wie verbrannt, verlassen, unglückhch und ausgemordet sie nunmehr sind, spielt kïTullréh mit Namen, Menschen, Stammen, die er entdeckte und durch seine Entdeckung verdarb, unbewuBt seiner Schuld und immer noch stolz auf seine Tat. Kein Hauch von Fluch und Schrei aus Fernen und Wüdnis dringt zu ihm, da er lachelnd auf das Wasserchen deutet, das sich an einer Stelle ein wenig ausbreitet und meint: Stanley-Pool. Er wollte sich, sein Werk; er hat dies Grauen dort nicht gewollt. Und doch —. Zur selben Stunde steht Leopold im Palmengarten um seinen Herrensitz an der blauen Küste. Neben sich die hübsche junge Gefahrtin. Es ist 1902, noch hat der groBe Sturm gegen ihn kaum begonnen. Der König weiB nichts, will nichts wissen, was da unten geschieht in jenem Reich, das ihm gehört. Der Kurier bringt die Berichte, alles ist gunstig, das Jahr wird den Ertrag auf fast sechs Millionen Kilogramm Kautschuk steigern, das wird immer weiter so gehen, hofft Leopold und ahnt nicht, daB niemals wieder diese Menge heraus zu holen sein wird, daB nun doch Augen hineingesehen haben in seinen verschlossenen Besitz, mit so viel Stacheldraht und Sperrschüssen er ihn auch umeeben hat. In all diesen Akten und Memoran- den, die er scharf überprüft, ist nichts zu ahnen von dem Elend, der Schmach, der erniedrigten Menschlichkeit, die in jener Ziffer von sechs Milhonen Kilogramm steekt. Ein Baurifl für das SchlöBchen, das der Gehebten gekauft wird, Muster für Tapeten, Zeitungen mit Zerrbildern, die er spöttisch belustigt betrachtet, dazwischen Noten an den Rand der Congoberichte geschrieben, er erledigt es: ein schoner stattlicher Greis, fest in der guten Sonne stehend und aufs azurene Meer schauend. Dieser kluge Weltmann, dieser feine Meister von Wort und Tat, er ist der Satan der Kautschukhölle, unvorstellbare Verantwortung lastet auf ihm, kraftlose Flüche f allen tausende Meilen vor ihm ohnmachtig nieder, noch rührt ihn nichts davon an, er glaubt sich im guten Herrenrecht, er wird dem Gericht einer empörten Menschheit stolz trotzen, kein Bild der Verhungerten, kein Jammer der Beraubten, kein Stöhnen der Sterbenden dringt zu ihm, gleich Stanley woüte auch er immer nur sich selbst und sein Werk, nicht jenes Grauen, nichts davon hat er beabsichtigt oder befohlen, alles freüich erzwungen, so steht er und so bleibt er zwischen Unschuld und Schuld bis zum jüngsten Gericht. DER ANGEKLAGTE Anklager SCHON 1894 werden Proteste der Antisklavereigesellschaft gegen den Congostaat veröffentlicht; 1896 fragt Sir Charles Dilke im englischen Unter haus an, und es folgt eine öffenthche Versammlung; die Congogreuel erobern sich ein kleines Platzchen in der allgemeinen Aufmerksamkeit, die sich nur langsam erweitert. Erst 1902 beginnt die Agitation lebhaf ter zu werden; am 20. Mai 1903 interpelliert Herbert Samuel mit Vorbringung furchtbarer Einzelheiten, und der Premier erklart, sich über den „überwaltigenden FaU" mit den anderen Signatarmachten der Berliner Akte in Verbindung setzen zu wohen. Ende 1903 erscheint dann der Bericht Casement als enghsches WeiBbuch, der Zorn steigt, Marz 1904 wird auf einem Meeting in Liverpool die Congoref orm-Association gegründet. Es folgen dann Debatten in der itahenischen Kammer und im anterikanischen Senat, wo erklart wird: Eine internationale Aktion ist nötig. Die Congoregierung ist unmittelbar verantworthch. Eine Erklarung von 52 Missionaren wird verlesen: „Wir haben kein anderes Interesse als jenes der Menschheit und den Wunsch, daB die Eingeborenen nicht ganz vom ErQ,boden verschwinden sollen." Der Bischof von Durham spricht von „einem fürchterhchen Fleck auf dem christlichen Namen", der Erzbischof von Canterbury von „einer Last auf dem Gewissen Englands." ÜberaU bilden sich GeseUschaften zum Schutz der Congoneger, Morel schreibt seine pathetischen leidenschaftlichen Bücher, das Wort „Congogreuel" wird ein fester Begriff, Versammlungen werden überall abgehalten, die Welt hat nach Dreyfus und dem Burenkrieg wieder ihre Affare, in der sie sich nach Herzenslust moralisch entrüsten kann. Wie ein Taifun braust und stürmt die öffenthche Meinune. ihre eanze Empörung tobt gegen einen einzigen Mann: Leopold. Sein war die Kraft, den Congostaat zu schaffen, sein Ehre und Vorteil, sein nun auch Schmach und Zorn. Ware die öffenthche Meinung organisiert, ware sie eine Macht gewesen, so hatte er ihr keinen Tag widerstehen können. Leopold widerstand ihr nach der Unterhausdebatte noch fünf, nach früheren schreckhchen und unwiderleglichen Enthüllungen noch mehr Jahre; er konnte beschimpft und gehaBt, jedoch nicht gebrochen werden. Seine Anklager kamen von den verschiedensten Seit en, bildeten eine sonderbare Allianz, in deren Buntheit ihre Schwache lag; auch konnte der Mord an fernen schwarzen Vólkern nicht so dramatische Spannungen liefern wie der Justizmord an einem Einzelnen. Dies und die Geschickhchkeit einer beweghchen und stets dem Feinde angepaBten Abwehr, in der Leopold seine Menschenkenntnis und pohtische List bis zur Vollendung steigerte, ermöglichten ihm, das sichthch verlorene Spiel noch lange fortzuführen, doch auch sie scheiterten an der Unmöghchkeit, es zu gewinnen. Der König konnte erreichen, daB aus der akuten Krankheit seines Congostaates eine chronische wurde; allein sie wurde dadurch nicht leichter. Er hatte gegen sich: Die Skandalmacher, die Interessierten, die durch ihn ausgeschlossenen Handler, die Sozialisten, die Frommen, die Menschenfreunde und schlechthin alle Menschhchen. Pohtisch so ziemhch alle Staaten und Regierungen und die erdrückende Mehrheit seines Belgiens. Hatte all dies sich gegen ihn addiert, so hatte die Summe ihn erdrücken müssen. Also war es notwendig, sie von ein ander zu subtrahieren, und keiner verstand dies besser als er. Das Besondere der abgeschlossenen und von ihm so fest verriegelten Congo welt brachte es mit sich, daB die meisten seiner Anklager keine Belgier sein konnten, die Mehrzahl von ihnen Missionare, Konsuln, Weltreisende, die anderen Nationen, zumeist England, angehörten. Ihnen schlossen sich dann eifrige und erglühende Schriftsteller an, sicherlich die meisten aus ehrUcher Empörung, alsbald wie immer auch Profiteure, die aus einer popularen Sache Nut zen ziehen und sich ein Rühmchen erschreiben oder erreden mochten. SchlieBlich kamen als Nachhut die Marodeure, an denen es da niemals fehlt, rasche Erpresser und Verleumder, entlassene Beamte, die sich rachen wollten, Geschaftemacher und Pasquillanten. Leopold heB durch seine Angestellten den GegenstoB gegen diese niederste Sorte seiner Gegner führen, er entsendete seinen Staatssekretar nach London, um einen armseligen Kapitan Burrows verurteilen zu lassen, der aus der Greuelkonjunktur ein wenig erpressen wollte, es gelang ihm auch in einem einzelnen Falie ein englisches Gericht zu der Anklage zu bewegen, daB die Verstümmlung eines Negerkindes von einem Unfall heiTührte, und so klaglich dies alles angesichts der zahllosen durch ehrenwerte und vollkommen uninteressierte Manner vorgeführten Beweise auch war, so konnte es immerhin doch verwirren; die öffentliche Meinung schloB aus einem oder zwei Fallen, daB die Anklagen ungerecht oder mindestens übertrieben seien, und so war ihre Wucht abgeschwacht. Gegen die Konsuln konnte vorgebracht werden, daB sie den Interessen der englischen Politik dienten, die sich des Congostaates bemachtigen wollte; nunmehr bedauerte sie, Stanleys Anerbieten abgelehnt zu haben, die Ertragnisse im Imperium Leopolds waren verlockend; was einfacher als zu behaupten, daB die britische Entrüstung zu vorteilhaft für England ware, um nicht eine Komödie zu sein? England, das eben die Burenrepubliken sich unterworfen hatte, wollte nunmehr auch nach dem Besitz eines anderen schwachen Staates, nach dem Congo greifen, sein Afrika noch mehr arrondieren, und seine Missionare handelten bloB als seine politischen Agenten, indem sie dem offiziellen England dazu den notwèndigen Vorwand lieferten. All dies HeB Leopold nicht bloB in der ihm zuganglichen belgischen Presse verbreiten, durch sein wohldotiertes Congobüro kamen solche Anschuldigungen auch in die deutschen und französischen Zeitungen, Eifersucht und Argwohn gegen England helfen ihm da nach, und es ist auch gar nicht abzustreiten und sogar nach manchen viel spater bekannt gewordenen diplomatischen Zeugnissen nicht unwalirscheinlich, daB zwischen Berlin und London versucht wurde, verdachtige Faden zu knüpfen. Nur daB die von Leopold sehr überlegen geführte Abwehrpropaganda absichtlich hier die Dinge verwirrte und f alsche Beziehungen schuf: die Greuel waren sicherlich echt, und auf eine oder die andere Übertreibung und Irrtum kamen tausende, die unbekannt bheben, und wenn auch imperialistische Absichten anderer Staaten echt waren, so folgte daraus bloB, daB sie jener Greuel sich für ihre Zwecke bedienen wollten, nicht aber, daB es keine Greuel gab. Womit auch die spateren Versuche höfischer belgischer Historie sich erledigen, durch persönliche Vorwürfe gegen Casement und Morel die furchtbare blutige Ausplünderung des Congo abzuleugnen. Im übrigen gab es da noch andere Losungsworte, die Leopold ausgeben liefi: Wo es nicht gelang, einen Anklager oder Zeugen einzuschüchtern oder zu verdachtigen, wurde er als weltfremder Priester hingestellt, der nichts von der rauhen Wirklichkeit des dunkelsten Afrika wuBte und nicht verstand, daB man faule und gefahrliche Kannibalen nicht bloB mit Bibelsprüchen zur Arbeit bringen konnte. Was blieb dann noch von den Anklagern übrig? Literaten und Dichter, die niemals im Congostaat gewesen waren wie Anatole France, Mark Twain, Conan Doyle, Pressensé und Pierre Mille; ihre Entrüstung bewies nichts. Natürlich war es möglich, daB da und dort einmal ein Agent pflichtvergessen und grausam war; solche Leute finden sich in der Kolonialgeschichte eines jeden Landes, es war offenbar ungerecht, dies gerade Leopold als Verbrechen anrechnen zu wollen. Niemand bedauere mehr als er, wenn seine menschenfreundlichen Absichten durch unwürdige Staatsdiener oder schwarze Söldner miBachtet würden. Man gebe bestinunte Falie an, sie würden genau untersucht und wenn eine Schuld dann erwiesen würde, so würde der Schuldige strenge bestraft werden. Aber man vergesse nicht, daB die eifrïgsten Anklager gerade die Sozialisten seien; sie wollten in Leopold zugleich das Königtum und das friedliche Bürgertum treffen, das, indem es Afrika dem Handel öffne, eine edle Aufgabe erfüllt. Ahnliche Ausführungen tauchten damals überall in der europaischen Presse auf; niemand kennt die Summen, über die das Pressebüro des Congostaates verfügte, wie ja überhaupt kein Budget des Congostaates jemals bekannt wurde; es gab da eine vollkommene Vermischung zwischen den Staatsausgaben und den privaten Einnahmen des Königs. Doch Kenner Leopolds und der damaligen Presseverhsütnisse dürfen vermuten, daB viel Kautschuk und Negerblut sich bei gefügigen Journalisten oder Verlegern in gutes belgisches Gold verwandelte. So erweiterte sich immerhin der Kreis jener, die am Congostaat verdienten; ausgeschlossen davon waren bloB seine Neger. Nun ist es klar, daB alle diese Einwendungen in ihrer Allgemeinheit immer bloB sich gegen einzelne Anklager, niemals aber gegen die Anklagen selbst wendeten; selbstverstandlich wurden dabei ganz unantastbare Zeugen wie Senator Picard, wie der belgische Professor Felix Cattier oder der Jesuitenpater Vermeersch und viele andere auBer Spiel gelassen; sie liefien sich nicht verdachtigen. Doch konnte es nützen, die Eifersucht der Franzosen gegen die Englander, der Katholiken gegen die protestantischen Missionare auszuspielen, die angeblich nur deshalb sich erzürnten, weü sie den Congostaat seinem kathohschen Souveran aus der Hand winden woüten. Aber wenn die öffenthche Meinung auch weiterhin gegen Leopold und sein System ziemlich geschlossen büeb, so war durch seine Propaganda, die alle gegen einander steilte, doch eine Bresche geschlagen. Er bedurfte nur noch soldier Zeugnisse, die sich unmittelbar gegen die Anklagen selbst wenden; aber so kühn er war, so scheute er anf angs davor zurück, er schlug nicht, was ein zu Unrecht Beleidigter tun muBte, eine internationale Untersuchung unabhangiger Manner an Ort und Stelle vor; er fand, um solchem Zwang zu entkommen, das Argument, daB er ja nicht bloB Souveran des Congostaates, sondern auch König der Belgier sei; unmöglich durfte er die Beleidigung hinnehmen, wie ein Angeklagter sich verhoren zu lassen. Aber eben diese seine Doppelstellung machte alles so heikel und gefahrlich; denn obwohl der Congo offiziell Belgien gar nichts anging, so war es doch nicht bloB der angekündigte Erbe, sondern alle Anklagen trafen seinen König und mit ihm auch das Land. Es war ohne Beispiel, daB mirten im Frieden lange Debatten in fremden Parlamenten geführt wurden, welche sich ausschheBhch mit dem Souveran eines befreundeten Staates beschaftigten, ihn als habsüchtigen, Wutüberströmten Verbrecher an den Pranger steilten und die Menschheit zu einem Kreuzzug gegen den gekrönten Massenmörder aufforderten. AUe Zeitungen waren voU von Anklagen und Drohungen gegen Leopold; er er war b den Congo seiner zeit nur, weü er der König der Belgier war, und nun konnte er ihn nicht mehr behalten, eben weü er der König der Belgier war: Vergeltung. Leumund Dennoch hatte Leopold vielleicht gegen die Welt siegen können, wenn ihn noch wie einst eine Tarnkappe geschützt hatte. Doch er stand nun unvermummt seit Jahren unter den grellsten Schein werfern, Neid, Zorn, HaB und Verachtung umgaben ihn mehr als irgend einen anderen lebenden Menschen, die Menschheit sah ihn, wie er in Zerrbildern dargesteüt wurde, und wiederum sah sie ihn falsch. Der Leumund dieses Angeklagten war derart, daB von vornherein ihm alles zugetraut wurde, es genügte, ihn zu beschuldigen, und schon galt er auch als verurteilt. Es war der Privatmann Leopold, dessen Lebensführung unverzeflüich schien, deshalb wollten die Menschen alles glauben, was gegen den König Leopold vorgebracht wurde. Vorbei für immer war die Zeit, in der er als milder Förderer der Forschung, als tatiger Christ, als Pionier des Fortschritts sich vorstellen konnte. Die Leute waren überzeugt, ihn nun besser zu kennen. Sie wuBten, daB er immerzu Geld raffte, rücksichtslos auf seinen Vorteil bedacht, ein König der Börse, des Elfenbeins, des Kautschuks, ein unermüdhcher Gründer und oft wohl, die Grenzen verwischen sich bei den Entrüsteten, auch ein verdachtiger Schieber. Schon sein Reichtum reizt unertraghch auf, den er unbekümmert in jungen Weibern und Prunkbauten zur Schau steht, dabei aber doch erbitternd geizig bleibt. Hat man jemals gesehen, daB ein Vater in einer Anstalt für Geisteskranke seine Tochter einschheBen laBt, von der alle Welt behauptet, sie sei völlig gesund? Niemals besucht er sie, hat für ihre Bedrangnis keinen Augenblick, wogégen er seine Tage und Nachte für alle Tanzerinnen, groBen, mittleren und kleineren Kurtisanen jederzeit frei hat. Bricht er nicht auch mit der anderen Tochter, nur weil Stephanie, tragisch zur Witwe geworden, einen neuen Ehebund eingeht? Verwehrt er nicht endhch noch der letzten, die bei ihm bheb, die Emwühgung zu einer ebenbürtigen Ehe, laBt die Alternde neben sich verdorren, sei es aus kalter Selbstsucht, sei es aus Geiz, um ihr nichts in die Ehe geben zu müssen? War er nicht stets seiner Frau ferne geblieben, hatte er sie nicht in bedrückter Einsamkeit gelassen? Sogar noch als sie im Sterben lag, zögerte er mit seinem Kommen, trank ruhig sein Heüwasser im Kurort, an der Seite die junge Freundin, ein Argernis für alle. Kam, als die Königin schon gestorben war, und verjagte 20 zuerst, ein höchst unnatürhcher Vater und umgekehrter König Lear, die Tochter vom Sterbebett ihrer Mutter, bevor er für eine Viertelstunde zu seiner toten Frau ging, ihr seinen letzten Pflichtbesuch abstattend. So war er Mittelpunkt des Weltskandals, ein ewiger AnstoB jedem Fühlenden gerade in diesen letzten Jahren geworden, und immer noch überbot er sich, schien Getallen daran zu finden, durch Rücksichtslosigkeit und Harte aufzureizen. Prozessiert mit den Kindern, um ihren Erbanteil zu verkürzen. Die Entrüstung war kaum zu überbieten. Man kannte den alten Mann als lüsternen Schatzer jungen Frauenfleisches, er stand überall dort, wo sich in Paris die Lebewelt traf, sein Patriarchenbart schien vom Schaum aller Orgiën benetzt, nun hatte er sich noch ein Dirnchen zugesellt, das aus den schlimmsten Tiefen kam, zeigte sich mit ihr schamlos überall. Dies alles war bekannt, überbekannt, und eben in diesem Augenblick wurden die neuen umfassenden Berichte über die Congogreuel in die Welt gerufen. Am Congo, in Leopolds Reich? Dann war es wahr, dann muBte es wahr sein, solchem Zyniker, solchem herzlosen geilen Wüstling fehlte nur noch eine blutige Quelle seiner Millionen, um ganz dem Büde zu entsprechen, das frommer Abscheu und eine stets bereite moralische Entrüstung sich von ihm gemalt hatten. Die Wirkung jener Anklagen auf ihre Zeit ware heute unbegreiflich, wenn man dabei übersehen würde, wie sich die Zeitgenossenschaft zu Leopold gestellt hatte. Er zeigte ihr offene Verachtung; sie vergalt es ihm mit ihrem HaB. Es gab auch sonst Schandhchkeit und Entartung genug in Tropenlandern, doch das Wenigste drang über die Missionsberichte hinaus und stets bheb es flüchtige Sensation; es schien das Schicksal der Schwarzen in jenen unbekannten Landern, von menschlichen Bestien miBhandelt zu werden. AUerdings, der Congostaat war sehr groB, und dort wurde Staatssystem, was anderswo nur Verirrung von Einzelnen war. Aber dies hatte kaum genügt, um eine so andauernde Empörung zu erregen, wenn jener Staat nicht das Werk Leopolds, nicht er selbst gewesen ware. Begierig stürzte sich jedermann auf solche neue höchste Gelegenheit, Leopold zu hassen. Er, der sich so schandlich gegen Frau und Tochter benahm, der Habgierige, der Lüsterne, zugleich Geizhals und Verschwender, er war wohl auch der Mann, mit der Nilpferdpeitsche, mit Brand und Mord die wehrlosen Schwarzen zu zwingen, für ihn Milhonen zu raffen. So kam alles zusammen: Der Neid gegen den Reichen, der Arger, von diesem Listigen hintergangen worden zu sein und ihm das afrikanische Reich ausgeliefert zu haben, die Beleidigung, daB hier jemand so offensichthch die öffenthche Meinung verachtete. Und solche in ihrem Tiefsten nicht ganz reinen Massenempfindungen verbanden sich mit aufrichtiger Menschhchkeit, mit dem Gefühl brüderlicher Verantwortung für das Leid der Schwachsten, mit jenem immer noch gelebten Christentum, das aus dem unerbittlichen Kampf der Missionare flammt. Leopold laBt durch seinen Staatssekretar schone Worte sagen, beteuert seine edlen Absichten, er will wieder scheinen, als was er sich ausgegeben, doch es ist vergebens, niemand glaubt es ihm mehr, man nimmt solche Erklarungen nur als Heuchelei und Beweis, daB er sich schwach fühlt. Stanley hatte, als er den Congo entdeckte, ausgerufen: „Oh kame doch die Stunde, in der eine Gesellschaft philosophischer Kapitalisten sich verbindet, diese schonen Lander zu befreien!" — die Welt hat nun die Befreiung, hat die philosophischen Kapitalisten und ihren verantwortlichen Führer gesehen und ihr Instinkt fühlt Leopold als den Feind. Ein Mann von solcher Harte gegen seine Nachsten muB auch so unbarmherzig gegen die Neger sein. Mit all seinen Argumenten, Manövern, Listen kann Leopold wohl augenblicklich Verwirrung stiften, doch niemals jenen Instinkt hesiegen. Im „Punch" erblickt man neben in Brand lodernden Hütten das Bild eines Negers, den eine Riesenschlange erdrückt; dem Wankenden nahert sich begierig ihr ungeheurer Rachen; der Schlangenkopf hat einen langen weiBen Bart und oben eine Krone. Im „Simplizissimus" kommen die zwei abgeharmten Töchter Leopolds und erbitten abgelegte Kleider seiner Geliebten. In diesen beiden Karikaturen wie in hunderten anderen, denn er ist neben Wilhelm der meist karikierte Mensch jener Jahre, wird das unerschütterhche Urteil über den angeklagten Leopold ausgedrückt. Die Menschen wuBten nichts von seinem tiefen groBartigen Hochmut, seiner bizarren Form des Königsgedankens, die ihn gegen seine Töchter steilte und Reichtum raffen hieB, gleichvielmit welchen Mitteln. Sie ahnten auch nicht, daB da mitten unter ihnen, modern eingekleidet, noch der letzte echte König umherging, gebieterisch, ün Geld Macht und Dauer suchend und so eingesponnen in sein Wesen, daB er die gepeinigten Neger gar nicht bemerken konnte. Und auch wenn sie es gewuBt hatten, so hatte ihn dies nicht entschuldigt; sie hatten ihn dann nur besser verstanden und weniger hassen können. Jener HaB aber war für sie notwendige Entlastung der Seele; er war durch keine sentimentalen Beteuerungen zu erschüttern und er bestimmte Leopolds Verteidigung. Verteidigung Anfangs hat Leopold die seinem Congo drohende Gefahr un t erschat zt; er hatte sich gr eisenhaf t ver har te t und so gut er selbst propagandistische Schlagworte verwertete, so war ihm doch besonders das GefühlsmaBige darin fremd, er übersetzte es sich wie eine fremde Sprache, in der man nur denkt, jedoch nicht empfindet. Er war sehr geneigt, den Larm als bloBe Heuchelei zu nehmen, er hat die ganze Weltentrüstung als englischen VorstoB gegen den Congo gewertet und, erstklassiger Hasser, seither die Eng- lander ebenso glühend gehaBt, wie er innerlich niemals aufhörte, sie zu bewundern. Als in Indien üble Dinge sich ereigneten, schwelgte er darin, ermunterte belgische Journalisten darüber zu schreiben, HeB seine Verbindungen im Ausland spielen und höhnte: „Da haben Sie die Congogreuel!" Natürlich wuBte er, daB nicht die reinsten und uneigennützigsten Menschen als Agenten nach dem Congo gingen und wie jemand ihm schüchtern darüber klagte, da fragte er: „Wie viele Söhne haben Sie?" Die Antwort war: „Drei." Der König: „Geben Sie mir sie für den Congo!"Derbetretene Vater: „Majestatscherzen!" Darauf Leopold: „Wenn man nicht bekommen kann, was man will, muB man nehmen, was man bekommt..." In diesem kleinen Gesprach ist die Grundeinstellung Leopolds enthalten: Vor allem den Congo auszubeuten, die „ausgezeichnete Milchkuh", von der er schrieb, gründlich zu melken. Das hat ihn allmahlich von allen Mitarbeitern seiner ideahstisch maskierten Anfange entfernt. Noch bevor der Greuelsturm begann, wohten jene, die wenn auch nur von ferne in die Kautschukhölle blieken konnten, keine Verantwortung dafür übernehmen. Nicht bloB ein Ideologe wie Banning, ein korrekter Beamter wie Lambermont, sogar sein getreuer Thys, zugleich militarisch und finanziell sein unermüdlicher Helfer, fand die Last gar zu drückend, und vom selben AugenbUck an hatte ihn Leopold aus Dankbarkeit und Gedachtnis gestrichen. Selbst General Strauch, der früheste seiner Mitarbeiter, ging ebenfalls verbittert aus dem Werk, und sie alle, die schweigen muBten, bestatigten schon durch ihr Verschwinden alle Anklagen gegen das Congosystem, die Leopold nicht bloB abzuleugnen, sondern nicht zu glauben fest entschlossen war. Ebenso wie die Anderen entschlossen waren sie zu glauben, sogar wenn sie gar nicht wahr gewesen waren. VoU groteskem Humor und unvergleichhch leopoldisch ist seine erste Abskht, die er bei Beginn des Sturmes brieflich entwickelt: Aus ihm ein Geschaft zu machen. Die Anklager und die Verleger der Zeitungen, die Beschuldigungen gegen den Congostaat veröffentlichen, sollen angeklagt und hohe BuBen für die verursachte moralische Schadigung von ihnen verlangt werden. Aber wie dann die englische Regierung mitgeht, sich an die Signatarmachte wendet, die in den schwierigen Fall nicht einsteigen wollen und Erbstreitigkeiten zwischen sich um die Nachfolge Leopolds fürchten, ihm am i. Marz Ï904 das Memorandum GroBbritanniens überreicht wird, da erkennt er, daB er aus dem Greuelsturm nicht profitieren kann, wohl aber alles befürchten muB. Er legt das britische Memorandum zutiefst in jene Schublade, in die er alle nicht zu erledigenden Dinge steekt und konzentriert seine Abwehr aufs PoUtische und Juristische. Hier ist er starker als gegen die larmende Entrüstung, die ja schlieBlich doch nur zu Kriegen aufreizen, jedoch nicht sie führen kann. Er sucht persönhche Beziehungen zu verstarken, er reist rasch nach Paris, Berlin und Wien, und noch mehr reisen seine Vertrauensmanner, die besonders in der englischen GroBindustrie und Hochfinanz sitzen und dort den Volkszorn dampfen sollen. In Frankreich sucht er Stütze gegen den englischen Annexionswunsch zu finden; auch die französische Congoverwaltung wird, freihch viel schwacher, von den englischen Philanthropen angegriffen; wül Frankreich an Steüe der schwachenund befreimdeten Belgier am Congo die Englander und Deutschen sehen? Diplomatisch hat er seine Defensive dahin eingesteUt: Er ist Souveran des Congostaates, niemand ist berechtigt, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen oder ihn gar zur Rechenschaft zu ziehen. Ware dies möglich, dann stande es jederzeit im Belieben der Englander jede Kolonialmacht hinauszudrangen; entrüstete Missionare und aufgebauschte Vorkommnisse sind nach Belieben zu beschaffen. Aber von englischer Seite wird er daran erinnert, daB die Unterzeichner der Berliner Akte bestimmte Rechte haben und er bestirnmte Pflichten. Völkerrechthch gibt es da zwei Artikel 5 und 6, die Leopold gerne vergessen hat; nun aber wacht das begrabene Gedachtnis der Menschheit ein wenig auf. Artikel 5 schützt die WeiBen: „Keine Macht, die in den genannten Gebieten die souverane Gewalt ausübt, sob das Recht haben, in ihnen Monopole oder Privilegiën irgend einer Art im Handel zu gewahren." Eben dies aber hat Leopold getan. Artikel 6 schützt die Schwarzen: „Alle Machte, die in diesen Territorien souverane Rechte oder Einflüsse ausüben, verpflichten sich, über die Erhaltung der eingeborenen Bevölkerung und über die Hebung ihrer moralischen und materiellen Lebensbedingungen zu wachen." Eben dies aber hat Leopold nicht getan. Es ist also nicht wohl mögüch, den Unterzeichnern der Berliner Akte das Kontrolbecht völhg abzustreiten. Anfangs wird es, nachdem bloBes Nichtantworten offenbar nicht ausreicht und Ableugnungen abgelehnt werden, dennoch bestritten: Leopold versucht es nun seinerseits mit der Entrüstung; doch ist sie weniger wirksam als jene der Welt. Die Englander gehen langsam vor, zwei Jahre spater meint Sir Edward Grey aherdings mit leichter Ungeduld, daB England schbeBbch nicht in aüe Ewigkeit warten könne, aber der Larm gegen den Congo hort nicht auf, und da erkennt Leopold, daB er nun doch das AuBerste wagen muB, um die Welt zu beruhigen und mindestens Zeit zu gewinnen. Alle rufen nach Untersuchung im Congo, es sob festgestebt werden, wie dort die Verhaltnisse hegen und ob und was Wahres an den Greueln sei. Gut, sagt Leopold, ich willige ein. Aber ich kann nicht gestatten, daB gegen mich wie gegen einen Angeklagten verfahreü wird; ich hin der Souveran und also habe ich die Untersuchung zu führen, ich selbst als Herr und Richter. Das scheint eine Verhöhnung der geforderten internatio- nalen Kontroüe, es verspricht kein ernsthaf tes Ergebnis, es kann die aufgewühlte öffenthche Meinung kaum beruhigen, doch niemand will die Dinge zu einem Konflikt treiben, mögen auch die Missionare und Philanthropen sich entrüsten und die Soziahsten in der belgischen Kammer verlangen, daB Leopold die belgische Erlaubnis, Congosouveran zu werden, entzogen wird. Aber sie sind ja eine kleine Minderheit, Frankreich fürchtet England am Congo, Deutschland sieht schon den Krieg voraus und Wilhelm Will Belgien als Durchmarschland und Bundesgenossen; also bleibt England mit seinem Wunsch nach einer internationalen Untersuchungskommission allein, und Leopold darf glauben, daB er triumphiert. Drei Herren fahren als seine Untersuchungskommission nach dem Congo; zwei von ihnen, ein belgischer und ein schweizerischer Jurist, haben noch niemals eine afrikanische Kolonie betreten, der dritte ist ein Beamter des Congostaates; ihre Vollmachten sind beschrankt, und wahrend ihr offizieHer Zweck der Schutz der Neger gegen den Congostaat sein soll, ist ihre wahre, von Leopold ihr zugeteilte Aufgabe, ihn selbst gegen die lastigen Klagen der Neger und ihrer Fürsprecher zu beschützen. Ein Englander soll ebenfalls daran teilnehmen; aber Leopold kann, wo es notwendig ist, auch sehr langsam sein; so erhalt der Englander seine Einladung um mehrere Monate zu spat; er kommt nur zu den letzten drei Sitzungen, die am unterén Congo abgehalten werden, wo kein Kautschuk gesammelt wird, und die Einsicht der Protokolle über alle früheren Untersuchungen wird ihm verweigert; ihr Papier zerfaüt nun langsam in belgischen Geheimarchiven, sowie früher die Leiber der gemordeten Neger zerfielen. Was bedeutete dies Ergebnis? Das enghsche Unterhaus hatte „die Regierung ersucht, MaBregeln zu treffen, die zur AbsteUung der in dem Staate bestehenden MiBstande erforderhch sind." Nichts geschah. 1904 kam kei- ne Antwort aus Brüssel auf das englische Memorandum, die Regierung veröffentlichte den Bericht Casement, und nun entSendete Leopold drei Herren, zwei davon als Belgier von ihm abhangig, mit dem Auftrag, ihm Bericht über die MiBstande zu erstatten, die das Unterhaus als bestehend erklarte und die nicht zu bemerken er fest entschlossen war. Das war ein Sieg Leopolds, noch einmal schien er starker als aüe anderen, die er geteüt, ermüdet und durch juristische und politische Schiebungen abgelenkt hatte. Aber es gab zwei furchtbare Tatsachen, die er nicht überwaltigen konnte: die öffenthche Weltmetnung gegen ihn und die Kautschukhölle. Strafaufschub Eine von Leopold ausgesendete Kommission durfte niemals ihn selbst anklagen; ihr Zweck war, ihn zu rechtfertigen und mit kleinen Reformvorschlagen ein System zu decken, das aus sich selbst Greuel so gewiB erzeugen muBte, wie ein glühender Ofen Hitzè erzeugen muB. Nun wurden die Verhandlungen und Aussagen geheim gehalten, bloB die SchluBfolgerungen der drei Kommissare von Leopold am 31. Oktober 1905 veröffentlicht. In Lob und Verehrung eingewickelt, zeigen sie, wie man sie naher aus ihrer HüUe herausschalt, die vollkommene Bestatigung aüer Anklagen: „Der Staat hat absoluten und ausschHeBlichen Besitz des ganzen Landes. Wirtschafthche Lage der Eingeborenen gerat ins Stocken... Oft Eingeborenen verboten, Wohnsitz zu verlegen oder auch nur zeitweilig eine benachbarte Ortschaft zu besuchen, setzen sich Verhaftung, sogar Bestrafung aus, Ansprüche der Agenten oft übertrieben, hatten ein persönliches Interesse an der Masse des Ertrages... In der Mehrzahl der FaUe muB der Eingeborene einen Marsch von einem oder zwei Tagen machen, ehe er an die Stelle des Waldes gelangt, wo Kautschukpflan7en einigermaBen haufig vor- kommen; dort verbrihgt er einige höchst unbehagliche Tage, ohne Nahrung, ohne Frau, der Harte des Wetters, den Angriffen wilder Tiere ausgesetzt. Kann in seiner Ortschaft kaum zwei oder drei Tage verweilen: empörende Verletzung des Vierzigstundenmonats. Übernahme von Geiseln, Einkerkerung der Haupthnge, Stationierung von Wachtposten, Strafen, militarische Expeditionen. Kaum geleugnet, daB in allen Niederlassungen der Abir Einkerkerungen der Frauen als Geiseln, gewalttatiges Zwingen der Haupthnge zu entwürdigender Arbeit, Auspeitschen der Kautschuksammler, Brutahtat der schwarzen Angestellten allgemein beobachtete Regel. Berechtigung der Anklagen (wegen Mord durch Wachtposten) durch Beweismaterial und ofhzielle Berichte erwiesen. Unmöghch zu sagen, in wie viel Fallen... Verhangnisvoller Charakter des Systems. 142 Wachtposten getötet, Wunsch nach Rache... Agenten haben niemals versucht, die gegen die Wachen erhobenen Beschuldigungen zu leugnen. In amthchen Berichten über Strafexpeditionen Ausdrücke: energische Verfolgung... zahlreiche getötete und verwundete Feinde... Beute... Überraschung von Ortschaften... Grobe MiBbrauche... Manner, Frauen und Kinder sogar wahrend der Flucht getötet..." Dies alles befand sich in den von Leopold mitgeteüten SchluBfolgerungen der Kommission, deren höfische Anerkennung dadurch in ihrem Wert doch ein wenig herabgemindert war. Leopold hielt sich daran, daB alles so dargesteüt war, als liefie es sich mit Reformen andern; er hoffte, damit die Welt einzuschlafern. So ernennt er eine Reformkommission, die Vorschlage zu unterbreiten hat; in sie beruft er fast durchaus dieselben Leute, welche die Congobibel verkündigt und aus dem Staat die Kautschukhölle gemacht haben. Am 3. Juni 1906 erscheinen die Reformdekrete; sie verbieten die bewaffneten Wachtposten, gestatten auBer Zwangsarbeit eine andere Strafe bloB bei „Verletzung des Gesetzes", nehmen den Han- delsgesellschaften die Strafgewalt, erlauben die Steuerzahlung in Geld. Es scheint, daB darauf in den nachsten Jahren die Morde abnehmen (nicht ganz aufhören), aber im wesenthchen andert sich nichts, auBer daB die Ablieferung von Kautschuk nicht mehr wie früher ansteigt. Nach wie vor bleibt das Land Staatsmonopol, der freie Handel ausgeschlossen, Zwangsarbeit auferlegt. Die Anklagen horen nicht mehr auf, Sir Edward Grey erklart: „Was die anderen Machte auch tun wollen, für uns ist es unmögbcb, den jetzigen Zustand noch weiter hinzunehmen, wir können nicht mehr warten. Bisher sind wir die besten Freunde Belgiens gewesen, es könnte die Zeit kommen, wo es bedauern wird, dies nicht erkannt zu haben. Man kann uns so viele Reformen geben, wie man nur will, wir wollen Ergebnisse sehen." Auch Leopold wünscht Ergebnisse, nur ganz andere, klingendere als Grey. So haben seine Beamten nunmehr zwei unvereinbare Pflichten zugleich: den Kautschukertrag so hoch wie mögbch zu steigern und dennoch Skandal zu vermeiden, wo von überaü jetzt in den Congo hinein gesehen wird. Dadurch wird die Verwaltung immer schwieriger, die Agenten fürchten, als Sündenböcke geopfert zu werden. Für die am meisten kompromittierten GeseUschaf ten arbeitet nunmehr der Staat, der ihnen den Kautschuk zu vier Franken in Antwerpen (der Preis schwankt zwischen sechs bis elf Franken) liefert und als Mitbesitzer der Aktien weiterhin versucht, soviel Arbeit wie möghch aus den Negern herauszupressen. Die „Annales du SacréCoeur" erklaren, „an keine Besserung des Freistaates zu glauben", ein neues englisches WeiBbuch mit verurteilenden Berichten von Konsuln und Missionaren wird ausgegeben. Leopold hat aberdings Zeit gewonnen, und wenn irgendwo, so war hier am Congo die Zeit Geld. Aber er bleibt verurteilt, er hat bloB sozusagen einen Strafaufschub gegen Wohlverhalten erwirkt, und sein Wohlverhalten wird allseits bestritten. Noch immer fühlt er aber sich stark, grenzenlos ist seine Verachtung der Neider, Heuchler und moralisierenden Schwatzer. Haben sie ihn angeklagt, haben sie ihn verurteilt — wer kann es wagen, das Urteil gegen ihn zu vollstrecken ? Nur wenn Belgien ihn im Stich lassen sollte, könnte er den Congo nicht mehr halten. Er aber will ihn wahren, diese Eroberung, diese Ausbeutung ist das groBe Werk seines Lebens, er ist nicht der Mann, es sich durch Drohungen entwinden zu lassen. Aber er ist auch nicht der Mann, irgend eine Vorsicht zu vergessen. Und nun baut er wahre Minenstollen, findet Verstecke und Unterschlupf, überbietet sich selbst. Unertraglich, auf irgend etwas zu verzichten, am wenigsten auf die Macht, die er am Congo so voll, so sehr an kenlos ausgeübt hat! Er war seinem Parlament, den Parteien und Ministern da ins weite Afrika entwischt, das nur für ihn weit und frei war, soll er sich jetzt vom englischen Unter haus, den Missionaren und Schwatzern binden lassen? Ein Leopold, der in sein Reich hineinzusehen, bei sich zu untersuchen erlauben muBte, hatte seine Schwache bekannt, auch wenn er selbst die Untersuchung diktierte und seine GröBe und guten Absichten sich von den Untersuchern bestatigen heB. Schon war er verurteilt, und wahrend er sich wehrt, ersinnt er zugleich auch Abwehrstellungen, unsauber und grandios, Dinge wagt und vollführt er, so bizarr, daB nur Leopold und auch er bloB in der ungehemmten Vollendung seines Greisentums sie aus der Phantasie in geschichthche Wirkhchkeit überleiten konnte — die tragische Groteske seiner letzten Jahre beginnt.' WATERLOO MIT GESCHAFT Deckung f OR seinem siebzigsten Geburtstag laBt sich der \/ König in Paris einen beriihmten Arzt kommen; ▼ Leopold fühlt sich vollkommen gesund, aber er will wissen, wie lange er noch zu leben hat. Er befiehlt unbedingte Aufrichtigkeit, es güt ernsthafte Geschafte, er hat zu disponieren. Der Professor untersucht sehr lange, sehr genau, findet den machtigen Alten erstaunlich kraftig, die Organe nicht angegriffen und sagt: „Nach meiner Überzeugung können Majestat noch auf zehn Jahre rechnen," Leopold meint: „Das ist gut, fünf waren mir zu wenig gewesen, ich habe noch sehr viel zu tun, aber mit zehn könnte ich vieheichtauskommen..."Schontobtum ihn der Entrüstungssturm wegen des Congo, er beachtet ihn kaum, er beschaftigt sich mit riesigen Bauten, die er beginnt, vielleicht ist auch in Mesopotamien etwas zu holen, er spricht öfters davon und studiert Landkarten und Reisewerke. Noch mehr arbeitet er in China, ent wir ft Plane von Gesellschaften, entsendet Studienkommissionen dorthin, wirbt und streut Geld aus, das aber keine Früchte bringen wird. Auch der Sultan von Marokko erhalt vorteilhafte Antrage: Nichts zu verpachten? Vielleicht Agadir? Und überall auf dem Globus sucht Leopold die Stellen, wo sich noch. etwas holen lieBe. Noch mehr, noch viel mehr wül er haben, und jedenfalls, so lange er lebt, Herr über den Congo bleiben; es muB eben gelingen, noch zehn Jahre lang Belgien und die Welt hinzuhalten. Doch die Welt hat sich geandert. Vorbei ist die schone Zeit von Faschoda, wo Frankreich hassend England gegenüberstand; es ist nicht mehr so leicht sich zu schutzen, indem man die Anderen gegeneinander ausspielt, Leopolds riesige Nase wittert schon den groBen Krieg, den er nicht mehr erleben soll, aber dennoch als Befestiger von Antwerpen und Schöpfer der belgischen Wehrmacht rnit entscheidet. Die englisch-französische Entente ist auf dem Wege und England gehort seinen Feinden, mag auch sein Freund Alfred Jones, Prasident der Handelskammer von Liverpool, sich nützlich für ihn mühen. Deutschland aber macht die Greuelpropaganda gegen ihn mit, und vieüeicht laBt sich der unberechenbare Wilhelm für eine Teüung des Congo gewinnen. Die beiden Majestaten lieben sich wenig, Leopolds Spottsucht karikiert das ewige höfische „Allerhöchst selbst haben geruht" vor dem deutschen Kanzier, nur einige Schrrtte vom Kaiser entfernt, seine ganze Art empfindet den HohenzoUern als plebejisch. Er verabscheut jedes Prahlen; immer wieder mahnt er die Minister, die belgischen Zeitungen möchten Erreichtes verschweigen; genug, daB wir es wissen, warum es den Anderen erzahlen? Jedenfalls, auf Wilhelm wird vielleicht nicht zu rechnen sein. Nun kennt aber Leopold besser als jemand die ganze Schwerfalligkeit der britischen Politik, ihre ehrenwerte vorsichtige Langsamkeit, der er selbst ja den Congo zu danken hat. Er weiB auch genau, wie feuergefahrlich Europa geworden ist und wie es fürchtet, irgend etwas anzufangen, weü niemand weiB, wohin es ftihrt. Darauf vertraut er wohl. Gerade die scharfen Gegensatze, die sich ankündigen, müssen derart ihn schützen. Nicht in der alten Art, beim Streit von zwei anderen der lachende Dritte zu sein, sondern indem man vertraut, daB das Bestehende Recht hat. Mindestens noch die zehn Jahre hindurch, die der Pariser Professor ihm zugesagt hat. Aber natürlich muB man da nachhelfen, muB Deckungen schaffen und vor allem darauf sehen, daB seine Belgier nicht unruhig werden. Als erste Deckung bedient er sich der Reformen. Sie sollen beruhigen und mindestens den guten Willen Leopolds beweisen. GewiB, die Gegner sind nicht entwaffnet, immer wieder kommen neue Angriffe, doch dann wird man eben die Angelegenheit sachhch behandeln, neue Untersuchungen anordnen und spater wieder neue Dekrete erlassen. Das aUes ist gewiB argerbch und demütigend, es ist nicht mehr wie einst, wo niemand ihm hineinsah und hineinsprach; sein Stolz ertragt es schwer, sich damit abzufinden, doch seine Klugheit gebietet seinem Stolz. Man kann nicht wohl jemand wegen MiBwirtschaft ein Reich abnehmen, wenn der Besitzer immerzu sich zu allem bereit erklart und auf Fortschritte nachgiebig hinweist. Insgeheim aber kommen Erlasse an die Direktoren am Congo, daB die Reformen nicht etwa zu einer Senkung der Kautschukausbeute führen dürfen; der Zwang soll unblutig gemacht werden, jedoch wirksam bleiben. Bevor sich Klagen und Beschwerden zu Noten verdichten, dauert es immer eine Zeit, und auf eine Note folgt eben eine andere. Und so gehen zehn Jahre vielleicht doch vorüber. Jetzt ist er siebzig Jahre alt, der Congostaat wird betgisch, es ist durch feierlichen Staatsakt sein Erbe, alle Welt weiB es. Die Anklager und Ungeduldigen, die hassende Welt muB sich sagen, daB in wahrscheinlich kurzer Frist es keinen Leopold mehr geben wird, und nur Leopold selbst ist verhaBt, er allein güt als Schuldiger, er, der Herausfordernde, der Harte, der Unerbitthche. Belgien ist allen gleichgütig, und sie nehmen an, daB es als Nachfolger Leopolds eine sozusagen normale Kolonie machen wird (eine Annahrne, die im wesentlichen spater sich als richtig erweist). Warum also Staatsaktionen und Drohungen, wenn die Sache ohnehin nicht lange dauern kann? So wie Leopold mit der Furcht der Welt vor ihrem Tod, dem Kriege, spekuliert und sie in seine Rechnung einsteüt, so spekuliert er auch mit seinem eigenen Tode und hofft schmunzelnd, er werde ahe überlisten und sehr aft werden. Das ware ein bekörnrnlicher und legitimer Betrug, nur dadurch erschwert, daB er noch so sehr leben- 1 dig sich gebardet, vor dem skandalisierten Europa sich als glühender Liebhaber und junger Vater zeigt. Ferner ist er ja König, hofft auf eine Art beruflicher Solidaritat mit den Höfen, die ihm dazu noch verwandt sind. Nur daB auch diese Deckung ein wenig zweifelhaft wurde. Er hebt die gekrönten Vettern wenig, und sie lieben ihn auch nicht. Nicht nur, daB seine Lebensführung zugleich mit seiner eigenen auch jede Majestat herabsetzt; er ist ein treffender und scharfer Spotter, der nirgends unter den Thronsitzern Freunde hat. So gerne er sich mit Finanzkönigen bespricht, so wenig sagt ihm der höfische Pomp etwas, er weicht allem Ofnzieüen gerne aus. Sein Verwandter, der bulgarische Coburger Ferdinand, fragt den belgischen Vertreter in Sophia stets unterstrichenbebenswürdig: „ Wiegeht esmeinemlieben Vetter ... Albert ?" Und weiB, daB dies Leopold berichtet wird und den Alten, der seinen Erben und Neffen wenig hebt, argert. Franz Joseph in Wien halt sehr auf Haltung und verzeiht grundsatzhch keine Verletzung der Korrektheit. Leopold hat mit seiner Tochter Stephanie wegen ihrer zweiten Ehe gebrochen, die Franz Joseph erlaubt hat; dieser empfindet Leopolds Verhalten als Beleidigung. Ebenso scheint es ihm ungeheuerhch, daB Leopold nicht die Schulden für seine Tochter Louise bezahlt und sendet nach Brüssel seinen Vertrauensmann Fürst Montenuovo, dem Leopold kühl entgegnet: „Für mich ist meine Tochter tot." Worauf Franz Joseph (es ist dies eines der zweieinhalb „mots", die aus seinen achtzig Jahren berichtet werden) dem Fürsten gereizt antwortet: „Warum haben Sie ihm nicht gesagt, daB man auch für seine toten Kinder die Schulden bezahlt?" Wilhelm denkt von Leopold: „Ein Besuch ist angekündigt? Taschen zul" Eduard von England hat wenig persönliche Beziehungen zu dem Vetter, der von der Skandalsucht oft mit ihm zu Eduards VerdruB verbruiden wird. So kann Leopold nur allenf alls erwarten, daB er als König von den KoUegen wohl grund- satzlich gestützt wird, aber nicht persónlich als Freund und Verwandter. Seine besten gesellschaftlichen Beziehungen hat er mit einigen geistreichen Franzosen; er, der die Republik verachtet, sucht denn auch immer mehr das nahe Paris auf, in dem er sich zu Haus fühlt und nach Wunsch verschwinden und auftauchen kann. Bleibt als Deckung noch das eigene Land; er ist der König, ist mit der jetzt allein herrschenden katholischen Bürgerpartei auf Gedeih und Verderb verblinden, und je mehr die Sozialisten ihn hassen, desto mehr wird er dadurch der Bundesgenosse ihrer Feinde, die in ihm sich selbst stützen. Leopold ernennt grundsatzlich keine sozialistischen Bürgermeister, empfangt keine Abordnung der Frauen von wegen Streikunruhen verhafteten Arbeitern; die Katholiken durf en sich nicht gegen ihn stellen, und wenn sie auch den Congo ihm abnehmen wollen, so müssen sie doch scheuen, in einen offenen Konflikt mit ihrem König zu geraten. Es ist wahr, daB auch er einen solchen Gegensatz scheuen muBte, doch er weiB sich im Besitz der starkeren Nerven, er hat vor ihnen den Vorsprung, nicht an Volkstümhchkeit zu denken, er ist unbehebt und entschlossen, Behebthedt zu verachten, und wenn irgend jemand hat er den Beweis gehefert, daB er sich nicht fürchtet, im Skandal zu stehen und unerschüttert zu bleiben. Also meint er, von hier aus keinen Verrat fürchten zu müssen, und er würde eine Annexion des Congostaates durch Belgien, solange er noch lebt, als Verrat ansehen. AUerdings hat Belgien nach seinem Testament und dem Gesetz von 190I jederzeit das Recht, die Annexion zu verlangen. Er muB sich sagen, daB auch diese Deckung recht zweifelhaft ist; denn indessen ist der Congo ein glanzendes Geschaft geworden, aus dem er Schatze zieht, die Milhonen strömen ihm zu, und der Neid multipliziert sie noch, also liegt es nahe, daB Belgien sich an seine Stelle setzen will, und auBerdem weicht es damit der Gefahr aus, daB der Congostaat durch irgend einen 21 stets drohenden Vorstoö Englands und Anrufung der Berliner Akte wegen Vertragsverletzung dem kleinen neutralen Belgien ganz entwunden wird; England muB die Nachfolge durch Belgien nicht anerkennen. All dies drangt zu einem VorstoB Belgiens gegen ihn, er beginnt immer mehr zu erkennen, daB seine Deckungen versagen. Da holt er zum GegenstoB aus. Was kann er in so verzweifelter Lage tun? Dies: plötzlich neue schwere Bedingungen stellen, die eine Übernahme sehr kostspielig machen und dabei in ihrer Wirkung entwerten muB. Er kann versuchen, den Congo zugleich zu ver kaufen und in anderer Form doch zu behalten, den Schein der Macht aufzugeben, diese selbst aber zu bewahren. Belgien bbebe solcherart die Verantwortung für Zustande, die es kaum andern könnte, er selbst ware nicht mehr als Autokrat angreifbar, das verfassungsmaBige und demokratische Belgien mit seiner verantworthchen Regierung würde es gegen die englischen Anklager leichter haben. Die Konstruktion ist verwegen und geistreich; Leopold mag sich erinnern, wie er die Welt und Belgien schon einmal mit einer Tarnkappe tauschte; so ergreift er eine neue. Aber diesmal kermt ihn bereits die Menschheit und sein Volk, kern Lavigerie preist ihn, kein Stanley deckt ihn; neben Leopold stehen die gemordeten Neger, seine bis in den Tod beleidigte Frau, seine schmahbch miöhandelten Kinder, seine unwürdige Gefahrtin. Mit solchen Feinden im Rücken beginnt er an der SchweUe seines achten Jahrzehnts seine Offensive. Of f ensive Wer ist es, der gegen Leopold den ersten entscheidenden Schlag führt? Beernaert, der Müüsterprasident, der für und mit ihm gekampft hatte, Helfer der Entwicklung und des Aufstiegs im Imperium. Beernaert hatte in schhrnmster Zeit dem König aus seiner eigenen Tasche fünfzigtausend Franken als Darlehen angeboten, vierhundert Briefe umfaBt der veröffentlichte Briefwechsel der beiden Manner, zehnmal mehr Stunden mogen sie miteinander verhandelnd um ihr Werk sich gesorgt haben. Spater als Banning und Lambermont hat Beernaert den Glauben an Leopolds reine Absichten verloren, langer und getreuer hielt er zu seinem Herrn, der in der Abschiedssitzung seiner Regierung ihm eine seiner seltenen Tranen weihte. Nachher war Beernaert pazifistischer Vorkampfer geworden, dem die den Krieg voraussehende riistungseifrige Klugheit Leopolds entgegengesetzt war, mit Schrecken sah er, wie am Congo für Leopold gerafft wurde, von welchem System er sich hatte miBbrauchen lassen, sein Gewissen ütt unter seiner friiheren Mitschuld, und so rief er immer wieder nach Annexion durch Belgien. Leopold hat ihm dies nicht verziehen, Beernaerts Widerstand nahm er als Untreue; er hat zwar niemals gesagt, daB er jeden zerschmettere, der ihm in den Weg trete, doch er war ein unerbittlicher Feind. Sogar die persönhchen Beziehungen zwischen ihm und seinem ersten Mitarberter und Freund waren abgebrochen. Bisher war Beernaert in der Kammer der Schwachere gebheben. Nun aber war alles geandert; der Congo reich, die Welt gegen Leopold, Belgien zitterte für seine Neutralitat, die durch einen Streit um den Congo bedroht werden konnte. Am 2. Marz 1906 beantragt Beernaert in der Kammer eine Tagesordnung, welche die Verfassung der Congokolonie forderte; die Annexion schien schon unveimeidlich, und diesmal siegte Beernaert, die Kammer nahm die Tagesordnung an, er hatte seine groBe Revanche, zu der gewiB nicht Rachsucht, sondern Überzeugung, Menschhchkeit und Sorge des patriotischen Belgiers ihn geführt hatten. Nun war es also so weit: im eigenen Land stand der Feind gegen Leopold auf, das undankbare, feige und gierige Belgien wollte ihm den Congo entreiBen. Vorerst wartete er noch: er nahm sich umso mehr Zeit, je ungeduldiger die Anderen drangten; jede Anderung am Congo war ihm unerwünscht. Drei Wochen nach dem KammerbeschluB schreibt er unverbindlich, eben deshalb umso herrischer drohend einem Minister: „Wenn Belgien aus meinem Briefe von 1889 an Beernaert Nutzen ziehen will, muö es mit dem Schenker einen Vertrag schlieBen. Nur solcherart kann das Land die ihm von mir gewahrte Möglichkeit durchführen. Jener Vertrag wird jedenfalls Belgien die Verpflichtung auferlegen müssen, aüe Verpflichtungen des Congostaates zu übernehmen, die vom Schenker gegründeten Stiftungen und die Dekrete des Schenkers aufrecht zu erhalten. Wenn Belgien nach meinem Tod den Congostaat übernehmen will, so muB die Besitznahme sich nach den Bestimmungen meines letzten Willens vollziehen." Dasbedeutete nichts weniger, als daB Leopold plötzhch nachtraglich von Belgien neue Leistungen forderte; wie wesenthch und unmöglich sie waren, wird man bald sehen. Der König spricht von sich als dem „Schenker" und mit seinem Genie, ihm unangenehme Tatsachen auszuschalten, laBt er verschwinden, daB er den Congo durchaus nicht Belgien etwa schenkt, sondern daB er das Erbrecht seinem Lande vor sechzehn Jahren schon verkauft hat: für zwanzig Mühonen und nachher kamen noch sechseinhalb dazu für die von Leopold vertragsbrüchig geheim aufgenommene Schuld. Jetzt verlangt der König plötzhch, daB Belgien neue Verpflichtungen übernimmt, die tatsachlich untrag- \ bare Servitute bedeuten. Rechtlich war der Fall vollkommen klar: Belgien konnte jederzeit nach 1901 den Congo übernehmen, und alle Dekrete des Congosouve- :] rans vermochten den Erben nicht zu belasten, Leopold durfte wohl, und dies war schon ungeheuerhch genug, j Anleihen im Congo aufnehmen, und hat solche von Bel- j gien ihm unvorsichtig gelassene Fahigkeit denn auch j neunstellig in Gold ausgenützt, doch keinesfalls konnte | er ein Staatsgut am Congo über seine eigene Herrschaft 1 hinaus dauernd belasten. Dennocb versucht er es: durch solche unmöghche Zumutung wollte er zuerst einmal Belgien von der Annexion abschrecken. Ein Vierteljahr spater kommt nach solcher Vorbereitung das Trommelfeuer; da wird er in seinem berühmten Brief an seine Staatssekretare, der zugleich auch der belgischen Regierung übermittelt wird, groBartig deutlich. AUes ist gegen ihn: sein eigenes Versprechen, die klare Rechtslage, der BeschluB des Parlamentes, die entrtistete Welt, die drohenden Signatarmachte der Berliner Akte. Er steht vollkommen aUein gegen eine so furchtbare Allianz, und er sagt: Nein. Leopold vermag nicht zu erkennen, wie er am 3. Juni 1906 schreibt, was der Congo daran gewinnen könnte, wenn er nunmehr belgisch würde. Nur die Feinde des Congo wünschen dessen sofortige Besitznahme; ihre Beweggründe sind eigennützig, verhindern den Fortschritt im Imperium. Die fremden Machte haben ihm nichts zu sagen, er aUein ist der Reichsgründer, ist der Herr, und er schlieBt: „Ich betrachte mich moralisch verpflichtet, das Land zu verstandigen, wenn ich den Augenbbck gekommen erachte, zu prüfen, ob das Problem der Annexion aktueU und vorteilhaft wird. Gegenwartig habe ich darüber nichts zu sagen." W ie war damals die Lage ? Die Kammer Belgiens hatte in ihrer Mehrheit die Annexion gefordert; Leopold sagt, daB bloB die Feinde des Congo aus Beutelust sie wünschen. Das Recht der fremden Machte an der Prüfung der Zustande im Congostaat wird abgeleugnet, obwohl der Wortlaut der Berliner Akte jenes Recht sonnenklar festlegt. Es ist nach dem von Leopold mit Belgien abgeschlossenen Vertrag unzweifelhaft, daB Belgien den Augenbbck zu bestimmen hat, wann es von seinem Rechte Gebrauch zu machen wünscht und nicht Leopold, der es sich selbstherrbcb zuspricht. Die vom König angerufenen Fortschritte aber bestanden bloB darin, daB er selbst mit einigen Kautschukhandlern und Finanziers alljahrhch mehrere Dutzend Millionen aus dem Congo zog; die wahre Lage war soeben unzweideutig, sehr schonend, sehr vorsichtig, aber für jeden, der denkend lesen konnte, durch den Bericht der von Leopold selbst entsendeten Untersuchungskonunission festgelegt worden; sie hatte die furchtbarsten Übelstande, um es noch ganz zurückhaltend auszudrücken, vorgef unden, von denen seit den Tagen der Pizarro und Cortes die Kolonialgeschichte zu melden weiB. So stehen damals die Dinge, und dann lese man Leopolds Worte, die in ihrem unerschütterlichen Hochmut von keinem anderen Menschen in gleicher Lage hatten gewahlt werden können. Es gehorte zu ihnen eine ungeheure Kühnheit, geboren aus einer noch gröBeren Verachtung der Menschen und ihrer öffenthchen Meinung. Doch all dies war in seiner aufreizenden MaBIosigkeit dennoch nicht sinnlos, bheb immer im Plan eines politischen Meisters, der als Greis mit jugendstarkem Wülen sein Werk verteidigt und sich in seine Stellung eingrabt. Leopold hatte sich zu gleichgütiger Verachtung gezwungen, wenn er vor seinem Volke und seiner Zeit als vertragsbrüchig, als betrügerisch und als Verbrecher dastand. Immer aber bheb er sich bewuBt, daB er gegen Belgien und die Welt, sowie sie darin einig waren, den Congo nicht behaupten konnte. Doch vieüeicht war es möglich, diese Einigkeit zu sprengen, indem er neue unerfüübare, zu schwere Bedingungen für die Annexion steilte. GewiB waren sie für jedes Rechtsempfinden unertraghch, aber es bheb immerhin ungewifi, ob Belgien es auf den offenen Streit mit seinem König ankommen heB. Juristisch aber hatte Leopold seiner Art gemaB die Dinge überaus veiwirrt. Er hatte schon in den Anfangen seines afrikanischen Imperiums sich eine Krondomane zugesprochen, zehnmal gröBer als Belgien, das wertvollste Achtel, andere sagen sogar Sechstel des Congostaates. Diesen Besitz hat er dann in eine Stiftung ver- wandelt, die ihr Vermogen in Belgien und anders wo in Europa anlegte; sie hatte, obwohl sie reicher wax als der Staat, dennoch von diesem noch alles Verfügbare herausgeholt und unternahm die phantastischen Bauten, in denen Leopold seinen Königsgedanken sah und sich verewigte. Wenn er gezwungen wurde, die Annexion des Congo anzunehmen, so bheb er zwar nicht Souveran, aber doch seine Stiftung (also getarnt er selbst) Eigentümer der wichtigsten und am besten ausgebeuteten Teüe des Imperiums. Das Privateigentum aber war damals noch unerschüttert, man kannte keine Enteignungen und keinen dirigierenden Staat. Die Stiftung vermochte daher auch in einem belgischen Congo nach ihren Grundsatzen, also jenen der Ara Leopold weiter zu arbeiten. Sie konnte Leopold jahrlich derartige Betrage einbringen, daB er von dem Budgetrecht des belgischen Parlamentes tatsachbch unabhangig wurde. Wenn die Belgier keine Handelsmarine wobten, dann konnte Leopold sie schaffen; wenn die Kredite für gigantische Bauplane verweigert wurden, so war die Stiftung da und half aus. Leopold konnte sich die Zeitungen kaufen, nach Bebeben viele Milhonen für Propaganda ausgeben; mochte er auch formal durch die Konstitution gebunden sein, er war tatsachbch durch seine ökonomische Übermacht doch der Herr, mindestens sein EinfluB gefahrhch gewachsen. Das spurten denn auch alle Parteien sofort; so schien es ihnen unertraglich, seine Kronstiftung zu belassen. Doch sie hatten nicht den Mut, die Rechtsgiltigkeit der Krondomane zu überprüfen, mit der Leopold sich selbst jene Erde zugesprochen, die er ihren rechtmaBigen Besitzern, den Eingeborenen entzogen hatte. Ebenso gut wie ein Sechstel oder Achtel hatte der König sich ja auch das halbe oder ganze Reich privatrechtbch zuteilen können, und schon solche Überlegung genügt, um mindestens die morahsche Unmöghchkeit der Sache zu erheben. Indessen fanden sich Juristen, die sagten: Leo- pold ist der uneuigeschrankte Souveran, alle groBen dynastischen Vennögen sind vor vielen Jahrhunderten auf ahnliche Art entstanden, und am Congo lebt man eben in der Vergangenheit. War der Rechtstitel unantastbar, so war auch die Verwandlung in eine Stiftung dem geitenden Rechte gemaB zulassig, der Besitz aber durch die Heiligkeit des Privateigentums geschützt. Herr Smet de Naeyer, der belgische Premier, fühlte sich dabei nicht wohl; er hatte vor dem Land den König in allem gedeckt, in verschwiegenenUnterredungen mit ihm vergebensversucht, ihn gefügig zu machen; der Minister war gewiB, daB die Kammer die Fortdauer der Stiftung nicht annehmen, ebenso gewiB, daB der König auf sie nicht verzichten würde. Unmöghch, daB der belgische Staat gegen seinen König einen ProzeB führte; genug und zu viel schon, daB die belgischen Prinzessinnen dies gegen ihren Vater taten. Jeder schroffe Schritt muBte England ermutigen, die Einberufung einer Konferenz der Signatarmachte der Berliner Akte zu verlangen, und wo bheb dann das belgische Erbrecht am Congo und wie wurden die Beziehungen zwischen Belgien und den benachbarten Garanten seiner Neutralitat sich gestalten? So verging mehr als ein Jahr, der AnnexionsbeschluB der Kammer, die Tagesordnung Beernaerts bheb auf dem Papier und Leopold Souveran des Congostaates. Noch einmal wie bei der Untersuchungskommission schien er aus schlimmster Bedrangnis sich herausgeholfen zu haben: Gegen Unterschrift und Vertrag, gegen Moral und Recht, gegen Belgien und die ganze Welt hatte seine Offensive sich durchgesetzt. Aber auch hier war sein Sieg keine Wirkbcbkeit, nur ein Wunder an Kühnheit und List, ein bloBer Zeitgewinn, der die Übernmcht der gegen Leopold wirkenden vereinigten Krafte nicht aufheben konnte. Was nützten ihm die anderthalb Jahre, die er noch herauszuholen gewuBt hatte ? Der Professor in Paris hatte ihm zehn versprochen, und Leopold liebte das Le- ben, bebte es in seiner Einsamkeit und Menschenverachtung mehr als je, neben sich die junge geliebte Frau, in der Wiege sein zweiter Sohn. So denkt er, grimmig, gezwungen, zürnend, doch immer hebsichtig an den Rückzug. Noch ist es Zeit, aber schon ist es höchste Zeit. Rückzug Nichts konnte Leopold über die Bitterkeit hinweghelfen, seinen Congostaat an Belgien zu geben. Die Kronstiftung war dem König bloB ein Mittel, seine bisher offen ausgeübte Macht nunmehr notgedrungen in eine geheime zu verwandein. Was wie Geiz aussah, war seine Leidenschaft, zu herrschen. Geld war in seinen Handen Herrschaft, verwandelte sich in seinem unermüdbchen Kopfe zu Gewalt. Noch kurz vor der Wendung hatte er drohend an jenem .niemals" festgehalten, in das abe sich flüchten, die innerhch schon wissen, daB es in Wahrheit „morgen" heiBt. „Niemals wird der König, Urheber der Rechte Belgiens, einen solchen Akt unterzeichnen", laBt er den Pobtikern sagen. Erklart sich persönbch beleidigt: „Habe ich eine Unterschlagung begangen? Belgien hat kein Recht auf die Stiftung, das wurde Diebstahl und Usurpation sein. Niemals wird der König sich dazu hergeben, das ware Verletzung des Rechtes Drifter, ein Attentat gegen das Volkenrecht." Sagt dies, wo das Vermogen seiner Kronstiftung aus der Beraubung, der Zwangsarbeit und dem Blut von wehrlosen Milhonen schwarzer Menschen entstanden ist; aU dies aber war für ihn keine Verletzung des Rechtes Dritter, kein Attentat gegen das Völkerrecht. Beginnt, in die Enge getrieben, sehr selten bei ihm, sogar zu prahlen: „Wenn es nötig ist, werde ich als Einziger ein groBer Belgier sein." Man kann sich dieses ICH nicht groB genug geschrieben denken. Warum kapituhert er dennoch? Er hat zwei ausge- zeichnete Gründe: Weil er muB und weil er aus der Kapitulation durch unwahrscheinhche Schiebung neue Macht zu erobern meint. Er muB. Sein getreuer Smet de Naeyer ist gestttrzt. Die Kammer ist unbotmaBig. Der Nachfolger de Trooz bringt einen Gesetzentwurf für die Annexion in der Kammer ein, der die Anerkennung der Kronstiftung verlangt; alle Parteien lehnen ab; Trooz stirbt plötzhch, es wird Mai 1908, mehr als zwei Jahre nach der Annahme der BeemaertschenTagesordnung. Gleichzeitig wird die Haltung GroBbritanniens drohend. In einer Versammlung wird in Anwesenheit des Lordmajors von London der König als „Nero plus Pizarro" bezeichnet. Ein Protestbrief in den „Times" zeigt ihrem alten getreuen Abonnenten in Brüssel die Unterschrift von 76 Abgeordneten, 319 Bürgermeistern und 19 Bischöfen; alle groBen Namen Englands stehen da, kein Ruhm fehlt, und sie alle wenden sich gegen Leopold. Dann kommt ein Donnerschlag, die Thronrede des Vetters Edward vom 29. Janner 1908: „Meine Regierung ist sich der groBen Besorgnis wegen der Behandlung der eingeborenen Bevölkerung im Congostaat wohl bewuBt. Der einzige Wunsch der Regierung ist es, den Congo anstandig und dem Geist der Berliner Akte entsprechend regiert zu sehen. Ich bin sicher, daB die jetzt stattfindenden Verhandlungen zwischen dem Congosouveran und der belgischen Regierung dieses Ergebnis zeitigen werden." In der Antwort des Unterhauses auf diese Satze erklart Lord Landsdowne: „Die öffenthche Meinung in diesem Lande ist von dieser Frage mehr aufgewühlt worden als von irgend einer anderen, an die ich mich erinnern könnte." Grey: „Ich kann ohne Übertreibung sagen, daB seit mindestens dreiBig Jahren keine auswartige Angelegenheit England so aufgeregt hat wie der Congo." Nun beginnt Belgien sich der nahen Gefahr bewuBt zu werden, Schollaert drangt beim König, der vollkommen vereinsamt ist, bisher getrotzt hat und erkennt, denn er bleibt auch in seinem Trotz Realist, daB er nun den Congo an Belgien hergeben muB. Sofort. Demi am 6. Mai beginnt die Wahlbewegung in Belgien. Verharrt Leopold writerhin starr auf seiner Forderung, dann haben die Soziahsten eine unwiderstehbche Wahlparole, die roteFlut ergieflt sich über Belgien, die getreuesten Monarchisten warnen ihn; der König arbeitet für die Republik, er zerstört die Dynastie, er ist verhaBt. So ist er an die Mauer gedriickt. Aus seinem Briefe vom Juni 1906 an die Staatssekretare des Congo, aus jener Kundgebung unerschütterbchen Trotzes hatte die Regierung nur „feieriiche Ratschlage" gemacht, geleugnet, daB er Beclingungen gestellt hatte. Das war schon der Durchbruch der Feinde gewesen; am 5. Mai 1908, einen Tag vor der Kammerauflösung gesteht er sich besiegt und gibt damit zugleich die Wahlparole, die das bürgerbche Belgien und sein Königtum schützt; er unterzeichnet einen Zusatzakt zum Annexionsgesetz, in dem er auf die Stif tungen verzichtet und ihr ganzes Vermogen dem Land überlaBt. Doch diese Kapitulation ist nicht unentgeltlich. Belgien verpflichtet sich zu ansehnhchen Renten an die Mitgheder des königlichen Hauses und an verschiedene, von Leopold gegründete Anstalten. Es entrichtet 45 Milhonen für die VoUendung der verschiedenen Luxusbauten und die VergröBerung seiner Schlösser, die er angefangen hat. SchlieBlich gibt es ihm persönhch aus Dankbarkeit noch fünfzig Milhonen, die er und seine Nachfolger nach Belieben verwenden dürfen. Selbstverstandhch bezahlt Belgien als Rechtsnachfolger auch samthche Schulden des Congostaates, deren Erlös ganz summarisch verrechnet wurde. Die Wirkung dieses Vorschlages entspricht den Erwartungen: trotz der bedrohhchen Stimmung im Land halt sich die katholische Mehrheit, die Kammer genehmigt den Entwurf, das Volk freut sich seines Sieges, ohne daB freilich die Achtung vor dem König gestiegen ware; das aügemeine Urteil geht dahin, daB er mit seinem Land ein Geschaft abgeschlossen und dabei seinen Vorteil mehr als seine Würde gewahrt hatte. Immerhin nimmt man an, daB am Ende auch Belgien zufrieden sein dürfe. Wobei man übersieht, daB bereits die letzten Jahre am Congo absteigende Ausfuhren brachten, Leopold nichts im Imperium anlegte und der Kautschukertrag fast ins Nichts fahen muB, sowie dieZwangsarbeit und der zwanzig Jahre geübte Raubbau aufhört. Tatsachbch ist es so, daB Belgien nunmehr jahrelang Geld nach dem Congo tragen muB und keines von dort holen kann. Leopold genofi die sieben fetten Jahre und überlaBt seinem Land die mageren. Noch wichtiger aber ist, daB die Gefahr eines fremden Eingriffs am Congo dank der Annexion geschwunden ist; es gilt den Englandern Pflicht selbstverstandbcher Loyalitat, jetzt Belgien, dem neuen Besitzer, Zeit zu lassen, ernsthaf te Reformen zu verwirklichen; eine neue Ara kündigt sich an, die heftigsten Anklager rusten zwarnicht sogleich ab, doch sie finden nunmehr keine Gefolgschaft; die Welt hat erreicht, was sie wollte; Leopold ist nicht mehr Herr am Congo, sondern ein belgischer Kolonialminister ist verantworthch, und die Neger werden dort alhnabbch genau so frei und so glückbch sein wie überall unter weiBer Herrschaft. Die weiBe Menschheit verlangt garnichts mehr; sie ist bescheiden, wo es nicht um sie selbst geht. Nicht zufrieden ist Leopold; er bemüht sich, seine Minister zu überzeugen, daB sie sein System fortsetzen mussen, er rat, seine bisherigen Mitarbeiter zu behalten, doch er scheint der Besiegte, seine Macht ist gesunken, man hört wenig auf ihn, was will er denn noch: Er hat sein Geld. Erst spater wird man bemerken, daB er erhebbch mehr hat als sein Geld — auch noch das Geld der Anderen, viele belgische Milhonen, von denen das Land nichts weiB. Seine letzte Rede gilt dem Congo, er verteidigt sein Werk in Antwerpen vor den Flamen, rühmt nochmals die Reichtümer des Congo, die Gelegenheiten für die Belgier, sich dort Stellungen und Arbeit zu schaffen. (Heute ein Vierteljahrhundert nachher gibt es kaum sechstausend Belgier am Congo). Spricht, wie Stanley seinerzeit in England, auf der Konferenz in Berlin, in Büchern und Vortragen sprach, glaubt alles, was er spricht. Unterdrückt seine Bitterkeit und fühlt doch den Schmerz seiner Niederlage als ein ihm vom Schicksal angetanes Unrecht. Aber er hat dennoch in sich eine groBe Genugtuung, sie haben ihm nicht alles nehmen können, er hat viel mehr Geld noch ihnen entrissen, als sie wissen, und damit wird er wirken, und wenn einmal, aber erst viel spater, er fühlt sich gut, der Pariser Arzt hatte wohl Recht, er nicht mehr sein wird, so wird dieses Geld weiterhin sein Königtum fortsetzen. Denn bei seiner Kapitulation hat er unbemerkt die Kriegskasse mitgenommen. Kriegskasse Zuerst hatte Leopold seinen langen schweren Krieg gegen Belgien um den Besitz des Congo geführt; dann war daraus eine Schlacht um die Kronstiftung geworden, schlieBhch ein Stellungskrieg um die Entschadigung für den Verzicht auf sie. Es war nur selbstverstandlich, daB Belgien für eine Zahlung von reichlich hundert Goldmillionen den Gegenwert, eben den reichen Besitz der Stiftung an Werten der verschiedenen industriellen und Bodengesellschaften am Congo erhielt. Mit jener fürstlichen Spendergeste, die Leopold eigentümlich war, wenn er seinen Kontrahenten luneinlegte, erklarte der König, daB er keine Rückzahlung seiner dem Staate gegebenen Vorschüsse beanspruche. Indessen gab es in der belgischen Opposition einige Argwöhnische, die wenig Vertrauen zu Leopolds Geschenken hatten. Sie hatten eine sehr sonderbare Sache entdeckt: im Jahre 1906, dem letzten Budget des Staates, das der Kammer vor der Übernahme des Congo vorlag, hatte der Congostaat eine Anleihe aufgelegt, die dreiBig Milhonen gelost hatte, und im selben Jahr hatte der Staat an dieStiftung den gleichen Betrag ausbezahlt. Hiefür hatte der Congo von ihr eine Menge sehr seltsamer belgischer Besitztitel erhalten: meistens Grundstücke, die zur Erweiterung der könighchen Schlösser, des Nationalparks, zum Bau eines Hippodroms in Ostende und ahnlichen Luxuszwecken bestimmt waren. Er hatte sich verpfhchtet, daran dem König das Nutzungsrecht zu lassen und die Grundstücke für die zumeist schon begonnenen Bauten weiterhin zur Verfügung zu stellen. Man durfte sich fragen, ob eine solche Anlage kaufmannisch zu verantworten war und mehr noch, was den Congostaat die Errichtung einer Saulenhalle für die Sommergaste von Ostende anging. Doch es gab da noch interessantere Fragen. Diese namlich: Was die Stiftung mit diesen dreiBig Milhonen angefangen hatte, die ersichtlich verschwunden waren? Die Regierung wollte zuerst behaupten, sie waren in einigen Monaten für Baukosten verbraucht worden, aber da hiefür der Beweis unmöglich zu erbringen war, erklarte der Minister entrüstet, in solchen Fragen lage die Beschuldigung, daB der Souveran zum Nachteil des Congo dreiBig Millionen veruntreut hatte, es handle sich in Wahrheit um Rückzahlungen der Finanzverwaltung, aUes sei kontroUiert und in Ordnung, wofür der Minister Renkin feierhche Bürgschaft leistet. Das genügte, die Kammer bewilligt die Übernahme der Stiftung und die Zahlung von hundert Milhonen an den König. Nun war aber gar nichts in Ordnung; es war im Gegenteil eine teilweise wohl planmaBige Unordnung in der Finanzgebarung des Congostaates; niemand vermochte jemals alles zu entwirren, was da an Verschachtelung und Schiebung von Leopold unternommen wurde. Für ihn waren der Congo und sein Vermogen zwei Taschen seines Rockes; im Augenblick, da er den Inhalt dér einen, der Congotasche verkaufen muBte, nahm er möglichst viel aus ihr und entleerte es in seine andere Tasche, deren Inhalt niemanden etwas angehen durfte. Um jede Kontrolle zu erschweren, waren alle entscheidenden Rechnungen, Dokumente, Briefe verschwunden, vor der Übernahme des Congostaates auf Leopolds Befehl vernichtet worden. Deshalb vermag auch heute noch niemand genau zu sagen, was geschah und um wieviel der belgische Kaufer betrogen wurde. Nur in den gróbsten Umrissen laBt sich einiges aufzeichnen. Der erste und grundsatzliche Betrug war kein solcher im strafrechtlichen, wohl aber im morabschen Sinn: Er lag schon in der Schaffung einer Krondomane, durch die Leopold als Souveran dem Prfvatmann Leopold Coburg den kostbarsten Teil seines Imperiums schenkte. Leopold hatte den Congostaat erhalten, weil er licht nach Afrika zu bringen, die Neger zu heben und zu bereichem immer wieder versprochen hatte; nicht aber, um sich selbst auf ihre Kosten zu bereichern. Der zweite Betrug ist als Vorbereitungshandlung zu betrachten: die Verwandlung der afrikanischen Krondomane, die persönhches Eigentum eines bestimmten Menschen ist, in eine europaische Stiftung, welche durchaus jedem Zugriff entrückt wird, die afrikanischen Einkommen jenen entfremdet, aus denen sie herausgepreBt werden und Leopold gegen den damals schon zu bef ürchtenden Verlust seines Congostaates teilweise sichern sob. Jene Umwandlung vollzieht sich 1901, wo Belgien vertragsmaBig jederzeit den Congo übernehmen könnte; also deckt sich Leopold durch die Stiftung. Der dritte und, wenn es nicht um einen König ginge, ganz zweifebos kriminehe Betrug ist jener, mit dem er den für ihn ersichtheh unhaltbar gewordenen Congostaat noch rasch mit Schulden beladet, die Belgien wird bezahlen müssen, sich selbst aber die Gegenwerte dafür in die Tasche steekt. Der vierte und verwegenste hegt darin, daB er seine Regierung versprechen laBt, Belgien erhalte für die hundert Milhonen den gesamten Besitz der Stiftung. In Wahrheit aber hat er ihr mindestens jene dreiBig Milhonen genommen, und spater wird der Schuldbeweis noch erdrückender sein; man findet in seinem privaten NachlaB und in einer letzten versteckten Stiftung, die er auBer Landes bringen will, um sie ungreifbar zu machen, an dreiBig Milhonen Congowerte, die offenbar früher zur Kronstiftung gehörten und geheimnisvoll aus ihr verschwunden sind. Mag sein, daB seine Beute noch viel gröfier war, niemand kann sie schatzen, manche behaupten, er batte seiner Freundin an dreiBig Milhonen gespendet, sein Vermogen wurde von Kennern noch viel höher angenommen, als es nachher, da und dort ausgegraben, sich erwies. Es war ein gewobtes Chaos darin, eine Lust, sich zu verstecken, eine Furcht, sich fassen zu lassen, ein Triumph, trotz allem jene zu überbsten, die ihm seine Macht genommen hatten. Nein, er konnte sich nicht tauschen; am Ende hatte er doch seinen groBen Krieg verloren, die Unterzeichnung der Congo-Annexion durch Belgien war seine Kapitulation, Leopolds Waterloo. Doch indem es Leopolds Waterloo war, muBte es ein Waterloo mit Geschaft werden, der erste Fall in der Weltgeschichte, wo der Besiegte die Kriegsentschadigung erhalt. Erhalt — das ist kaum der richtige Ausdruck; besser zu sagen: mit sicherem Griff e insteekt. SCHLUSSRECHNUNG EINES UNGELIE RTEN Aus der Welt nach Coburg GEISTREICHER Einfall der Weltgescbichte: Aus Coburg war ein junger Prinz Leopold einmal unternehmend in die Welt hinaus gezogen, um sie zu erobern, und ein Jahrhundert spater verschleppte sein Sohn dorthin die reiche Beute, um sie zu verbergen. Ihre Reise in die Historie war den Coburgern wohl gediehen; der Vater war König der Belgier und Orakel Europas geworden; der Sohn hatte sich ein groBes Stück Afrika errafft und aus ihm viele Milhonen gezogen; er vereinigte sie insgeheim in der „Stiftung von Niederfullbach". Kein Gefühl seines Herzens führte ihn selbst nach Coburg zurück; doch irgend etwas in seinem Blut erinnerte sich an das alte kleine Starnrnland seines Hauses; es schien ihm für ein Stahlfach besonders geeignet. Dort errichtete er sich eine moderne Burg, nur aus Paragraphen gebaut, mit geheimen Gangen und Verstecken; sein Baumeister war dabei ein erfahrener Anwalt Dr. Hermann Forkel, und so erhob sich die der Welt vorerst völhg unbekannte Coburgerfeste, die Stiftung von Niederfullbach: geraumig, sicher und unsichtbar. Ihr galt die zahe, besessene Leidenschaft des alten Königs, dem der Congo entwunden war und der sich da Macht schaffen wollte, auf daB er selbst damit und noch über sein Grab hinaus ins GroBe lenken und gebieten konnte. Hierher verschleppte er scheu und seiner List froh die Milhonen, die er beiseite geschafft, die er verschwiegen, um die er Belgien betrogen hatte. Betrogen? Juristisch mag der Ausdruck wohl stimmen, doch wird er sinnlose Schmahung, sowie man von den plumpen Tatsachen ins Seelische aufsteigt. Leopold hatte zuerst seine Krondomane geschaffen, dann sie in eine Stiftung verwandelt, dann die Stiftung verkauft und wie- Aus Coburg war ein junger Prinz Leopold ein- 22 derum dann beim Kauf möglichst viel von dem Wert zurückbehalten, nicht um Belgien armer zu machen und selbst reicber zu werden, sondern um ungebindert und höchst könighch diese Milhonen einsetzen zu können, ohne daB Parteien, Kammer, Regierung ihm dabei wie sonst immer in die Arme fallen konnten. Er war in jedem unerschütterlich überzeugt, durchaus im Recht zu sein; hatte denn nicht er den Congostaat geschaffen gegen alle Welt und auch gegen sein Belgien? Nicht für sich selbst bedurfte er der vielen, vielen Milhonen, er muBte sie haben, um groBe Dinge zu schaffen, machtige Schlösser, glanzende TriumphstraBen um seine Hauptstadt, weite Parkanlagen, Museen, Hafen, eine Handelsflotte zu gründen, welche die Flagge seines Landes über alle Meere trug und immer mehr Güter brachte. Dazu hatte er sich noch Wasserwerke und Kolonnaden und Asyk ausgedacht, und jeder Plan benötigte Milhonen, vor denen jene armsehgen Kramer zurückschreckten. Nur eines konnte da entscheiden: Reichtum. Der König hatte so reich zu sein, daB er nicht immer betteln muBte, um irgend etwas durchzusetzen, und nur die Milhonen konnten ihm die Macht gewahren, welche die Verfassung ihm versagt hatte. Wenn die Belgier dies nicht begriffen, wenn sie klein bleiben wollten — er war vom Schicksal dazu bestellt, dies zu hindem und sie zu zwingen, und da es anders nicht ging, eben durch seine überlegene Schlauheit. Sein wahres Ziel war das gleiche gebheben, das schon die mittehüterhchen Fürsten angestrebt hatten: Hausmacht. Sein Vater hoffte dies zu erreichen, wenn er die Coburger, sowert es nur möglich war, auf alle Throne Europas brachte; indem er seine Sippen und Magen vorteilhaft verheiratet, glaubte er Machtstellungen zu gewinnen. Der Sohn hatte sich den Formen einer anderen Zeit angepaBt und hielt das Geld für zuverlassiger als erlauchte Vettem. Beide waren als Könige einer konstitutionellen Mustermonarchie in ihrem Tiefsten dennoch verhinderte Autokraten; der Vater geschmeidiger, der Sohn groBartiger. Nur wenn man genau zusieht und erst, wie er die aus der Welt gewonnene Beute nach Coburg zuirückführt, erkennt man hinter dem modernen Geldmonarchen, dem geistreichen Zyniker, dem Gründer und Geschaftemacher, den neuzeitlich angepaBten, aber dennoch unzerstörten Typus der groBen Feudalherren des Mittelalters. Denn Leopold glaubte sich nicht bloB im Recht, sondern er hielt es für seine ihm vom Geschick zugewiesene Pflicht, für Glanz und Macht seines Volkes zu sorgen; da die Belgier versagten, griff er ein, und da sie ihn mit Verfassung und Vorschriften, mit Wahlen und verantwortlichen Ministern eingeschnürt hatten, so mufite er am Ende, widerwiUig genug, wohl zum Scheine sich fügen, jedoch sie dennoch zu ihrem Besten unter Führung seines glorreichen Hauses ins GroBe lenken. Niemals hat er ein anderes Ziel vor Augen gesehen, und dies hebt ihn hoch über alles, was nach Niedrigkeit, Schamlosigkeit und Betrug aussieht. Wenn Belgien, wenn die Welt Leopold in der Erfüllung seiner Aufgabe hinderten, so waren diese schuldig, niemals aber er selbst. Das war ihm ganz selbstverstandhch; eben deshalb sprach er davon selten und fast niemals in grundsatzlichen Erötterungen, die ihm, dem Mann der Tat, gar nicht lagen. Bis zur Vollkommenheit beherrschte er den Jargon der parlamentarischen Monarchie, er wuBte, was die Leute hören wollten und was er zu sagen hatte; er war zu spat gekommen, war in eine Zeit hineingeboren, da er ihnen nicht befehlen konnte und also gezwungen war, sie zu überreden, was ihm manchmal, und sie zu überlisten, was ihm sehr oft gelang. Mann der Tat, der vom Erreichten weg sofort ans Nachste ging, geadelt durch seine sehöpferische Ungeduld, htt er an dem grotesken MiBgeschick, machtig zu scheinen, ohne es sein zu dürfen: wohl König, jedoch in einem kleinen Land und auch dort entmachtet. So nahm er sich die Macht, und wenn er schlieBlich seine Schatze vergrub, versteckte, sie in viele Stiftungen und vor allem nach Niederfullbach txug, so mochte dies wie krankhafter Geiz aussehen, es war doch vor allem das brennende Verlangen, durch dieses Geld Taten zu leisten, Macht zu behalten, König seiner Zeit und über sie hinaus zu sein. Vor allem durften die Töchter davon nichts erhalten. Das schien HaB und Bosheit eines unnatürbchen Vaters, so nahmen es die Menschen, die stets bloB die Oberflache, niemals die Tiefe sehen. Es war Anderes, Spröderes, woran der bürgerhche MaBstab zerbricbt. Von seinen Jünglingsj ahren an wollte Leopold stets alle Prinzessinnen aus Erbschaft und Glanz des coburgischen Hauses ausgeschaltet wissen. Belgien soUte ihnen Mitgift gewahren, der König aUenfalls ein Nadelgeld, doch das Fanhhenvermögen durfte nicht durch ihre Miterbschaft zersphttert werden. Gerade weü das belgische Königshaus durch die Verfassung gebunden war, sollte es goldene Flügel erhalten, auf denen es sich emporschwingen konnte. Die Prinzessinnen aber brachten nur das belgische Geld ins Ausland, das sollte nicht sein. Schon 1873 und nochmals 1878, als seine Töchter noch sehr jung und sogar für diesen strengsten Vater vorwurfsfrei waren, bedrangt der König seine Minister, daB zum Schaden der Frauen ein besonderes Erbrecht geschaffen wird, eine Art könighches FideikommiB. Der klerikale und fünf Jahre spater der bberale Ministerprasident weigem sich; der König ist der erste Bürger Belgiens, das bürgerhche Erbrecht muB auch für ihn gelten. Wieder steht Leopold vor Hemmungen, die er als armsehg, spieBerhaft, als Schadigung Belgiens und seines Königtums empfindet. Er laBt sich nicht entmutigen und wartet auf seine Stunde. 190Ï hat er den ergebeneren Smets de Naeyer als Premier, und diesmal findet Leopold einen verschlagenen Plan, mit dem er den Widerstand niederzwmgt. Leopold wünscht zwei Schlösser mit riesigem Grundbesitz bei vorbehaltenem NutzgenuB für die könighche Familie dem Staat zu schenken; er nimmt dadurch seinen verhaBten Töchtern viele Milhonen; die Karnmer zögert, die Sache ist ihr peinlich, doch kann sie ein Geschenk für das Land ausschlagen? Die Soziahsten, die nicht gut einen Volkspark ablehnen können, um den Prinzessinnen einige Milhonen mehr zu verschaffen, sind gezwungen, sich der Abstimmung zu enthalten; so hat Leopold zum erstenmal die Erbmasse kraftig verkürzt. Dies bleibt weiterhin sein unablassiges Bestreben, und es wachst ins Gigantische mit der ungeheuren Schiebung der Stiftungen seines letzten Lebensjahres. Nicht aus HaB gegen seine Töchter wollte Leopold sie enterben, sondern er haBte sie sozusagen im Vorhinein und grundsatzlich, weil sie ihm sein königliches Vermógen verkleinerten. Sicherlich, die Entrüstung darüber war allgemein, auch sein Neffe Albert hat sie als Kronprinz und damit Haupt der Fronde geteüt, aber viele Jahre spater unter vier Augen eingestanden: „Ich hatte Unrecht, mein Onkel hatte recht; er war mehr König als Vater." Der verbindhche Albert sagte damit sogar noch zu wenig: Leopold war nur König, auch in jenem Sitesten Sinne, nach dem er sich über jedes Gesetz erhaben ansah und niemals zwischen sich selbst und Belgien unterschied. In seinem UnterbewuBtsein wurzelte das Gefühl, daB ihm alles gehorte und erlaubt war. Er wollte das Land reich machen, und es war unter ihm und, wie er meinte, dank ihm, sehr reich geworden, doch ebenso mufite auch er selbst sehr reich sein, und wenn es ihm behebte, Milhonen der Freundin zu schenken, für sie zu verschwenden, so bheb dies allein seine, des Königs Sache; sein Glück war Belgiens Pflicht, sowie Belgiens Glück Leopolds Pflicht war, und Glück hieB ihm, dem aus dem Feudalismus in die Geldzeit Gewachsenen, Reichtum. Seine klaglichen Verteidiger beleidigen ihn, wenn sie betonen, er habe nicht für sich selbst gerafft und die vielen Milhonen aus der Kronstiftung unterschlagen. Er dachte dabei sicberlich zuerst an Belgien, doch damit auch an sich; nur er selbst hatte zu entscheiden, wo er sparen und wo er vergeuden wollte; jede Unterscheidung zwischen sich und seinem Land dünkte ihn eine entwürdigende Fiktion, der er entschlüpfte. Hierbei war er von vollkommener Ahnungslosigkeit und bei all seiner Klugheit fast rührend naiv; jeder Erfahrene batte ihn belehren können, daB all sein Winkelwerk von Stiftungen und Schiebungen ihn nicht überdauern könne. Doch niemand hatte wagen dürfen, ihm so etwas zu sagen und keinem hitte er es geglaubt. So genoB er gierig die Freude, die er zur Vobkommenheit gesteigert hatte: sich zu verstecken. Da war die GeseUschaft der Riviera, über zwölf Milhonen, zwanzig Tage vor seinem Tod gegründet, eine zweite, wiederum Milhonen und NiederfuUbach mit dreiBig oder vierzig, und andere... Immer mehr wurde es ihm zur Manie: Milhardar zu sein und wie ein Bettler zu sterben, sterbend noch sie überlisten und durch List dann weiter zu herrschen. Je tiefer er den HaB um sich empfand und je grenzenloser Einsamkeit ihn umgab, desto mehr drangte es ihn von seinem nahen Grab zur Wiege seines Hauses nach Coburg. NiederfuUbach—das türmte sich dem verhinderten Pharao Leopold wie eine riesige Pyramide seiner Königsmacht. Vive le roi Unausdenkbar ist die Einsamkeit um den alten König, und er ist zu stolz, um auch nur sich selbst einzugestehen, wie sehr er darunter leidet. Er ist ein amusanter und, wenn er wül, sogar ein glanzender Gesellschafter, der geschhffene Bosheiten lachelnd sagt und bei Menschen, die er ausholen und gebrauchen wül, sogar trefhich zu hören weiB. Als Plauderer herrscht er in jedem Kreis; wahrend der stets kürzeren Zeit, die er in Brüssel verbringt, sind ahabendhch zw Hoftafel Leute eingeladen, die zu beein- üussen oder zu gewinnen nützlich ist. Sein Tag ist voll Arbeit, stundenlang empfangt er die Staatssekretare des Congo und die belgischen Minister, nichts entgeht seiner Auf merksamkeit, und wenn er sein Land verlaBt, so f olgen ihm Kuriere mit zahllosen Berichten. Er ist der aufmerksamste Zeitgenosse, der genaueste Regent, auBerdem noch der heiterste Lebemann. Aber mit jedem Tage entfernen sich die Menschen weiter von ihm; er fühlt, wie keiner ihn hebt, wenige nur ihm wohlgesinnt sind, alle ihn fürchten, und wie, Schlimmstes, er von allen verkannt wird. Wenn seine Adjutanten und Hofleute ihn auf einem seiner langen Spazierwege begleiten, entfallt ihm manchmal ein bitteres beleidigtes Wort. Dieses sein belgisches Volk, dessen GröBe, Reichtum, Wohlergehen die Sorge seines Lebens war, behandelt ihn wie einen Wüstling, Dieb, Verbrecher, Mörder; nichts ist schlimm genug, das sie von ihm nicht glauben würden. Dann rettet er sich gerne in eine zynische Bemerkung. Nur einige Handlanger zweiten Ranges stehen zu seinem Befehl, sie sind ihm ergeben und müssen es sein, doch nirgends hat er einen Freund. Denn unmöglich kann ein Mensch wie Leopold einen Freund gewinnen, in seiner Wesensmischung fehlt das Du, er steht viel zu sehr in seinem Ich, kann nur nehmen, nicht geben. Er batte einst um sich Begeisterte, Helfer, Paladine, die Brialmont, Lambermont, Banning, Beernaert — alle sind verzürnt und verbraucht von ihm gegangen. Nur das Geld, nicht die Menschen kann er festhalten; denn er hebt ja auch nur das Geld, nicht die Menschen. Wenn er sich zeigt, gibt es kaum einen GruB, einen nicht befohlenen Hochruf. Sehr schmerzlich ist ihm dies; denn wenn er selbst schon nicht hebt, so wünscht er doch, geliebt zu werden. Indessen sind sie alle ihm entschlüpft. Die ihn kennen, bleiben in jener Distanz, die er wie selbstverstandlich zwischen sich und alle legt. Wo er herzlich scheinen wül, empfindet der Andere es als Komödie, immer kalter wird es um Leopold. Manchmal greift er, der Bücher, wie alles nicht unmittelbar Wirkende ablehnt, zu einem geschichthchen Buch, will sehen, ob es gekiönten Vorgangern ahnbch erging und ob alle groBen Könige so ungebebt waren. Denn er bezweifelt nicht, daB er ein groBer König ist, und niemand bezweifelt es. Das Ungewöhnbche an ihm ist unverkennbar, es strahlt Majestat von ihm aus; er mag derb sein, Argotworte gebrauchen, gleichviel, es ist bloB Herablassung, die den Anderen nicht ermuntert; denn er fühlt, daB Leopold sich selbst in jedem Augenbbck zurücknehmen kann. Nichts hüft ihm, er bleibt einsam und wird es immer mehr. Die Menschen, die Parteif ührer ziehen sich argwöhnisch von ihm zurück; das Volk weiB wohl, daB es unter seiner Regierung ihm besser ergeht, aber es schmaht ihn. ÜberaU Pamphlete und Zerrbilder; wer gegen ihn ist, der ist ihnen schon deshalb heb. Er hat sie angeeifert, sich für Belgien gesorgt, wie kann es geschehen, daB sie ihm so gar nicht danken? Die Nachwelt wird gegen ihn gerechter Sein; er, der sonst bloB pathetisch wird, um Menschen zu f angen, gebraucht nun haufig diesen pathetischen Begriff „Nachwelt", vielleicht weil er mit ihm sich selbst fangen möchte. Die Mitwelt wül durchaus ihn klem, geizig, sündhaft sehen; sie schnüffelt in seinem Privatleben, sie zürnt ihm wegen der Frau und der Töchter, sie spürt seinen Weibergeschichten nach, sie verzeiht es ihm durchaus nicht, daB er sie nicht einmal der Ehre würdigt, ihretwegen zu heucheln. Er ist viel zu hochmütig, um auf sie irgendwelche Rücksicht zu nehmen. Genug, daB sie ihn mit ihrer Verfassung gebunden haben und er mühsam durch tausend Künste und Listen sich die Hindernisse aus dem Weg raumen muBte; doch wo kein Gesetz ihn bindet, folgt er durchaus seinem königbcben Willen. Niemand hat ihm vorzuschreiben, ob er die Gattin sehen, den Töchtérn verzeihen soü, welche Frauen er um sich haben darf. Mögen die Pasquüle sich zu Bergen türmen, mögen sie ihn überall in Wort und Büd schmahen, er wird ihnen niemals die Ehre erweisen, darüber zu zürnen, nur manchmal weltmannisch lacheln. Wohl, sie haben in Belgien vollkommene PreBfreiheit, es ist unmöglich, sie grausamer auszunützen, sie rechnen ihm die Gange seiner Mahlzeiten nach und begleiten üm mit seiner Favoritin bis ins Bett — er fühlt sich als König und so beriihrt es ihn nicht. Nur daB er von dem kleinen undankbaren Pöbel gerne sich entfernt, das freiere Paris, den sonnigen Süden am Mittehneer vorzieht; auch dies verübeln sie ihm natürlich, werf en ihm Pflicht verletzung vor, ein Bild zeigt üm eben in Brüssel aussteigend und schon fragend: „Wann geht der nachste Zug nach Paris?" Sie ahnen gar nicht, daB Belgien für ihn überall dort ist, wo er sich befindet, nicht dort, wo sie sind. Immer hat er die Tat dem BeifaU vorgezogen. Doch wenn man alt wird, mag es sich schwerer ertragen, mit Ruhm und Schmach stets allein zu bleiben. So ist es gewiB, daB er die Volkstümhchkeit zu verachten vorgibt, ungewiB, ob er sie nicht dennoch entbehrt. Mehrt: Sie haben zu lange schon mein Gesicht gesehen, das ermüdet sie. Nun, ich bin alt, sie müssen bloB noch ein wenig Geduld haben... Sagt: Mein GroBvater Louis Philippe liebte es, auf den Balkon Zu neten, ich nicht... Dann aber begïbt sich etwas sehr Erschütterndes. Schon hat er auf den Congostaat verzichtet, das Volk beginnt zu erkennen, wie stark der leidenschafthche Alte es vorwarts trieb; zum Fest nach Antwerpen, wo er den belgisch gewordenen Congo feiern soll, fiihrt üm der Wagen durch die Menge, hoch sitzt der machtige Greis, fast schon zum Denkmal geworden, eine der groBen Figuren seiner Zeit, und einige spüren es, und da hort er anschweüend einen Ruf: Vive le roi! Ist er bèwegt, getröstet? Er hatte ein bezaubernd melanchohsches und verachthches Wort gefunden: Diesen Ruf muB ich schon einmal gehort haben... BloB ein sehr Einsamer konnte dies empfinden, und vermutlich ware es ihm unmöghch gewesen, nur immerzu zu verachten und in seiner unzerstörbaren leidenschaft lichen Bewegtheit so allein zu bleiben. Doch da hatte sich das Wunder schon ereignet, das schandlichen, leidvohen und gesegneten Trost in sein Greisentum glanzen heB und ihm die Einsamkeit tragen half: Zum ersten und einzigen Mal liebte Leopold. Die Liebe kommt Caroline Lacroix, Tochter eines Pariser Conciërge, Kind einer zahlreichen Familie, ist eine Brunette mit hübschem Kindergesicht; zusammen mit einer ihrer Schwestern verkauft sie sich, und nicht jeden Tag gelingt ihr dies. Ein gestrandeter ehemahger französischer Offizier Durieux vermittelt ihr Bekanntschaften; die Beiden leben zusammen, oft ohne ihre Miete bezahlen zu können. In einem groBen Pariser Hotel, wo sie sich werbend zeigt, sieht Leopold sie zum erstenmal, und von jenem Augenbhck an bis zu seinem Tod kommt er durch sieben Jahre nicht von ihr los. Vorf ihr hatte er viele Frauen genossen, flüchtig und manche auch jahrelang; fast ein halbes Dutzend unehelicher Kinder aus seinen verschiedenen Verhaltnissen werden genannt; keine jener Frauen war ihm unentbehrhch geworden. Diesem hübschen Gescböpf aber verhel der Alternde; sie wurde Lust und Oual, Freude und Schmach seiner letzten Jahre. Sie erschien gerade zur Zeit, in der er, der immer bloB nahm, nun selbst zu nehmen war. Eben vor der Erschöpfung und wegen der sinkenden Kraft nur noch begehrhcher und sinnbcher. Grenzenlos verlassen, einsam, in seinem Abeinsein fnerend und sich nach Zartbchkeit und einem Heim sehnend, das er niemals im Leben wahrhaft besessen hatte. Auch nachdem er sie zu sich genommen, glaubte er, dies sei nur eben noch ein vorübergehendes Abenteuer, wollte er die Lebensgewohnheiten flüchtiger Bekanntschaften nicht aufgeben, aber er verstand sich dabei selbst nicht, ein gereiztes Wort von Caroline und er entlohnte und entheB eine Nebenbuhlerin, die es gar nicht war. Leopold erfuhr nun, was das Leben, sein groBes, mit Tat und Untat angefülltes, geducktes und immer wieder losspringendes Leben ihm schuldig geblieben war: die Liebe. Er hat jenes StraBenmadchen unsaglich gehebt auf seine besondere, maBlose Art, aufrichtig und trotz seiner gierigen Besessenheit hellsichtig. Man kann noch in Belgien Zeugen jenes Verhaltnisses begegnen, die den alten König ehrffirchtig bewundern, sie erzahlen hundert kleine Züge seines kaften, unerbitthehen, tief die Menschen durchschauenden Verstandes, und dann sagen sie wie erschaudernd: Es war ein Unglück — er hat sie so sehr gehebt! Die Liebe hatte sich geracht an ihm, der nicht liebte und niemals geliebt wurde, und sie zwang ihn gerade zu einer Frau, die ihn am wenigsten verstand und am meisten qualte. Die Lacroix gehorte weder zu den blendend geistreichen Hetaren noch zu den harmlos gutmütigen kleinen Madchen, die das Schicksal auf das Pflaster wirft, damit sie dort wan dein und sich Manner suchen. Sie war durchaus unvertraghch, streitsüchtig, vermochte nicht, sich zu beherrschen, in einer Gesellschaft hebenswürdig zu schweigen und freundlich zu lacheln. Es war unmöghch, in ihrer Gegenwart ein angeregtes Gesprach zu führen oder auch nur ein wenig mondanen Schein zu wahren; sie konnte sich nicht anpassen und war keine jener Frauen, mit denen man sich zeigen kann, ohne Kopfschütteln oder Achselzucken zu erregen. Nach allen Berichten hat sich dies in den sieben Jahren niemals geandert, die sie mit immer kürzer werdenden Unterbrechungen an der Seite Leopolds lebte, und er selbst hat dies sehr wohl bemerkt, und da er nicht gelernt hatte, verletzende Beobachtungen herunterzuwürgen, hat er ihr seine Unzufriedenheit auch nicht verheimhcht. Selten gab es einen Tag ohne Streit. Aber es gab die Nacht. Niemand weiB, ob Leopold selbst sich gehebt glaubte; gewiB hat sein Verstand es bezweifelt, doch er genoB als neues Glück, daB er beben konnte, daB jede Bewegung, jedes Wort der gebebten Frau ihm Lust und Erquickung war. Indes ertrug er nicht, beherrscht zu werden, sein Wüle galt ihm als selbstverstandhches Gesetz; die Matresse hingegen wünschte, daB jede ihrer Launen befolgt würde. Der Zank in den groBen Hotels und Kurorten Frankreicbs und Deutschlands, wo sie zusammen weüten, wurde oft so laut, daB die Kellner schmunzelten oder sogar auf der Promenade die Kurgaste es beobachteten. Leopold, der niemals den Skandal gefürchtet hatte, war an seine Meisterin geraten, die ebenso hemmungslos war wie er und seinem selbstherrhchen Königtum ihre noch starkere Macht der eigensinnigen und dummen Frau entgegensetzte, die sich gehebt weiB. Furchtbar ware der Konfbkt geworden, wenn sie den Ehrgeiz gehabt hatte, sich mit groBen Dingen zu beschaftigen und EinfluB zu nehmen; dies fiel ihr nicht ein, sie reichte zu keiner belgischen Dubarry aus, und so ist dieser Kampf und die unvermeidbche Niederlage in ihm Leopold erspart gebheben. Es genügte ihr, befehlen zu können, aus voller Herzenslust zu verschwenden, von den Kaufleuten sich mit „Majestat" ansprechen zu lassen, worauf sie jeden Preis bezahlte und der König, wanrend er ihr üppige Liebessitze errichtete und Schlösser kaufte, über jedes hinausgeworfene Goldstück sich argerte; nicht aus Geiz, aber weü er nicht der Betrogene sein wollte. Amüsiert genoB Europa das Schauspiel, das der alte bebestobe König üun gab, zwischen Entrüstung und Gelachter befriedigt schwankend. Er, der so unerbitthch strenge gegen seine Töchter war, Louise den Herzensfreund, Stephanie ihre zweite Ehe nicht verzieh und Clementine daran gehindert hatte, den Prinzen Napoleon zu heiraten, kompromittierte sich an allen mondanen Plat- zen mit einer solchen Frau, deren Vorgeschichte immer wieder berichtet wurde; man gab ihre vulgaren Worte, ihre schlechten Manieren vielleicht sogar noch übertrieben wieder. Sie wurde plötzhch die Baronin Vaughan genannt, vieheicht war es galanter Adel, wie ihn sich die Kokotten gerne zulegen, vieheicht gab es irgend einen Baron Vaughan, den man für die Namensheirat bezahlt hatte, vieheicht hatte Leopold seiner Matresse einen deutschen Titel geheim verschafft — jedenf alls war das Paar zu den meistgenannten Figuren des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts geworden. In ihrer GeseUschaft bef and sich auch jener Durieux, der f rüher Herzensfreund und Zuhalter des Madchens in ibren unköniglichen Tagen gewesen war — welche Rolle spielte er dort? Konnte Leopold ihn dulden? Oder war er wahrhaftig so tölpelhaft geworden, daB er der Frau glaubte, die ihm sagte, Durieux sei ihr Bruder? Besonders die belgischen Soziabsten schwelgten unermüdhch in diesem Skandal, sie hofften, daB aus ihm endhch die Repubbk erstehen würde, sie guckten in aüe Schlüssehöcher, fanden und erfanden taghch neue Einzelheiten. Geheimes Lautwerk, das zu spielen anfing, wenn der König zu seiner Favoritin ging, um sie zu warnen. Streit mit der Dienerschaft, Tathchkeiten. Das Gepack der Baronin geht unter DiplomatenpaB und wird gebührenfrei in Belgien befördert. Die Teppiche in Vanderborcht, dem SchlöBchen der Baronin, das neben Laeken liegt, wurden besonders gewebt und sind einen halben Meter dicht. Es gibt dort unzüchtige Spiegel, so sinnreich gestellt, daB sie den Betrachter verborgene Reize erblicken lassen: verruchte Geilheit eines ohnmachtigen Greises. Dieser Greis aber ist in kurzer Frist schon zum zweitenmal Vater geworden: im Kirchenbuch von Saint Jean steht aufgezeichnet, daB Carohne Lacroix einen Sohn Phihppe geboren hat, und als Zeuge ist Dr. Thiriar, des Königs begleitender Leibarzt und Vertrauensmann angegeben, derselbe Dr. Thiriar, der auch bei Hauskaufen und Stiftungen als Erwerber steht, die Leopold für viele Millionen kauft und durch jenen Strohmann verstecken wül. Die Welt erfahrt es und lacht schadenfroh über den betrogenen Greis; solange hat Leopold selbst die Menschen betrogen, nun wird ihm vergolten. Wahrhaftig? Jedenf alls glaubt der Siebzigjahrige sich Vater, fehlt dem Saughng, oft beobachtet bei Greisenkindern, ein Finger, hat das Kind ein typisches Coburgergesicht. Sie mögen höhnen und spotten, ihn berührt es nicht, stark steht er da, gut warmt die Sonne, zarthch trinkt sein Bhck die junge Frau und in der Wiege das Kind, er hebt, hebt, hebt und genieBt endhch einen Augenbbck wunschlos und von keinem inneren Damon getrieben: Glück. Nicht er ist der Ohnmachtige in jener Stunde, sondern der Hohn und Spott der Menschen, der tief unter ümi niederfaUt. Was schwatzen sie? DaB er Lucien zum Kronprinzen machen, Albert, den in echtbürtiger Fürstenehe Geborenen enterben und die Vaughan heiraten wül? Unsinn, der dem auch in der Leidenschaft noch Klardenkenden niemals in den Sinn kam. Er fühlt sich immer und nur König, ist auf sein fürstbch reines Blut stolz, würde niemals im Brüsseler SchloB einen König woben, der aus dem SchoB eines hübschen Pariser StraBenmadchens kommt. Nicht eine Zeile, nicht ein Wort Leopolds ist überbefert, das jenen tückischen Klatsch rechtfertigen könnte. Es sind zwei Bastarde mehr von ihm da, vermuthch geliebter, weü er deren Mutter hebt und weü er in den Kindern sie und zugleich seine eigene unzerstörbare Kraft erkennt. Doch Leopold ist nicht sentimental, auch in der Liebe nicht, die ihn bef allen hat. GewiB er spielt mit den Kindern, laBt sich seinen Bart von Lucien zausen, hilft ihm auf das Pferdchen und erinnert sich dabei wohl, daB er einmal geplant hat, den riesigen Park von Laeken als Kinderspielplatz für jeden Sport auszurüsten. Aber erfügt sofort hinzu: „Wenn ich einmal sehr alt sein werde..." Noch aber fühlt er sich jung, aber er ist doch viel zo alt, zu klar und lebenserfahren, um trotz seiner Liebe sich über die Frau an seiner Seite zu tauschen. Vor und nach jedem glücklichen Augenbhck leidet er an ihr, und manchmal, wahrscheinhch oft, empört er sich, wül die Kette zerreiBen und von ihr loskommen. Wie er eine Seereise mit ihr auf seiner Jacht unternimmt, macht sie ihm, der am Schiff ihrer dreisten Art nicht entkommen kann, die Reise zur Holle. In Norwegen landend sagt er demSeeofhzier: „Fahren Sie mit Madame auf meiner Jacht nach Frankreich zurück I" Und steigt aus, setzt sich allein mit seinem Gefolge in seinen Salon wagen. AUes ist aus, es wird nur eine Rente mehr bezahlt werden müssen. Aber nichts ist aus. Kaum ist er terne von ihr, so ertragt er es nicht, noch vor ihr kommt er in Paris an, erwart et sie dort und sie erzahlt ihm, der von ihm abgeordnete Offizier habe sich ihr verlangend genahert. Leopold glaubt alles, versöhnt sich mit der Freundin und verabschiedet ungnadig den Offizier, und die Tragikomödie dieser Liebe geht weiter. Die Frau zankt immer wieder, gibt ihm kaum ein freundhches Wort, Leopold kampft umdie Dienstpflicht in Belgien, bereitet ungeheuere Werke vor, unermüdlich an ihnen arbeitend und tritt dann unvermittelt in den Lebenskreis einer zankischen Dirne, die gar nicht daran denkt, sich irgendwie anzupassen, nach Art solcher Frauen sinnlos verschwendet, hippische Dinge spricht, immer beleidigt ist, die MiUionen zerrinnen ihr zwischen den Fingern; so viel sie erhalt, sie ist bestimmt, im Elend zu bleiben, der Faulnisgeruch ihrer Welt geht von ihr aus und, bedenkhch lockend, über zu dem groBen Geldkönig, der einer der geistreichsten Menschen seiner Zeit ist und hier sich mit solchen Geschöpfen gefaUt. Immer mehr hebt er sie und ist viel zu hochmütig, um überhaupt sich vorsteüen zu können, daB er selbst jemals sinken könnte. Nie kann er sich verheren, er bleibt der Kö- nig sogar noch in Vanderborcht mit diesen üblen Menschen. Niemals empört sich seine Würde dagegen, nur manchmal sein rechthaberischer Stolz, der es nicht ertragt, immer wieder nachgeben zu müssen. Dann folgen Abschied und Zorn, und alsbald hinkt der Greis wiederum, nun schon schwer auf seinen Stock sich stützend, durch den winterlichen Waldweg über die kleine Zugbrücke von seinem alten Königtum fort in seine junge Liebe. Jenseits des schmalen Steges zwischen Laeken und dem SchlöBchen Vanderborcht beginnt dann wiederum die Versöhnung. So zwingt die Liebe den Ungeliebten. Weit sind sie entfernt, vorsichtig abgeschlossen vor den Augen der Welt, und doch flüstem immerzu miBgünstige Stimmen um sie, blickt es überaU höhnisch auf die Beiden, kein Gitter, keine Mauer, kein Geheimnis bietet da Schutz. Nun ist es Dezember 1909 geworden, Leopold soll 75 Jahre alt werden — wie lange kann dies noch dauem. Nicht lange mehr. Keiner darf hier ins Liebesnest eintreten. Aber da nahert sich einer, den niemand abweist, und im kleinen Palmenpavülon springt das Tor auf. Der Tod kommt So sehr wünscht Leopold seine erste und letzte Liebe vor Spaherblicken zu verbergen, daB er schon lange sein SchloB von Laeken verlassen hat; immer wieder laBt er dort vergröBern, Stallungen erweitern, Prunksale errichten, eine neue KapeUe für Gott und einen SchloBbahnhof für den Fortschritt bauen. Er befiehlt und beaufsichtigt alles, aber er wohnt nicht im SchloB, sondern der glühende Greis geht durch den langen Gang seiner erhitzten Treibhauser, die mitten im belgischen Winter südliche Blumen aufsprieBen lassen; sogar Pflanzen aus dem Congo blühen dort aus der herbei geholten Erde seines eroberten und verlorenen Afrika; nur hier streift sie sein FuB, wenn er aus seinem kleinen Palmenhause nach dem nahen Vanderborcht zur Gebebten geht. Das ist die romantische Behausung eines Sonderlings, der von hier aus über seine weiten Garten sieht; neben Bruinen, Dampf und tropfender Hitze ein kleines Schlafgemach, ein weiter Arbeitsraum, in dem Leopold regiert, diskret entfernt ein Wartezimmer: solche Enge umfaBt die ganze Wohnung eines Menschen, der mehr als irgend ein anderer für seine Herrensitze ausgegeben hat — nicht um sie zu genieBen, sondern um sie zu erschaffen und in ihnen Willen und Macht sich vorzuführen. Der Fünfundsiebzigjahrige haust nahe der Freundin in einem Treibhaus, das Absteigequartier ist immer wie in Erwartung einer verbotenen -Liebe; symbolisch genug und überaus geeignet für ihn, mn dort zu sterben. Hat er sich zu sehr ausgegeben, hat diese Leidenschaft •mit ihren ungewohnten stets wechselnden Gefühlen von Hingabe und Zorn seine Kr af te erschöpft? Jedenf alls würde der Pariser Professor, wenn er nunmehr ihn untersuchen müBte, ihm keine achtzig Jahre mehr versprechen; er sieht verwittert und ermüdet aus, wül aber es gleich seinem sterbenden Vater verbergen; solange ein König lebt, muB er stark und gesund sein, und er fürcb•tet die unbarmherzigen Worte der jungen Frau, die ihn spöttisch den „sehr Alten" nennt. Leopold hat niemals die Anderen geschont, er fordert selbst jetzt auch keine Schonung, und auch er schont sich nicht. Bis sein Arzt, der ein wenig auch der hebende Leporello dieses majestatischen Don Juan ist, üm plötzhch krank vorfindet. Worauf die Freundin zu ihm kommt und ihn, sie ist dafür nicht geschaffen, ungeschickt zu pflegen versucht. Nach -zwei Tagen arzthches Konsihum, erstes Bulletin wird ausgegeben, eine Darmoperation ist notwendig. Der König laBt sich nicht tauschen, er fühlt, der Tod ist im Haus, und nun wird er noch rascher, ungeduldiger, wül alle Rechnungen in Ordnung bringen. 23 li Zuerst das Wichtigste: her mit dem Notar! Was hat Leopold noch anzuordnen, ist nicht schon alles verschleppt, vor den Töchtern, dem Parlament in Sicherheit gebracht ? Nein, nicht alles, da ist noch sein Sübergeschirr, seine Prunkwagen, die kostbaren Möbel, sein Schmuck; die benötigte er, solange er lebte, deshalb befindet es sich noch nicht in der Stiftung von NiederfuUbach, nun aber soU auch dies verschwinden, er vergiBt nichts; auch nicht einmal ein kleines Andenken soU zurückbleiben, das sind immerhin noch anderthalb Millionen, die letzten, die er vergraben kann. AUes für seinen Königsgedanken, und da unter schreibt er schon. Ist er erschöpft? Nein, nunmehr ist er immerhin noch kraftig genug, den Priester zu rufen. AUes geht nach der Wichtigkeit — zuerst kam HaB, der enterbt, Herrschaft, die über sich hinaus gebietet: das Geld. Dann mag Gott eintreten. Hier ist der alte Pfarrer von Laeken, er bringt das heilige Sakrament der letzten ölung. Nun güt es zu beichten, seine Sünden zu bekennen. Unterwirf dich, alter groBer, böser König, bereuel GroBes, ewig unerforschtes Geheimnis dieser Stunde: öffnete sich hier eine Seele? Oder übte ein nur an sich und sein Königtum Glaubender bloB die notwendige Pflicht seines Berufes? Es ist unerlaBbch, daB ein König der Belgier, Souveran eines katholischen Landes, als treuer Sohn der Kir che stirbt. Sehr viel hatte Leopold zu gestehen: Stolz, Geiz, Rachsucht, WoUust. Niemals war er ergeben, treu, aufrichtig, fromm, hat er die Menschen gehebt, gewünscht ihnen Gutes zu tun, und was er tat, tat er für eigene Macht. Wohl, er kann sagen, er hat sein Land gröBer und mit sich selbst auch andere reicher gemacht, aber es könnte sein, daB Gott dies nicht hören wül. Dies ist ein düsterer Winterabend, und in den Glasgangen nebenan, wo ringsum die edlen Blumen sich ranken, ziehen anklagende Schatten. Die Frau bis in den Tod gequalt, die Töchter verstoBen, die HeUer ausgesogen und beleidigt, und Tausende, wie- der Tausende verzweifelnder, gepreBter, leidender, gemordeter schwarzer Menschen, seine dunklen Brüder, von ihm an sich gerissen, er ist für sie verantwortlich, füllen sie nicht die Gange, das Zimmer, nehmen sie ihm nicht die Luft, ersticken sie nicht das Reuewort, das er zum Priester spricht? Oder hat er für sie, die seinen Reichtum schuf en, nicht einmal einen Gedanken, er nicht und der Priester nicht, der lossprechen und verdammen kann? Niemand wird es jemals wissen, aber wohl weiB Leopold, daB nebenan die junge Frau, die Mutter seiner spatgeborenen Kinder hinter der Türe wartet, die ihm schon- Vater gesagt haben. Geliebte Frau, deren Körper er sich vorsteüt, wahrend er bekennt, und zugleich gröBte Sünde in den Augen der Welt und des Priesters, denn sie ist öffentliches Argernis, hieven spricht unwillig das Land und die Welt, und es kann ihm nicht vergeben werden, solange er die Geliebte um sich hat. Leopold hat niemals Förmlichkeiten beachtet, aus denen er keinen Vorteil zog, doch jetzt ist es notwendig, der Welt Zucker zu reichen, ein Beispiel zu geben. Ein Altar wird errichtet; der Geistliche soU auf seinem Totenbett den König mit dem Pariser StraBenmadchen trauen und so die Sünde tügen. Dies ist Vergebung und ist doch auch Geheimnis, erst spater wird der Kardinal Merder es vorsichtig verkündigen, und diese Ehe, giltig in den Augen der Kirche, ist keine für den Staat, sonst würde das Kind Lucien Lacroix König der Belgier werden. So wird noch die Absolution zur letzten List in diesem listenreichen Leben. Schon ist der König von aller Schuld losgesprochen, auf seine Stirne und Herz streicht kühl das sühnende OL Stirne, hinter der es immer dachte, Herz, das so wüdund ungeduldig schhig, beruhigt euchl Leopold kann losgesprochen seiner jungen Frau nachblicken und befriedigt f eststeüen: Jetzt ist alles in Ordnung I... Noch einmal hat er sich aus der Verwirrung mit einer unverbindlichen Geste herausgeholfen, und er mag, niemals an sich ver- 23* zweifelnd, sagen: Wenn Gott mich in sein Paradies aufnirnmt, wül ich dort über Belgien wachen. Seine Gedanken verwirren sich keinen Augenblick; er bleibt klar. Nein, die Töchter durf en nicht zu ihm; er wül sie nicht sehen, er nimmt wohl die Verzeihung Gottes, doch er selbst gibt nicht Verzeihung; bis zum Tod war ihm Nehmen seliger als Geben. Prinz Albert mag eintreten, dieser steUt als Bedingung, dafi er der Baronin nicht begegnet. Sclüimmer Augenblick: den Nachfolger zu erbbcken, der Neffe wird aUes haben, Leben und Königsein, was Leopold so fest umklammerte, und nun lösen sich die Finger, es fallt von ihm. Je nun, noch einmal wird er befehlen: Albert sob in den Senafr, sob morgen abstimmen, wenn endhch die Entscheidung über die allgemeine Dienstpflicht fallt. Leopold sagt es dem Ministerprasidenten, der vor ihm steht, seine letzten Ratschlage zu horen, Worte, die nunmehr bloB kraftlose Wünsche sein können. Herr Schoüaert ist sehr bewegt, und noch einmal versucht teopold, versucbt es als Sterbender, die Welt einzufangen. Diesmal die Nachwelt. Es ist ein ungeheurer Mensch, der da geht, höchst gefahrhch und durchaus einzig; keiner hat ihn ganz er kann t und voü verstanden. Sie glaubten, weü er Geld hebte und seine Hand in Geschaften hatte, weü er sich mit FluBreguherungen, Haf en und Bahnhöfen abgab und im Automobü fuhr, daB er modem sei. Sie begriffen nicht, wie hinter solchem Übemeuen etwas sehr Uraltes und schon Aussterbendes unzerstörbar sich emporreckte: der letzte König, den die Welt sah. Viele hatten noch die Krone mit ihm, tragen sie nach ihm; unter ahen Braven und Beschrankten, FleiBigen und Begabten, Flachen und Ehrgeizigen war nur er ahein König. Einer, dem Herrschen so selbstverstandbch war wie Atmen, der sich tiefer fatten lassen konnte als alle, bis zum Betrug und zur Orgie und zum Dasein mit Dirne und Zuhalter, weü er sich unverherbar hoch fühlte und keinen sich nahe kommen HeB, einer, der sich, sein Volk und seine Aufgabe trug und am f alschen Ort zur unrichtigen Zeit geboren, mit Land und Jahrhundert rang, siegend, besiegt, immer königlich. Was sagt der Kranke zu Herrn Schollaert? Er will keinen Trost, er weiB, nun kommt der Tod. Er sieht den Krieg voraus, und nun versichert er durch den Minister seinem Volk, daB er es immer gehebt habe, und er lügt nicht, denn Belgien, das war er. Er spricht weiter von neuen Koloniën, von Mesopotamien, es ist so reich, war die Kornkammer der Welt, welche Erganzung für den Congo!... Niemals darf ein FuBbreit Boden abgetreten werden, sonst steige ich aus meinem Grab! Morgen, wahrend mich die Arzte aufschneiden, wird im Senat über die allgemeine Dienstpflicht abgestimmt werden; vierzig Jahre habe ich um sie mit Belgien gerungen... Sie heben mich nicht, niemand liebt mich... Das tut nichts. Ich war behebt und dann verhafit; das kommt und geht, es ist wie Schaum, es bedeutet nicht einmal so viel wie Schaum... Und dann spricht er weiter von den vielen Dingen, die noch zu tun sind; er hat viel zu wenig arbeiten können, er gibt Auftrage, er wül den Minister gewinnen, durch ihn Belgien und endhch einmal nicht mit Argwohn angesehen, gehebt sein. Oh, wenn man schon nicht gehebt wurde, doch noch Ruhm und Nachwelt haben... Leopold spricht hinreiBend, bewegt und bewegend, und dem Ministerpresidenten rinnen dicke Tranen aus den Augen, da er den Sterbenden verlaBt. Vor der Operation ruft der Kranke den Priester, sagt noch die Gebete mit ihm: Gott ist ihm schon bedenkhch nahe, und da empfiehlt es sich, üm zu gewinnen. Wie die Arzte eintreten, winkt Leopold: Bleiben Sie in der Nahe, Sie können dann gleich die Sterbegebete sprechen!... Und im selben Atem zum Chirurgen: Ich wtinsche hier im Arbeitszimmer auf meinem Bett zu bleiben; falls ich aufwache, wül ich sofort arbeiten, ich habe so viel zu erledigen... Nun wird er operiert, im Senat wird indessen die Abstimmung beschleunigt; die Dienstpflicht, Belgiens modernes Heer, Leopolds Lieblingswunsch, soll ihm als letztes Geschenk dargebracht werden» Als er aus dem Chlorof ormrausch auf wacht, wird ihm aus dem Senat die Annahme telephoniert. Er will das Gesetz vor sich haben, um es rasch zu unterschreiben, und dieses „Leopold" unter dem Gesetx ist das letzte von ihm geschriebene Wort und sein letzter Sieg. Dann aber ist es wie ein Wunder: die Operation ist geglückt, er fühlt sich frischer, das Bulletin gibt Hofmung. Weit entfernt von seinem einsamen Pavülon, von diesem kostbaren und erlogenen Süden, warten vor dem Parktor die dichten Scharen der Journalisten. Hinter ihnen Belgien, des harten Alten müde, lüstern nach einem neuen Königsgesicht. Hinter Belgien die Welt, der Leopold so oft wülkornmener AnstoB war. Sie alle wissen von dieser schmahhchen, lacherhchen Idyüe zu drift in Vanderborcht, von diesem Krankenbett im Absteigequartier, von den Anwalten der Töchter, die nur warten, um Protest einzulegen und Siegel aufzudrücken, von diesen enterbten Prinzessinnen; niemals hat man ein solches Sterben gesehen, wirklich würdig eines solchen rücksichtslosen, herausfordernden, gierig wüden Lebens; jeder Schimpf und Zorn ist um das Bett neben dem Glashaus, in dem ein so Undurchdringhcher mit dem Tode kampft. Wird er ihn überwinden ? Un vorstellbar, welche neuen höchsten Überraschungen dann Leopold noch bieten, womit er die Menschheit entrüsten wird! Ein Satan, der nach seiner Versöhnung mit Gott eine Dirne heiratet, einem Bastard Vater wird und die echtbürtigen unglückhchen Töchter verjagt! Jeder Zeituqgsleser der Welt schüttelt sich vor Entrüstung: ein böser König! Die ernsthaften Zeitungsschreiber aber haben schon ihre langen Aufsatze über seine Regierung vorbereitet: Beispiehoser Auf schwung Belgiens wahrend seiner Regierung — aus nichts ein machtiges Reich geschaffen — ein groBer König! Er aber schlaft ruhig in seinem Bett, wacht gestarkt auf, seine groBen spöttischen Augen blieken klarer und voll Sehnsucht auf die junge Frau, die nur vor Gott, aber nicht vor dem Gesetz seine Frau ist. Das ist es wahrhaftig nicht, was Leopold wichtig ist. Ob er noch einmal Freude an ihr, mit ihr haben wird? Sie halt sich jetzt zurück, die Hemmungslose ist unsicher und besorgt, zum erstenmal zankt sie nicht, sie darf ihn doch nicht aufregen... Er sehnt sich nach ihrem ersten Ausbruch, dann weiB er, daB er gerettet ist und das Leben wieder hat. Albert wird sich argern und alle, die auf den neuen König schon warten. Und erst die Töchter! Er lachelt. Aber es ist Nacht, Caroline ist müde, er winkt ihr: Gehe schlafen! Sie küBt ihn hoffend, matt. Er spricht noch mit den Pflegerinnen: In acht Tagen wird er aufstehen, in vierzehn Tagen in seinem SchloB an der Riviera sein, in einem echten Süden. Dort ganz gesund werden, neben sich die Kinder und die Gehebte. Da steigt ein kleines Pfröpfchen Blutgerinnsel in ihm auf, zum Herzen zu. Leopold der Ungeliebte stirbt, und im nahen Glasgang nebenan verschwinden viele, viele Schatten. Skandal und Unsterblichkeit Nun ist alles so, wie es sich die Menschen nur wünschen können und von Leopold mit Recht erwarten durf ten: Der Skandal folgt ihm und steigert sich, alles bleibt um ihn ungewiB, getarnt und verdachtig. Erbschaft, Frau und Kind; der Tote setzt noch fort, was der Lebende übte. Auch sein Testament wird miBachtet, wie er selbst den letzten Wunsch seines Vaters nicht bef olgte und ihn nicht in London neben seiner ersten enghschen Frau begraben heB. Leopold wollte bis in den Tod seine hochmütige Verachtung den Belgiern bezeugen; so hatte er bestimmt, daB er im Morgengrauen und ohne Gefolge begraben sein will. Er aber ward mit allem königlichen Geprange begraben. Kein Wort der Liebe ward gehort, keine Trane geweint, bis zum Palasttor und zur Kirchentüre wurden Schmahschriften und Zerrbilder verkauft, die jeden Schimpf auf ihn hauften. Mit Gewalt hatte man die Vaughan aus seinem Sterbezimmer gezerrt, die schreiende Frau aus dem Pabnenpavülon gestoBen; erst dann traten Albert, seine Frau, Clementine dort ein, nun von keinem unreinen Anbbck befleckt. Das Volk erzürnt sich gegen die Matresse, droht, sie ins Wasser zu werf en, sehr eilig reist sie mit ihrem Freund und den beiden Kindern ab, die nie mehr wieder in dem schonen weiBen Weihnachtsmannbart ihres Vaters zausen werden. Vorher waren noch die Gerichtsbeamten im Auftrag der Prinzessinnen in Vanderborcht, wollten wissen, ob und was von der Baronin hierher verschleppt war, legten die Siegel an; bei jedem Stück wurde gestritten, und um den Mund des menschenverachtenden Toten lag es wie ein letztes Lacheln. Sofort begannen die Prozesse der Töchter gegen Belgien und dauerten jahrelang. Nach wenigen Tagen wurden die ersten verschleppten Vermögensstücke bekannt, im nachsten Monat entdeckte man die Existenz von NiederfuUbach und dort wie im übrigen NachlaB die Congowerte, die Besitz der Kronstif tung und von Leopold widerrechthch beiseite geschafft waren. Belgien bemachtigte sich ihrer, die Absichten Leopolds wurden zu Staub wie er. Er fühlte sich wohl zu stark und zu lebendig, um in aU seiner Klugheit erfassen zu können, wie sterbbch der Mensch ist. Die Skandale dauerten ihre Tage, Monate, versickerten nach einigen Jahren und dann blieb die Unsterbbchkeit zurück. SicherUch keine reine und hebenswerte, sondern mit Lüge und Schuld besudelt. Er verkörperte eine Zeit, die Reichtum für Glück nahm, Hast für Fortschritt, Prunk für Schönheit, den Menschen als Geldwert und Seele als unmodern. In dieser Zeit war er der Erste. Aber er trug in sich auch eine verschollene Vergangenheit, in welcher er als Herr sorgend sich Volk und Staat schuf, nur sich selbst verantworthch. In ihm, dem letzten König und ersten gekrönten Meister der raffenden Gründerzeit flossen zwei Epochen, Vergangenheit und Gegenwart, höchst einmalig und vollendet zusammen; deshalb dauert seine Gestalt bis in die Zukunft. Überhüssig zu untersuchen, was von seinem Werk bleibt; Werke zerfallen rasch, und wir sind heute besonders begabt für Verwesung. Aber wenn überhaupt etwas bleibt, so müfite es Erinnerung an GröBe sein. Nur eines dauert an Leopold, doch es ist das Entscheidende: er selbst.