DAS DEUTSCHE VOLKSLIED 977 B ► 51 OPENBARE LES gehouden bij de opening van zijn colleges als privaat-docent in de duitsche letterkunde van de 1sde en 16de eeuw aan de universiteit van amsterdam op 30 april 1931 DOOR Dr. b. h. van 't hooft 's-gravenhage martinus nijhoff 193ï DAS DEUTSCHE VOLKSLIED DAS DEUTSCHE VOLKSLIED OPENBARE LES gehouden bij de opening van zijn colleges als privaat-docent in de duitsche letterkunde van de 15de en 16de eeuw aan de universiteit van amsterdam op 30 april 1931 DOOK Dr. b. h. van t hooft 's-gravenhage martinus nijhoff 1931 Der Dichter Theodor Storm schildert in seiner Jugendnovelle ,Immensee", wie in einem schweizerischen Dorfe eine kleine Gesellschaft sich im Gartenzimmer eines herrschaftlichen Hauses versammelt haL Es ist ein herrlïcher Frühlingsabend, das Dunkel hricht allmahlich herein, and durch die geöffneten Turen erblickt man in der Nahe den klaren See und darüber hinweg die scharfen Umrisse des Gebirges. Finer der Anwesenden liestund singt Lieder vor, die er im Volke gesammelt hat, und die Frage wird aufgeworfen, wer doch diese naiven Lieder verfaszt habe. Und die Antwort lautet: — sicher im Sinne des Dichters Storm — „Sie werden gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen aus der Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn, hierhin und dorthin, und werden an tausend Stellen zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, alsob wir alle an ihnen mitgeholfen harten"1). Diese Auffassung von der Entstehung des Volks- 0 Storms ümtliche Wake, Georg Wratermann, Berlin (1917). Bd.LS.2S. liedes ist diejenige, welche man die romantische nennt.diealteste, die jahrzehntelang unumschrankt geherrscht hat und auch jetzt noch nicht völlig geschwunden ist. Das Wort „Volkslied" ist jung, die Sache selbst uralt: von jeher hat das Volk seine Freude und seinen Schmerz in Liedern ausgesungen, ursprünglich sehr primitiv, spater etwas komplizierter nach Form und Inhalt. In der alten Zeit sprach man einfach von „Lied", was wir Niederlanderbis auf den heutigen Tag noch tun, und bediente sich ohne erheblichen Bedeutungsunterschied der Namen „Graslied", „Bauerngesang" und „Gassenhauer". Das Wort „Volkslied" wurde von Herder gepragt. Nicht zum ersten Mal, seitdem die Renaissance scharf die gebildete Volksschicht von der ungebildeten getrennt hatte, aber nachdrücklicher als es früher geschehen war, ertönte um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Westeuropa der Ruf nach Einfachheit im Leben und in der Kunst, welcher in der Losung „Zurück zur Natur" seinen kernigen Ausdruck fand. Diese Einfachheit und Natürlichkeit suchte man bei den primitiven, noch nicht von der Kultur verdorbenen Vólkern, von denen besonders die „Wilden" von Amerika im Mittelpunkt des Interesses standen. Auch in der eigenen Vergangenhei t, in der Ku nst fr ü herer Geschlechter fand man die ersehnte Einfachheit und NatürlichkeiL Unter diesem Gesichtspunkt veröffentlichte der Engl and er Thomas Percy 1765 seine drei Bande altenglischer Poesie, die „Reliques of ancient english Poetry" und der Dichter James Macpherson im selben Jahre den letzten Band der angeblichen Gesange des altschottischen Barden Ossian. Die englischen Lieder finden in Deutschland bei den jüngeren Dichtern begeisterte Aufnahme; zunachst in dem englischen Einflüssen so zuganglichen Göttingen, wo Boie Lieder aus Percy übersetzt, u. a. das noch jetzt vielgesungene „Lore amTore" und Burger deutsche Volksballaden nach englischem Muster dichtet. Besonders stark aber ist die Wirkung auf Herder. Schon früher hatten die primitiven Lieder des Volkes sein Interesse erregt und in zwei von machtigem Enthusiasmus getragenen Aufsatzenl) spricht er aus, was die jüngeren Dichter „langst gedacht und empfunden" hatten.2) Er weist darauf hin, dasz auch der Deutsche seine Volkslieder habe, den englischen an Gefuhlswert und Gehalt gleich, und er ruft nach einem Percy, der sie sammle. Er selbst macht, von ') „Uber Ossian und die Lieder alter Völker", Herders Werke (Deutsche National-Litteratur 76, II) III 2, S. 177; . Von Ahnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst", III2, S. 259. *) A. Strodtmann, Briefe von and an Gottfried August Burger Berlin 1874, Bd. I, S. 122. Freunden unterstützt, den Anfang. Schon 1773 ist eine kleineSammlunghauptsachlich deutscher und englischer Lieder fertig, aber erst vier Jahre spater gelangt sie, inzwischen um zahlreiche Lieder anderer Völker vermehrt, zum Druck. Die ursprünglich deutschen Lieder bilden nur einen geringen Teil des Werkes. Eine deutsche Liedersammlung kann man die „Vblkslieder", spater richtiger als „Stimmen der Völker in Liedern" bezeichnet, denn auch nicht nennen. Von den deutschen werden sogar noch viele echte Volkslieder aus der Sammlung des Jahres 1773 fortgelassen und durch solche alter, langst vergessener Dichter ersetzt. Ja, Herder verleugnet sogar seinen früheren Enthusiasmus, indem er in dem matten Nachwort zum ersten Teile behauptet: „Der Sammler dieser Lieder hat nie weder Musze noch Beruf, weder Sinn noch Absicht gehabt, ein deutscher Percy zu werden". Es ist indessen wohl mehr die Angst als die Überzeugung, die ihn so sprechen laszt. Angst ganz besonders vor dem frechen Spott, mit dem Friedrich Nicolai das neuerwachte Interesse für das Volkslied begrüszt harte.l) Es ist auch wohl blosz diese Furcht, die ihndazu bestimmt, die beiden Bandchen anonym in die Welt zu schicken. >) Eyn feyner kleyner Almanach vol schönerr, echterr ljblicher Volcksljder, . .. gesungen von Gabryel Wunderlich. Die Liebe zum Volkslied hat ihn niemals verlassen, davon zeugen zahlreiche Stellen in seinen spateren Schriften, aber auf die Ausführung seines geliebten Planes der Herausgabe einer deutschen Volksliedersammlungscheint er schon damals endgültig verzichtet zu haben. Das Interesse für das deutsche Volkslied vererbte sich auf die kommende Dichtergeneration, die Romantiker, und es war aus ihrem Kreise, dasz der deutsche Percy, nach dem Herder und Bürger so sehnsuchtsvoll ausgesehen hatten, hervorging. Herder durfte es nicht mehr erleben. Zwei Jahre nach seinem Tode erschien der erste Band von Arnim und Brentanos Volksliedersammlung „des Knaben Wunderhorn", *) welche wie kaum ein zweites Werk die lyrische Poesie in Deutschland beeinfiuszt hat Die Verfasser widmeten das Werk in einer originellen Zueignung dem „Herrn Geheimerath von Goethe", dem bei der Lektüre die eigene Sammeltatigkeit im Elsasz wieder lebendig geworden sein mag und der in einer ausführlichen Besprechung in der „ Jenaischen Allgemeinen Litteratur-Zeitung" *) seine hohe Freude an der „mit ') Des Knaben Wunderhorn. - Alte deutsche Lieder. L. Achim von Arnim. Clemens Brentano. Heidelbcrg, Mohr und Zimmer. (1806 Bd. I; 1808 Bd. II and HL) *) 1806, No. 18 und 19, vergl. Goethes samtliche Werke(Jubilaumsausgabe) XXXVI, S. 247/263. soviel Geschmack zusammengebrachten" Sammlung bekundete. Die beiden Freunde, von denen Brentano in der Hauptsache die eigentliche Sammeltatigkeit zufallt, verfolgten mit der Herausgabe keine wissenschaftlichen Zwecke; im Vordergrund stand das asthetische Interesse. Und von Seiten der Wissenschaft wurden bald Bedenken laut, trotz Goethes Mahnung, dasz „die Kritik sich vorerst mit dieser Sammlung nicht befassen dürfe." Im Jahre 1807, als nur das erste der drei Bandchen vorlag, zogen die Zusammensteller eines ahnlichen Sammelwerkes1) gegen die „poetischeFalschmünzerei" des Wunderhorns und dessen Verfasser zu Felde, welche die alten Lieder „durch Auslassungen,Zusatze, Überarbeitungen, und Umbildungen versetzen, Fragmente erganzen oder gar eigenes Machwerk dabei einschwarzen" wollten. Diese Vorwürfe scheinen besonders Arnim zu treffen, der in der Tat mit den aufgefundenen Texten, wenn sie ihm poëtisch minderwertig erschienen, in etwas freier Weise verfuhr. Es ist dies übrigens eine Eigentümlichkeit, die spater noch vielen andern Volksliedersammlern einen Streich spielen sollte; besonders, ') Joh. Büsching und Pr. H. von der Hagen, Sammlung deutscher Volkslieder mit einem Anhange flaralandischer und französischer, nebst Melodien, Berlin 1807; vergl. Vorwort S. VIII. wenn diese Sammler selbst Dichter waren, haben sie nicht immer der Versuchung widerstehen können, gelegendich einmal eigene Werke als Volkslieder einzuschmuggeln1). Die streng wissenschaftliche Ausgabe der deutschen Volkslieder sollte inzwischen noch f ast vierzig Jahre auf sich warten lassen. Ludwig Uhland, der die Liebe des Romantikers für das Volkslied mit dem kritischen Sinn des wissenschaftlichen Forschers so glücklich vereinigte, war derangewiesene Gelehrte, diese Ausgabe zu lösen.Schon alsStudent in Tübingen hatte er, angeregt durch das Wunderhorn, angefangen, deutsche Volkslieder aufzuzeichnen, eine Tatigheit die er seit dem Jahre 1830, wo er eine Professur für Germanistik übernommen hatte,mitgroszerEnergiefortsetzte.Aufzahlreichen Forschungsreisen brachte er, von allen Seiten in entgegenkommendster Weise unterstützt, reiches ') Alt berüchtigten Filtcher alter Volkslieder ttellt Hoffmann von Eallersleben im Vorwort seiner „Loverkena" — Göttingen 1852 — den Schrifttteller Florentin von Zuccalmaglio (Wilhelm von Waldbruhl) an den Pranger, der ganze Dutzende eigener Lieder, „meist tehr elende Machwerke", als echte Volktlieder verbreitet habe. Hoffmann von Fallertleben telbst aber hatte zwanzig Jahre früherauch zwei selbstverfaszte niederlandische Lieder als alte Volktlieder herausgegeben (vergl. Horae Belgicae II, 1833, No. 22 and 23) and mit dem einen sogar Bilderdijk einen Streich getpielt. Auch tragen die .Loverkens" den irrefiihrenden Titel „altniederlandische Lieder" obgieich sie tamtlich aus Hoffmanns „eigener Fabrik" stammen Material zusammen. Mit groszer Sorgf alt und peinlicherGenaüigkeitwurde der Stoffgesichtet, sodasz schlieszlich nur dreieinhalbhundert Lieder in die beiden stattlichen Bande Aufnahme fanden, gegen reichlich das Doppelte im Wunderhorn. Bei der Auswahlbestimmtenihn asthetische undgelegentlich auch moralische Erwagungen; im besondern war er bestrebt, ausjedem der verschiedenen Liedergattungen Proben zu bringen; sollte doch die Sammlung einen Beitrag bilden zur Geschichte des deutschen Volkslebens. Diese sollte in einer breitangelegten Abhandlungdargestellt werden, wozu die einzelnen Lieder als Beispiele gedacht waren. Sie blieb aber durch die allzu groszartige Anlage unvollendet. Die Liedersammlung war nicht ausschlieszlich für die Gelehrten bestimmt. Wohl aus diesem Grunde hielt Uhland es für „nicht angemessen die leichten Flügel des Volkslieds mit einer gelehrten Fracht von Lesarten zu beladen." *) Dafür wurden aber von zalhreichenLiedern mehrere vollstandige Fassungen abgedruckt-Neben dem hochdeutschen wird auch der niederdeutsche und der niederlandischeText mitgeteilt.Für letzteren bildeten hauptsachlich Hoffmann von Fallerslebens Volkslieder ») Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, Zweite Abtheilung, J. G. Cotu, Stuttgart und Tfibingen 1845, S. 982. die Quelle; auch steuerten Willems aus Gent und Freiligrath aus Amsterdam bei. Dem Wunderhorn gegenüber bedeutet Uhlands feinsinnige Liedersammlung einen erheblichen Fortschritt; mehr als ein halbes Jahrhundert steht die Volksliedforschung in Deutschland unter seinem Einflusz und in den meisten Landern ist sie bis jetzt noch nicht über ihn hinausgelangt. Das Interesse Uhlands hatte sich auf das alte Volkslied beschrankt, und seine Nachfolger blieben noch lange dabei stehen. Hatte aber die Sammlung des Meisters noch den ganzen Stoff umfaszt, so beschrankten sich die spateren Herausgeber in ihren umfangreichen Volksliedersammlungen auf eine bestimmte Gattung: Rochus von Liliencron auf das historische Lied, *) Philipp Wackernagel auf das Kirchenlied2), um nur diese beiden zu nennen. In immer starkerem Masze wendet sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Interesse der Forscher dem lebenden Volkslied zu, und es setzt eine rege Sammeltatigkeit in den verschiedenen deutschen Gauen ein. Es macht sich dabei das Bedürfnis geltend, genau festzustellen, was eigentlich unter einem Volkslied zu verstenen sei. Dieses Kapitel, ') Die historischen Volkslieder der Deutschen, Leipzig 1865-1869. *) Dm deutsche Kirchenlied von der altesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Leipzig 1864-1877. die Definierung des Begriffes Volkslied, ist kein erfreuliches, und eine Übereinstimmung liesz sich bis jetzt unter den Fachgelehrten nicht erzielen.x) Die Schwierigkeiten gehen zumTeil daraus hervor, dasz über die Bedeutung der beiden Komponenten der Zusammensetzung „Volkslied" keine Übereinstimmung herrscht. So steht es nicht ganz einwandfrei fest, was unter „Lied" zu verstenen ist. Bedeutender sind die Abweichungen in Bezug auf „Volk". Ist dies als „vulgus" oder „populus" oder vielleicht als keins von beiden aufzufassen ? Wie ist weiter das Verhaltnis dieser beiden unsicheren Elemente? Ist ein Volkslied ein Lied durch das Volk oder für dasselbe gedichtet? Eine wichtige Rolle spielt bei der Begriffsbestimmung, wie man sieht, die Verfasserfrage. Die alte Ansicht war gewesen, dasz das Volkslied keinen persönlichen Verfasser gehabt habe, sondern dasz das Volk als Gesamtheit diese Lieder allmahlich, gleichsam von selbst, gedichtet habe. Es ist dies die sogenannte romantische Auffassung; sie reichtin dieZeit der Romantik zurück, und ganz besonders wird Wilhelm Grimm dafür verantwortlich gemacht; wie ich glaube, mit Unrecht. Grimm sagt zwar in der Rezension einer altdanischen Lieder- ') Man vergl.: Paul Levy, Geschichte des Begriffes Volkslied, Berlin 1911. sammlung*): „Die Recherchen nach dem Verfasser der Lieder rathen wir aufzugeben, weil sie doch keinen Erfolg haben können: das Volkslied dichtet sich selbst." Er wird dies aber in gleichem Sinne gemeint haben wie Goethe, der gelegentlich einmal behauptet, dasz der liebe Gott die Volksliedmelodien geschaffen habe2); in dem Sinne vielleicht, dasz allerhand Formeln und Motive — das Volkslied, besonders das altere, lehnt sich stark an die Formel an — zu einem Lied zusammengefügt wurden, ohne dasz man sagen könnte, von wem. Die Nachwelt nahm Grimms Worte in buchstablichem Sinne und phantasierte sich eine dichtende Volksseele, aus der all diese schonen Lieder hervorgegangen seien. Uhland brach mit dieser Meinung und erklarte, jedes Lied müsse einen persönlichen Dichter gehabt haben, wenn dieser auch nur selten nachzuweisen sei. Durchdas Studium des neueren Volksliedes geriet die Verfasserfrage in ein anderes Stadium. War beim alten Volkslied der Dichter nur ausnahmsweise bekannt gewesen, für das jüngere Volkslied gelang es im Jahre 1906 John Meier3) in zahlrei- ') Kleinere Schriften, herausgegeben von Gustav Hinrichs, Berlin 1882, Bd. H, S. 10. 2) Brief an Herder, Herbst 1771 - vergl. Goethes Briefe, herausgegeben von Eduard von der Hellen, Cotta, Stuttgart und Berlin (1901) I, S. 106. *) Kunitlieder im Volktmunde, Max Niemeyer, Halle a. S. 1906. chen Fallen den Verfasser nachzuweisen. Eszeigte sich dabei, dasz diese Lieder zu einem groszen Teile aus der Kunstdichtung stammten und blosz vom Volke adoptiert waren. Der Volksgeschmack steilte sich auszerdem als sehr rückstandig heraus; dieLieder entstammten einer literarischen Periode, die oft mehr als ein Jahrhundert zurücklag. Auch waren die Lieder nicht unverandert übernommen, sondern bald weniger, bald mehr vom Volk abgeandert, bisweilen sogar verstümmelt worden, so dasz Meier als das Charakteristische des Volksliedes das „ Herrenverhaltnis des Volkes zum Stoff" betrachten konnte. *) Meiers Definition ist, wie übrigens alle früheren, stark angefochten worden. Es fragt sich namentlich, ob es wohl richtig gesehen ist, bei der Begriffsbestimmung so stark einen auszeren Umstand wie die Geschichte des Liedes im Volksmund in den Vordergrund zu stellen. Frantzen schlieszt dies denn auch, ebenso wie die Verfasserfrage, völlig aus und erklart2): „Een principieel verschil tusschen kunstlied en volkslied bestaat niet, en als wij een verschil voelen, dan ligt dit niet aan de herkomst, de wijze ') Kunstlieder im Volksmunde, S. II. *) Meded. der Kon. Ak. van Wetenschappen, Afd. Letterkunde, Deel 53, Serie A 1922, S. 271. van ontstaan, maar aan den dichttrant, den stijl, de tech niek , wobei dann diese stilistischen und technischen Eigentümlichkeiten naher zu untersuchen waren. Eine ahnliche Auffassung mag bereits Goethe vorgeschwebt haben, als er erklarte, der gebild ete Dichter könnte, wenn er es verstande, dieselbe Wirkung wie die der sogenannten Volkslied er erzielen1). In eine neue Phase trat dieVolksliedfrage, als das Volksliedstudium engere Fühlung mit der Volkskunde gewann. In der Volkskunst, wie im Volksleben überhaupt, lassen sich zwei verschiedene Elemente beobachten; solche, die aus der höheren Kultur stammen und solche, die sich von alters her im Volke vererbt haben; die Volkskunde bezeichnet sie als „gesunkenes Kulturgut" und „primitives Gemeinschaftsgut". So zeigt sich beim Volkslied neben dem aus der Kunstdichtung stammenden Lied die primitive Gemeinschaftsdichtung, kurze, sich stark an die Formel anlehnende Liedgebilde. Ebensowenig wie auf irgend einem andern Gebiete der Volkskunst, ist beim Volkslied das aus der Kunstpoesie stammende Lied unverandert übernommen worden, worauf übrigens schon früher von John Meier hingewiesen worden war. ') Werke (Jubilaumsausgabe) XXXVIII, S. 270. Aus den Veranderungen durch das singende Volk sind die zahlreichen Versionen der meisten Volkslieder zu erklaren: zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gegenden wurde bei der Umanderung verschieden verfahren. Von dem auch im Niederlandischen bekannten Lied „Ich stund auf einem Berge", liegen über 30 verschiedene deutsche Fassungen vor. Wir verstenen jezt, dasz Uh 1 and es für unmöglich hielt, alle Lesarten aufzunehmen. Diese Vielheit der Versionen begegnet auch sonst in der Kunst des Volkes. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts zogen englische Schauspieler mit kaum mehr als einer Fassung von Marlowes Drama „Doctor Faustus" nach Deutschland, und aus dem , Anfang des 19. Jahrhunderts laszt sich eine überaus grosze Zahl Faustpuppenspiele nachweisen. Die Veranderungen, denen die Lieder im Volksmund unterworfen sind — schon Görres hatte die Erscheinung als „zersingen" bezeichnet') — sind verschiedener Art. Viele erfolgen unbewuszt durch die Art der Überlieferung. Das Volkslied pflanzt sich gewöhnlich auf mündlichemWege durch den Gesang fort. Dies veranlaszt allerlei Hörfehler. In den Volksliedern aus der Pfalz, die Elisabeth ') Renata Dessauer, Das Zersingen, Berlin 1928, (Germaniscbe Studiën 61). Marriage gesammelt hat, lautet die zweite Strophe des Liedes No. 69x): Da wohnte mein Liebchen, Da blühte mein Glück, Euer selige Standen, Wann kehrt i h r zurück ? Die dritte Zeile ist ohne Zweifel verstümmelt aus „O, ihr selige Stunden". Ein verbreitetes Jagerlied aus dem 18. Jahrhundert fangt an: Was kann einen mehr ergötzen, Als ein schoner, grüner Wald, Wo die Vöglein lieblich schwatzen Und Diana sich auf halt. Um das Jahr 1880 sang man im Taunus: Und die Anna sich auf halt.2) Bei dieser Anderung wird das Nicht-Verstenen der fremden Namens mitgewirkt haben. Von Uhlands Gedicht „Der gute Kamerad" lautet bekanntlich die zweite Strophe: Eine Kugel kam geflogen; Gilt's mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füszen, Als war's ein Stück von mir. •) Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. LXXXIII. *) Erk and Böhme, Deutscher Liederhort 2. Auflage III, S.312 No. 1451. Nach der AngabeBruiniers1) heisztesim Volksgesang: Er liegt mir vor den Füszen Und noch ein Stück von mir. Der Unsinn wird unbehelligt weitergesungen; nicht mehr der Inhalt ist Hauptsache, sondern die Stimmung, und diese kommt besonders durch die Melodie zum Ausdruck. Sehr stark tritt diese Erscheinung im Kinderlied hervor, wie jeder leicht beobachten kann. Nicht selten ruft Ahnlichkeit des Ausdrucks, der Situation oder der Melodie die Erinnerung an ein anderes Lied wach, das dann ganz oder teilweise in den Text gerat. Das im 17. Jahrhundert in Flandern entstandene niederlandische Lied von „Pierlala" ist auch in Deutschland bekannt, besonders in Studentenkreisen. Gewöhnlich führtder Held den Namen„Bierlala."DiezweiteStrophe der bei Erk und Böhme2) abgedruckten Fassung lautet: Als Bierlala ins Wirthshaus kam, Ein lust'ger Bruder war er, Frau Wirthin stand wohl vor der Thür, Sie hatte 'ne weisze Schürze für. „Komm'rein", seggt sie, lala, comme ca! „Komme'rein", seggt Bierlala. ') J. W. Bruinier, Das deutsche Volkslied, Teubner, Leipzig 1910, S. 35 (Aus Natur und Geisteswelt 7). *) III S. 542. In Hessen, wo unser Held als „Perlapu" bekannt ist, lautet diese Strophe nach der Angabe Meiers:1) Als Perlapu ins Wirthshaus kam, Schien er ein lust'ger Bruder zu sein Frau Wilton, hat Sie gut Bier und Wein, Wo hat Sie Ihr schönes Töchterlein ? Es ist klar, dasz das Wirtshaus hier die Uhlandsche Strophe von der Wirtin Töchterlein herangezogen hat Auf diesem Wege sind oft genug mehrere Lieder zu einem Ganzen zusammengefügt worden. Das Lied vom „Tannhauser" wurde in den Niederlanden auf den auffalligen Namen „Heer Daniël" gesungen. Die niederlandische Fassung stimmt ganz mit der deutschen überein, hat aber ein paar Strophen, welche dem deutschen Lied fehlen. Es ist sehr wohl möglich, dasz der Name Daniël mit diesen Strophen in das Tannhauserlied hineingeriet2). Heer Daniël war dann wohl der Held dieses anderen Liedes, dessen lnhalt mit dem des Tannhauserlied es übereingestimmt haben mag. Im Volkshed von den Königskindern bittet das Madchen ihre Mutter, als sie vermutet dasz der Geliebte im See ertrunken sei, einen Spaziergang machen zu dürfen. Die Mutter will ihr erst den Bruder, ') Knnstlieder im Volksmunde, S. LXXXVI. *) G. Kalff, Het Lied in de Middeleeuwen, E. J. Brill, Leiden 1883, S. 71. Eine andere Auffassung bei Van Heiten, Tijdschr. voor Nederl. Taal- en Letterkunde, XV (1896), S. 219. dann die Schwester mitgeben, was das Mëdchen aber ablehnt. Ob es schlieszlich geschieht oder nicht, davon horen wir nichts, der Dichter laszt das Motiv plötzlich fahren. Vermutlich entstammt die Stelle einem der zahlreichen Volkslieder, wo das Madchen bittet, zum Abendtanz gehen zu dürfen, wo einerseits das Aufnötigen, andrerseits das Ablehnen der Begleitung auch besser motiviert ist. Neben diesen mehr oder weniger unwillkürlichen lassen sich auch bewuszte Ander ungen konstatieren. Ein imWunderhornx) abgedrucktes Lied auf die Belagerung von Prag im Siebenjahrigen Kriege mit dem Anf ang: Als die Preuszen marschirten vor Prag, Vor Prag die schóne Stadt, wurde 1870 auf die Belagerung von Paris bezogen, wobei natürlich einige Anderungen, hauptsachlich in den Namen, vorgenommen werden muszten; es lautete damals: Als die Deutschen marschierten vor Paris, Vor Paris die schóne Stadt. Dieses Zurechtschneidenfür ahnliche Situationen ist ein charakteristischer Zug der Volkskunst, welche viel weniger selbstandig-schöpferisch, als umandernd-zurechtlegend tatigist, eine Eigentüm ') Herausgegeben von Karl Bode, Bong Berlin, o. J. Teil I, S. 155. lichkeit, die wir auch an vielen Marchen und Sagen beobachten können; es braucht nur an die zahlreichen Zauberstücke, welche auf Doktor Faust übertragen wurden, erinnert zu werden. Durch diese bewuszten und unbewuszten Anderungen im Volksmund ist oft der logische Zusammenhang der Lieder ins Gedrangegekommen. Die Romantiker betrachteten das Unlogische im Aufbau als einen wesentlichen Zug des Volkslied es und suchten es in ihrer Kunst bewuszt nachzuahmen. Zum Teil aber musz diese Sprunghaftigkeit der Darstellung sicher dem Zersingen zugeschrieben werden. Wir berührten schon einige Male den Gegensatz Höhenkunst-Volkskunst. Dieser hat nicht von Anfang an existiert. Es gab eine Zeit, wo beide Begriffe sich deckten; die Zeit namlich, wo Bildung und Empfinden des ganzen Volkes noch einen einheidichen Charakter zeigten, womit natürlich nicht gesagt sein soll, dasz die Intensitat, sondern nur, dasz die Art der Bildung dieselbe war. In dieser Einheitlichkeit der Kultur des deutschen Volkes tritt gegen Ende des 12. Jahrhunderts eine Spaltung ein, als der führende Teil, der Ritterstand, sich unter auslandischem Einflusz einer anders gearteten Kultur zuwendet. Dies führt zur Entstehung einer besondernliterarischenKunst, natürlich auf Kosten der alten, indem die besten Krafte sich von dieser abwenden. Auch wird sie jetzt nicht mehr vom ganzen Volke getragen; ein Teil blickt sogar geringschatzig auf sie herab. Es ist denn auch begreiflich, dasz aus dieser Zeit der höfischen Poesie von den Liedern des Volkes fast gar nichts überliefert worden ist; das Volksliedf ührt wahrend dieser Periode in den unteren Kreisen ein verborgenes Leben. Mit dem Anfang des 14. Jahrhunderts verf kilt mit der politischen auch die kulturelle Macht des Rittertums; das Volk, wenigstens ein bedeutender Teil desselben, hat sich inzwischen zu einer höheren Bildungsstufe emporgerungen. Und jetzt, wo die Kluft sich allmahlich wieder schlieszt, und die alte EinheiÜichkeit der Bildung, des Empfindens und des Geschmacks sich wieder herstellt, tritt das Volkslied wieder hervor, erlebt wahrend des 15. und 16. Jahrhunderts eine Periode höchster Blüte, bis eine neue Kultur es wieder in die unteren Schichten des Volkes zurückdrangt. Der Unterschied zwischen Kunstlied und Volkslied zeigt sich hauptsachlich darin, dasz sich das Kunstlied, besonders das moderne, in stark persönlichen, das Volkslied dagegen in allgemeinen Anschauungen bewegt und ausspricht, was die Gesamtheit empfindet Derselbe Unterschied laszt sich in der Form beobachten: das Kunstlied greift zum persönlichen Ausdruck, das Volkslied bevorzugt die Formel. Dies ist ein primitiver Zug, der letzten Endes einer Unbeholfenheit im Ausdruck zuzuschreiben ist; wer nicht imstande ist, seine Ged anken selbstandig auszudrücken, greift zur Formel. Auch die Vorliebe für Sprichwörter, die wir in der alteren Literatur, wie noch jetzt beim Mann aus dem Volke, beobachten können, ist eine Folge dieser Unselbstandigkeit Der reichliche Gebrauch von stehenden Ausdrücken macht die Darstellung im Volkslied etwas holperig, indem der Dichter nicht mehr ganz frei in der Wahl des Ausdrucks ist. Die Sprunghaftigkeitdes Volksliedes ist denn auch wohl zum Teil dieser starken Abhangigkeit von lyrischen und epischen Formeln zuzuschreiben. Aber nur zum Teil, denn and rerseits geht sie aus dem unlogischen Aufbau hervor, der für das Volkslied charakteristisch ist. Die Denkart des Volksdichters, wie des primitiven Menschen überhaupt, ist eine spontane, und in seiner Kunst kommt es ihm viel weniger auf logische Ordnung des Stoffes als auf Lebhaftigkeit der Darstellung an. Diejenigen Vorstellungen, die den primitiven Menschen am meisten interessieren, drangen sich am starksten auf, und beim Fehlen der nötigen Selbstbeherrschung nehmen sie in der Darstellung einen viel zu breiten Raum ein, so dasz mehr eine eingebendeSchilderung einzelner Momente als ein logisch aufgebautes Ganze geboten wird. Berücksichtigt man hierzu noch die Anderungen, welche durch das Zersingen entstehen, so wird es einleuchten, dasz man beim Volkslied eine logische Entwicklung der Handlung nicht erwarten darf. Gerade in dieser Sprunghaftigkeit liegt aber zugleich einer seiner starksten Reize, indem sie einerseits eine intensive Teilnahme des Hörers erfordert, andrerseits durch das Unbestimmte der Situation der Phantasie einen gröszeren Spielraum laszt. Beim Kunsdied liegt die Gefahr nahe, dasz es allzuverstandesmaszig aufgebaut wird, so dasz diePharitasie zu kurz kommt, und es laszt sich denn auch sehr wohl verstenen, dasz man geradegegen Ende des 18. Jahrhunderts „des trocknen Tones sart" sich der Technik des Volksliedes zuwendete. So wie das Volkslied sprachlich den stereotypen Ausdruck und inhaldich die allgemeine Situation bevorzugt, so laszt sich bei dem vom Volke adoptierten Kunsdied ein allmahliches Zurückführen aufs Allgemeine beobachten; das Persönliche wird abgestreift, reflektierende Strophen fallen aus und sprachlich stellt sich die Formel wieder ein. Wir dürfen wohl annehmen, dasz die vom Volk angebrachten Anderungen geringer waren bei dem in der alteren Zeit adoptierten Kunstlied als sie es beim modernen Lied mit seinem starkpersönlichen Charakter sind. Abgesehen aber von diesen durch die Art des alteren Kunstliedes bedingten, lassen sich beim alten Volkslied dieselben Anderungen wie beim jüngeren beobachten. Dasz das singende Volk mit dem alten Liede in ebenso freier Weise geschaltet haben musz wie es dies mit dem jüngeren tut, geht aus den zahlreichen, bisweilen völlig abweichenden Fassungen, in denen es überliefert wurde, deudich genug hervor. Die beim jüngeren Volkslied beobachtete Rückstandigkeit tritt auch im alteren Lied zu Tage; sehr deutlich laszt sie sich beim Liebeslied konstatieren, das sich völlig nach Inhalt und Form in der Sphare des Minnesangs bewegt. Nur ist der Ritter zum Reiter oder Landsknecht, die adlige Dame zur Bürgerstochter oder Bauernmagd herabgesunken: Ic stont op hoghe berghen, ic sach ter see waert in, ic sach een scheepken driven, daer waren drie ruiters in '). In der deutschen Fassung—das niederlandische Lied stammt sicher aus Deutschland — sind es ') PI. van Duyse, Het Oude Nederlandsche Lied, 's Gravenhage, Martinus Nijhoff; Antwerpen, De Nederlandsche Boekhandel, 1903.1 S. 132. noch drei Grafen, die das Madchen im Schiffe fahren sieht. Der Wachter, der im Tagelied des 13. Jahrhunderts seine fingierte Rolle als Warner der Geliebten spielt, setzt seinen Beruf im Volkslied noch im 16. Jahrhunderts fort: Der Wachter der blies an den Tag An einer Zinnen, da er lag, Er bliese an des Tages Schein: „Wo zwei Lieb bei einander sein, Scheiden sich bald! Es taget vor dem grünen Wald." ') Und noch jetzt hat das Volkslied ihn nicht ganz vergessen, wie folgendes, noch im Volke lebendes Lied zeigt: Der Wachter auf dem Thürmlein sasz, In 's Hörnlein that er blasen: .Und wer bei seinem Schatzlein leit, Der steh nur auf, es ist schon Zeit: Der Tag bricht an mit Strahlen, ja Strahlen!"2) In den Tageliedern wird die Situation von der poetischen Seite geschildert, das Volkslied aber betrachtet die Sache gelegendich auch vonder Seite ■) Erk und Böhme, Deutscher Liederhort II, S. 599, No. 799(± 1550). 2) Erk und Böhme II, S. 613, No. 812». der Eltern, die natürlich das Verhalten des Wachters mit andern Augen sehen: Si namen dat goelijc wachterkijn, si leydent op den disch, si snedent daer in vieren ghelijc den salmenvisch.') Die Situation ist zwar etwas roher geworden, das laszt sich nicht leugnen, aber es fehlt doch nicht ein gewisser Humor, der das Rohe bedeutend mildert. Andrerseits zeigt das Volkslied Sinn für Realitat, der dem Minnesang völlig abgeht. Vielbewundert sind beim alten Volkslied die sogenannten Natureingange; die Eigentümlickheit, die Stimmung der Lieder durch eine mit wenigen Strichen angedeutete Naturschilderung anklingen zu lassen: Wie schön blüt uns der meien, der sommer fert dohin! Mir ist ein schöns junkfrewlein gefallen in mein sin; Bei ir do wer mir wol, wann ich nur an sie denke mein herz ist freuden vol.2) Man vergleiche auch den durch Hans Sachs auf ') Antwerpener Liederbuch (1544) No. 158; vergl. Fl. van Duyse Het Oude Nederlandsche Lied, 1903,1 S. 244. 2) Franz Böhme, Altdeutsches Liederbuch No. 264, S. 342. uns gekommenen und von Uhland1) abgedruckten Reigen: Der meie, der meie der bringt uns blümlein vil, ick trag ein freis gemüte, gott weisz wol wem ichs wil. Bisweilen auch bildet die Stimmung des Dichters einen Gegensatz zu der durch die Naturschilderung erweckten: Het wayt een windeken coel wten oosten, hoe lustelijc staet dat groene wout, die vogelkens singen. Wie sal mi troosten? vrouwen ghepeyns is ménichfout.2) Die Anlehnungen an die Natur geben den Volksliedernunstreitigetwas Frisches; ursprünglich aber sind sie nicht: wir finden dieselben Schilderungen, gewöhnlich etwas breiter, im Minnesang.3) Bekanntist, welcheScheu die ritterlichen Dichter in ihren Liedern zur Schau tragen, den Namen der verehrten Dame zu nennen, um diese nicht in das Gerede der Leute zu bringen; sich öffentlich der Gunst der hohen Frau zu rühmen, galt ja vollends als „dörperheit." Wir sehen dies auch bei einem der schönsten niederlandischen Volkslieder, das ') Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder I, S. 58. 2) Antwerpener Liederbuch No. 69, Van Duyse I, S. 391. 3) Priedrich Vogt, Des Minnesangs FrUhling, Leipzig 1914, S. 30 ff. (Dietmar von Eist), S. 59 ff. (Veldeke) u.a. übrigens noch völlig in der Sphare des Rittertums spielt, „Het daghet in den oosten", wo das Madchen an der Leiche des erschlagenen Geliebten klagt: Och ligdy hier verslaghen, Versmoort al in u bloet! Dat heeft gedaen u roemen.') Noch in dem Volkslied der jüngsten Zeit zeigt sich ein unverstandlicher Rest dieser alten Scheu, indem der Name des geliebten Madchens verschwiegen bleibt: Da droben auf jenem Berge, Da steht ein goldnes Haus, Da schauen wohl alle Frühmorgen Drei schóne Jungfrauen heraus; Die eine die heiszet Elisabeth, Die andre Bernharda mein, Die dritte die will ich nicht nennen, Die sollt' mein eigen sein.2) Sogar den „hüetaere"aus demMinnesang finden wir im Volkslied als den „Klaffer" wieder. Die Verfasser der alteren Volkslieder kennen wir nur in den seltensten Fallen. Wenn die Lieder selbst darüber irgendeine Angabe enthalten, so ') Antwerpener Liederbuch No. 73, Van Duyse I, S. 119. 2) Des Knaben Wunderhorn, ton Karl Bode, Bd. I, S. 66; vergl. auch Erk und Böhme II, S. 233—236. ist es die Standesbezeichnung des Dichters in der Schluszstrophe: Und der uns disen reien sang so wol gesungen hat: Das haben getan zwen hauer zu Freiberg in der stat. Sie haben so wol gesungen bei met und külem wein, dabei da ist geseszen der wirtin töchterlein. ') Wenn diese Angaben zuverlassig sind, was nebenbei nicht immer der Fall ist,2) somüssen alle Schichten der Gesellschaft an der Produktion dieser Lieder beteiligt gewesen sein, der Weber wie der Bauer, der Schreiber wie der Betder, mögen auch einzelne Stande, wie die Landsknechte und die Hauer, die Bergwerker, nach denen das Volkslied den Namen „Bergreihen" tragt, sich ganz besonders dabei hervorgetan haben. Das Lied bildete eine Macht im öffentlichen Leben, besonders dasjenige, das wir jetzt als das historische Volkslied bezeichnen, dem als Beherrscher der öffentlichen Meinung etwa die Bedeutung der ') Böhme, Altdeutsches Liederbuch, S. 233. 2) Uhland, Alte hoch- und niederd. Volkslieder, No. 99, vergl. die Schluszstrophen von A und B; No. 154, die Schluszstr. von A, B und C; und No. 202, A Str. 6, B Str. 21. V Leitartikel unserer Zeitungen beizumessen ist. Der Graf von der Mark „gardede [1363] im Viehlande mit grootem Volke und brande veele husen, darumme dat to Bremen ein leed op em gedichtet was"1). Das wird wohl kein Loblied gewesen sein. Der im Volkslied berüchtigte Müller, der vor keiner Übeltat zurückschreckt, hat vor dem auf ihn gedichteten Spotdied doch Angst: De möller geve ein daler darümm dat men dat letlin nümmer süng, darümme wille wi it nicht laten, singe wi it in der molen nicht mer singe wi it up der straten, ja straten.2) Von der Bedeutung des Liedes in der alteren Zeit zeugt die von dem Stadtschreiber von Limburg a. d. Lahn verfaszte Limburger Chronik.3) DerVerfassermuszeinenfeinenBlickfürdieKulturverhaltnisse seiner Zeit gehabt haben; er verzeichnet die Anderungen in der modischen Kleidertracht mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit der er über Miszgewachs und Ritterfehden berichtet. So hat er auch eine stattliche Anzahl von Liedern ') Materialien zur Geschichte des deutschen Volkslieds von Rudolf Hildebrand, herausgegeben von G. Berlit, Leipzig 1900, S. 58. 2) Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder II, S. 698. 3) Arthur Wyss, Monumenta Germaniae historica, IV, 1. Hannoverae, 1883. aufgezeichnet, welche inden letzten60 Jahren des 14. Jahrhundertsvom Volke gesungen wurden; die Lieder aus der Zeit des groszen Sterbens, welche die Geiszler auf ihren Fahrten sangen, und die heitreren Volkslieder, als die Seuche vorüberwar. Mitunter erfahren wir auch den Namen des Dichters und die Umstande, welche die Entstehung der Lieder veranlaszten. So berichtet er für das Jahr 1342 c1) „da was uf dem Meine ein monich von den barfuszen orden, der was von den luden vurwiset unde enwas nit reine, [er war also als Aussatziger aus der Gesellschaft ausgestoszen.] Der machte di beste lide unde reien in der wernde von gedichte unde von melodien, daz im niman uf Rines straume oder in disen landen wol gelichen mochte. Unde was he sang, daz songen di lude alle gern, unde alle meister, pifer unde ander spellude furten den sang unde gedichte". So sang er das Lied: Des dipans bin ich uszgezalt,2) Man wiset mich armen vur die dure, worin er seinen eigenen Schmerz ausgesungen haben wird, ebenso wie in jenem andern: Mei, mei, mei, dine wonnicliche zit menliche vreude git, an mir. ') Wyss, S. 70. 2) Aus dem Kreise der Menschen (des dietbannes) bin ich ausgestoszen. Und, so fahrt der Chronikschreiber fort, „der lider unde widersenge machte he gar vil, unde was das allez lustig." In Einzelheiten sind wir unterrichtet über die Entstehung eines andern Liedes, das einem Kreise entstammt, der für das alte niederlandische Lied von ganz besonderer Bedeutung ist. Es geschah, berichtet die Chronik der Brüder des gemeinsamen Lebens in Zwolle, als die Brüder zeitweilig in Doesburg wohnten, dasz eine Dienstmagd in einem dem Kloster benachbarten Hause ein unanstandiges Lied zu singen pflegte. Der Vorsteher des Klosters, Bruder Dirc van Herxen, darüber unwillig, dichtete „in tonis et notis" dieses weltlichen Liedes ein anderes zum Lobe der Keuschheit mit dem Anfang:1) Me iuvat laudes canere Preclare castitatis. Er übergab es dem Rektor der Schule und bald danach wurde es von den Klosterschülern gesungen. Man bat nun den Bruder, das Lied auch in die Volkssprache umzudichten, und Dirc van Herxen, den wir als „een heerlic guet slecht oversetter en beduder van het latijn in duitsche"2) kennen, leis- ') M. Schoengen, Werken uitgegeven door het Historisch Genootschap, Derde Serie, No. 13, Amsterdam, Johannes Müller 1908, S. 55. 2) Schoengen, S. 236. tete dieser Bitte Folge und mit gleicher Eleganz dichtete er auf dieselbe Weise: Mi lust te loven hoech(e)lic Die reinicheit soe pure, welches Lied nebst dem lateinischen Original*) und der Anfangszeile des Volksliedes 2) auf uns gekommen ist. Was Bruder Dirc hier dichtet, ist eine sogenannte Kontrafaktur, ein geistliches Lied, das auf die Melodie eines weltlichen gesungen wurde. Diese Gewohnheit bestand lange vor ihm und liegt noch nicht so weit hinter uns. Überaus zahlreich sind die auf diese Weise entstandenengeistlichen Lieder. Gewöhnlich wurde damit bezweckt, ein weltliches Lied wegen seines anstöszigen Inhalts zu verdrangen, was z. B. die unverhüllte Tendenz bei Willem van Zuylen van Nyevelt war, als er die Psalmen auf die Melodien bekannter Volkslieder dichtete in der Hoffnung diese „sotte vleesschelijcke liedekens" im Munde der sangeslustigen jungen Leute durch solche zu ersetzen „daer God door gheert ende si door gesticht mogen worden." 3) Und oft genug war der Versuch nicht vergeblich, so dasz vom alten Volkslied nur noch die Anfangszeile, welche ') Vergl. Dietscbe Warande 1857, partie francaise, S. 33 ff. Van Duyse III, S. 2211 ff. 2) Viertel jahrnchrin für Muiikwissenschaft IV (1888), S. 296. *) Souterliedekens, Prologhe. gewöhnlich zur Angabe der Melodie benutzt wurde, erhalten geblieben ist.1) Bisweilen laszt sich eine starke Anlehnung der Kontrafaktur an diese erste Zeile, die ja besonders wichtig war, beobachten. Das niederlandische geisdicheLied „Hoe luyde sanck die leeraer opter tinnen" is sicher nicht ursprünglich; auf der Burgzinne ist der Platz des Wachters und wir haben hier ein ursprüngliches Tagelied vor uns. In Anlehnung an das katholische Kirchenlied „Dy, vrouw van hemel roep ick aen"2) dichtete Willem van Zuylen den 129. Psalm (De profundis), „Dy, Heer van hemel riep ick aen". Der Anschlusz ist nach unseren Begriffen bisweilen etwas auffallig; man vergleiche die Anfange: O Venus bant, o vierich brant3) O Jhesus bant, o vierich brant.4) Das moralisch nicht ganz unbedenkliche Jagerlied :B) Es welt ein jager jagen vor jenem holz, Was bgegnet im auf der heiden ? drei frewlein hübsch und stolz, ') Man vergl. Elizabeth Mincoff-Marriage, Souterliedekens met de oorspronkelijke Volksliederen, 's-Gravenhage, Martiaus Nijhoff, 1922. 2) Vergl. die deutsche Fassung bei Böhme, Altd. Liederbuch No. 592, S. 702. 3) Antwerpener Liederbuch No. 122; Van Duyie I, S. 461. 4) Hoffmann von Fallersleben, Niederl. geistliche Lieder 1854, S. 132; Van Duyse III, S. 2218. 5) Böhme, Altd. Liederbuch S. 542, No. 436. wurde zu einem geistlichen Lied umgedichtet, das die Verkündigung durch den Engel Gabriel berichtet:1) Es wolt ein jager jagen wol in des himelstron, Was bgegnt im auf dem wege ? Maria die jungfraw schon. Ob der Charakter der Melodie wohl immer zu dem geisdichen Liede paszte, darum scheint man sich nicht allzusehrgekümmertzu haben. Vermutlich war man mit Pastor Busshof2) der Meinung: „De voy8 en weegt Godt niet." Luthers bekanntes Weihnachtslied: Von himel hoch da kom ich her, ich bring euch gute neue mer, der guten mer bring ich so viel, davon ich singen und sagen wil, ist dem Anfang eines sogenannten Kranzliedes nachgedichtet; bei dem nach Ablauf der Tagesarbeit unter der Dorflinde stattfindenden Wettkampfen im Singen wurde dem Sieger von den anwesenden Madchen ein Kranz überreicht. Der Sanger pflegte sich dabei als Weitgereister einzuführen, der viel zu erzahlen wuszte. Die Sitte des ') Uhland, Alte hochund niederd. Volkslieder II, S. 875, No. 338. 2) Vergl. J. van Lodensteyns Uit-Spanningen, Amsterdam 1681; Voor-Reden. Kranzsingens besteht noch jetzt in der Schweiz. Uhland1) hat ein altes Kranzlied abgedruckt, das in den Anfangszeilen fast völlig mit Luthers Lied übereinstimmt: Ich kumm ausz frembden Landen her und bring euch vil der newen mar, der newen mar bring ich so vil mer dann ich euch hie sagen wil; Bisweilen geht der Anschlusz an die weltlichen Lieder noch viel weiter; man hatte geistliche Liebeslieder, geistliche Tagelieder, sogar geisliche Tanzlieder: lm Himmel, im Himmel Ist Freude so viel, Da tanzen die Englein Und haben ihr Spiel.z) Ein merkwürdiges Tanzlied hat E. de Coussemaker aufgezeichnet;3) es wurde bei der Bestattung eines junges Madchens von ihren Gespielinnen gesungen: In den hemel is eenen dans, AUeluia, Daer dansen all' de maegdekens, Benedicamus Domino, AUeluia, alleluia. ') Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder I, No. 389. 2) Erk und Böhme III, S. 738. 3) Chants populaires des Flamands de France, Gand 1856, S. 100. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts sang man am Niederrhein ein geistlichesTrinklied, das sich völlig an das alte „Sauflied" anlehnt: Laist ons syngen ind vroelich syn, jngen rosen, myt jhesus ind den vrunden syn; wer weis, wie lange wir hie sullen syn ? jngen rosen. Laist dat gelessgen vmme gaen, jngen rosen, so moegen wir vroelich heym wartz gaen in alle zyt in vreude staen[t], jngen rosen. ') Nicht blosz geistliche, auch weldiche Lieder wurden auf fremde Melodien gedichtet. Oft lag in der Wahl dieses Liedes eine Spitze, so z. B. als auf den kölnischen Bischof Gebhard Truchsesz, der eine Ehe eingehen wollte, ein Sportlied gedichtet wurde auf das im 16. Jahrhundert vielgesungene: Venus du und dein kind Seid alle beide blind.2) Zahlreich sind auch die Nachdichtungen auf die Melodie „vom armen Judas", ein überaus beliebtes Spotdied auf den ungetreuen Jünger.dasvielleicht einem Osterspiel entstammt. ') Zeitschr. f. d. Philologie XXI (1889), S. 160; Van Duyse III, S. 2290. 2) Böhme, Altd. Liederbuch No. 219, S. 302; das Lied auf Gebhard Truchsesz bei Karl von Erlach, Die Volkslieder der Deutschen, Bd. V, Mannheim 1836, S. 452. \ Die sehr grosze Zahl der Umdichtungen musz wohl aus der Schwierigkeit, eine neue Melodie zu komponieren, erklart werden. Die noch jetzt im Volke entstehenden Lieder schlieszen sich fast immer einer bestehenden Weise an, und die Leute vom Fach, die Meistersinger, waren der Ansicht, dasz es leichter war, einen neuen Text als eine neue Melodie herzustellen; denn nur wer einen eigenen Ton, eine . selbstandige Weise erfand, durfte sich Meister nennen. Die Melodie hat für das Volkslied sicher eine gröszere Bedeutung als der Text; sie haftet auch fester im Gedachtnis. Die Liederbücher enthalten gewöhnlich nur den Text und können die Weise als bekannt voraussetzen. Die Liedersammler berichten wiederholt, wie die landlichen Sangerinben — diese sind an erster Stelle die Tragerinnen des Volksliedes — blosz die Lieder hersingen können und sofort stecken bleiben, wenn sie den Text hersagen müssen. Ohne die Melodie hat das Lied fürs Volk keine Bedeutung; das wuszte schon ein niederlandisches Liederbuch aus dem 18. Jahrhundert:1) Het is een ider een bekend, Dat 'er geen Lied-boek is geprent, Of men vind daar in altoos, ') Het Evangelische Vis-Net, t' Amsterdam, By d'Erfgen. van de Wed. C. Stichter. (Altester Druck 1676.) / Veel' Liedjes daar men nooit de vooys Van vinden kan tot ons verdriet, Waar door men 't Liedt niet eens insiet, Men leest 't niet om de rym zoo zeer, Of inhoud; maar men zingt 't veel eer Als ons bekent is het geluyt. Für die Bedeutung der Melodie spricht auch die Tatsache, dasz so mancher erbarmliche, bis zu reinem Unsinn zersungene Text durch eine schone Weise weiterleben kann, und es ist wohl sehr zu bedauern,dasz dem Volkslied von derSeite der Musikwissenschaft noch immer nicht das Interesse zuteil wird, dessen es sich jetzt schon anderthalb Jahrhundert bei den Philologen erfreuen darf. * ^ * Hooggeachte Professor Scholte! Het is nu reeds meer dan tien jaren geleden, dat ik deze universiteit verliet, al waren dan ook niet alle banden met haar verbroken. In dezen tijd is het mij steeds duidelijker geworden, wat Uw onderwijs voor mijn wetenschappelijke vorming heeftbeteekend. Het zal mijn streven zijn, mijn lessen hier te geven in Uw geest, met Uw nauwgezetheid, met Uw toewijding.