n. Ein paar Tage kreuzte das brautliche Schiff des Schahs im blauen Meer. Denn man getraute sich nicht, dem grossen Herrn zu sagen, dass man auf eine Antwort des persischen Botschafters in Wien warten müsse. Nach anderthalb Tagen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl er sich um den Kurs des Schiffes nicht kümmerte, konnte er doch nicht umhin, zu bemerken, dass immer wieder das gleiche Stück der Küste auftauchte, die er eben verlassen hatte. Auch ihm schien es allmahlich sonderbar, dass ein so starkes Schiff so viel Zeit brauchte, um ein zo kleines Meer zu durchqueren. Er liess den Grossvizir kommen und deutete ihm an, dass er unzufrieden sei mit der Langsamkeit der Ueberfahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht genau. Denn, traute er schon keinem seiner Diener, solange er sich auf fester Erde befand, so traute er ihnen noch weniger, wenn er auf dem Wasser umherschwamm. Gewiss war man auch zur See in Gottes Hand, aber auch ein wenig in der des Kapitans. Ueberhaupt, so oft er an den Kapitan dachte, wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapitan gar nicht, besonders, weil er sich nicht erinnern konnte, ihn schon jemals gesehen zu haben. Er war namlich ausserst misstrauisch. Selbst die Manner, die ihm heimisch und wohlvertraut waren, verdachtigte er leicht und gerne; wie erst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte? Ja, er war dermassen misstrauisch, dass er nicht einmal sein Misstrauen zu erkennen zu geben wagte — in der kindischen und machtigen Herrn oft eigenen Ueberzeugung, sie seien noch schlauer als ihre Diener. Deshalb deutete er jetzt dem Grossvizir auch nur vorsichtig an, dass ihm dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vorkomme. Der Grossvizir aber, der wohl erkannte, dass der Schah sein Misstrauen nicht ausdrücken wolle, cjab keineswegs zu erkennen, dass er Misstrauen spüre. „Herr" — sagte der Grossvizir — „auch mir erscheint es unverstandlich, dass wir so lange Zeit brauchen, um das Meer zu überqueren". bestatigte der Schah, als ob er selbst erst durch diese Bemerkung des Grossvizirs auf die allzu langsame Fahrt aufmerksam gemacht worden ware — „ja, Du hast recht: warum fahren wir so langsam?" „Man müsste, Herr, den Kapitan befragen!" — sagte der Grossvizir. Der Kapitan kam, und der Schah fragte „Wann erreichen wir endlich die Küste?" „Grossmachtiger Herr" — erwiderte der Kapitan — „das Leben Eurer Majestat ist uns allen heilig! Heiliger ist es uns als unsere Kinder, heiliger als unsere Mütter, heiliger als die Pupillen unserer Augen. Unsere Instrumente kündigen einen Sturm an, so friedselig das Meer auch im Augenblick erscheinen mag. Wenn Eure Majestat an Bord sind, mussen wir tausendfach achtgeben. Was gibt es Wichtigeres für unser Leben, für unser Land, für die Welt, als das geheiligte Leben Eurer Majestat? Und unsere Instrumente kündigen leider Sturm an, Majestat!" Der Schah sah nach dem Himmel. Er war blau, straffgewölbt, strahlend. Der Schah dachte, dass ihn der Kapitan belüge. Er sagte es aber nicht. Er sagte nur: „Mir scheint, Kapitan, dass Deine Instrumente gar nichts taugen!" „Gewiss, Majestat," — antwortete der Kapitan — „auch Instrumente sind nicht immer zuverlassig!". „Ebenso wie Du, Kapitan" — sagte der Schah. Auf einmaal bemerkte er ein winziges, weisses Wölkchen am Rande des Horizonts. Die Wahrheit Diplomatie, der brave Kapitan? Seit zwanzig Jahren kreuzte er die Meere, immer auf diesem kaiserlichen Dampfer Achmed Akbar. Viele Stürme hatte er erlebt, in seiner Jugend war er noch auf Segelschiffen gefahren, und auf Segelschiffen hatte er die Seefahrt zuerst kennen gelernt. Niemals seit seinem Regierungsantritt hatte dieser Schah das Bedürfnis empfunden, ein Meer zu überqueren. Ihn, den armen Kapitan, traf die gefahrliche Auszeichnung, den machtigen Herrn zum ersten Mal über Wasser zu führen. „Wir dürfen nicht in der vorgeschriebenen Zeit Europas Küste erreichen", hatte ihm der Grossvizir gesagt. — „Seine Majestat haben einen höchst ungeduldigen Charakter und wollen ihre Wünsche erfüllt haben, kaum sind sie ausgesprochen. Aber es gibt, verstehn Sie, Kapitan, diplomatische Hindernisse. Wir müssen erst die Antwort seiner Exzellenz, unseres Botschafters abwarten. Solange müssen wir trachten, nahe der Küste herumzukreuzen. Wenn es seiner Majestat einfallen sollte, Sie zu fragen, so sagen Sie, dass Sie Sturm befürchten." So hatte der Grossvizir gesprochen. Und siehe da: Der Sturm war wirklich im Anzug. Und die Instrumente hatten ihn doch gar nicht angekündigt. Einfach die Lüge hatte ihn angekündigt, einfach die Lüge! Glaubig war der Kapitan und Allah fürchtete er. Sie kamen in die Kabine des Kapitans. Es gab da wenig Instrumente, insbesondere aber keine, die etwas vom nahenden Sturm aussagen konnten. Es gab nur eine grosse Bussole, englisches Fabrikat, festgeschraubt auf einer runden Tischplatte. Der Schah beugte sich darüber. „Was ist das, Kapitan?" — fragte er. „Majestat, eine Bussole!" — sagte der Kapitan. „Aha" — sagte der Schah. „Andere Instrumente hast Du nicht?" „Hier nicht, Majestat, sie sind daneben, im Zimmer des Ingenieurs!" — „Also Sturm?" — fragte der Schah. Er hatte keine Lust mehr, andere Instrumente zu sehn, und ausserdem wünschte er sich ehrlich einen Sturm herbei. ,,Wann wird endlich dieser Sturm kommen?" — fragte er gütig. ,,Ich schatze, nach Sonnenuntergang\" — sagte der Kapitan. Der Schah ging, hinter ihm der Kapitan. Als sie auf das Verdeck traten, war der Tag bereits fast so finster, wie eine richtige Nacht. Der Offizier vom Dienst kam eilig heran, er lief, er galoppierte. Er meldete dem Kapitan irgend etwas, in Ausdrücken, die der Schah noch niemals gehort hatte. Er ging auch weiter, ohne sich um die beiden zu kümmern. Er trat an die Reeling und betrachtete mit aufrichtigem Vergnügen den wütenden Gischt der anstürmenden, zurückweichenden und immer wieder anstürmenden Wogen. Das Schiff begann zu schwanken. Die Welt begann zu schwanken. Die Wogen waren grüne, schwarze, blaue und graue Zungen, mit schneeweissen Randern. Ein gewaltiges Unbehagen ergriff plötzlich den Schah. Ein unbekanntes Ungeheuer wühlte und wand sich in seinen Eingeweiden. Einmal, er erinnerte sich, er war noch ein Knabe gewesen und krank, sehr krank, hatte er ein ahnliches Uebel verspürt. Den Kapitan ergriff eine doppelte Aufregung: erstens war sein Herr unpasslich; und zweitens naherte sich eben jener Sturm, den er so leichtfertig vorausgelogen hatte. Der Kapitan wusste nicht mehr, um was er sich eifriger kümmern müsse: um den Sturm oder das Unbehagen des Herrn. Er entschloss sich, seine Aufmerksamkeit dem Schah zuzuwenden. Dies war um so eher angebracht, als er ohnehin befohlen hatte, sofort möglichst dicht an die Küste zurückzukehren. Ausgestreckt, in mehrere Decken gehüllt, lag der Schah auf dem Verdeck. Der Leibarzt, den er so hasste, und der, seiner Meinung nach, der einzige Mensch war, dem er nie mehr in diesem Leben entrinnen konnte, stand gebeugt über dem kranken Herrn. Er tat, was selbstverstandlich war: er flösste dem Schah Baldrian ein. Die ersten schweren Regentropfen fielen auf den weichen Sammet des Zelts, das man um den Schah gebaut hatte. Der Wind liess leise die Ringe erklirren, die des Zeltes Wande mit den drei metallenen Staben verbanden. Der Schah fühlte sich wohler. Er wusste, dass es draussen blitzte, und den Donner hörte er mit wonnigem Behagen. Seine Uebelkeiten verschwanden, kein Wunder! Das Schiff stand still, kaum zwei Seemeilen von der Küste. Nur das Meer klatschte in regelmassiger Wut gegen die Flanken. Dieser Sturm war dem Grossvizir als eine besondere Gnade des Himmels geschickt worden. In hurtigen Booten erreichten Sekretare Konstantinopel, mitten in der Nacht. In den gleichen hurtigen Booten kehrten sie am nachsten Tage, gegen neun Uhr morgens, zurück. Der Schah schlief noch. Sie brachten das Telegramm des Wiener Botschafters: in Wien erwarte man die Majestat. Alles ware zum Empfang bereit. . . Auch der Sturm erstarb. Eine neue, gewaschene Sonne leuchtete stark und froh, wie einst, vormals, am ersten Tag ihrer Erschaffung. Auch der Kapitan leuchtete. Auch der Grossvizir leuchtete. Mit Volldampf glitt das Schiff dahin, Europa entgegen. m. Seine Kaiser- und Königliche Apostolische Majestat empfing die Kunde von dem Besuch des Schahs gegen acht Uhr morgens. Es waren gerade knapp zweihundert Jahre vergangen, seitdem der grausamste aller Mohammedaner gegen Wien herangerückt war. Damals hatte ein wahres Wunder Oesterreich gerettet. Weit schrecklicher noch als einst die Türken bedrohten jetzt die Preussen das alte Oesterreich — und obwohl sie fast unglaubiger waren, als die Mohammedaner - denn sie waren ja Protestanten — tat Gott gegen sie keine Wunder. Es gab keinen Grund mehr, die Söhne Mohammeds mehr zu fürchten als die Protestanten. Jetzt brach eine andere, schrecklichere Epoche an, die Zeit der Preussen, die Zeit der Janitscharen Luthers und Bismarcks. Auf ihren schwarzweissen Fahnen — beides Farben der strengen Trauer war zwar kein Halbmond zu sehn, sondern ein Kreuz; aber es war eben ein eisernes Kreuz. Auch ihre christlichen Symbole noch waren tödliche Waffen. All dies dachte der Kaiser von Oesterreich, als man ihm von dem bevorstehenden Besuch des Schahs berichtete. Aehnliches dachten auch die Minister des Kaisers. Man raunte in Wien, man munkelte in den Kanzleien, vor den Türen, hinter den Türen, in den Kabinetten, in den Korridoren, in den Redaktionsstuben,^ in den Caféhausern und sogar in den Ghambres séparées. Allenthalben bereitete man sich auf den Besuch des Schahs vor. . Am Tage, an dem der Zug des Schah-in-Schah ïm Wiener Franz-Josephs-Bahnhof einlief, sperrten vier Ehrenkompagnien und zweihundert Wachleute zu Fuss und zu Pferde die Strassen ab. Die fürsorgliche Gastfreundschaft Seiner Kaiser- und Königlichen Apos- tohschen Majestat hatte dafür gesorgt, dass alle Wagen des Zuges, der den persischen Herrscher nach Wien brachte, weiss gestrichen waren, in einem brautlichen Weiss, wie das Schiff, das der Schah in Konstantinopel bestiegen hatte. Auf dem Perron stand eine Kompagnie des Regiments der Hoch- und Deutschmeister. Der Kapellmeister Josef Nechwal befahl die persische Nationalhymne. Tschinellen und Kesselpauke und die sogenannten „Tschandrassen" machten mehr Larm als die persische Nationalhymne unbedingt erfordert hatte. Die Kesselpauke, aufgebürdet auf dem sonst so geduldigen und musikalischen Maulesel, wollte auch nicht zurückbleiben; und der Maulesel bebte von Zeit zu Zeit, er revoltierte gleichsam; aber weder der Pauker merkte es, noch der Kapellmeister Josef Nechwal. Der dachte an die Orden im Schaufenster 1 uiers. Der Kaiser fühlte sich unbehaglich in der fremden Uniform. Es war überdies heiss: einer jener frühreifen Maitage, die den Hochsommer vorweg zu nehmen scheinen. Das Glasdach über dem Perron glühte. Die Hymne gefiel dem Kaiser durchaus nicht. Mit deut- hchem Respekt hörte er sie an — mit ostentativem Respekt Als der Schah ausstieg, umarmte ihn der Kaiser flüchüg. Der Schah schritt die Ehrenkompagnie ab. Der Kapellmeister kommandierte das „Gott erhalte!" Die Perser erstarrten. Man stieg in die Kutschen, man fuhr ab. Hinter den blauen Mauern der Soldaten schrien die Leute: „Hoch, hoch, hoch!" Die Rosse der berittenen Polizisten wurden böse und gegen den Willen der Reiter sc lugen sie aus und verletzten zweiundzwanzig Neugienge Der Polizeibericht im „Fremdenblatt" sprach von „drei Ohnmachtsfallen". 2 rv. Diese drie Ohnmachtsfalle storten die Freude der Wiener Bevölkerung an dem grossen Schah der Perser keineswegs. Alle Menschen, die seiner Ankunft zugesehen hatten und gesund geblieben waren, auch die der Ohnmacht, kehrten beglückt nach Hause zurück; genau so beglückt, als wenn ihnen persönlich eine Freude beschert worden ware. Auch die Bahnarbeiter und die Gepacktrager waren glücklich und schwitzten sehr. Denn der grosse Schah von Persien war mit zahlreichen und schweren Koffern angekommen. Sie füllten nicht weniger als vier normale Lastwaggons, die man aber in Triest vergessen hatte, an den brautlich weissen Hofzug Seiner Majestat anzuhangen. Der Adjutant des Hofzeremonienmeisters, Kirilida Pajidzani, lief den Perron auf und ab. Hinter ihm rannte der Stationsvorstand Gustl Burger einher. Im Amtszimmer des Stationsvorstands steppte unermüdlich der Morseapparat. Der arme Stationsvorstand Burger verstand keinen Ton von dem Französisch, das der Adjutant des persischen Hofzeremonienmeisters daherredete. Der einzige Mensch, der in dieser verzweifelten Situation hatte helfen können, stand beneidenswert gelangweilt vor dem Büfett im Restaurationssaal erster Klasse. Es war der Rittmeister Baron Taittinger, von den Neuner Dragonern, auf unbestimmte Frist von seinem Regiment detachiert und zugeteilt der Hof- und Kabinettskanzlei zur sogenannten „speziellen Verwendung". Der Baron lehnte am Büfett, mit dem Rücken zum Fenster, wandte sich aber von Zeit zu Zeit um und betrachtete mit grausigem Behagen den lacherlichen Stationschef und seinen persischen Kameraden, den Kirilida Pajidzani. Taittinger nannte ihn schon im stillen, für sich, den „Janitscharen". Die Uhr über dem Büfett zeigte schon die dritte Nachmittagsstunde. Um halb fünf war Taittinger mit der Frau Kronbach verabredet, bei Hornbichl. Ihr Mann war Seidenfabrikant, Kommerzialrat, sie wohnte in Döbling. Frau Kronbach war seine Leidenschaft, so bildete er sich ein. Er hatte sich einmal gesagt, sie ware seine Leidenschaft, er hatte sie zu seiner Leidenschaft ernannt, und er bewies es sich selbst, indem er ihr treu blieb. Sie war — um es gleich zu sagen — nicht seine erste, sondern seine zweite Leidenschaft. Er lehnte also, der Rittmeister Taittinger, am Büfett. Er sah von Zeit zu Zeit durch das Fenster, dann wieder auf die Uhr über dem blonden Fraulein, das ihn bediente und das er für einen der Apparate hielt, die zur Erledigung des Eisenbahndienstes unentbehrlich sind. Er freute sich, dass draussen die beiden so aufgeregt umherliefen, der „Janitschar und der Stationsvorstand. Er musste leider warten, bis die Koffer des Schahs von Persien kommen würden, und Frau Kronbach musste auch warten; dies war schlimm. Aber man konnte nichts machen. Endlich, es war schon halb vier, der Rittmeister begann gerade, am vierten Hennessy zu nippen, fuhr mit gewaltigem Brausen, als ware er ein echter Express, ein Extrazug ein, der lediglich aus vier Waggons bestand. Sie enthielten das Gepack des Schahs von Persien. Erst in diesem Augenblick stürzte Taittinger auf den Perron. Er hielt den Stationsvorstand an und sagte: „Sie müssen schnell machen! Schon ein Skandal, dass die Herrschaften so lang warten müssen! Seine Majestat sind vor anderthalb Stunden gekommen! Seine Majestat warten aufgeregt. Blamage! Was für eine Blamage, Herr Stationsvorstand!" Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Baron an seinen persischen Kameraden Kirilida Pajidzani und sagte in jenem fliessenden Französisch, das eigentlich wie ein kaiser-königliches Französisch klang und lediglich aus Vokabeln zu bestehen schien: „Wie pünktlich! Wie pünktlich! Unsere Eisenbahn ist doch die pünktlichste der Welt!" — Bahnarbeiter und Gepacktrager eilten herbei. Der Stationsvorstand selbst kommandierte sie; dieweil der Rittmeister seinem persischen Kameraden erstaunliche echt orientalische Wunder in Wiener Nachtlokalen anpries. Der Perser hörte zu, lachelnd, mit dem gütigen Lacheln, das gleichgültige Manner von Welt immer anlegen, wenn es sich darum handelt, Nachsicht zu verbergen. An diesem gütigen Lacheln erkannte der Baron auf einmal, mit wem er es zu tun hatte. Dieser „Janitschare" war ja gar keiner. Er verströmte die alte liebe, gutvertraute Luft der weltmannischen Lüge; und der Baron fühlte sich sofort bei ihm heimisch. Der Baron nannte den Perser schon im stillen: „charmant" — das höchte Lob, das er zu vergeben hatte. Es gab für ihn namlich nur drei Klassen von Menschen: an der Spitze standen die „Charmanten"; dann kamen die „Gleichgültigen"; die dritte und letzte Klasse bestand aus „Langweiligen". Kirilida Pajidzani — das stand fest — gehorte zu den „Charmanten". Und plötzlich konnte der Baron auch den schwierigen Namen so fliessend aussprechen, als hatte er seit seiner Kindheit persische Spielgenossen gehabt. „Herr Kirilida Pajidzani" sagte der Rittmeister „Es tut mir leid, dass Sie so lange aufgehalten worden sind. Diese Eisenbahnen! Diese Eisenbahnen! Glauben Sie mir! Wir werden schon den Verantwortlichen finden!" Um dem Perser zu zeigen, dass er keine leeren Worte mache, ging er auf den Stationsvorstand zu und sagte mit erhobener Stimme. „Sauerei das, Herr Stationsvorstand, entschuldigen schon das harte Wort!" — „Herr Rittmeister" — erwiderte der Vorstand — „das ist richtig eine Sauerei, eine Triester Sauerei namlich. „Triest oder nicht, is' ganz wurscht" — sagte der Rittmeister noch etwas lauter. „Hauptsach* is , dass Seine Majestat vor zwei Stunden angekommen sind, und die Koffer sind immer noch nicht an Ort und Stelle!" Der Stationsvorstand Burger, der allmahlich anfing, seine Versetzung zu befürchten, zwang sich zu einer anmutigen und unbesorgten Freundlichkeit. Schnell fiel ihm das einzig passende Wort ein, und er sagte: „Die allerhöchsten Koffer sind ja endlich da, Herr Baron!" — „Da, da" — höhnte der Rittmeister — „aber eben nicht an Ort und Stelle!" Noch eine halbe Stunde dauerte es, bevor die zweiundzwanzig wuchtigen Koffer seiner persischen Majestat verladen waren. Dann erst konnte der Baron den Bahnhof verlassen. Glücklicherweise wartete noch der Wagen, den man dem Adjutanten des Grossvizirs zur Verfügung gestellt hatte. Mit einer vortrefflich gespielten Schüchternheit sprach Taittinger zu Kirilida Pajidzani: „Wenn ich bitten darf, ich möchte mich gerne anschliessen, ich muss bis zu einem bestimmten Punkt ". Der Perjer liess ihn gar nicht weiter lügen, sondern sagte sofort: „Ich wollte Sie selbst um die Ehre bitten, Sie genau an den Punkt begleiten zu dürfen, an den Sie Ihr Dienst befiehlt!" Sie stiegen ein. Und die Koffer rollten voran, auf drei Lastwagen, mit schweren Pinzgauer Schimmeln bespannt. Unterwegs erhob sich der Rittmeister, tippte dem livrierten Kutscher auf die Schulter und sagte: „Haltens erst bei Hornbichl". Der Kutscher hob zum Zeichen des Einverstand- nisses die Peitsche. Sie nickte: Ja! in der Luft und gab noch einen leisen Knall. Erleichtert und heiter liess sich Taittinger wieder in die Polster fallen, neben den „charmanten" persischen Kameraden. Bei Hornbichl blieb der Wagen stehn. Der Baron ging in den Garten, hinter die Hecke rechts, in den „Liebeswinkel", wie er seit zehn Jahren schon diesen Tisch zu nennen gewohnt war. Die Frau des Kommerzialrats Kronbach wartete seit einer Viertelstunde. Zum ersten Mal sah sie ihren Geliebten in der Parade-Uniform — ihre Beziehungen waren noch nicht alter als vier Monate. Der Helm mit der goldenen Rippe blendete sie und sie vergass alle Vorwürfe, die sie sich in fünfzehn Minuten sorgsam zurechtgelegt hatte. „Endlich, endlich!" — hauchte sie. V. In den nachsten Tagen verliess der Rittmeister Taittinger den charmanten Kirilida überhaupt nicht mehr. Es erwies sich, in diesen Stunden, dass der charmante Kirilida alles wusste, mehr als der Grossvizir. Alles konnte man mit ihm besprechen. Man erfuhr zum Beispiel, dass der Grossvizir dem Trunk gar nicht in dem Masse abgeneigt war, wie man es hatte glauben müssen. Im Gegenteil: der Grossvizir neigte dazu, unaufhörlich gegen die Gesetze des Korans zu verstossen. Innerhalb von zwei Nachmittagen wusste der Rittmeister Taittinger bei weitem mehr und Wichtigeres, als der Professor Friedlander, der bekannte Oriëntalist, den man als Fachberater dem Festkomitee beigegeben hatte, in seinem langen Leben erfahren konnte. Der Professor Friedlander trank namlich nicht. Und das kam davon, wenn man nicht trinkt, dachte der Baron Taittinger. Ach, der Professor Friedlander selbst wusste kaum noch, wo er seine Wissenschaft hintun sollte. Es fehlte nur noch wenig, und er hatte angefangen, an der Richtigkeit seines Memorandums zu zweifeln, dem doch ganz exakte, über jeden Zweifel erhabene Forschungen zu Grunde gelegt waren. So erfuhr der Professor von Baron Taittinger jetzt erst, nach zwanzig Jahren Orientalistik, dass manche Mohammedaner trinken, sogar der Grossvizir selbst. Sein Adjutant, der Herr Kirilida, mit dem Friedlander einmal zusammenkam, in der Gesellschaft Taittingers, hatte keine Ahnung von der persischen Literatur. Sogar vom OberEunuchen behauptete der Baron Taittinger, dass er sich heimlich von den Lakeien des Schlosses normale Bierkrügl vom Wiesenthaler vis a vis kommen lasse und dass er sie trinke, wie etwa ein normaler christlicher Schneider. Verwirrender aber noch als die Erzahlungen Taittingers aber waren die Artikel unbefugter Journalisten. Sie enthielten haarstraubende Unwahrheiten über das Leben in Persien und die persische Geschichte. Vergeblich bemühte sich der Professor Friedlander, den diversen Chefredakteuren durch briefliche Dementis die Wahrheit mitzuteilen. Die Folge seiner Interventionen war nur die, dass die Journalisten in sein Seminar, sowie auch in seine Wohnung kamen, um Interviews über Persien zu bekommen. Die Journalisten kamen sogar in seine Vorlesungen. Die Militarparade in Kagran störte leider ein heftiger Regen. Unter einem zugigen Zelt, dessen drei schar lachrote Leinwandwande denervierend klapperten, sich blahten und die Regentropfen durchsickern liessen, hielt es der Schah nicht langer als eine Viertelstunde aus. Er war kein begeisterter Anhanger militarischer Spek- takel. Wahrend er mit zerstreuten Blieken dem grossartigen Galopp der Ulanen zusah, der wie eine Art gezahmten Sturms über das feuchte Grün der Wiesen dahinraste, fühlte er die unerbittlichen Wassertropfen in aufregend regelmassigen Abstanden auf seine hohe braune Pelzmütze fallen und auf den scharlachroten Kragen seiner nachtschwarzen Pelerine. Er fürchtete ausserdem für seine Gesundheit. Den europaischen Aerzten traute er noch weniger als seinem jüdischen Ibrahim. Eingesperrt und umzingelt war er von fremden Generalen, die den Regen nicht scheuten, Wind und Wetter gewohnt sein mochten. Die Kavalleristen schwenkten die Sabel. Die Militarmusik schmetterte aus nassen Trompeten, donnerte auf durchnassten Kalbfellen. Jetzt sollte noch die Infanterie kommen, hierauf die Artillerie. Nein! Er hatte genug. Er erhob sich, gleichzeitig mit ihm der Grossvizir, dessen Adjutant, die ganze Suite. Der Schah verliess das Zelt, der Regen strömte, er allein bückte sich unter den nassen Schlagen, alle anderen, die er im Stillen verfluchte, folgten ihm aufrecht, als gingen sie unter klarem Sonnenschein daher. Er wandte sich in die Richtung, wo er den rettenden Wagen vermutete. Mit dem sicheren Instinkt eines Gefahrdeten fand er auch alsbald die Stelle, wo die Wagen warteten. Ohne sich umzusehn, stieg er ein. Alle anderen Herren ebenfalls. Auf der Tribune übrig blieben zwei Generale, die, vertieft in das militarische Spektakel, die Soldaten dem Schah vorzogen. Es war eine verregnete Parade. Dennoch bekamen an diesem Tage die Soldaten der Wiener Garnison Schweinebraten, Salzkartoffeln, Erbsen und Pilsner und pro Mann je ein Pakchen ungarischer Zigaretten, genannt: „Schmalspurige". Auch am nachsten Tag regnete es, aber das hatte keine Bedeutung mehr. Denn das Schauspiel fand in der Spanischen Reitschule statt. Da man einen Tag vorher bemerkt zu haben glaubte, dass der exotische Souveran die kalte Luft nicht leiden konnte, hatte man die Loge in der Reitschule mit dicken wirklichen persischen Teppichen gepolstert, Schirasgeweben, uralten Stoffen aus den Gemachern der Burg, dicken Kissen aus rotem Samt, und auch die Fugen an den Türen hatte man mit dünnen Lederleisten vernagelt, damit es nicht ziehe. Es herrschte nahezu eine unertragliche Schwüle im Raum, obwohl er so weit war. Der Schah warf seine Pelerine ab. Die schwere Pelzmütze lastete fürchterlich auf seinem Kopf. Mit dem rosa seidenen Taschentuch wischte er sich von Zeit zu Zeit den Schweiss von der Stirn. Die Herren in seiner Begleitung taten das Gleiche, teils, um zu zeigen, dass es auch ihnen heiss war, teils, weil ihnen wirklich heiss war. Diesmal aber verliess der Schah von Persien nicht seine Loge. Zweitausendachthundert Pferde zahlte sein eigener Stall in Teheran. Ausgewahlter noch und weitaus kostbarer waren sie als die Frauen seines Harems. Dort, in den Stallungen des Schahs, gab es Arabische Hengste, deren Rücken leuchteten wie braunes Gold; Schimmel aus der berühmten Zucht von Jephtahan, deren Haare weich und sanft waren wie Daunen und Flaum; agyptische Stuten, Geschenke aus dem Gehöft des machtigen Imam Arasbi Sur; kaukasische Steppenpferde, Geschenke des Zaren aller Russen; schwere, pommersche Braune, für schweres Geld gekauft beim geizigen König von Preussen; halbwilde Tiere noch, frisch geliefert aus der ungarischen Puszta, unzuganglich jeder menschlichen Hand, jedem menschlichen Zuspruch, und widerspenstig abschüttelnd die besten persischen Reiter. Aber was waren alle diese Tiere, verglichen mit den Lipizzanern der kaiser- und königlichen Spanischen Reitschule. Die Militarkapelle, aufgebaut auf der Estrade gegenüber der kaiserlichen Loge, spielte nach der persischen Hymne das ,,Gott erhalte". Ein Reiter in persischer Tracht, wie sie der Schah nur auf den Portrats seiner Ahnen gesehen hatte und niemals in Persien, eine hohe Lammfellmütze auf dem Kopf, durch die sich goldene, geflochtene, dicke Schnüre zogen, einen blauen, golddurchstickten kurzen Mantel quer über eine Schulter gehangt, in hohen, rohledernen roten Stiefeln mit goldenen Sporen, ein krummes Türkenschwert an der Seite, ritt zuerst in die Arena. Den Schimmel, auf dem er sass, zierte ein blutrotes Gehange. Ein Herold, in weisser Seide, in weissen Escarpins, in roten Sandalen, ging ihm voran. Alsbald begann der Schimmel, zu einer persischen Melodie, die aber dem Schah unbekannt-bekannt vorkam, sie stammte vom Kapellmeister Nechwal, wahrhaft geistreiche Bewegungen zu vollführen. In den Schenkeln, in den Hufen, im Kopf, im Hinterteil: überall wohnte die Grazie. Kein Wort, kein Laut! Keine Rede von einem Kommando! Befahl der Reiter dem Schimmel, befahl der Schimmel dem Reiter? Lautlos war es ringsum. Alle Menschen hielten den Atem an. Obwohl sie so nahe der Arena sassen, dass sie beinahe Tier und Reiter hatten greifen können, blickten sie auf das Schauspiel durch Lorgnons und Operngucker. Nicht nahe genug konnte es sein. Der Schimmel spitzte die Ohren: es war, als delektierte er sich an der Stille. Sein grosses, dunkles, feuchtes, kluges Auge musterte von Zeit zu Zeit die Herren und Damen im Ring, vertraut und stolz und prüfend und keineswegs Beifall erwartend, wie ein Schimmel im Zirkus. Ein Mal nur hob er den Bliek zu der Loge Seiner Majestat, des Herrn von Persien, als wollte er flüchtig zur Kenntnis nehmen, für wen er hieher be- ordert sei. In stolzem Gleichmut hob er den rechten Vorderfuss, leicht nur, als grüsste er einen Gleichgestellten. Hierauf drehte er sich einmal um sich selbst, weil es die Musik so zu erfordern schien. Hierauf trat er sacht mit den Hufen den roten Teppich, setzte plötzlich beim Klang der Tschinellen zu einem verblüffenden, aber edlen und noch im gespielten Uebermut massvollen Sprung an, blieb plötzlich stehen, wartete eine Sekunde lang auf den süssen Ton der Flöte, um dann, da sie endlich kam, ihr zu gehorchen und in einem zarten, geradezu samtenen Trab in lediglich angedeutetem Zickzack den Launen des Orients gleichsam nachzugeben. Eine kurze Weile schwieg die Musik. Und in dieser Zeit der Stille hörte man nichts mehr als den sachten zartlichen Aufschlag der Hufe auf den Teppich. Im grossen Harem des persischen Schahs hatte -—■ soweit er sich erinnern konnte — noch keine einzige seiner Frauen so viel Anmut, Würde, Grazie, Schönheit bewiesen wie dieser Lipizzaner Schimmel aus dem Gestut seiner Kaiser und Königlichen Apostolischen Majestat. Ungeduldig nur wartete der Schah den Rest des Programms ab: die stille Eleganz der anderen Tiere, die ihm hierauf vorgeführt wurden; ihre graziöse Klugheit; ihre schlanken, wunderbaren, zur Hingabe, Brüderlichkeit, Liebe lockenden Leiber; ihre kraftige Milde und ihre süsse Kraft: der Schah dachte nur an den Schimmel. Er sagte dem Grossvizir: „Kauf' den Schimmel!" Der Grossvizir eilte nach den Stallungen. Der Stallmeister Türling aber sagte mit der Würde eines kaiser- und königlichen Ministers: „Exzellenz, wir verkaufen nichts. Wir schenken nur — wenn Seine Majestat, unser Kaiser es erlaubt." Seine Majestat zu fragen getraute sich keiner. VI. Man erhob sich. In einer Viertelstunde begann der Ball. Im Redoutensaal warteten, in zwei Reihen aufgestellt, die Damen und Herren auf die Ankunft der Monarchen. Hie und da drang ein verschamtes Hüsteln aus der Brust eines alteren Herrn. Es war ein Hüsteln, das sich seiner selbst schamte, mehr noch als die Hustenden, die seidene Taschentücher vor die Münder hielten. Hie und da flüsterte eine Dame der andern etwas zu. Es war eigentlich kein Flüstern, es war gerade noch ein Hauchen, und dennoch klang es in dieser Stille beinahe wie ein Zischen. In dieser Stille vernahm man das sachte Aufstossen des schweren schwarzen Stabes auf den roten Teppich wie ein ordentliches Klopfen. Alles blickte auf. Durch die von unsichtbaren Handen aufgerissenen Flügel der weissen, goldumrahmten Doppeltür kamen die Majestaten. Am entgegengesetzten Ende intonierte die Hofkapelle die persische Hymne. Der Schah grüsste nach orientalischer Art, die Hand an Stirn und Brust führend. Die Damen vollführten den Hofknix, und die Herren verbeugten sich tief. Wie durch ein Feld geknickter Aehren schritten die Majestaten, der Gast und der Gastgeber. Beide lachelten, wie es die Ueberlieferung befiehlt. Sie lachelten nach rechts und links, obwohl kein Mensch ihre Freundlichkeit sehen konnte. Sie lachelten blonden und schwarzen Damenfrisuren zu, blanken Mannerglatzen und straff gestriegelten Scheiteln. Dreihundertzweiundvierzig Wachskerzen in silbernen Kandelabern erleuchteten und erhitzten den Saai. Der grosse kristallene Kronleuchter, der in der Mitte hing, trug nicht weniger als achtundvierzig. Die Kerzen- Der Herr von Persien aber liebte in dieser Stunde ganz Wien, ganz Oesterreich, ganz Europa, die ganze christliche Welt. Niemals in seinem so Liebes- und Frauenreichen Leben hatte er diese Erregtheit gefühlt, — auch vor vielen Jahren nicht, als er, ein Knabe noch und kaum mannbar geworden, zum ersten Mal die Frau erkannt hatte. Weshalb waren ihm in seinem heimischen Harem die Weiber gleichgültig und sogar lastig gewesen, und weshalb schien es ihm hier, in Wien, dass die Frauen ein wunderbares ihm noch völlig unbekanntes Volk bildeten, ein seltsames Geschlecht, das es erst galt zu entdecken? Sein dunkelbraunes Angesicht rötete sich sachte, seine Pulse schlugen heftiger, winzige Schweissperlen standen auf seiner glatten, faltenlosen, jugendlichen, unschuldigen bronzenen Stirn. Er fuhrte sein seidenes grünes Tuch flink an die Augen. Er steckte es wieder in die tiefe Tasche, die im Innern seines Aermels angebracht war, und seine schlanken biegsamen Finger begannen, immer schneller mit der kleinen Schnur aus grossen blaulichen Gurdi-Perlen zu spielen, die sein linkes Handgelenk umschmeichelten. Auch diese sonst so kühlen Steine, die den Fingern immer kühle Beruhigung bereitet hatten, schienen ihm heute heiss und Unrast ausströmend. Ihm waren bis jetzt nur nackte und verhüllte Frauen bekannt gewesen: Körper und Gewander. Zum ersten Mal sah er Verhüllung und Nacktheit auf einmal. Ein Kleid, das gleichsam von selbst falJen zu wollen schien, und das dennoch am Körper haften blieb: es glich einer unverschlossenen Tür, die dennoch nicht aufgeht. Wenn die Frauen den Hofknix vollführten, erhaschte der Schah im Bruchteil einer Sekunde den Ansatz der Brust, hierauf den hellen Schimmer des Flaums über dem weissen Nacken. Und der Augenblick, in dem die Damen mit beiden Handen verwaltete, hatten Pfaidlereien eingerichtet. Alle Damen befanden sich noch heute wohl dabei. Der Baron nahm also einen Urlaub von zwei Monaten und reiste in die Bacska, zu einem Onkel seiner Mutter, wo ihn keine Post erreichen konnte. Es erreichte ihn auch kein einziger der heftigen Liebesbriefe, die Mizzi Schinagl unentwegt schrieb. Sie schrieb diese Liebesbriefe an die einzige Adresse Taittingers, die sie kannte; an die Herrengasse 2. Der Doktor Maurer, der Sekretar Taittingers, der die Schriften auseinander zu halten wusste, zerriss die Briefe, ohne sie gelesen zu haben. Als der Baron Taittinger aus der Bacska zurückkehrte, war die Pfaidlerei der Mizzi Schinagl in der Porzellangasse bereits eingerichtet und im Gange. Mizzi Schinagl war im neunten Monat. Sie gebar einen Sohn und sie nannte ihn Alois Franz Alexander. Alois Franz hiess der natürliche Vater; Xandl hiess der Brautigam, der Friseur. Die Pfaidlerei ging gut, der Friseur war immer noch bereit, Mizzi Schinagl zu heiraten. Auch hatte sie selbst durchaus Verlangen nach einem ruhigen und ehrlichen Dasein. Allein, es ging in ihr, dieweil sie derlei vernünftige Plane überlegte, auch die Liebe durch das Herz und durch den Kopf, und es war die Liebe zu Taittinger. Ihr Kind schien ihr grossartig geraten. Nicht einen Augenblick vermochte sie die Hoffnung aufzugeben, dass der Baron Taittinger kommen würde, um die Frucht seiner Lenden zu sehen. Aber der Taittinger kam nicht. Als Xandl drei Jahre alt war, lernte Mizzi Schinagl auf einer Bank im Schönbornpark, durch Zufall sozusagen, eine geschwatzige und gefallige Frau kennen, die ihr sagte, es gabe da ein Haus auf der Wieden, da ware man gut aufgehoben — und noble seidene blassblaue Tapete, der Flieder in der schlankhalsigen Majolikavase, der kristallene Luster sogar, der wunderbare Schwung des vierfüssigen Leuchters mit den vier schlanken Aermchen und das silberne Ornament auf dem tiefblauen samtenen Teppich zu Füssen des Herrn von Persien. Man wartet, man wartet! Und der Schah ist nicht gewohnt, zu warten. Er muss leider warten. Kaum zwanzig Meter von ihm entfernt findet eine Konferenz statt, deren Teilnehmer sind: der Grossvizir, der Hofzeremonienmeister und der Adjutant Seiner Majestat. Man beschliesst, auch den Polizeiprasidenten herbeizurufen. Und man sieht trotzdem keinen Ausweg: der Grossvizir möchte seinen Freund, den Adjutanten Kirilida Pajidzani zur Seite haben, er wird ihn suchen lassen, er lasst ihn schon suchen. Man findet ihn nicht, den jungen, lebenslüsternen, schonen Pajidzani. Was steht zur Debatte? Es handelt sich darum, ob man die Gesetze des Anstands, oder ob man die Gesetze der Gastfreundschaft verletzen darf. Der Hofzeremonienmeister lehnte mit würdiger Entschiedenheit ab; der Adjutant des Kaisers ebenfalls. Es war selbstverstandlich. Es kam für keinen von den beiden Herren in Betracht, etwa Seine Majestat in Kenntnis zu setzen von dem sonderbaren Wunsch des hohen Gastes. Aber es kam auch nicht in Betracht, dem hohen Gast einen Wunsch zu verweigern. Der Polizeiprasident sagte schliesslich, dass man einen geeigneten Mann finden müsse, einen vom privaten Festkomitee. Und, kaum war das Wort vom „privaten Festkomitee" gefallen, als der Hofzeremonienmeister den Namen: Taittinger ausrief. Man beschloss, eine Pause eintreten zu lassen. Zwei Herren begaben sich in den blauen Raum, zum wartenden Schah. Er sass würdig in seinem Sessel, spielte mit seinem Perlenarmband und fragte nur: „Wann?" — „Es handelt sich nur darum" — log der Grossvizir — „die Dame zu finden. Im Gewirr des Festes ist sie verschwunden. Wir suchen sie mit allen Kraften." „Mit allen Kraften," suchte man indessen nicht die vom Schah ersehnte Dame, sondern den Taittinger. Der Schah winkte mit der Hand, er sagte nur: „Ich warte!" — Es war Geduld und Nachsicht, aber auch Drohung in der Stimme der Majestat. Einer der mondanen Spitzel, deren Aufgabe es war, das Gehn und Kommen, die Sitten und Gewohnheiten, die Unsitten und die Unarten und die Freundschaften und die Beziehungen der Herrschaften zu beobachten, meldete dem Polizeiprasidenten, dass sich der Baron Taittinger seit einer Stunde im Vestibül befinde, in der Kammer des Lakeien, beschaftigt mit der Tochter Wesselys, des Kommandierenden der Garderoben. Der Polizeiprasident ging unverzüglich an den angegebenen Ort. Der zur besonderen Verwendung abkommandierte Rittmeister erhob sich, als es klopfte. Er ging zur Tür. Er fürchtete sich keineswegs etwa vor der Schande, auf einer jener Missetaten ertappt zu werden, die nicht nur selbstverstandlich waren, sondern sogar geboten erschienen: es handelte sich ihm darum, vor der Welt zu verbergen, dass er sich mit der Wessely abgab, der Tochter des Garderobemeisters. Er wusste nicht, der arme Taittinger, dass der Geheime Vondrak ihn langst schon beobachtete. Taittinger richtete seine Bluse und ging zur Tür. Er erkannte den Polizeiprasidenten, schloss daraus, dass man bereits von der kleinen Wessely wusste, und bemühte sich infolgedessen auch gar nicht mehr, die Tür hinter sich zuzuziehn, als er in den Korridor trat. „Baron, ich bitte Sie, sofort!" — sagte der Polizeiprasident. „Servus!" rief Taittinger zur offenen Tür hinein, der Wessely zu. Er fragte, wahrend er neben dem Polizeiprasidenten die flachen Stufen emporstieg, nicht, warum man ihn gerufen hatte. Er ahnte schon, dass es sich um eine ausserst schwierige Angelegenheit handeln würde, eine Angelegenheit im Zusan rr enhang mit seiner Verwendung. Ja, nicht umsonst hatte man ihn seinerzeit abkommandiert. In gewöhnlichen Situationen versagte er vielleicht; in aussergewöhnlichen funktionierte seine Phantasie. Dort, wo die drei Herren entgeistert und ratlos waren, im kleinen Zimmer, erschöpft vom Nachdenken, bleich aus Furcht, beinahe krank vor Ratlosigkeit, erschien der Rittmeister Taittinger munter, wie ein junger Wind. Und, nachdem ihm die andern in angstlich geflüstertem Französisch ihre Sorgen erzahlt hatten, rief er, wie gewöhnlich, als sasse er beim Tarock, in seinem ararischen Deutsch, das an alle Kronlander der Monarchie gleichzeitig zu erinnern schien: „Aber meine Herren! Das ist ja sehr einfach! Alle drei horchten auf. „Es ist sehr einfach!" — wiederholte Taittinger. Im Nu, in der gleichen Sekunde, in der er gehort hatte, dass es sich um die Grafin W. handelte, war in ihm ein ihm bis daher noch fremd gewesener Hass erwacht, eine Art erfinderischer Rachsucht, einer ausserst erfinderischen, einer phantasiereichen, einer geradezu dichterischen Rachsucht. Sie sprach aus ihm: „Meine Herren!" — sagte er — „Es gibt viele, unzahlige, es gibt unzahlige Frauen in Wien! Seine Majestat, der Schah — ich will nicht sagen dass er einen schlechten Geschmack hat, im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Aber Seine Majestat hat begreiflicher Weise niemals Gelegenheit gehabt, zu erfahren, was es für für sagen wir, Annaherungen gibt." Er dachte an sich und selbstverstandlich an Mizzi Schinagl. Es 'schien ihm auf einmal — und zum ersten Mal in seinem unbeschwerten, leichtfertigen Leben schien es ihm, dass er Herz und Seligkeit für immer verloren habe. Ein unerklarlicher Hass gegen die Grafin W. ergriff ihn, und es erfüllte ihn der ihm selbst noch weniger erklarliche Wunsch, der Schah möchte sie wirklich besitzen. Eine niegekannte Wirrnis wütete in seiner Seele: wahrend er noch wünschte, die Frau, die er geliebt hatte und die er in diesem Augenblick aufs neue zu lieben glaubte, möchte schandlicher Weise dem Perser ausgeliefert werden, begehrte er auch schon und im gleichen Augenblick, diesen schimpflichen Vorgang um jeden Preis zu vermeiden. Er erfuhr plötzlich, dass er immer noch unglücklich liebte; dass er rachsüchtig war — aus unglücklicher Liebe; dass er aber zugleich den Gegenstand seiner Rachsucht und seiner Liebe zu bewahren hatte, als gehorte er ihm allein; dass er nicht einmal die Doppelgangerin der geliebten Frau, die Schinagl namlich, ausliefern durfte; und dass er dennoch, auf einem Umweg zwar, aber dennoch, verraten, verkaufen, beschamen und beschimpfen müsste. „Es ist leicht, meine Herren" — sagte er, und wahrend er dieses aussprach, schamte und freute er sich zugleich — „es ist leicht, Doppelganger im Leben zu finden. Fast jeder von uns nicht wahr, meine Herren? — hat einen. Die Damen haben Doppelgangerinnen, warum auch nicht? Die Damen haben Doppelgangerinnen — nun, sagen wir: auch unter den kasernierten Damen. Der Herr Polizeiprasident wird wissen, was ich meine! — Dadurch ersparen wir uns sehr viel Aerger. Ich meine, wir ersparen uns eine ausserst peinliche, um nicht zu sagen: penible Belastigung Seiner Majestat, alle Ratlosigkeit, alle Unfreundlichkeit." Er hielt „penibel" für starker als „peinlich". Die Herren verstanden im Nu, um was es sich handelte. Sie sahen nur, ein wenig besorgt, den Grossvizir an, der aber sein konstantes, höfliches Lacheln nicht aufgab. Er wollte — man begriff es — nicht zugeben, dass auch er verstanden hatte. Auch er bewunderte die ingeniöse Phantasie des Rittmeisters. „Die Herren sind einig?" fragte er auf französisch, gleichsam um zu unterstreichen, dass er nicht imstande gewesen sei, das Deutsch Taittingers zu verstehen. „Darf ich meinem Herrn Nachricht geben?" „Wir werden die Dame bald ausfindig machen, Exzellenz!" sagte Taittinger und verneigte sich. Fünf Minuten spater sahen die beharrlich Neugierigen, die trotz der spaten Stunde auf der Strasse warteten, in der vagen und armen Hofifnung, einen Grafen, einen Fürsten, einen Erzherzog gar in eine der Kutschen und Fiaker einsteigen zu sehen, nicht weniger als achtzehn Herren in Zylinder und Frack herauskommen. Ach, es waren keine Prinzen. Es waren die „Geheimen" von der Spezial-Abteilung, die „Spezis", wie man sie nannte, die Kenner, Beobachter und Spitzel der Oberwelt, der Halbwelt und der Unterwelt. Die zwei Wachleute, die vor dem Eingang patrouillierten, erkannten sie wohl. Die Wachmanner pfiffen, die Gummiradler kamen heran. Die Herren stiegen ein. Alle diese Manner kannten die Damen und die Herren aller drei Weiten, wie gesagt: der Ober-, der Halb- und der Unterwelt. Ihr Anführer war ein gewisser Sedlacek. Er hatte vor der Abfahrt dem Polizeiprasidenten versichert: „Keine Angst, Exzellenz! In einer halben Stunde, in einer Stunde höchstens, ist die Frau Grafin hier, ich will sagen: ihre Zwillingsschwester." Man konnte sich auf Sedlacek verlassen. Er brauchte keine Photographieen. Alle Gesichter hatte er im Kopf. Er kannte die Grafin W. Er kannte den Baron Taittinger. Er kannte die hoffnungslose Liebe des Rittmeisters zu der Grafin. Er kannte auch die Art, in der sich Taittinger getröstet hatte. Er kannte Mizzi Schinagl, ihren heutigen Aufenthaltsort und nicht nur das: ihre Herkunft, den Laden in Sievering und ihren Vater. Dennoch hatte er, ganz im Gegensatz zu dem Baron die deutliche Empfindung, dass Mizzi Schinagl der von der persischen Majestat so ersehnten Grafin sehr wenig ahnlich sah, insbesondere, weil sie sich wahrscheinlich im Hause der Frau Matzner arg verandert hatte. Immerhin: sie blieb noch zu verwenden, für den Fall, dass seine Leute nicht ein noch ahnlicheres Modell ausfindig machen konnten. Alles schien — vorlaufig wenigstens —in Ordnung gebracht worden zu sein, und für die Dauer einer Stunde, oder einer halben Stunde zumindest, hofften die in die Affare verwickelten, beziehungsweise mit ihr vertrauten Herren, ein wenig aufatmen zu können. Da aber geschah etwas in den Annalen der kaiserund königlichen Hofgeschichte noch nie Dagewesenes: Der Gast des Kaisers von Oesterreich erschien wieder im Saai. Man teilte es sofort dem Kapellmeister mit, und sofort auch intonierte die Kapelle die persische Nationalhymne. Wie Blei legte sie sich auf alle Glieder. Er aber sah nichts, hörte nichts, grüsste nicht. Nach einigen Minuten mischte er sich einfach unter die nun, Sie kennen ja den Oriënt!" Er schwieg eine lange Weile. Er sah inbrünstig, gewalttatig und doch zugleich auch flehentlich das kalte, stumpfe blonde Gesicht des Grafen an, eine Art blonden Karpfens . . . „Sie kennen ja den Oriënt!" — begann er, schon verzweifelt, von Neuem. „Der Oriënt interessiert mich nicht" — sagte der Stumpfe, und seine blassblauen Augen suchten nach der schonen Frau. Um Gottes Willen! — dachte Taittinger. Weiss der wirklich nicht, was der Schah will? Wie kann er so gleichgültig sein? Er ist ja sonst so eifersüchtig. „Wissen Sie, der Schah geht mich gar nichts an!" — sagte der Graf. „Auf die Orientalen bin ich nicht eifersüchtig." „Gewiss, gewiss! Nein, Nein!" rief der Rittmeister. Nie in seinem Leben hatte er sich in solch einer peniblen Situation befunden. Uebrigens begann in ihm schon der stille Vorwurf zu nagen, dass er sich ja selbst in diese penible Situation gebracht hatte! Er spürte auf einmal die zudringliche Hitze der Kerzen, einen leuchtenden Wüstensturm, und die eigene Torheit, die ihm ausserdem eine innere Hitze verursachte. Schon fing er zu schwitzen an, aus Angst hauptsachlich. Es musste heraus, er konnte es nicht langer zurückhalten. Und in einem wahren Anfall von Attackengeist sprudelte er den Satz heraus: „Ich meine, man muss die Grafin für eine Weile aus dem Saai retten!" Der Graf, der eben noch so stumpf und fade dagesessen war, wurde rot im Gesicht. Ein böser Zorn verdunkelte seine hellen blassen Aeuglein. „Was erlauben Sie sich?" — rief er. Taittinger blieb sitzen. „Bitte, mich ruhig anzuhören" — sagte er. Er nahm seine letzten Krafte zusammen und fuhr fort: „Es handelt sich darum, die Ehre Ihrer Frau, Ihre, die X. Ehre all dieser Damen hier im Saai zu behüten. Der Herr aus Teheran darf heute der Grafin keinesfall mehr begegnen. Sehen Sie hin, wie er beutegieng durch den Saai wandelt. Er ist der GastSeiner Majestat Er ist ein gekröntes Haupt. Er ist auch em politischer Gast. Seine Schamlosigkeiten können wxr nur dure eine List abwenden. In einer halben einer V^ert^t stunde" — der Rittmeister sah auf die Uhr „ alles geregelt. Ich besehwöre Sie, Graf, btaben Sie rüSg Sben Sie mir, mit der Grafin fiinf Minuten setzte sich, kalt und wieder blass, wie er von Natur war. „Ich werde Sie holen!" - sagte der ^E^èrhob sich sofort, erleichtert und trotzdem Bangnis im Herzen. Lange noch war das Schwerste nicht ü^rwunden Es war nicht leicht, einer Frau in passenden Worten die Tatsache mitzuteilen, dass sie der Schah sozusag als Gastgeschenk begebrte. Der Frau konnte man die qanze Geschichte keineswegs erzahlen. Der Polizei pr&sident, der sich nut dem Minister des Innern unterhielt, wandte sich dem Rittmeister freundlich zu und so, als hatte er ihn seit Tagen nicht mehr geseh . Der Minister bat um Entschuldigung und entfer ïich sofort. Der Rittmeister fragte: „Is. der Sedlaeek schon zuruck?" Das Angesicht des Polizeiprasidenten verriet höclistes Erst3.un.en. EineSekunde sp^er begriff Taittinger sehon wornm es sich handelte. Der Polizeiprasident wollte von nichts wissen, bis ans Ende seines Lebens wurde er von nichts wissen wollen. Der Rittmeister sagte nur. „Ie sag': Helene. Steil' Dich patschert an. Du weist von nix, eine Dame bist Du, verstanden? Kannst Dich überhaupt noch erinnern, wie's mit dem Ersten war? Streng' Deinen dummen Schadel an und denk nach! Mach's jetzt gleich vor, aber natürlich! Nur das Benehmen, mein'ich. Ich bin im Dienst. Also? Sedlacek liess die Kleine im Fiaker, unter aufgeschlagenem Dach. Vor dem einsamen Wagen, der abseits stand, zehn Meter entfernt von den andern Fiakern, patroullierte einWachmann. Mizzi Schinagl fror. Man musste ihr eine Ballrobe beschaffen, blassblau, Seide, tief ausgeschnitten, ein Korsett, Perlen und ein Diadém. An alles dachte Sedlacek. Seit einer Viertelstunde schon stöberten seine Leute, vier begabte Manner, im Garderoberaum des Burgtheaters herum. Der Nachtwachter leuchtete ihnen mit der Laterne. Vier nobel gekleidete Gespenster in Fracken, Stöcke in der Hand, Zylinder auf den Köpfen, rumorten sie mitten zwischen dem nachtlichen, verschlafenen Wirrwar der theatralischen Requisiten. Alles, was seiden zu sein schien und blassblauer Farbe war, rafften sie zusammen. Sie hatten die Hosentaschen voll falscher Perlen, funkelnder feuriger Diademe, künstlicher Blumen, vergissmeinnichtblauer Strumpfbander, glitzern er Agraffen. Es ging alles sehr schnell, wie sonst nur sehr wenige Angelegenheiten im Staat und in den Landern zu gehn pflegten. Nur noch eine kurze Weile — und das gefallige Madchen Schinagl sah für fremde und orientalische Augen beinahe so aus wie eine Dame. Sie wartete in der Garderobe des Hofbeamten zweiter Klasse, Anton Wessely, dessen Tochter Taittinger vor kurzem erst so brüsk hatte verlassen mussen. Alles weitere vollzog sich unter Sedlaceks geradezu nobler Leitung und mit Hilfe des wendigen Adjutanten Kirilida Pajidzani. In einem geschlossenen Wagen, dem Sedlacek im Fiaker folgte, brachte man die persische Majestat in das Haus der Frau Matzner. Wenn einer der Stammgaste in jener Stunde zufallig vorbeigekommen ware, hatte er denken müssen, das Haus, ja, die ganze Gasse seien verzaubert. Es schlief das Haus, und es schlief die Gasse, und ausgelöscht waren die Laternen, und ausgelöscht schien die Welt. Nur der teilnahmslose schmale Ausschnitt des Himmels über den Dachern war wach, und seine silbernen Sterne glitzerten. Auch das Innere des Hauses Matzner war nicht wieder zu erkennen. Alle Pensionarinnen sassen eingesperrt in ihren Zimmern. Frau Matzner bewahrte die Schlüssel. In ihrem aschgrauen, hoch- und festverschlossenen Kleid, mitten in dem Zwielicht, das sie selbst so mühsam hergestellt hatte, dank allerhand Schleiern und Tüchern, damit das allzu gewöhnliche Dekor nicht deutlich zum Vorschein komme, erinnerte sie an ein nach langen Jahren, Jahrhunderten des Todes wieder aufgescheuchtes Gespenst einer verschwiegenen Kammerzofe. Mit einer tiefen Verbeugung empfing sie das ankommende Paar, die Mizzi und die Majestat. Kein Laut war hörbar, und nichts war deutlich sichtbar. Seine Majestat, der Schah, musste glauben, dass er in eines jener verzauberten okzidentalen Schlösser geraten sei, von denen ihm seine wunschselige Phantasie seit Jahren schon in Teheran so viel versprochen hatte. Der Schah glaubte es in der Tat. Weitaus kindischer noch als etwa ein beliebiger europaischer Christ, der in jenen Jahren nach Persien kam und der die Geheimnisse des sogenannten Oriënt* entdeckt zu haben glaubte, wenn es ihm nur gelungen war, eine der aller Welt offen stehenden Freudenstatten zu sehn, war Seine Majestat in dieser Nacht begeistert von den Geheimnissen des Abendlands, die er end- gültig entschleiert zu haben glaubte. — Es ist also nicht so — sagte er sich — in seiner bezauberten Einfalt dass hierzulande diese grossartigen Frauen lediglich ihren Mannern gehören! Zwar gibt es — so sagte er sich weiter — hierzulande keine Harems; aber um wie viel schoner, zauberischer, reizvoller ist die Liebe ohne Harem! . . . Man kauft die Frau nicht — — man bekommt sie sogar geschenkt! Wahrendsie, diese Abendlander, die Tugend predigen, die Monogamie, entschleiern sie ihre Weiber nicht nur nein, sie verleihen sie auchü In dieser Nacht war Seine Majestat, der Schah von Persien, überzeugt, dass die Liebeskunst des Abendlandes weitaus raffinierter war als die seiner Heimat. In dieser Nacht genoss er alle jene Wonnen, die einem begierigen Mann die gewohnte, heimische Art der Liebe niemals gewahren kann, sondern die ungewohnte, ungewöhnliche, fremdartige. Die Methoden, die Sedlacek, der Geheime, der Mizzi Schinagl angeraten hatte, kamen dem Herrscher von Persien exotisch vor. Er war eben kein Europaer, er hatte einen Harem, gefullt von dreihundertfünfundsechzig Frauen. So viele Nachte hat das Jahr. Hier aber im Hause der Josephine Matzner, besass er nur eine Einzige. Die ganze Nacht wartete der Sedlacek im Fiaker. Oh! Er war nicht einer von jenen unzuverlassigen schwachen Charakteren, die imstande waren, etwa einzuschlafen, bevor noch ihr Dienst vollendet war. Im Gegenteil, niemals noch war ihm der Schlaf so fern, niemals noch war sein Auge so wach gewesen! Es war das Gebot seiner Natur. Er hatte keinerlei Rekompensation zu erwarten; keine Auszeichnungen; und kein Avancement. Dunkle Dinge hatte er zu vollbringen, ewig im Geheimen sollten sie bleiben! Nicht auf irgend einen Lohn wartete er! Als der Schah am nachsten Morgen erwachte, fand er neben sich niemand mehr im Bett. Er sah sich erstaunt, beinahe erschrocken um. Vom dunkelgrünen Baldachin, unter dem er lag, hing an einer geflochtenen Schnur eine Quaste. Sie war sehr schabig — abgenützt. Er zog an ihr, in der vagen Hoffnung, sie würde wohl irgendwo ein Gerausch verursachen. Er hatte sich keineswegs getauscht; es war eine Klingel. Viele andere Manner hatten sich ihrer schon bedient. XI. Ein gütiger, blauer Morgenhimmel wölbte sich über der Stadt. Der Tau in den Garten verströmte einen frischen, munteren Duft, der sich mit dem warmen und herben der jungen, neugeborenen Brote und Semmeln in den Körben der Backerjungen vermischte. Es war ein Frühlingsmorgen von strahlender Lieblichkeit. Der arme Schah sah nichts davon. Er rollte, eher bewacht, als begleitet, von zwei aufmerksamen Herren seiner Suite, in einem geschlossenen Wagen durch die lachelnden Strassen. Er war schlechter Laune. Das Abenteuer der letzten Nacht hinterliess in ihm zwar eine angenehme Erinnerung, aber er hatte in seiner gesunden Einfalt an ein feierlich-grosses Erlebnis gedacht; geradezu eine Veranderung seines Herzens; seiner Art, zu sehen, zu hören und zu fühlen. Es war, die Wahrheit zu sagen: die erste Enttauschung seines Lebens. Er hatte sich eine Art grossartiger Feier vorgestellt, und es war nur ein kleines Fest gewesen. Was wusste er jetzt mehr von der europaischen Liebe als vorher? Er liebte die Stadt nicht mehr, wie noch gestern abend. Ueberhaupt erschien ihm der vergangene Abend wie ein glanzendes Blendwerk. Je langer die Fahrt dauerte, je strahlender der Tag heranreifte, desto starker verdüsterte sich die Seele der Majestat und desto grösser wurde ihre Bitterkeit. Er erinnerte sich an die weisen Worte seines Obereunuchen, der ihm gesagt hatte, dass die Lust und die Neugier nur Tauschung seien. Er hatte sehr viel Bitterkeit im Herzen und auch eine Art Sehnsucht nach Reue. Es ist ihm ahnlich zumute, wie einem Knaben, der vor einer Stunde sein neuestes Spielzeug zerbrochen hat. Zu seinen Begleitern sprach er kein Wort. Wenn überhaupt irgendetwas, so hatte er am liebsten sagen mogen, dass, zum Beispiel, die Welt, die vor einigen Stunden noch so reich gewesen war, jetzt plötzlich leer geworden sei. Aber schickte sich das für ihn, den Herrn und den Schah? Den Obereunuchen liess er — kaum war er angekommen — zu sich rufen. Wie es ihm hier gefalle, fragte der Schah, wahrend er gemachlich eine halbe Orange auslöffelte. Es war ein warmer, heimischer, fast konnte man sagen: persischer Geruch im Zimmer, von dem starken Kaffee, den die Majestat eine Weile vorher getrunken hatte. Man kochte ihn auf einem kleinen, lieblichen, offenen Flammchen, in einer besonderen, tönernen Schale. Das Feuerchen brannte noch; es sah aus wie ein Opferfeuer. Der Obereunuch sagte, ihm gefalle es hier, wie überall, wenn er nur in der Nahe seines Herrn sein könne. Alter Lügner — dachte der Schah. Es tat ihm dennoch wohl Schmeicheleien zu hören. Er sagte: „Ich hatte Lust, Dir zur Strafe für Deine Lügen von nun ab das Leben zu verbittern." — ,,Der Herr ist immer gnadig" — sagte der Eunuch — „auch seine Strafe verbittert mir das Leben nicht!" „Wie befinden sich meine Frauen?" — fragte der Schah. „Herr", antwortete der Eunuch — „sie essen gut, sind gesund, schlafen bequem, in geraumigen und bequemen Betten. Nur eines macht sie unglücklich: dass ihr Gebieter sie nicht besucht!" — „Ich will keine Frau mehr sehn, ein Jahr nicht mehr. Ich bin auch mit der Europaerin nicht glücklich geworden. Du allein hast es vorausgesagt. Muss man verschnitten sein, um klug zu werden?" — „Herr" — erwiderte der Verschnittene — „Ich kenne auch törichte Eunuchen und weise normale Manner." Es war eine Beleidigung, der Schah spürte es wohl. „Was tatest Du, wenn Du enttauscht warest?" fragte die Majestat. „Ich würde mich kranken und ich würde zahlen, Herr. Enttauschungen sind kostspielig." „Gewiss, ja!" sagte die Majestat und liess sich die Wasserpfeife geben und blieb eine lange Weile still. Innerhalb dieser langen Weile hatte er sich schon entschlossen, wieder heimzureisen. Es passte ihm nicht mehr. Er fühlte sich durch das Abendland gekrankt. Es hielt nicht, was er sich davon versprochen hatte. Düsterkeit breitete sich über sein weiches, gelbliches Gesicht, und es erschien, eine Sekunde lang, greisenhaft, trotz der jugendlich-glanzenden Schwarze des Barts. „Wenn Du nicht verschnitten warest, hatte ich vielleicht mit Dir tauschen mögen" — sagte der Schah. Der Eunuch verneigte sich tief. „Du kannst gehen!" sagte der Herrscher; rief aber gleich darauf: „Nein, bleiben!" „Bleib!" wiederholte er noch einmal, als furchtete er, selbst sein Verschnittener könnte ihm entgleiten. Dieser allein und kein anderer aus der Suite des Schahs war fahig, die delikateste und zugleich prachtigste aller Auszeichnungen zu verleihen. Eunuchen sind ritterlich. „Dir obliegt es" — sagte der Schah — „der Dame dieser Nacht ein Geschenk zu überbringen. Achte . darauf, dass es würdig sei unserer Majestat, aber auch Deines bewahrten Geschmacks. Achte darauf, dass keiner von unserer Begleitung Dich sieht. Das Haus und den Namen musst Du ausfindig machen. Ich will nichts mehr von der Sache wissen. Ich verlasse mich auf Dich!" „Mein Herr darf es!" sagte der Obereunuch. Er hatte schon delikatere und diffizilere Dinge in seinem Leben vollbracht. Seit seiner Ankunft lebte er in gutem Einvernehmen mit Dienern und Lakeien, und langst wusste er zwischen Geldsüchtigen und Bestechlichen Klugen und Brauchbaren und Dummen zu unterscheiden. Er konnte die Sprache des Landes nicht, aber alle Welt verstand seine Sprache: es war die Sprache des Goldes und die der Zeichen. Man verstand den Obereunuchen vortrefflich. Es war einfach, den Weg zu Mizzi Schinagl zu finden. Alle Leute vom Gesinde wussten, wo der Schah die Nacht zugebracht hatte. Schwieriger aber war es, ein Geschenk zu finden, das, wie dem Obereunuchen befohlen war, würdig sein sollte der Macht des Herrschers und seines eigenen Geschmacks. Er überlegte lange. Er kannte die Dame nicht. Nach seinen Vorstellungen musste sie einen hohen Rang haben. Er entschloss sich für drei schwere Perlenketten. Ihr Wert schien ihm angemessen als Preis. In Begleitung des Hoflakeien Stephan Lackner fuhr er am nachsten Nachmittag vor das Haus der Matzner. Man war hier auf diesen Besuch nicht vorbereitet. Frau Matzner selbst war noch im Schlafrock und der Klavierspieler Pollak in langen flauschigen Unterhosen und Pantoffeln. Der Obereunuch, im europaischen Anzug, dunkelblau und dermassen zurückhaltend gekleidet, dass seine Diskretion schon bemabe aussah wie ein Versuch, sich zu verbergen, war keineswegs töricht genug, um nicht sofort zu erkennen, wo er sich befinde. Es bedurfte weder europaischer Erfahrungen, noch auch eines ausgesprochenen Geschlechts, um das Gewerbe der Frau Matzner zu erkennen. Es tat ihm leid um die köstlichen Perlen in der silbernen Kassette. Man holte die Mizzi. Sie kam, noch unfrisiert, mit flüchtig aufgestecktem Haar, das wie zerfranst aussah, das Gesicht stark gepudert und schon im flüchtig angezogenen roten Kleid. Ein paar Hafteln rückwarts standen offen. Das veranlasste sie, hart an der Tür zu stehn, durch die sie eingetreten war; wie ein Verurteilter stand sie da, der die erlösenden Schüsse erwartet. In dieser Haltung nahm sie den Orchideenstrauss entgegen, die silberne Kassette und den langen unverstandlichen Spruch des dicken dunkelblauen Herrn. Sie nickte, sie schluckte ein paar Mal. Nicht einmal die Matzner war da, deren Bliek sie vielleicht ermuntert hatte. Frau Josephine wollte sich schnell umziehn. Als sie endlich eintrat, gewappnet und zu allen Abenteuern bereit, war die ganze Zeremonie leider schon beendet, der dunkelblaue Herr bereits im Rückzug begrifïfen. Er erkannte Josephine Matzner trotz ihrer Verwandlung sofort und er zog seine Börse und reichte sie mit einer leichten Verneigung der Hausfrau. Die Börse wog leicht. Kein Wunder: sie enthielt lediglich Goldmünzen. Als der Obereunuch am nachsten Tage seinem Herrn den Vollzug des Befehls meldete, fragte der Schah, ob die Dame etwas gesagt habe. „Herr," erwiderte der Diener, „sie wird Euch nie vergessen. Dies war ersichtlich, obwohl ich ihre Sprache nicht verstanden habe". XII. Viele Menschen dachten noch lange an den Schah, Glückliche und Unzufriedene. Denn er hatte seine Orden und Geschenke nach eigener Willkür verteilt, ohne auf den Gesandten zu hören und ohne auf den Rang und die Würde der Beschenkten und Ausgezeich- neten zu achten. Der einzige wirklich Unglückliche war der Rittmeister Taittinger. Er wurde namlich einen Tag nach der Abreise des hohen Gastes von der „besonderen Verwendung" dispensiert und zu seinem Regiment zurückbeordert. Die ganze fatale Geschichte versank in der Vergessenheit; das heisst: inden Geheimarchiven der Polizei. Es wird also niemals mehr zu erfahren sein, warum der arme Taittinger so schnell in seine Garnison zurück musste. In der kleinen, schlesischen Garnison blieb dem Baron nichts anderes übrig, als über seine fatale Geschichte nachzudenken. Er hatte Einsicht genug: er kam sozusagen zu einer Art oberflachlicher Einkehr und fallte über sich ein, seiner Meinung nach, ausserst hartes Urteil: er fand, dass er durchaus nicht mehr „charmant" war. Von nun ab begann er auch, zu trinken. Er dachte ein paar Mal daran, der Grafin W. zu schreiben und sie um Verzeihung zu bitten, weil er sie dem Perser verraten hatte. Aber er zerriss den er sten, den zweiten, den dritten Brief. Hierauf trank er noch mehr. Sehr oft traumte er von jener Stunde, in der er die Stiege hinuntergegangen und dem Spitzel mit dem gelüfteten Zylinder begegnet war. Zugleich sah er sich auch die glatte steinerne Rampe hinuntergleiten. Die Frauen freuten ihn nicht mehr, der Dienst lang- XIV. Eine lange Zeit bemerkte niemand aus der Umgebung der Frau Josephine Matzner, dass sich zugleich mit ihrem Körper auch Ihr Wesen veranderte. Man sah nur, dass sie alterte. Sie selbst wusste es, obwohl sie selten in den Spiegel sah. Sie hatte gleichsam den Spiegel im Kopf, wie manche Menschen die Uhr im Kopf haben. Wenige Jahre vorher behagte ihr noch gelegentlich eines der tappischen und handgreiflichen Komplimente, das ihr der und jener ihrer Stammgaste zu machen pflegte. Es waren sinnlose Komplimente. Weder sollten sie irgendein Begehren des Gastes andeuten, noch auch erweckten sie irgendeinen Wunsch im Herzen der Frau Josephine Matzner. Sie hatten also eigentlich in alle Ewigkeit fortgesetzt werden können, ebenso wie bestimmte konventionelle Brauche innerhalb der Gesellschaft unabhangig sind vom Alter derjenigen, die sie ausüben. Aber siehe da, was geschah? — Auch diese symbolischen Komplimente, deren Gegenstand die Frau so lange Jahre gewesen war, wurden nunmehr immer seltener; und eines Abends horten sie ganz auf. Es war beinahe so, als ob sich die Herren verabredet hatten. Als der letzte Gast verschwunden war, die Madchen schon schlafen gingen und der Kapellmeister sich den Frack auszog, sah sie noch für einen flüchtigen Augenblick in den Spiegel hinter der Kassa. Ja, alles war so, wie sie es bereits seit langem wusste: zwischen den grauen Haaren spielte noch ein hasslicher Schimmer der früheren, aufreizenden, pikanten Röte. Zwei dicke Falten sassen, gleichsam ohne Grund, über der Nasenwurzel. Die Lippen waren trocken, rissig und blaulich. Die Augen unter stark gerunzelten Lidern waren wie zwei winzige ausgelaugte Teiche. Der Kopf ging unmittelbar in die Schultern über, als sasse er gar nicht auf dem Hals. Und auf den Brüsten, unter dem dichten Puderstaub, lauerten gelblich-rötliche Flecke, Insekten nicht unahnlich. Seit dieser Nacht erfuhr Frau Matzner, dass das Leben vorbei war. Sie hatte sich niemals Illusionen gemacht. Sie war gesonnen, das Alter ebenso mutig anzupacken, wie sie einst ihre Jugend, ihren Beruf, ihre Manner, ihr Geschaft angepackt hatte. Jede Stunde ihres Lebens hatte sie sich genaue Rechenschaft über sich abgelegt. Sie kannte sogar die Teufel, denen sie Zeit ihres Lebens ausgeliefert war und hatte sie fast alle bei Namen nennen können. Aber einen jener Teufel des Alters kannte sie nicht, der sich oft zu den einsamen Greisinnen schleicht, ihre Herzen verhartet und ihre modernden Sinne mit einer neuen Wollust erfüllt: die Geldgier. Sie fühlte nicht, wie sie immer geiziger und geldgefrassiger wurde. Es ereignete sich freilich auch sonst etwas, was ihr selbst den Anschein eines berechtigten Geizes oder einer Sparsamkeit vortauschen durfte: das Haus „ging" nicht mehr. Wie oft wechseln die Moden in der Welt! Das Haus der Matzner kam aus der Mode. Zwei neue erstanden, eins in der Nahe der Wollzeile und ein anderes in der Vorderen Zollamtsstrasse. Auch die Madchen, die der Frau Matzner treu blieben, wurden alt — ünd die jungen wurden treulos. Wo waren die Zeiten dahin, wo Frau Matzner noch sagen konnte: „Meine Kinder sind alle Gold!" und wo diese goldenen Kinder sie mit den fröhlichen Stimmen junger Vögelchen „Tante Finchen" oder „Finerl" riefen? Jetzt sagte man „Frau Matzner", und die Kinder erinnerten nicht mehr an Gold, eher an das Kupfer, das sie noch dem Hause eintrugen. „Es kommt nur noch Kreuzer'l-weis'!" — stöhnte die Matzner. In der Nacht war sie wach. Wenn sie sich hinlegte, hatte sie das Gefühl, dass sie sich wehrlos machte, weil die Aengste es gleichsam leichter hatten, sich von oben her über sie zu stürzen. Sie erhob sich also wieder und keuchte zum Lehnstuhl. Sie stöhnte oft, in dem Glauben, dass es sie erleichtern könnte, aber sie sagte sich sofort: „Wie schlecht muss es mir gehn, wenn ich, die Josephine Matzner, schon zu stöhnen anfange." Sie nahm auch hie und da ein Schlafmittel, aber den Aengsten, der Furcht, der Bangnis konnte man keins eingeben! — Sie sah sich schon im Armenhaus am Alsergrund; im Greisenasyl in der Bachergasse; am Krippentisch der Barmherzigen Brüder; als Aushilfe, die Fussböden scheuernd bei der Milchfrau Dworak; schliesslich vor der Polizei, vor dem Gericht und sogar im Kriminal. Denn es schien ihr klar, dass die Not allmahlich so gewaltig werden müsste, dass sie schliesslich gezwungen ware, zu stehlen. Und sie sah sich stehlen, und sie empfand schon die Angst des Diebes vor dem Ertapptwerden. Immer haufiger ging sie zu ihrem Bankier, Herrn Ephrussi. Sein Vermogen, seine kluge Ruhe, seine Redlichkeit, sein Ruf, sein Alter: Alles tröstete sie. Er war ein stiller Greis, von einer berechnenden Gutherzigkeit, (der einzigen, die auf Erden kein Unheil anrichtet). Frau Josephine Matzner sass vor ihm in dem unbequemen Stuhl, in dem altmodischen Kontor, sehr tief, (der Bankier Ephrussi benutzte noch das hochgelegene Puit mit dem winzigen Sitzpolster, ohne Lehne, das an einer metallenen Schraube befestigt war). Halb sass er, halb stand er an seinem Puit. Er drehte sich Frau Josephine Matzner zuliebe herum. So tief er aber auch sein Polster herunterschrauben mochte, er blieb doch in einer betrachtlichen Höhe über dem Kopf der Besucherin. Es war auch keine Rede davon, dass er ihr Gesicht hatte sehen können, denn ein grosser Hut bedeckte den Kopf, und lediglich an dem leisen Zittern der violetten Pleureusen konnte Ephrussi erkennen, ob Frau Matzner zustimmte oder ablehnte. „Sie haben ja" — wiederholte er bereits zum fünfundzwanzigsten Male — „Albatros" für fünftausend, für dreitausendfünfhundert Staatsloose, mit zehntausend sind Sie an der Pfaidlerei beteiligt, mit zweitausend an der Backerei Schindler, Ihr eigenes Geschaft ist — ich weiss nicht, wieviel wert — Ihr Notar wird es wissen. Sie wissen es auch. Sie sind dreiundfünfzig Jahre alt" — Hier unterbrach Frau Matzner: „Zweiundfünfzig, Herr Ephrussi!" — „Um so besser" — fuhr er fort — „also selbst, wenn Ihr Geschaft nicht geht und Sie wollen nicht nur Coupons schneiden, so arbeiten Sie noch gute acht Jahre in voller Blüte, in der Pfaidlerei meinetwegen. Gründen Sie ein Modistengeschaft — kaufen Sie eins — Sie haben Geschmack — Immer brachte der Anblick der Pleureusen den Bankier Ephrussi auf die Modisten-Idee. „Ist das auch ganz sicher, Herr kaiserlicher Rat?" fragte Josephine Matzner. „Ich kann's Ihnen beweisen" — sagte Ephrussi und, wie gewöhnlich, bewegte er das Tischglöckchen. Wie gewöhnlich kam der Buchhalter. Er öffnete die Bücher. Stumpf blickte Josephine Matzner auf die blauen Zahlen, roten Streifen, grünen Striche: tröstlich war all dies. Sie erhob sich, sie nickte, sie sagte: „Herr kaiserlicher Rat, Sie haben mir einen Stein vom Herzen genommen"; und sie ging endlich. Einmal fiel es ihr ein, dass sie in der Pfaidlerei der Mizzi Schinagl nach dem Rechten sehen müsse. Bevor sie noch in den vertrauten Laden trat, schien ihr irgendetwas auf den ersten Bliek verandert. Unheil ahnte sie. Sie sah zwei neue goldgerahmte Spiegel im auch ihr alter Freund, der Geheime Sedlacek, zur Seite. Oh, sie verkehrte langst nicht mehr mit ihm so wie früher; nicht mehr als eine vogelfreie Person gewissermassen, sondern als eine beinahe gleichberechtigte. Viele Stunden verbrachte sie mit Sedlacek in seinem Bureau auf dem Schottenring. Indessen liefen seine Leute herum, in der Stadt, im Reich. Eine grosse Geschichte: gefalschte Brüsseler Spitzen; in Wien hergestellt, von hier nach Triest geschickt; von dort nach Antwerpen; von dort nach Wien zurück. Auch Sedlacek war alt geworden und müde. Seine „mondane" Beschaftigung behagte ihm nicht mehr. Seine drei Kinder — lauter Buben — wuchsen mit umheimlicher Schnelligkeit. Mit unheimlicher Schnelligkeit alterte seine Frau. Mit unheimlicher Schnelligkeit alterte auch er selbst, er selbst. Er brauchte eine „fette Affar", um befördert zu werden und endlich still sitzen zu können, in der Polizeidirektion Graz, Insbruck, Linz, Brünn, Prag oder Olmütz. Er war in Koslowitz geboren und, obwohl er so lange schon in Wien gelebt hatte und von Berufs wegen in die höchsten Spharen vorgestossen war, erschien ihm jetzt, da er alterte, Olmütz wieder als eine glückliche, grosse, aber auch nicht allzugrosse Stadt: grad' so eine, wie er sie brauchte. Als Oberinspektor wollte er pensioniert werden. Es war eine Geschichte, durchaus geeignet, aufgebauscht zu werden, und das Schicksal selbst, so schien es dem Geheimen Sedlacek, hatte ihm von Anfang an diese Affare zugewiesen. Wie lange war es her! Der Schah von Persien (von dem auch Sedlacek einen Orden bekommen hatte, auf Vorschlag des Polizeiprasidenten, für seine Verdienste, um die persönliche Sicherheit des hohen Gastes) bereitete sich schon für eine zweite Reise nach Wien vor, so sagten die Zeitungen. Der Polizeireporter Lazik von der „Kronen- billige Filiale des mondanen Hauses in der Zollamts- strasse. _ . Der Abschied machte sie nicht einmal wehmütig. In einer Abendstunde, im herbstlichen Halbdunkel, innerhalb der knappen Zeitspanne, die zwischen dem Erlöschen des Tages und dem Aufleuchten der Laternen lag, rollte sie im Fiaker davon. Sie sah sich nicht mehr um. Die Madchen gehörten ihr nicht mehr. Sie unterstanden bereits der Zollamtsstrasse. * Es schien zuerst der Frau Matzner, dass sie bereits mit dem Leben abgeschlossen habe, aber sie tauschte sich und sie fühlte selbst, dass sie sich getauscht hatte. Denn anstatt, wie es ihre Absicht gewesen war, sich in den Schutz der weltfremden Stille zurückzuziehen, irgendwohin, in eine Provinz, wo kein Mensch sie kannte, beschloss sie plötzlich, in Wien zu bleiben und zwar mitten in Wien, in der innern Stadt. Auf eine natürliche Weise vermengten sich in ihr Geiz und Geldsucht mit der Furcht, sie ware, abgesondert von der Welt, dem Tod und dem Alter noch schneller ausgeliefert; und jener: sie könnte die Heimstatte ihres Kapitals verlieren. Es schien ihr, dass sie einen Verrat an ihrem Geld beginge, wenn sie es verliesse; es wurde verwaist bleiben, ein hilfloses Kind. Nein, sie wollte nicht weg! Sie mietete sich, im Gegenteil, im Herzen der Stadt ein, in der Jasomirgottgasse. Sie war ein wenig heimatlos, in den ersten Tagen und, obwohl sie die innere Stadt seit ihrer Jugend sehr wohl kannte, kam es ihr zuweilen vor, sie sei gar nicht in Wien. Die Laden waren anders, die Schilder anders. Selbst die Tiere, die Pferde, die Hunde, die Katzen und die Vogel unterschieden sich von den Tieren der Wieden. Es war, als könnte es einer Amsel aus dem ersten Bezirk gar niemals einfallen, ihre Nahrung im vierten zu suchen. Auch hatte sie ein wenig Angst vor ihren zwei Zimmern, die ihr viel zu geraumig und viel zu kostspielig eingerichtet erschienen. Keineinziger Gegenstand in dieser Wohnung kam ihr nahe und vertraut genug vor. Beim Anblick eines jeden Möbelstücks musste sie daran denken, dass sie für alles die sogenannte „Abnützungsgebühr" zahlte, und obwohl die Höhe dieser Gebühr von vornherein ausgemacht war, überfiel sie immer von neuem die Angst, die Möbelstücke nützten sich bei jeder Berührung nicht nur viel zu wenig ab, sondern die Gebühr stiege auch noch, dank einer unerklarlichen Tücke des Mietvertrags. Um sich in der fremden Umgebung ein bisschen heimischer zu fiühlen, holte sie sich fünfhundert Gulden in bar vom Bankhaus Ephrussi ab, die Halfte in Gold, die Halfte in Banknoten. So wusste sie wenigstens, dass etwas Gutes sie erwartete, wenn sie am Abend nach langen und nutzlosen Wanderungen durch die Strassen, nach schlafrigen Stunden, die sie im Stadtpark oder im Rathauspark auf einer Bank verbracht hatte, nach Hause zurückkehrte. Eine Majorswitwe, die zu ihrem Schwiegersohn nach Graz übersiedelt war, hatte ihr die Wohnung vermietet. Frau Matzner erbte etwas von dem sozialen Ansehn, das die Besitzerin der Wohnung bei dem Hausmeister und bei den Parteien und deren Dienstboten genossen hatte. Sie war zwar laut Meldezettel eine „Ledige" — aber auch eine „Private". Wohlhabend sah sie aus. Niemand kannte sie. Sie hatte freundliche Manieren, ein halbes Dutzend guter Kleider und drei Hutschachteln und eine brave Leibwasche aus gutem Leinen. Die Hausmeisterin hielt die Zimmer in Ordnung. Sie suchte manchmal in den Schubladen nach Briefen oder Papieren. Nicht einmal eine Photographie fand sich, auch kein Sparkassenbuch. Man gab schliesslich das Suchen auf und beschloss, die neue Mieterin für eine alleinstehende, vermogende, diskrete Person zu halten, über die man schon eines Tages etwas Naheres erfahren würde. In dem alten Koffer, den sie von ihren Eltern geerbt hatte, einem soliden eisenbeschlagenen Koffer auf Radern, bewahrte Frau Matzner das Geld auf, die Banknoten in einer Brieftasche, die Goldstücke in einem silbernen Netzbeutel. Wenn sie heimkam, zog sie den Schlüssel aus dem Retikül, öffnete das Vorhangeschloss, schob die eiserne Stange aus den Oesen und klappte den schweren Kofferdeckel auf. Sie öffnete die Brieftasche, dann den Silberbeutel, atmete auf, gramte sich dann, dass es zu wenig sei, überlegte hierauf, dass es ja eigentlich nur ein geringer Bruchteil ihres Vermogens sei und atmete wieder erleichtert. Sie legte den Hut ab, klappte den Koffer zu, verschloss ihn und ging hinunter zur Hausmeisterin, die ihr jeden Abend das Kleid aufzuknöpfeln pflegte. Dann, die seidene Pelerine umgehangt, ging sie wieder in den ersten Stock. Es fiel ihr regelmassig noch auf der Treppe ein, dass sie eigentlich viel zu leichtsinnig war, wenn sie das ganze Geld in der Bank liegen liess. Man hatte mehr nach Hause nehmen können. Sie beschloss, morgen wieder bei Ephrussi vorzusprechen. Aber dazu bedurfte es eines aussergewöhnlichen Mutes. Regelmassig kehrte sie wieder um und bestellte durch die Hausmeisterin ein Krügl Lager, Okocimer oder Pilsner — — zum Einschlafen, wie sie sagte; in Wirklichkeit, um sich heute schon Mut für morgen anzutrinken. Am nachtsten Vormittag sass sie im Kontor Ephrussi. Aber sie hatte keinen Mut mehr. Die sanfte kluge Stimme Ephrussis, der hoch über ihr auf seinem Drehstuhl hoekte, fiel sachte auf ihren grossen Hut. Sie hatte auch gar kein Misstrauen mehr. Und gar keine Angst mehr um ihr Geld. „Wenn Sie hundertundzwanzig alt werden, Frau Matzner" — pflegte Ephrussi zu sagen — „werden Sie auch nicht verhungern und noch eine anstandige feine Leich' haben, mit vier Rappen und Bespann, wenn Sie wollen, und vererben können Sie auch noch was!" „Dank' schön! Dank für die Auskunft!" — sagte dann Frau Matzner. ,,Empfehl' mich, Herr kaiserlicher Rat!" — Sie naherte sich seinem Drehstuhl und reichte ihm aus der Tiefe die Hand hinauf. Sie ging wenn es warm war, in den Stadtpark zum Rondell und setzte sich neben das Barometerhauschen. An solch tröstlichen Tagen begab sie sich spater in die Schwemme des Gasthauses Kriegl in der Wipplingerstrasse. Der Herbst dieses Jahres blieb lange warm, gütig und silbern. Im Restaurant des VolksgartensspielteamNachmittag die Regimentskapelle der Hoch- und Deutschmeister. Die Kapelle begann um fünf Uhr pünktlich zu „konzertieren". Aber wenn man eine Viertelstunde früher kam und den Kaffee mit Schlag bestelite, bezahlte man nicht den Aufschlag von fünf Kreuzern fur die Musik, sondern nur dreissig Kreuzer und fünfzehn für ein Stück Guglhupf. Es war ertraglich, wenn auch eine Art Verschwendung. Aber diese Militarkapelle vermittelte der Frau Matzner dafür auch eine unbezahlbare Wollust: die Wollust der Wehmut. Es waren gleichsam die dichterischen Stunden im Leben der Frau Josephine Matzner, das heisst: jene, in denen sie die schrecklichen und gütigen Schauer der Traurigkeit fühlte, einen wohltatigen Schmerz, eine tröstliche und zugleich schauderhafte Gewissheit, dass alles vorbei 7 sei. Sie konnte alle Bitternis geniessen. Sie konnte in aller Bitternis schwelgen. Die Musik spielte langst vergessene Melodien, Polkas, Mazurkas, aus der Zeit, in der Josephine Matzner noch ein Backfisch, noch ein junges Madchen gewesen war, noch gehofft hatte, die Frau des Stationsvorstands Anger zu werden, bie liebte ihn nicht mehr, seit langem nicht mehr, wie sollte sie auch! Aber ihre Jugend liebte sie und selbst noch die Art, in der sie diese ihre Jugend vergeudet hatte. Alle anderen Madchen, die sie spater bei der Jenny Lakatos in Budapest, bei der „Arbeit , kennen gelernt hatte, waren irgendwo untergegangen. Auch an alle diese Madchen dachte sie mit Wehmut. Sie allein war imstande gewesen, sich eine „Existenz zu schaffen. Sie „war wer" und sie „konnte was . Und jetzt? — Ach, die Musik der Hoch- und Deutschmeister weckte süsse und zarte Vergangenheiten, machte das Alter milde, die Bitternis liebhch, vergoldete den Kummer, und wenn sie zu Ende war und die uniformierten Musikanten Pulte, Noten, Instrumente zusammenpackten, blieb immer noch die Musik die sie gespielt hatten, eine lange, lange Weile in der Lult, als hatten sie die Melodien in den Wolken gelassen, und die Baume im Volksgarten, mit welken, goldenen Blattern schon, rauschten im Einvernehmen nut den innern Stimmen der Frau Matzner, in brüderlicher, tröstlicher Ratlosigkeit: Und jetzt? Und jetzt? Eines spaten Nachmittags, als sich Frau Matzner dem Genuss des Kaffees, des Guglhupfs und der Musik auslieferte, hörte sie plötzlich eine Stimme: „Grüss' Gott, Tante Fini!" - Die naselnde hochmütige Stimme eines Herrn aus guter Gesellschaft, steilte sie fest, mitten in ihrer Vertraumtheit. Sie sah auf. Ja, es war ein Herr, ein wohlbekanntes Gesicht, sie konnte sich zuerst nicht erinnern, wem es gehorte. Sie erhob sich jah, die Erinnerung riss sie hoch, sie erhob sich so, als ware sie noch in ihrem Salon oder an der Kassa gesessen. Ja, ja, das war er: es war der Baron Taittinger allerdings in Zivil. Sein grünes Jagerhütchen hatte er nicht abgenommen. Er lachelte nur. Die Zahne blinkten noch wie ehemals. Aber just an diesem unveranderten Blinken erkannte Frau Matzner, dass sich etwas verandert hatte; eine Sekunde 6pater wusste sie es auch: der Schnurrbart des Rittmeisters war fast grau geworden; meliert konnte man sagen . . . Die Frau Matzner blieb stehn, aus altem Respekt vor dem Rittmeister, aber auch aus einer Art Ehrfurcht vor dem verwandelten Schnurrbart. Der Baron sah sich schnell um und, da er in der naheren Umgebung kein bekanntes Gesicht sah, sagte er: ,,Ist 's erlaubt, Frau Matzner? und setzte sich. Er nahm das grüne Hütchen ab, und jetzt sah Frau Matzner, dass der Kopf des Barons noch grauer war als der Schnurrbart — beinahe weiss. Sie setzte sich noch immer nicht, jetzt mehr aus Verblüffung als aus Respekt. Gingen die Jahre so schnell? Oder gingen die Jahre des Einen schneller als die des Anderen? Oder war der Baron krank oder unglücklich? „Nehmen's doch Platz!" — sagte er, und sie setzte sich, steif und behutsam, auf den Stuhlrand und stützte sich mit den Ellenbogen am kleinen Tisch. Dies erschien ihr damenhaft und den Umstanden angemessen. ,,Nun, ist s immer noch lustig bei Ihnen?" begann der Rittmeister. „Bei mir? Das Haus ist verkauft, Herr Baron, ich bin nicht mehr die alte Tante Fini, ich bin auch die „Frau Matzner' nicht! Ich bin wieder das Fraulein Matzner, wie vor zwanzig Jahren! Ich wohne in der Jasomirgottgasse und bin eine Ledige und Private, und kein Hahn kraht nach mir. Ach, Herr Baron, die alten Zeiten! Was? Und jetzt die Einsamkeit!" Sie machte eine Pause und seufzte. „Reden 's nur! Redens nur!" — sagte der Rittmeister munter, als erwarte er nach dieser Einleitung lauter heitere Geschichten. Frau Matzner erzahlte in exakter Reihenfolge. Sie erstattete beinahe einen militarischen Bericht. Als sie die Geschichte von den Spitzen erzahlte, stockte sie ein paar Mal. „Mizzi Schinagl, Herr Baron wissen ja _ —" sagte sie und schwieg wieder eine Weile. Ja, ja! Der Name Mizzi Schinagl erweckte allerhand unbehagliche Gefühle im Rittmeister. ^ „Ich hab' noch das hohe Gericht um Gnade gebeten — erzahlte die Matzner weiter. Sie erwartete ein wenig Bewunderung, ein wenig Anerkennung nur, ein kleines, armes Wort, einen zustimmenden Bliek. Aber der Rittmeister hatte offenbar diesen wichtigen Satz überhört. Er starrte plötzlich hinauf in die vergilbten Baumkronen. Als hatte er es mit einem Bliek herabgeholt, wirbelte jetzt leicht und langsam ein breites Kastanienblatt aus dürrem Gold nieder und blieb auf dem breiten Hutrand der Matzner liegen. Er betrachtete das gelbe Blatt auf dem violetten Samt. Warum kam ihm jetzt Kagran in den Sinn? Warum plötzlich Kagran? „Jetzt sitzt sie!" — sagte die Matzner und seufzte Ja, er erinnerte sich. Es war ein paar Wochen her, da hatte er in der Kanzlei einen Zettel unterschreiben müssen. Es war ein rekommandierter Brief, eine wohlbekannte Schrift, und ein roter Stempel auf dem Couvert sagte „Gelesen, passiert!" — Dieser Stempel roch nach einer „langweiligen Geschichte , viel intensiver noch, als die Schrift. Es war ein blaugrünes hasslich billiges Couvert, es erinnerte an Armut und Gesetz zugleich. Der Rittmeister hatte unterschrieben, zerstreut den Brief geöffnet und nur einen Bliek auf den Aufdruck am Kopfrand des Blattes geworfen. ,,Weibliche Strafanstalt, Kagran" — stand darauf. Er war weiter nicht neugierig. Er war nie im Leben besonders neugierig gewesen. Solch ein Brief, mit solch einer lacherlichen, erbarmlichen und vor allem langweiligen Aufschrift gehorte zu den unerklarlichenErscheinungen, die den Baron Taittinger von Zeit zu Zeit verfolgten, wie zum Beispiel die Briefe seines Oekonomen Brandl, die Rechnungen des Oberkellners Reitmayer, irgendwelche überflüssigen Mitteilungen des Bürgermeisters aus Oberndorf, wo sich sein Gut befand. Es waren beinahe okkulte Erscheinungen. Sie hatten nichts mit der Liebe zu tun, nichts mit der Wiener Gesellschaft, nichts mit dem Dienst, nichts mit den Pferden. All dies war gar nicht mehr langweilig: es war schon „ennuyeux"! der höchste Grad von Langweile. „Reden's nur, reden's nur!" — sagte er, fest entschlossen, nicht mehr zuzuhören. Er hatte sich nach langen Wochen wieder einmal aufgerafït, nach Wien zu fahren. Wieder einmal, wie so oft seit der fatalen Afïare mit dem Schah und seiner brüsken Rückversetzung zum Regiment, hatte ihn das starke, gefahrliche und ratselhafte Weh gepackt, für das er keinen Namen wusste. Es war eine ungewöhnliche Mischung aus Schmerz, Scham, Sehnsucht, Liebe und Verlorenheit. In solchen Momenten bekam der Rittmeister eine deutliche Vorstellung von seiner Leichtfertigkeit, und die Reue nagte an ihm; fast fühlte er körperlich ihre scharfen Zahne. Vergeblich fragte er sich, warum er Dies getan im Leben, Jenes unterlassen oder versaumt hatte. Sinnlos erschien ihm Alles, was er seit seiner Ausmusterung erlebt hatte. Er versuchte, seine Erinnerungen gewaltsam in die Kadettenschule, zur Mutter, zum Vater zurückzulenken, aber sie gehorchten ihm nicht, rannten vorwarts und stockten immer vor der Grafin W., dem Schah, dem charmanten Kirilida Pajidzani und dem grauslichen Sedlacek mit dem Zylinder, stockten zuerst und kreisten hierauf um diese vier Menschen. Diese schmahliche Geschichte war langst begraben, kein Mensch kannte sie, der Oberst nicht und nicht die Kameraden. Aber was nutzte es Taittinger selbst? Es gab eine Episode in seinem Leben, von der er zu keinem Menschen jemals sprechen durfte. Sie kreiste im Blut, wie irgendein Fremdkörper, kam von Zeit zu Zeit in die Gegend des Herzens, drückte es, stach es, bohrte darin. In solchen Stunden gab es nur drei Auswege: entweder man floh nach Wien, an die Statte des Glanzes und den Geburtsort der Schande; oder man betrank sich; oder — oder: man erschoss sich. Krieg ware ein Ausweg gewesen. Weit und breit aber herrschte ein satter, behabiger, übermütiger Frieden in der Welt... Ja, jetzt wusste er 's: nun hatte ihm also die Mizzi aus dem Gefangnis geschrieben — ihm aus dem Gefangnis — es war ahnlich, wie damals der familiare Gruss des ekelhaften Geheimen Sedlacek. Es konnte sich jeden Moment eine solche Peinlichkeit wiederholen. Und wie sie verhüten? So wenig der arme Taittinger auch von den Gesetzen der zivilen Welt verstehn mochte, so viel wusste er doch, dass es einem Gefangenen erlaubt war, Briefe in die freie Welt hinauszusenden. Der Gefangnisdirektor las sie. Er hatte auch den letzten Brief der Schinagl gelesen. Taittinger betrachtete immer noch das heruntergewirbelte goldgelbe Blatt auf dem violetten Hutrand der Matzner. Ach, er neigte keineswegs zu poetischen Empfindungen. Jetzt, in dieser Sekunde aber, begann er, irgendeine merkwürdige, lacherliche Zartlichkeit für das armselige Blattchen zu empfinden. Es kündete den Herbst, gewiss! Wie oft hatte er schon welke Blatter den Herbst künden gesehn! Dieses Blatt aber, dieses besondere, kündigte ihm, speziell ihm, dem Taittinger, seinen speziellen Herbst an. Ihn fröstelte. Er hörte plötzlich Sabelklirren, bekam Angst, dass ihn bekannte Kameraden am Tisch der Matzner sehen könnten, zog die Uhr und sagte unvermittelt, mitten in das von Seufzern begleitete unermüdliche Reden der Matzner hinein: ,,Ich muss gehn. Wir treffen uns morgen um diese Zeit aber wo?" Er überlegte eine Weile — wo war man still und ungesehen? — Ja, ja, er erinnerte sich und sagte: ,,Bei Grützner! Ist Ihnen recht, Frau Matzner?" — „Ganz wie Herr Baron belieben" — antwortete sie. Ei rief: Zahlen! und setzte das Hütchen auf. Er zahlte auch für die Matzner, und sie beobachtete mit kummervollem Entsetzen, dass der Kellner die fünf Kreuzer Aufschlag berechnete, wo sie doch eine Viertelstunde vor der Musik gekommen war! Taittinger reichte ihr lassig vier Fingerspitzen. Sie erhob sich mit einer Verbeugung: da fiel das Blatt vom Hut auf den Tisch. Dann verschwand der Baron im Dunkel des Volksgartens. XVII. Zum ersten Mal in seinem Leben sollte der Baron Taittinger erfahren, was es hiess: „Schritte unternehmen". Beim Militar unternahm man keine Schritte. Alles war geregelt. Es gab keine Komplikationen und, wenn es welche gab, so waren sie die Folgen gewisser Vorschriften und Bestimmungen, welche die Macht hatten, die Verwicklungen, die sie schufen, auch gleichzeitig zu lösen. Im zivilistischen Leben aber hatte man sehr oft „Schritte zu unternehmen". Man musste sich von Zeit zu Zeit irgendetwas richten, denn die Gesetze hatten anscheinend nicht die Aufgabe, das Leben der Menschen zu regeln, sondern, im Gegenteil, es in Unordnung zu bringen. Derlei Ueberlegungen liessen den Rittmeister in dieser Nacht nicht schlafen. Er erwachte früh, der Herbstmorgen dammerte eben heran. Gestern noch hatte er an den Polizeiarzt Doktor Stiasny gedacht, der in Taittingers Dragonerregiment als Reserve-Oberarzt jedes Jahr zu den Uebungen einrückte. Es ware Taittinger ganz unmöglich gewesen, etwa den ihm von ferne bekannten Oberkommissar Baron Handl aufzusuchen, aus dem einfachen Grunde, weil er diesen namlich noch niemals in Uniform gesehen hatte. Mit Doktor Stiasny war man immerhin schon im Kasino gesessen, beim Domino. Unbehagen bereitete dem armen Taittinger die Polizeidirektion. Er war in Zivil, und es konnte nicht fehlen, dass ihn die zwei Wachleute vor dem Eingang respektlos musterten, dass ihn die Spitzel, von denen es in den Korridoren wimmelte, mit flüchtigen, aber sehr eindringlichen Blieken verfolgten. Jeden Augenblick hatte er Sedlacek, den Geheimen treffen können. Es war „penibel" und „langweilig". Auf einer braunen Bank, mit irgendwelchen Personen, die er als „Bitt- steller" klassifizierte, musste er eine qualvolle Viertelstunde warten. Herr Doktor lasst bitten! — sagte endlich der Beamte. ,,Ah, Baron!" sagte der Polizeiarzt und stand auf. Er war rund, wohlbeleibt, auf kurzen Beinen kam er dem Rittmeister eilig entgegen. Taittinger hatte ihn sich anders vorgestellt. Es fiel ihm ziemlich schwer, ihn wieder so zu sehen, wie er sich ihn ertraumt hatte. Im Zivil trug der Doktor Stiasny einen Zwicker an einem schwarzen Bandchen — und das irritierte den Rittmeister. „Servus, Doktor!" — sagte er mit einer gequalten Stimme. Der Doktor war eben im Spital gewesen, er roch nach Jod und Chloroform, wie eine Apotheke. In seiner oberen Westentasche schimmerte die scharfe Quecksilberspitze des Fieberthermometers. Verwirrt setzte sich Taittinger. Der Doktor fragte nach dem Befinden der Regimentskameraden. Der Rittmeister sagte immer wieder „Dank' schön, glanzend!" — Und: „Was ein Doktor doch für ein Gedachtnis hat!" Ihm selbst entfielen die meisten Namen, sobald er nur den Bahnhof der Garnison betrat, um wegzufahren. Es war eine wahre Marter, so lange zu warten, bevor er mit seinem Anliegen herausrücken konnte. Und wie sollte man anfangen? „Da is so ein Madel, Doktor, weisst, so ein Sündenfall, und die is jetzt bei Euch" — so fing er an, und der Doktor Stiasny glaubte schon, es handelte sich um eine der sogenannten „geheimen Krankheiten", oder gar um eine verbotene „HebammenSache" — wie er zu sagen pflegte. Es bedurfte erst eines ausführlichen Verhörs, bevor der Doktor Stiasny den Sachverhalt aus den abrupten Satzen Taittingers zusammenflicken konnte. Es war ihm, als müsste er kurze Fadenstückchen aneinanderknüpfen. Als er endlich begriff, wunderte er sich zwar ein wenig, war aber doch erleichtert und bereit, noch an diesem Vormittag mit dem Rittmeister nach Kagran hinauszufahren. „Nein, lieber Doktor, sofort bitte!" — sagte Taittinger. Er ware nicht imstande gewesen, eine halbe Stunde langer zu warten. Auf einmal, da er knapp vor diesem langweiligen Kagran stand, schien er alle Schrecken schon im Voraus zu spüren, mit denen es ihn erwartete. Er! In ein Gefangnis! Es war schauerlich! Der Doktor Stiasny sagte es so leicht vor sich hin! Freilich, nicht jeder Mensch war Polizeiarzt und ging jeden Tag in Gefangnisse. Man musste die ganze Angelegenheit schnell hinter sich bringen. Wahrend der Fahrt nach Kagran, im Fiaker, war Taittinger still-bekümmert. Dabei fuhren sie geradezu im Galopp. Als sie anlangten, hatten ihn Langeweile, Kummer und Bangnis dermassen mitgenommen, dass er fast den Zustand der Gleichgültigkeit erreichte. Der Gefangnisdirektor Regierungsrat Smekal hatte goldgeranderte Brillen — nicht einmal sie chokierten den unseligen Taittinger. Er wurde vorgestellt. Er gab die Hand. Er tat Alles, was zu tun war und hatte nur eine nebelhafte Vorstellung von allem, was sich mit ihm und was sich rings um ihn zutrug. Wie aus weiter Ferne hörte er den Gefangnisdirektor sagen, dass es ihm unmöglich sei, gewissen Straflingen das Briefschreiben zu untersagen. Jawohl! Es war ^ ihm unmöglich. Er verstand sehr wohl die „Difficültaten des Herrn Baron, — aber, wie gesagt: „die Vorschriften !... Und er wollte auch auf den Haftling Schinagl in dem Sinne einwirken, dass sie nicht mehr schreibe, ausser an ihren Vater in Sievering und ihren Sohn in Graz. Und am einfachsten sei es wohl: der Herr Baron spricht selbst mit ihr. Dagegen ist keine Vorschrift. Der Regierungsrat Smekal kann den Haftling Mizzi Schinagl sofort holen lassen, selbst liieher, in die Kanzlei, er selbst geht für eine halbe Stunde, grad' jetzt, inspizieren. Ehe noch Taittinger recht verstanden hatte, sagte der Doktor Stiasny: ,,Ausgezeichnet!" und wahrend eine seltsame, nie gekannte Mattigkeit aus Blei und Trauer sich über den armen Taittinger senkte, klingelte der Regierungsrat schon, gab er schon einen Auftrag, nahm er schon den Hut vom Haken, sagte er schon: „Also, in einer halben Stunde, Herr Baron!" — und auch der Doktor Stiasny sagte: ,,Ich gehe inzwischen in den Hof!" — und schon waren beide Herren verschwunden. Nicht einmal die Tür hatte man aufund zugehn gehort. Und schon war Taittinger allein, im Zimmer des Direktors, zwischen fremden Tabellen an den Wanden, friedlichen grünen Aktenfaszikeln und, allerdings.einem stahlernen Tintenfass gegenüber, das seinen schwarzen höllischen Rachen höllisch aufgeklappt hatte. Ein Aufseher kam herein, salutierte, ging wieder hinaus. Durch die offengebliebene Tür trat Mizzi Schinagl in die Kanzlei. Sie erschrak sichtlich. Sie machte zuerst eine Wendung, als wollte sie wieder in den Korridor zurück, schien sich zu besinnen, blieb stehen, hart an der Schwelle, und bedeckte das Angesicht mit den Handen. Man hatte ihr nur gesagt, sie müsse zum Herrn Direktor. Als sie Taittinger erblickte, hatte sie zuerst das Gefühl, dass sie fliehen müsse, wie bei einer Katastrophe und gleich darauf die schreckliche Gewissheit, dass ihr alle Auswege versperrt seien. Eine heisse Freude durchströmte sie, hierauf eine ebenso heisse Scham. Sie stand so ein paar lange Sekunden, die Hande vor den Augen. Es war ihr, als würde sie, wenn sie die Hande fallen liesse, Taittinger nicht mehr sehen können; verschwunden ware er dann. Und sie hielt mit den Handen hinter den geschlossenen Lidern seinen Anblick fest, mit Gewalt. Sie liess endlich die Hande fallen, aber ihre Augen waren noch geschlossen. Sie fühlte, dass sie im nachsten Moment weinen müsste, gramte sich darüber, wünschte es sich aber auch gleichzeitig. Taittinger war ratlos, wie noch nie in seinem Leben. Er stand suf, aber er ging nicht auf die Schinagl zu, sondern zur Wand und starrte gedankenlos auf eine sinnlose Tabelle. Seine Hande spielten mit dem grünen Hütchen und mit den grauen Handschuhen. Es dauerte ein paar Minuten, ehe er seine gewohnte, natürliche leichtfertige Gleichgültigkeit wieder bekam, den nonchalanten Gleichmut. „Ja, da bist Du ja, liebe Mizzi! Lass' Dich anschaun! Wie geht's Dir? sagte er mit seiner alten, zartlichen, naselnden Heiterkeit. Lieblich klang sie der Mizzi, und um besser zu hören, öffnete sie auch die Augen. „Setz Dich, Mizzi! sagte Taittinger, und sie gehorchte und sass da, auf der Stuhlkante, die Hande im Schoss gefaltet wie ein Schulmadchen. Er dachte, es wahre wohl angebracht, ein kleines Kompliment zu sagen; aber das konnte man ja nicht, unter diesen Umstanden. Du siehst aber gut aus, zum Beispiel, war gewiss deplaciert. „Dank schön", stotterte die Mizzi, „dass Du dass Herr Baron gekommen sind, bitte um Entschuldigung für den Brief". Ja, natürlich, der Brief, das war ja der Grund, weshalb er hier war; aber nett musste das gesagt werden. „Es ist so nett" — sagte Mizzi fast tonlos — „zu kommen, wenn ich drum bitte und ins Unglück geraten bin. Das ist so, so edel!" Sie hatte unter grosser Anstrengung dieses Wort gefunden, und wie plötzlich befreit, brach ein Strom von Schluch- zen aus ihrem Herzen. Taittinger naherte sich ihr elastisch, durch das Wasser der Tranen sah sie ihn herankommen, ein Engel im grauen Strassenanzug schwebte heran. Als er hart vor ihr stand, wusste er noch immer nicht, was er sagen sollte. Eine unbekannte Stimme diktierte ihm plötzlich, eine Stimme, die er noch niemals vernommen hatte. Er sprach ihr nach: „Es freut mich ja, wenn ich einen netten Brief bekomme. Ich lese sofort, noch in der Kanzlei. Weisst, im Grunde bin ich ja ein ganz guter Kerl." Er wollte noch fortfahren, er wollte sogar noch sagen, dass er um recht viele Briefe bitten möge, aber da weigerte sich auf einmal seine Zunge, und er erinnerte sich, dass er ja eigentlich genau das Gegenteil hatte sagen wollen. Deshalb schien es ihm angebracht, den nachsten Satz mit einem: Aber zu beginnen. „Aber es is namlich so, weisst" — fuhr er fort — „dass der Zenower, der Rechnungsunteroffizier, mein' ich, der kriegt so einen Haufen Post jeden Tag, und er macht mal so was Fremdes auf, in der Eile, und deshalb auch hab' ich alle meine Freunde und Bekannten gebeten, mir nix mehr zu schreiben, ausser — ausser" — er stockte, jene unbekannte Stimme wurde plötzlich ganz stark, gewaltsam fast diktierte sie ihm, und er sprach ihr nach: „unter H. v. T. poste restante!" „H. v. T." wiederholte Mizzi „poste restante". Er blickte jetzt auf ihr dunkelblaues Haubchen, er stand vor ihr, seine Kniee berührten ihren gestreifen, langen Kittel. Die Haube argerte ihn, sie war aus dem steifen, faserigen Gewebe, aus dem man Sacke macht, und er erinnerte sich an die Grafin Helene W. und an das Haar der beiden Frauen, und er zog plötzlich, mit einer brüsken Bewegung, mit zwei Fingern die Haube herunter. Im gleichen Augenblick bedeckte Mizzi Schinagl mit beiden Handen ihren Kopf. Sie fing wieder an, bitterlich zu schluchzen. In starren, unregelmassigen, stachligen Bündeln starrte das Haar der Mizzi empor, und Taittinger hatte Mühe, nicht wieder einen Schritt zurückzutreten. Schrecken und Mitleid erfüllten, überfluteten ihn. Ja, Mitleid! Zum ersten Mal empfand er Mitleid in seinem Leben. Es war ihm zu Mute, wie einem, der vor seinem eigenen Glück erschrickt. Er streichelte die stachligen Büschel mit einer verschamten Hand, und er wunderte sich dariiber, dass er es tat. Nicht mehr der alte Taittinger war er, er verlor sich, er fiel, und das Fallen bereitete ihm eine neue, unbekannte Wonne und glich einem Schweben. „Wann kommst Du heraus?" fragte er und stülpte wieder die greuliche Haube über Mizzis armen Kopf. „Ich weiss nicht" — schluchzte sie. „Am liebsten war s, ich bleib hier!" — „Ich werd' schaun, was ich tun kann!" — sagte Taittinger. „Dank' schön, Herr Baron!" sagte Mizzi. Er war nicht mehr im Stande, sie anzusehn. Es schien ihm auf ein Mal, dass er schuld war: er wusste nur nicht, wieso, warum. Die Schinagl fühlte es vielleicht. Sie erhob sich mit einem plötzlichen Ruck. „Darf ich gehn, Herr Baron?" — fragte sie, und es war Würde und Anmut ih ihrem Aufstehn, in ihrem Bliek, in ihrer Stimme. „H. v. T.*\ „poste restante" — sagte Taittinger. — Ihre holzbesohlten Sandalen klapperten, auf dem hölzernen Boden der Kanzlei zuerst, dann lauter, harter, auf den Steinen des Korridors. Taittinger sah sich nicht mehr um. Er stand der Wand zugekehrt und starrte gedankenlos auf die unsinnigen Tabellen. Er erinnerte sich jetzt erst, dass er nach dem Sohn hatte fragen mussen. Wo befand sich der eigentlich? — O, er hatte keineswegs etwa das Gefühl einer Verpflichtung! Es schmerzte ihn einfach, dass er das Gebot der Höflichkeit verletzt hatte. Zugleich erinnerte er sich dunkel daran, dass, zum Beispiel, der Leutnant Wander, der ein uneheliches Kind hatte, jeden Monat eine bestimmte Summe dafür zahlen musste. Weshalb er, Taittinger, bis jetzt niemals etwas für den Jungen bezahlt hatte, konnte er sich nicht erklaren. Das hing mit den unbegreiflichen „Gesetzen" zusammen. Aber es schmerzte ihn etwas, er wusste nicht genau, was er war. Er fühlte nur, dass er niemals die geschorenen Haare der Mizzi Schinagl vergessen könnte. Auch seine rechte Hand schien eine Art Gedachtnis bekommen zu haben. Auch die Innenflache seiner rechten Hand würde immer die Erinnerung behalten an die stachligen harten Haarbüschel der Mizzi Schinagl. Als er mit Doktor Stiasny wieder im Wagen sass und in die Stadt zurückfuhr, begann er, gegen seinen Willen, von sinnlosen Dingen zu reden, muntere, aufgeraumte, geradezu, kindische Angelegenheiten zu erzahlen; aus seiner Jugend. Ein paar Augenblicke hörte er sich selbst sprechen, und es war ihm, als sei er schon alt, und er empfand das lacherliche seiner Reden, und er übte Nachsicht mit sich selbst, und er bestand aus zwei Taittingers: einem jungen und törichten und einem alten und klügeren. In einer traurigen Verwirrung fuhr er amNachmittag zum Rendez-vous mit der Matzner. Er liess sich die Geschichte von den Spitzen und den ganzen Prozess ausführlich erzahlen. Zu seiner eigenen Verblüffung verstand er sogar die geschaftlichen Vorgange. Es ekelte ihn ein wenig vor der Frau Matzner. Zum ersten Mal empfand er den Unterschied zwischen Langeweile und Ekel. Er war sogar imstande, sich über die Gewissensruhe der Matzner zu wundern, da er erkannte, dass allein ihre Geldgier den Prozess verursacht hatte. Er fühlte sich auf eine merkwürdige Art abgestossen und angezogen zugleich, rettungslos verwickelt in eine „fremde Geschichte". Als die Matzner im Laufe ihres Berichts den Namen Sedlacek fallen liess, erg riff den Rittmeister auch Angst. Und er zahlte schnell und ging und liess die Matzner ratlos zurück. „Meine Adresse, Herr Baron" — nef sie und schrieb auf die Rückseite eines Couverts, das sie hastig aus demTaschchen herausgezogen hatte, ïhre Adresse Der Rittmeister steckte sie höflich in die Brieftasche. Die Matzner blieb noch bis in den spaten Abend. Die abendliche Herbstluft war klar, streng und herb. Als die Matzner sich erhob, urn zur Pferdebahn zu qehn, fühlte sie einen leichten Schwindel im Kopf und einen frostigen Schauer im Herzen. Sie glaubte, dies mache der Wein, den sie nicht gewohnt war und auch die Aufregung, die ihr der Baron bereitet hatte. Unterwegs, in der Pferdebahn, nahm sie sich vor, einen Kamillentee zu trinken. XVIII. Auch am nachsten Tage setzte die Matzner ihr gewohntes Leben fort. Sie erwachte nicht ohne Munterkeit. Eine Zeitung las sie nicht mehr seit dem Tage, an dem sie endgültig eingesehen hatte, dass ihr das Interesse der Welt nicht mehr galt. Die zwiefache Begegnung mit dem Baron gewahrte 1 r heute noch einigen Trost. Die wichtigsten Neuigkeiten aus der „Kronenzeitung" und aus dem „Neuigkeits-Weltblatt'' brachte ihr die Hausmeistenn, die gegen neun Uhr morgens aufraumen kam. Obwohl sie nur sparliche Trinkgelder gab und als ledig gemelde war, nannte sie die Hausmeistenn doch: gnadige Frau. (Meist vermied sie die Anrede.) Dieser Tag also unterschied sich vorlaufig noch nicht von allen verflossenen. Die hellen gütigen herbstlichen Tage hielten immer noch an. Die Matzner machte, wahrend ihr die Hausmeisterin das Kleid zuhaftelte, den Stundenplan. Zuerst wollte sie zur Bank Ephrussi, hierauf zum Notar und schliesslich in die Polizeidirektion, um wieder einmal den Inspektor Sedlacek zu sehn. Es war ihrer Meinung nach wichtig, dem Sedlacek mitzuteilen, dass sie mit dem Baron Taittinger zusammengekommen war. Auf der Strasse aber, als sie der milde, silberne und hoffnungsreiche Atem dieses gnadigen Herbstes umfing, erschien ihr Sedlacek immer wichtiger. Dring licher wurde auch ihr Wunsch, sich der Zusammenkunft mit dem Baron vor irgend Jemandem rühmen zu können, der so etwas zu schatzen wusste. Und sie lenkte ihren entschlossenen Schritt zum Schottenring, ins Café Wirzl, wo Inspektor Sedlacek mit den Polizeireportern von elf bis eins Tarock zu spielen pflegte. Wer kann genau wissen? Alles ist möglich. Es kann sein, dass der Baron in einer wichtigen Angelegenheit nach Wien gekommen ist; in Zivil: warum war er in Zivil? Es kann sein, dass Sedlacek schon etwas Naheres weiss. Es kann auch sein, dass es für ihn wichtig ist, etwas zu erfahren. Oft genug ist er in das Haus der Matzner gekommen, um sich zu erkundigen, wer von den Herrschaften gestern nacht da gewesen war. Die Herren Redakteure sassen auch im Café, Lazik unter ihnen. Es konnte sein, dass auch die Zeitungen Gefallen oder Interesse an der Geschichte der Matzner finden würden. Im Café Wirzl war Pause zwischen zwei Partien. Sedlacek und seine Tischgenossen assen Prager Würstl mit Kren und tranken ein Schnitt Extra. Man begrüsste Frau Matzner mit einem herzlichlauten „Lang-nicht 8 qesehn, Tante Fini!" Sie bekam eine Schale Gold mit Mohnkipfl und begann, wahrend sie den knusprigen Kipfl mit hörbarem Genuss im Munde zersplitterte, ihre Geschichte mit den Worten: „Also, Herr Sedlacek, staunen werdens! Sitz' ich da unschuldig im Volksqarten — wer kommt da auf einmal? Die Musik spielt grad: Droben wo die Wölklein stehn wer kommt da daher?..." . Schau, schau!" — sagte der Inspektor immer wieder. Der Redakteur Lazik notierte das Datum der Abreise Taittingers auf der Manschette, fur alle Falie. Dank' Ihnen sehr!" - sagte Sedlacek. Die Matzner ërhob sich. Sie glich einem Ballon, der soeben Ballast abgeworfen hat und stolz und frei m die hoheren Regionen steigen darf. Sie schwebte zur Tur hinaus. Sie ging zu Ephrussi. . . . n Aber der kaiserliche Rat war heute nicht im Geschaft, zum ersten Mal seit dreissig Jahren. Der Buchhalter, ein veranderter, beinahe fremd aussehender Mann heute, empfing die Frau Matzner. Er teilte der Matzner mit, dass der kaiserliche Rat gestern nacht plötzlich in die Klinik gebracht worden sei, eben operiert werde, der Blinddarm sei es und eine Sache von Tod und Lcbsn. . - „Und was geschieht mit dem Geld? rie ie Matzner. , . Welches Geld?" — fragte der Buchhalter. "Meins, meins!" — schrie sie und fiel in den Sessel wuchtig, als hatte sie plötzlich ein doppeltes Gewicht "rZ beruhigen Sie sich" - sagte der Buchhalte, „Die Bank bleibt die Bank, Frau Matzner auch schlimmsten Fall, was Gott verhüten moge! Ihr Geld bleibt Ihr Geld!" Ich werd' lieber selbst in die Klinik fahren sagte sie. „Ich werd' mich erkundigen". Sie hatte schon Tranen in der Stimme und ein zusammengepresstes Herz. Ein wüster Nebel wallte vor ihren Augen. „Die Adresse, die Adresse! rief sie. Man gab ihr die Adresse. Sie war, obwohl die Füsse zitterten, das Herz gewaltig pochte, wie durch ein Wunder in einem Nu draussen, schon winkte sie dem Fiaker, Klinik Haselmeyer, schrie sie schrill, als riefe sie „Feuer!" Sie kam knapp eine Viertelstunde, nachdem der kaiserliche Rat Ephrussi an den Folgen der Blinddarmoperation gestorben war. Man sagte es ihr, kalt und geschaftlich, wie es die Art ist, in Kliniken. Ohnmacht überfiel sie. Sie erwachte im Inspektionszimmer, im bitterscharfen Wind des Ammoniaksalzes. Sie wankte am Arm der Schwester die Treppe hinunter. Ihre Füsse fuhlten noch den Boden, ihre rechte Hand noch den Schirmgriff, ihre linke noch das Retikül. Aber ihre Gedanken hatten gar keinen Halt mehr. Wie ein Schwarm wildgewordener Vögel stoben sie durcheinander, in einer Art von lautlosem Larm, stiessen gegeneinander mit Köpfen und Flügeln, verschwanden plötzlich und kehrten wieder, in erneuerter Verwirrung. Das Herz klopfte nicht mehr, es wuchtete, es schaukelte, auf und nieder, auf und nieder. Jemand fragte dié Matzner nach ihrer Andresse. Jemand setzte sie in einen Wagen. Jemand übergab sie der Hausmeisterin. Man führte sie in die Wohnung, legte sie auf das Sopha. Sie hatte noch Geistesgegenwart genug, zu sagen: „Lassen's mich allein, ich will schlafen!" Man hess sie allein. Sie ging zum Koffer und sah nach dem Geld. Sie nahm es an sich, das Portefeuille und die silberne Netzbörse. Sie steckte beides in den Strumpf. Das silberne Beutelchen fühlte sie angenehm, es glitt von der Wade zum Knöchel hinunter, ein liebes Tierchen. Sie liess sich in den Lehnstuhl fallen. Sie schlief ein, mit dem innigen Wunsch, eine Woche, einen Monat, ein ganzes Jahr zu schlafen. Aber sie erwachte am Abend des gleichen Tages, die Sonne war noch nicht untergegangen. Ihre Stirn brannte, ihre Schlafen waren taub und bleiern. Ein kalter Schauder nach dem andern durchjagte durch ihren Körper. Sie erhob sich, keuchte zur Tür, machte sie auf, nahm alle Kraft zusammen und rief: „Frau Smelik, Frau Smelik!" und wunderte sich noch selbst, dass sie noch eine Stimme hatte. Die Hausmeisterin kam, löste die Miederbander, und alsbald glich der Körper der Frau Matzner einer formlosen, in weisses Leinen gefasste überquellendenMasse aus unbestimmter Substanz. Die Strümpfe liess sie nicht anrühren. Es schien der Frau Smelik, dass es an der Zeit sei, den Doktor zu rufen. Sie sagte es auch der Matzner, obwohl sie erkannt zu haben glaubte, dass die Kranke gar nichts mehr richtig begreifen konnte. Sie irrte sich. Die Matzner fragte nur: „Was kostet eine Visite? — „Einen halben Gulden!" sagte die Hausmeisterin, „das weiss ich vom letzten Mal, wie er bei der Frau Majorin gewesen ist." „Meinetwegen, holen's ihn!" sagte die Matzner. Sie dachte nur noch daran, die Strümpfe mit dem Geld ohne Zeugen auszuziehn und im Bett zu verstecken, unter dem Kissen. Der Doktor kam. Die Matzner lag schon ausgekleidet im Bett, sie fühlte nur noch kaum den Strumpf mit dem Geld unter dem Kissen. Es schien ihr, dass sie schon eine uriglaublich lange Zeit dalag und auf irgend etwas wartete. Ihr Gesicht brannte, zeitweilig hatte sie die Empfindung, dass ihr Kopf nicht mehr zu ihrem Körper gehore; denn dieser war kalt, ein Eisklumpen. Endlich hörte sie den Schlüssel, dachte eine Weile nach, wen sie eigentlich erwartet hatte und wer jetzt kommen könnte und vermochte nicht, sich daran zu erinnern. Sie sah wohl, dass die Hausmeisterin mit einem fremden Herrn eintrat und wusste wohl, dass es die Hausmeisterin war und ein fremder Herr aber es schien ihr zugleich auch, dass Mizzi Schinagl eintrete und hinter ihr der Baron Taittinger. Welch eine veranderte Welt! Zu zweit und zu dritt gar kamen jetzt die Leute an, und man kannte sich nicht mehr aus. Der Doktor — oder war es der Baron Taittinger — winkte der Hausmeisterin — oder war es die Mizzi? — hinauszugehn, und naherte sich dem Bett und zog ein glanzendes Ding aus der Westentasche. Die Matzner schrie auf. Alsbald beruhigte sie sich, wie eingeschlafert von dem Geruch von Zigarren und Karbol, den der Doktor ausströmte. Er tastete an ihr herum, klopfte, horchte, grifï nach ihrer Hand. Seine Berührungen waren ebenso peinlich, wie wohltuend, ebenso angenehm, wie beschamend, sie beunruhigten und besanftigten das Gemüt der Matzner zu gleicher Zeit. Der Doktor entfernte sich. Wie ein dunkier Nebelfleck stand er irgendwo, über dem Waschbecken und platscherte kindisch im Wasser. Noch einmal ging die Tür, die Hausmeisterin erschien wieder, und diesmal war sie es wirklich und nicht eine zweifelhafte verwandelte Mizzi. Und der Doktor war auch der Doktor und hatte nichts mit dem Baron Taittinger zu tun. Und die Matzner hörte klar und deutlich, was der Doktor zur Hausmeisterin sagte; namlich dieses: „Rippenfellentzündung! sie hat hohes Fieber. Ich schicke eine Schwester. Sie wird in einer halben Stunde etwa da sein. Können Sie so lange hierbleiben?" — „Ja, Herr Doktor!" — sagte die Hausmeisterin. Sie blieb da. Sie setzte sich ans Bett, hart neben die Matzner. Das Gesicht der Hausmeisterin zerfloss, verschwamm, zerrann in einem grauen Brei. Als die Schwester schliesslich eintraf, wusste die Matzner gar nichts mehr. Sie erzahlte kindische Ereignisse aus ihrer Kindheit. Am nachsten Morgen ging es ihr besser. Sie liess dem Doktor gar keine Zweifel darüber: sie fragte ihn sofort, wieviel sein Besuch koste. „Einen halben Gulden!" sagte er. Nun — meinte sie — wenn er glaube, dass er noch haufiger wieder kommen müsse, so ware es besser, man würde gleich akkordieren. Und um ihn weicher zu stimmen, erzahlte sie auch, dass der jahe Tod ihres Bankiers Ephrussi sie in Gefahr bringe „das Letzte" zu verlieren. Ja, sagte der Dokter sanft, er würde nur noch ein paar Mal wieder kommen müssen, und den Priester brauchte man auch nicht zu holen. Akkordieren würde man besser nach der völligen Gesundung. Solange der Doktor im Zimmer war, blieb die Matzner heiter. Als er aber gegangen war, behielt sie von Allem, was er gesagt hatte, nichts mehr in Erinnerung als sein Wort vom Priester. Und plötzlich erschien ihr der brave Doktor falsch und verlogen, tückisch und ein Künder des nahen Todes. Ein Geistlicher! Seit vielen, vielen Jahren hatte sie nicht daran gedacht. Ein Geistlicher! Sie erinnerte sich an ihre erste Kommunion. „Jessas!" hatte sie oft im Leben gerufen und auch: „Jessas — Marand Joseph" — ohne sich etwas dabei zu denken. Weshalb hatte der Doktor vom Priester gesprochen? Weshalb hatte er gesagt, man brauchte noch nicht an ihn zu denken? Und wenn er es gesagt hatte, war es nicht ein Beweis dafür, dass es — umgekehrt just an der Zeit sei, an ihn zu denken? — Der Tod? war er nahe? — Was war der Tod? Eine Art Kommunion, aber in schwarz wahrscheinlich, statt in weiss. Die Matzner ass nur ein wenig Graupensuppe, schlief ein, traumte von ihrer Kommunion, von ihren Eltern und hierauf vom Prozess, vom Richter, vom Staatsanwalt, von den Advokaten, von den Geschworenen. Laut rief sie ein paar Mal: „Ich bitte um Gnade". — Am Abend stieg das Fieber. Kurz vor Mitternacht bat sie um den Priester. Es war ein einfacher Mann. Mitten aus dem Schlaf geweckt, war er noch simpler als am Tage. Er hatte seit langem nicht mehr Sterbende versehen, insbesondere nicht fiebernde Kranke. Er begriff nicht Alles, was ihm die Matzner sagte. So fragte sie ihn, zum Beispiel, ob er glaube, dass der Beruf, den sie ihr Lebtag ausgeübt habe, sie zur Holle verdamme. Und, als er sie fragte, was für einen Beruf sie denn ausgeübt habe, sagte sie, sie sei Besitzerin des Hauses Matzner auf der Wieden gewesen. Er verstand nicht und sagte, Hausbesitz sei keine Sünde. Sie sagte ihm ferner, dass sie ledig sei. Auch das war keine Sünde, in seinen Augen. Sie wurde müde und schloss die Augen, und es schien dem Pfarrer, dass sie eingeschlafen sei. Sie aber war wach, und trotz ihrem Fieber konnte sie auch klar denken. Die ungeheure Furcht vor dem Tode verjagte ihre Wirrnisse. Die Furcht vor dem Jenseits klarte ihr Gehirn, heiterte ihre Seele auf. In der kümmerlichen und trostlosen Vorstellung, die sie Zeit ihres Lebens vom Gewicht der Schuld gehabt hatte und von den Möglichkeiten, es abzuwalzen oder auch nur ein wenig zu erleichtern, war Geld eines der ersten Mittel, mit deren Hilfe man sühnen konnte. Wahrend sie die Augen also geschlossen hielt, überlegte sie nüchtern, dass man Sünden durch Gaben ablösen könne. Das ganze sündhafte Leben, das Freudenhaus und den Prozess, durch den Mizzi Schinagl ins Gefangnis geraten war, die kleinen tückischen ungerechtfertigten Abzüge, die sie dann und wann ihren Pensionarinnen aufgerechnet hatte und was es sonst für Sünden geben mochte, die im Katechismus verzeichnet standen, einfache Sünden, wie üble Nachrede zum Beispiel und gotteslasterliche Aeusserungen, von denen es in ihrem Leben nur so wimmelte. Sie war auch schon entschlossen, dem Hochwürdigen Herrn zu sagen, dass sie ihr Geld für wohltatige und kirchliche Zwecke hinterlassen wolle und einen Teil, zur Wiedergutmachung, für die Mizzi Schinagl, die doch Alles verloren haben musste. Ja, alles Geld! Obwohl der Bankier Ephrussi schon tot war — sie gedachte, ihn droben irgendwo wieder aufzusuchen — und trotz ihrem Misstrauen gegen den doppelten Buchhalter, musste ja etwas noch in der Bank geblieben sein! Etwas, nicht viel! Fürs Begrabnis musste freilich etwas bleiben. Es soll ein schönes Leichenbegangnis werden, dachte sie und setzte sich in den Kissen auf. Sehr schnell und fliessend, als rezitierte sie etwas seit langem auswendig Gelerntes, erzahlte sie dem Hochwürdigen Herrn, dass sie ein Drittel ihres Geldes den Armen, ein Drittel der Kirche, ein Drittel der Mizzi Schinagl hinterlassen wolle. Morgen wollte sie ihren Notar kommen lassen, gleich in der Früh. Der Pfarrer nickte. Sie fragte ihn mit einem verborgenen Misstrauen in der Stimme, was seiner Meinung nach ein Leichenbegangnis erster Klasse koste, mit vier Rappen. Das müsste, sagte der Hochwürdige Herr, die „Pietas" wissen, das Leichenbestattungsunternehmen, und es ware leicht, es zu erfahren. Er bekame jedenfalls nicht mehr als einen Gulden für die Totenmesse, es ware eine Gebühr. Nun war sie auch bereit, zu sterben, und der Pfarrer begann sein Werk. „In Reue und Demut beichte ich meine Sünden" — sagte die Matzner mit klingender Stimme, wie ein Schulmadchen. Sie fiel wieder in die Kissen und schlief sofort ein. Sie schlief ruhig und traumlos die ganze Nacht. Am Morgen erwachte sie mit geringem Fieber, munter, wie einst in ihren gesunden Tagen und von Tatkraft erfüllt. Sie liess sofort den Notar kommen, es sollte kein Geld gespart werden, die Hausmeisterin durfte einen Fiaker nehmen. Es war, als bereitete sich die Matzner zum Tod so vor, wie andere zu grosseren „Transaktionen". Sie liess sich eine blaue Nachthaube reichen und das Nachtkamisol mit der blassblauen Borde. So empfing sie den Notar. Sie fragte ihn zuerst, was mit dem Geld geschehen sein moge, dass in der Bank des seligen Ephrussi gesteckt hatte — und der Notar beruhigte sie: es gab gar keine Gefahr. Das Geld war sicher. Die Matzner verlangte nun, dass der Notar ein Testament aufsetze, und sie machte die Angaben, dem Versprechen getreu, das sie gestern nachts dem Pfarrer gegeben hatte. Der Notar notierte auf ein Blatt Papier, zog Tinte und Feder aus seiner Ledertasche und setzte sich an den Tisch. Er schrieb zuerst der üblichen Formeln mit seiner langsamen, bedachtigen wie gestochenen Schrift. Als er zu den Ziffern kam, wandte er sich um und fragte die Frau Matzner: „Ist es Ihnen auch klar, wie gross Ihr Vermogen ist?" Sie wusste es nicht. „Es sind genau", — sagte der Notar und blatterte noch einmal in den Papieren: „zweiunddreissigtausend Gulden und fünfundachtzig Kreuzer. Tausend Gulden haben Sie vor zwei Wochen bei Ephrussi abgehoben!" „Wieviel?" fragte die Matzner. „Zweiunddreissigtausend, fünfundachtzig!" wiederholte der Notar. So viel Geld und sie musste sterben! Warum war sie überhaupt krank geworden? War die ganze Krankheit nicht nur ein wüster Traum? Was wissen schon die Doktoren? War es nicht lediglich ein grauenhafter Schrecken infolge des Todes Ephrussis? Wer sagte, dass sie überhaupt sterben müsste? Wo stand es geschrieben? Und wenn sie noch zwanzig, oder sagen wir, nur noch zehn Jahre zu leben hatte — war da noch nicht Zeit genug, ein Testament zu machen? „Sind Sie sicher, Herr Notar?" — fragte sie. „Ganz sicher", bestatigte er. — Sie lehnte sich in den Kissen zurück und dachte eine Weile nach, eine sehr, sehr lange Weile, wahrend der Notar geduldig die gezückte Feder einen Zentimeter über dem Papier hielt. Sie hatte sich endlich entschlossen. Sie stützte sich auf und sagte, ein bisschen verschamt: „Ich möchte nur die tausend Gulden hinterlassen, die ich hier im Hause habe, vorlaufig! Wenn's nötig ist, werd ich Sie nochmals bitten lassen. Zu drei Teilen, Herr Notar! 300 für die Armen, 300 für die Kirche, 300 für die Mizzi Schinagl. 100 bleiben für allerhand Kosten . Sie wusste nicht, was „allerhand Kosten" sein mochten, sie sagte es so hin. Es schien ihr, dass sie damit den Eindruck einer gewissen Grosszügigkeit erweckte. „Allerhand Kosten!" sagte der Notar, „das muss man spezifizieren." Und er schlug vor: „Leichenbegangnis und Grabstein!" Zwei Worte, die der Matzner, der eben noch todbereiten, in diesem Augenblick fürchterlich klangen. Und schon schrieb er, der Notar, langsam, aber auch unerbittlich. Undurchsichtig war sein Körper, sein Kopf, sein Angesicht. Er mochte sich allerhand denken — oder auch gar nichts. Er war ein Beamter, er war ein versperrtes Amt. Was weiss man, was alles in einem verschlossenen Amt vorgeht, in einem kaiserköniglichen Notariat? Die Matzner hielt den Atem an. Sie kostete die ganze Feierlichkeit des Vorgangs aus und zugleich ihre heimliche Gewissheit, dass sie noch langere Zeit zu leben hatte. Sie machte sozusagen ein Probesterben. Alle Welt — der Hochwürdige Herr von gestern mitinbegriffen —• freute sich schon auf ihren Tod. Sie allein wusste, dass sie noch am Leben bleiben würde. Und was sollte das für ein Leben werden! Das Leben einer Neugeborenen, aus dem Jenseits Heimgekehrten! „Und der Rest Ihres Vermogens?" — fragte der Notar. „Darüber sprechen wir noch!" — sagte die Matzner. Sie unterschrieb mit der Feder, die ihr der Notar hinhielt. Er packte das Papier umstandlich in ein dickes leinengefüttertes Couvert. Dieses versiegelte er. Kerze und Siegellack holte er aus der Aktentasche. Vor der brennenden Kerze, die an Tod erinnerte, schloss die Matzner die Augen. Sie öffnete sie erst, als sie den Notar pusten hörte. „Auf Wiedersehn!" — sagte der Notar. Sie lachelte ihm zu. Sie ass eine Graupensuppe, mit starkem Appetit, und verlangte selbst nach etwas festerem. Ein grosses Verlangen nach einem Gulasch und einem Krügl Okocimer überkam sie. Sie war nicht krank, gar nicht krank. Sie gedachte nur noch eine Weile, ein, zwei Tage noch, eine Kranke zu spielen. Am Abend aber, als der Doktor wiederkam, erkannte sie ihn nicht. Schweiss stand in dicken Perlen auf ihrer Stirn. Die Haube drückte mit dem strammen Gummiband. Sie hatte das Gefühl, als trüge sie eine Krone, und sie bat flehentlich: „Nehmt mir die Krone ab!" — und in der verschwommenen Erinnerung an die gestrige Absolution fügte sie hinzu: „Die Dornenkrone!" — Aber man hatte nicht acht auf das, was sie sagte. Das Thermometer zeigte 40 Grad. Plötzlich schrie sie auf. Sie fühlte einen schneidenden Schmerz im Rücken, als wenn man ihr ein Schwert, doppelt geschliffen, durch die Rippen gestossen hatte. Sie öffnete weit den Mund, der Atem ging ihr aus, sie wollte etwas rufen: Luft oder Fenster aber sie vergass es sofort. Es wurde ihr sehr heiss, eine unnennbare Furcht ergriff sie, sie trommelte mit den Fingern auf der Bettdecke. Sie verdrehte die Augen. Der Doktor schickte die Schwester nach Sauerstoff in die Apotheke, er bereitete die Morphiumspritze vor. Die Schwester kam, mit den Ballons. In diesem Augenblick erhob sich die Matzner im Bett und fiel sofort wieder zurück. Ein leichtes Zucken bewegte ihre Augenlider, und auch ihre Finger flatterten auf der Bettdecke. Dann fiel ihre rechte Hand über die Lehne. Der Friede kam über die Josephine Matzner. Man begrub sie an einem der ersten regnerischen Tage dieses Herbstes. Es war ein Leichenbegangnis dritter Klasse, 2 Rappen ohne galonierte Diener. Den Vorschriften gemass veröffentlichte der Notar in den Zeitungen die übliche Notiz: „Erben gesucht!" Es meldete sich zwei Monate spater ein Neffe der Matzner, Hopfenbauer in Saaz, wohlhabend und ohne jedes Gefühl der Dankbarkeit gegen das Schicksal wie gegen die Tante. Die „weibliche Strafanstalt" in Kagran bekam die Mitteilung, dass der Haftling Mizzi Schinagl als Erbin der verstorbenen Ledigen Josephine Matzner in den Besitz von dreihundert Gulden gekommen zei. Die Notiz in den Zeitungen las der Polizeireporter Lazik. In seinem einfallsreichen Gehirn formte sich ein ganz bestimmter Plan. Er sprach darüber mit seinem Freund, dem Oberinspektor Sedlacek, am Schottenring, im Café Wirzl. XIX. Weit und breit herrschte ein tiefer, geradezu grausam tiefer Friede, und die offizielle Polizeikorrespondenz, die auch noch die banalsten Vorfalle mitzuteilen pflegte, umfasste kaum zweieinhalb Seiten taglich. Das Kartell der Polizeireporter sass niedergedrückt im Café Wirzl, erschöpft von der unertraglichen Ruhe, gelahmt von dem ereignislosen Frieden und ohne die geringste Hoffnung auf eine Sensation. So oft die Tür aufging, blickten die Manner von ihren Karten auf. Wenn einer der Geheimen eintrat, die bei Wirzl aus- und eingingen, sah man ihm mit angespannten Blieken entgegen, als könnten die Augen schon erlauschen, was die Ohren noch nicht vernahmen. „Gibt's was?" fragten fünf, sechs Manner auf einmal. Der Geheime nahm den steifen Hut nicht ab; ein Zeichen, dass er sich nicht zu setzen gedachte, dass er nichts zu erzahlen hatte. Die Köpfe senkten sich wieder in trostloser Lethargie über die Karten. Der einzige Reporter Lazik nur verfolgte im Stillen eine ganz bestimmte Idee. Es war ihm nichts anzusehn. Auch er tat so, als ob er genau so wie die anderen ermattet ware, von der Aussichtslosigkeit in diesen miserabel ruhigen Zeiten. Indesen aber spann er Faden um Faden, flocht sie zu Maschen und zertrennte sie wieder, knüpfte Entlegenes zu brüderlichen Knoten, schnitt andererseits auch wieder auseinander, was eigentlich zusammenhing, denn er brauchte die einzelnen Glieder einer bestimmten Gedankenfamilie für andere Ketten, Bande und Verwandtschaften. Er allein spürte einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Bankiers Ephrussi und dem der Josephine Matzner. Wenn er sich recht erinnerte, so hatte seinerzeit der Bankier Ephrussi die berühmten Perlen der Schinagl belehnt und sogar wahrscheinlich nach Antwerpen verkauft. Direkte Zusammenhange zwischen Perlen, Persien, dem Schah, der Matzner, dem Ephrussi und der Schinagl konnte man zwar keineswegs herstellen, aber gerade die indirekten waren ja der Mühe wert und versprachen Erfolg. Ferner war damals in den unappetitlichen Betrug, dessen Opfer der törichte Muselmann geworden war, auch der Baron Taittinger verwickelt. Gut, dass die selige Matzner noch kurz vor ihrem jahen Ende im Café Wirzl gewesen war! Der „Stoff" war reichlich vorhanden. Lazik aufpassen! — sagte Lazik. Eines Vormittags, wahrend sie so bei ihrem depressivem Tarock sassen, tat Lazik von ungefahr einen schweren Seufzer. „Was ist los?" — fragte Keiler „willst Du wieder Gedichte schreiben?" Es war eine Beleidigung in diesem Kreise. Es gab noch ein paar Journalisten, die sich an einen verschollenen Gedichtband Laziks erinnerten. „Man wirdwirklich wehmütig", sagte Lazik, „wenn man so an den Tod denkt. Wie lang' ist es eigenlich her, dass die gottselige Matzner dagesessen is, und jetzt nagen schon die Würmer an ihr. Das viele Geld, das sie hinterlassen hat!" — Die anderen nickten nur. „Es war Zeit, dass sie stirbt — sagte Sedlacek. „Es waren neue Zeiten. Da hat sie nicht mehr hineingepasst. Das Haus in der Zollamtsstrasse hat ihr den Rest gegeben. „Der Höhepunkt ihres Lebens" — sagte Lazik — „war der Schah. Erinnerst Dich an die Perlen? Wo sind die eigentlich hingekommen?" „Bei Ephrussi antwortete Sedlacek. „Und auch der ist schon tot!" „Ja, wenn wir jetzt so eine Geschichte hatten" — begann wieder Lazik. „Kommt der Schah nimmer wieder?" — „Ich glaub', es war im „Fremdenblatt" schon die Rede von ihm, der Doktor Auspitzer hat einmal schon davon in der Redaktion gesprochen". — „Uns ist nichts bekannt sagte Sedlacek. Er sprach das „Uns" sehr nachdrücklich betont, beinahe feierlich aus. „Ephrussi hat die Perlen sicher verkauft?" fragte Lazik harmlos, rief gleich darauf: „König! Bube!" und klatschte die Karten auf den Tisch, um in diesem Gerausch die Wichtigkeit untergehen zu lassen, die er seiner Frage beimass. ,,Er hat sie dem Gwendl in Kommission gegeben. Monatelang waren sie im Schaufenster. Ich hab' sie mir oft angeschaut, mit unserem Juwelenspezialisten, Inspektor Farkas. Eines Tages waren sie weg!" Das Gesprach erstarb. Man spielte weiter. Die gewohnte Apathie senkte sich wieder über das Café wie eine schwere Sommerschwüle zurückkehrt nach einem kleinen trügerischen und folgenlosen Windchen. Lazik verlor fünfundzwanzig Kreuzer an Keiler. Er hatte verlieren wollen. Er war aberglaubisch. Vor jeder schwierigen Aufgabe opferte er den Göttern. Er erhob sich plötzlich. „Ich bin heut' eingeladen" — sagte er. Und schon war er, ohne Gruss, verschwunden. Er ging zuerst in die Wasagasse, um seine Freunde zu tauschen, denn er wusste, dass es ihre Natur war, wie ja auch die seine, vor die Tür zu treten, und dem Fortgehenden nachzuspahen, um wenigstens die Richtung zu kennen, die er eingeschlagen hatte. Dann bog er in die Wahringerstrasse ein, sprang auf die Pferdebahn, erreichte den Opernring und stieg ab. Er ging in die Karntnerstrasse zum grossen Juwelier Gwendl. Er verlangte Herrn Gwendl persönlich zu sprechen. Herr Gwendl kannte ihn wohl. Er sass im Hintergrund des Ladens, im schmalen grüntapezierten Kontor vor schwarzen Kasten und Kastchen, die ihre sanftendunkelblau samtenen Rachen zeigten, und alle glitzernde, schimmernde, jubelnde Pracht, die sie verschlungen hatten. Er verschloss alle Etuis, legte die Lupe weg und empfing den Redakteur Lazik. „Habe die Ehre, Herr Kommerzialrat!" — sagte Lazik. „Herr Redakteur!" — sagte der Kommerzialrat Gwendl. „Womit kann ich Ihnen dienen? Zigarre gefallig? Bitte, Platz zu nehmen" — und wahrend der Kommerzialrat sich bückte, um aus der unteren Lade die Virginier herauszuholen — die Trabukos lagen in der oberen für bessere Gaste bestimmt, Geschaftsfreunde und Kunden von Adel zum Beispiel beobachtete er mit einem wachsamen Auge die Hande Laziks. Und er atmete auf, als endlich die Zigarrenkiste auf dem Tisch stand. Man redete zuerst von Neuigkeiten, deren es wemg gab, in diesen stillen Zeiten. Es sei denn, dass man in der Redaktion des „Fremdenblatt letzthin von einem neuerlichen Besuch des Schahs von Persien gesprochen hatte. Die Erwahnung dieses Souverans erweckte im Kommerzialrat Gwendl höchst angenehme Erinnerungen. Sie bezogen sich auf die Perlenkette der Schinagl, die Ephrussi dem Gwendl in Kommission gegeben hatte. Im Laden hatte sie lange vergeblich gewartet. Der Kommissionar Heilpern aus Antwerpen hatte sie schliesslich mitgenommen. Der Juwelenhandler Perlester hatte sie gekauft. 2000 Gulden hatten sie verdient, zu zweit. Fünfzigtausend Gulden waren die Perlen wert gewesen. Für sechzigtausend so sagte man in Fachkreisen — hatte sie der Perlester verkauft. Tausend Gulden waren immerhin keineswegs zu verachten. Ja, da kam also der Schah von Persien wieder. Nun, weiss Gott, es konnte noch einmal etwas zu verdienen geben. Der Kommerzialrat Gwendl wurde heiter. „Herr Kommerzialrat wissen vielleicht begann Lazik — er begann gewöhnlich in der dritten Person — „Herr Kommerzialrat wissen wahrschein- lich, wo diese berühmten Perlen geblieben sind?" Der Kommerzialrat erzahlte, was er wusste. Aber er versprach, sich bei dem Kollegen Perlester nach dem weiteren Schicksal der Perlen zu erkundigen. In einer Woche konnte Lazik genauere Auskunft holen. Man sprach noch von Wind und Wetter, von der Hofgesellschaft und vom schlechten Gang der Geschafte, in dieser Jahreszeit, wo doch sonst, in allen vergangenen Jahren, das Geschaft „geblüht" hatte, wie Gwendl sagte. ,,Nun, bald ist Weihnachten!" — sagte Lazik. Und er schied mit dieser Feststellung von dem getrösteten Juwelier, der langsam zu hoffen begann, dass der mohammedanische Schah just und ausgerechnet zu den christlichen Festtagen nach Wien kommen könnte. Seine offenen Augen sahen ein Traumland, einen Oriënt voller Weihnachtsbaume. Nach einigen Tagen wusste Lazik, welchen Weg die Perlen des Schahs genommen hatten. Aber er beschloss, den Lesern der ,, Kronenzeitung" nicht sofort und etwa auf eine so plumpe Weise, wie es sein phantasieloser Kollege Keiler getan hatte, die ganze Geschichte vorzutragen. Diese Geschichte musste, im Gegenteil, sorgfaltig komponiert werden; komponiert musste sie werden. Er kündigte eine Serie von Artikeln an, unter dem Titel: „Die Perlen von Teheran. Hinter den Kulissen der grossen Welt und der Halbwelt". Er begann mit einer einfachen Feststellung, wie es gelegentlich oft bedeutende Romanciers zu tun pflegen: namlich mit 9 der Nachricht, dass Josephine Matzner — Lazik schrieb: ,,eine gewisse Josephine Miitzner kürzlich gestorben sei. Und nach der üblichen rhetorischen Frage: „Wer war diese Josephine Matzner?" erfolgte die Beschreibung des Hauses, seit seiner Gründung im Jahre 1857, seiner Pensionarinnen und seiner Besucher und Stammgaste aus der grossen Lebewelt, ohne Namen allerdings, aber mit unmissverstandlichen Kennzeichnungen. Die Serie dieser Artikel wurde gleichzeitig in kleinen Heftchen verkauft, im Zeitungsdruck zwar, aber mit einem bunten Umschlag, auf dem ein sympathisch halbentkleidetes Madchen auf einer giftgrünen Chaiselongue zu sehen war. Sie war ganz Buntheit und Erwartung. Sie lag da, matt und angriffsbereit zugleich. Die Hefte wurden in den Tabaktrafiken und in Papierladen verkauft. Gymnasiasten, Naherinnen, Waschermadchen und Hausmeister kauften, selbst wenn sie die Artikel in der „Kronenzeitung" bereits gelesen hatten. Es war lange noch keine Rede von den Perlen, die der Titel jeden Tag verhiess. In diesen Wochen kam Lazik nur für ein paar Minuten taglich in das Café Wirzl. Er konnte die Kollegen und die Geheimen nicht recht leiden. Er spürte, dass sie ihn ein wenig beneideten, aber auch, dass sie ihn nicht mehr wie einen völlig Gleichberechtigten behandelten. Sie waren keine „Dichter . Sie entfalteten keine „Phantasie". Sie hatten „Nachrichten", grosse, kleinere, sensationelle, aber niemals ,,Geschichten . In Zeiten der Dürre, wie sie jetzt herrschten, klaubten sie bescheiden die bescheidenen Tagesneuigkeiten auf, eine Messerstecherei, eine Geburt von Drillingen, einen Fenstersturz aus dem vierten Stock. Lazik hatte geradezu einen Verrat an dem Metier begangen. Er kam nicht einmal als Kiebitz beim Tarock noch in Betracht. Er hatte oft davon getraumt, auf einmal Geld zu verdienen und den Beruf aufzugeben. Er naherte sich den Sechsundfïinfzig, er hatte nur noch wenig Zahne im Mund, und sein Kopf war kahl. Seine Frau war in jungen Jahren gestorben, seine Tochter lebte bei seiner Schwester in Podiebrad. Er hatte keine Sorgen, aber Nöte, kleine Schulden, peinliche Glaubiger, Zinsen, die gefahrlich anschwollen, Kellner, die nicht mehr kreditierten. Ach! und seine Seele dürstete nach den Köstlichkeiten, die in den oberen Spharen vorhanden waren. Er liebte das teure Leben, die Rennen, die stillen Restaurants, in denen die stolzen Kellner bedienten und die stolzen Herrschaften mit kühlen Gesichtern, herben und massvollen Gebarden, Speiseund Trank genossen, um dann in geschlossenen Kutschen heimzukehren in ihre noch kühleren, noch mehr geschlossenen Hauser. Immer, wenn Lazik das Café Wirzl verliess, die Geheimen und die Kollegen und die fettigen Spielkarten und den Geruch aus Kaffee, Okocimer, billigen Zigarren und warmen Salzstangeln, schien es ihm, dass er sich etwas vergeben habe und dass er eigentlich gesunken sei. Es war klar: sein Weg hatte nach unten geführt: vom Dichter, der sogar ein Stück im Burgtheater eingereicht hatte, über den Gerichtssaalstenographen zum Polizeireporter, der in Fachkreisen „Unterlaufel" genannt wurde. Zum ersten Mal seit dreissig Jahren stand der Name Bernhard Lazik gedruckt — nicht einmal in der Zeitung, sondern auf dem bunten Titelblatt der kleinen Heftchen. Lazik schickte sie seiner Schwester und seiner Tochter nach Podiebrad. Was blieb von ihm übrig? Eine Notiz in Nonpareille in der „Kronenzeitung": „Gestern verschied unser langjahriger Mitarbeiter ..." und Schluss. Und ein paar Ellen auf dem Wahringer Friedhof. Das „Kabinett das er in der Rembrandstrasse bewohnte, war nicht viel geraumiger. Auch war es nicht heller als ein Grab, denn es „ging" in den Hausflur. Sparen hatte er niemals gekonnt. Kr verlor das Dürftige, das er verdiente, beim Rennen und im Spiel. Manzahlte ihm zwei Kreuzer die Zeile. Ein „Coup ! sagte er sich manchmal — Lazik, nur ein einziger „Coup ! Nach ein paar Tagen, in denen er sich sehr einsam vorkam und sogar ein wenig bitter wurde, weil es ihm schien, dass nicht er seine Bekannten zu meiden angefangen hatte, sondern umgekehrt, dass er von ihnen gemieden werde, begann er, jeden Morgen in der „Sicherheit" die Meldezettel der neuangekommenen Hotelgaste zu studieren. Von allen „Oberen Zehntausend" die heimisch gewesen waren im Hause der Matzner, interessierte ihn lediglich der Baron Taittinger. Noch wusste Lazik nicht genau, unter welchem Vorwand er zum Rittmeister kommen würde; noch auch, was er ihm eigentlich vorschlagen wollte. Er wusste nur, dass er mit Taittinger würde sprechen müssen; ferner, dass am fünfzehnten November die dreihundert Gulden fallig waren, die er dem Brociner, dem „Blutsauger" schuldig war. In diesen Tagen war es Lazik, als befande er sich auf einem Kreuzweg seines Lebens. Ein formloser Grössenwahn umnebelte sein Gehirn und liess ihn zuweilen glauben, dass er jetzt oder niemals seine entscheidenden Entschlüsse zu treffen habe. Eines Tages fand er tatsachlich in der „Sicherheit den Meldezettel des Rittmeisters. Er wohnte, wie immer, im „Imperial". Lazik machte sich sofort auf den Weg, ehe er noch recht wusste, was er dem Baron zu sagen haben würde; ja, ehe er sich noch dessen bewusst geworden war, dass er wirklich den Weg zum Hotel Imperial eingeschlagen hatte. Er hatte ein paar seiner bunten Heftchen in der Tasche und er zog sie unter- wegs immer wieder hervor, betrachtete seinen Namen auf dem Titelblatt. Schwarz und fett stand er knapp unter dem giftgrünen Sopha, auf dem das Madchen ruhte. Er dachte auch an die dreihundert Gulden, die am fünfzehnten November fallig waren. Und der „Blutsauger Brociner" erschien ihm hasslicher und gefahrlicher als sonst, obwohl er ihn seit zwei Jahren genau kannte und die Kunst besass, ihn zu besanftigen — „ihm die Giftzahne auszubrechen" — wie er es nannte. Es war dem Baron Taittinger überaus unangenehm, Besuche zu empfangen. Er liebte die ihm bekannten Personen nicht sonderlich, sie waren meist langweilig. Auch die nicht-langweiligen konnten zumindest „fad" werden, wenn man sich nicht auf sie gehorig vorbereitet hatte. Als man ihm die Visitkarte Laziks reichte, erschrak er zuerst. Eine ausserst peinliche Vorstellung erweckte in ihm schon der Name: Lazik allein. Unter dem Namen Bernhard Lazik stand das Wort: „Redakteur". Es war einer jener Berufe, die der Baron Taittinger für „ominöse" hielt. Ausser der Armeezeitung las Taittunger kein Blatt. Ja, wenn er gelegentlich in einer Tabaktrafik Zigaretten einkaufte, musste er den Bliek abwenden von den hasslich aufgestapelten, nach frischer Druckerschwarze penetrant riecbenden Zeitungen. Er wusste nicht genau, was sie enthielten und wozu sie eigentlich vorhanden waren. Wenn er gelegentlich in einem Café einen jener Herren sah, die vor einem Berg eingespannter Zeitungen sassen, erfasste ihn beinahe Zorn. Jetzt sollte er sogar einem leibhaftigen Redakteur begegnen! Unausdenkbar! Er legte die Visitkarte wieder auf die metallene Platte und sagte zum Ober: ,,Ich bin nicht zu sprechen!" — Er atmete auf. Aber es vergingen kaum drei Minuten, und schon stand vor ihm ein Mann, kahlköpfig, mit aschgrauem Angesicht und einem grauen, trist herabhangenden Schnurrbart. „Ich bin der Redakteur Bernhard Lazik" — sagte der Fremde. Seine Stimme war gebrechlich, und erinnerte den Rittmeister an ein wehmütiges verstimmtes Spinett, auf dem er irgendwer, irgendwann, in seiner Kindheit vielleicht, gespielt haben mochte. „Was wollen 's denn von mir?" — fragteTaittinger. „Ich möcht', Herr Baron mochten mich anhören" — antwortete Lazik. „Im eigenen Interesse" — fügte er hinzu, noch leiser, beinahe schon weinerlich. „Ja, — und?" sagte Taittinger — und er war entschlossen, überhaupt nicht zu hören. „Wenn Herr Baron gestatten", begann Lazik, „die Geschichte ist nicht einfach. Es handelt sich um eine polizeiliche Angelegenheit, im Vertrauen gesagt ■ „Ich wünsche nichts Vertrauliches" — unterbrach der Rittmeister. Obwohl er sich vorgenommen hatte, gar nicht zuzuhören, musste er doch jeden Laut dieses wehmütigen Mannes in sein Ohr dringen lassen. Eine merkwürdige Kraft hatte diese Stimme. „Vertrauen, Herr Baron, hab' ich auch nicht sagen wollen" — sprach die Stimme weiter. „Da ist namlich vor kurzem die gewisse Josephine Matzner gestorben der Name schlug mit einiger Wucht an das Ohr Taittingers, er empfand ihn wie den Anprall eines körperlichen Gegenstands an die Schlafe. „Ah, die ist gestorben? fragte er. Eine kleine Freude leuchtete in Laziks Augen auf. „Gestorben" fuhr er fort, „und ehe man es noch glauben konnte! Und der Schinagl, die jetzt sitzt, hat sie eine Kleinigkeit hinterlassen. Viel zu wenig bei dem grossen Vermogen." Lazik schwieg eine Weile. Er wartete. Der Rittmeister sagte zwar nichts, aber er verriet so deutlich ein interessiertes Schweigen, dass Lazik sich geradezu aufgemuntert fühlte. Seine Stimme wurde starker. Er stand zwar immer noch vor dem Tischchen, in der Halle und glich immer noch einer Art von Dienstmann, aber er wagte doch schon, mit beiden Handen die lederne Lehne des leeren Stuhls anzufassen. Es war, als dürfte er jetzt wenigstens schon seine Hande Platz nehmen lassen. Taittinger bemerkte es, unwillig zuerst, aber im nachsten Augenblick auch schon nachsichtig. Er gestand sich zwar noch nicht, dass ihn der ominöse Mensch interessierte, wenn auch in einer lastigen Weise. Aber er fand, dass es auffallend werden könne, wenn der Kerl noch lange aufrecht bliebe. Und er sagte: ,,Setzen Sie sich!" Lazik sass bereits. Er hatte sich so hurtig hingesetzt, dass Taittinger seine Einladung bereute. Sein silbernes Zigarettenetui lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Er hatte Lust, sich eine Zigarette anzustecken, aber da sass nun dieser Kerl — musste man ihm nicht auch eine anbieten? Taittinger wusste genau, wie man Gleichgestellte, Höhergestellte, Subalterne und Diener behandelt; mit Redakteuren aber konnte er sich keinen Rat schaffen. Er entschloss sich, nach langerer Ueberlegung, zuerst selbst eine Zigarette anzuzünden und dann erst dem Redakteur eine anzubieten. Lazik rauchte langsam und ehrfürchtig, als ware just diese „Aegyptische" ein besonders köstliches Kraut. Er zog seine Heftchen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. „Die geb' ich jetzt heraus, Herr Baron!" — sagte er „bitte, nur den Anfang anzuschaun!" — „Ich les' keine Büchl'n!" — sagte Taittinger. „Dann darf ich wohl vorlesen?" fragte Lazik. Und ehe noch eine Antwort erfolgte, begann er zu lesen. Jetzt is schon eh alles gleich — dachte Taittinger. Aber, siehe da; gleich nach dem Satz: „Wer war diese Josephine Matzner?" wurde er neugierig wie ein Kind. Mit unverhohlenem Vergnügen beugte er sich vor, vernahm die Geschichte von der Gründung des Hauses Matzner, und an den charakteristischen Kennzeichen, die der Verfasser den Anfangsbuchstaben der Stammgaste beigefügt hatte, erkannte er zu seiner grossen Freude den und j enen seiner früheren Freunde und Genossen, die „Langweiligen", die „Gleichgültigen" und die „Charmanten". Wenn Lazik eine Pause machte, und bescheiden, fast bekümmert fragte. ,,Darf ich weiter?" — munterte ihn Taittinger auf. "Lesen 's nur, lesen 's nur Herr". — „Dies ist die erste Folge!" — sagte der Autor, als er das erste Heftchen vorgelesen hatte. „Verkaufen s mir die Büchln! sagte der Rittmeister. — „Herr Baron erlauben, dass ich sie gratis offeriere" — sagte Lazik, und schon klopfte er an den metallenen Tischrand mit einem Bleistift und befahl dem Kellner: „Tinte und Feder!" Und schon stand alles da, und Lazik tauchte die Feder ein und schrieb in jedes der drei Heftchen die Widmung: „Herrn Rittmeister Baron Taittinger ehrfurchtsvoll gewidmet vom Verfasser Bernhard Lazik . „Dank' schön!" — sagte der Baron. „Schicken s mir die nachsten. Ich les' sie gern." „Sehr geschmeichelt, Herr Baron' erwiderte der Verfasser. „Aber es ist ein Problem, ich zerbrech' mir den Kopf, wie ich die Bücher weiter fortsetzen soll." „Aber, wie denn?" — rief Taittinger. „Sie sind ja grossartig unterrichtet, eingeweiht, möcht man sagen! „Gewiss, gewiss, Herr Baron" — antwortete Lazik. „Aber das kost' halt was, und ich such' eben Interessenten! Ich such', kurz gesagt, etwas Geld, um meine angefangene Arbeit fortsetzen zu können. Ja, das Leben für unsereins ist schwer!" Lazik seufzte. Sein Kopf fiel auf die linke Schulter. Taittinger hatte Mitleid mit ihm, er bot ihm eine Zigarette an. Der Kerl ist gar nicht langweilig — dachte er. „Wieviel brauchen's denn für Ihre Bücheln?" fragte er. Lazik dachte zuerst an tausend Gulden, und ein jaher froher Schreck durchzuckte sein Herz. Dreihundert Gulden dem Blutsauger Brociner, dann blieben siebenhundert, es war ein „Coup", es war der „Coup", Lazik! Gleich darauf verdoppelte seine habsüchtige Phantasie die Summe. „Zweitausend!" — sagte die Phantasie. Er sah die Summe in Ziffern und in Buchstaben, geschrieben und gedruckt und als bares Geld in zwanzig blauen Hundertguldenscheinen. Er fühlte, wie seine Hande heiss und feucht wurden und gleichzeitig einen Frost, die ganze Wirbelsaule entlang, einen eisigen Faden. Er zog das Taschentuch, eine Bewegung, die Taittinger missfiel und vor der er am liebsten die Augen geschlossen hatte, trocknete die Hande unter dem Tisch und flüsterte: „Zweitausend, Herr Baron!" „Zweitausend Gulden kostet das?" — fragte Taittinger. Er kannte nicht genau den Wert des Geldes, aber er wusste zum Beispiel, was ein Pferd kostete, was eine Uniform, was ein Fass Burgunder, was ein Fasschen „Napoleon". Vor Jahren hatte er einmal tausend Gulden in Monte Carlo verloren. Aber so kleine dünne „Bücheln"! — Nun, der Kerl war nicht langweilig; das nicht! Wenn er noch die Leute mit Namen nennen würde!" Das ware was! „Ja, warum nennen's denn die Leut' nicht mit Namen, sondern nur mit Anfangsbuchstaben?" — fragte der Rittmeister. „Weil dann, weil dann Herr Baron — Herr Baron selber drin vorkommen müssten!" flüsterte Lazik. „Naturlich, ich nicht!" — sagte Taittinger. Nie in seinem Leben — das ihm übrigens in diesem Augenblick sehr lang erschien und reich an Erlebnissen — hatte er Hass empfunden. Plötzlich aber, jetzt, in dieser Stunde, fühlte er zum ersten Mal Wollust in der Vorstellung, dass der und jener der ihm verhassten „Langweiligen" in einem so hübschen bunten BücKl mit Namen und Rang verzeichnet stehn könnte; auch Bitterkeit empfand er gegen die „Langweiligen", die ihn von Wien, in die Garnison zurückversetzt hatten. Es war eine unschuldige, kindliche Bitterkeit, ein Witz, eine Laune eher als ein Hass. — „Ich kann auch die Herren nennen, wie Herr Baron wünschen!" sagte Lazik. „Gut!" — sagte der Baron. „Grossartig!" Lazik blieb still. Sein Herz klopfte gewaltig, seine Glieder waren plötzlich schwer wie Blei und zugleich fühlte er doch, wie seine Gedanken leicht, verwirrte Vogelschwarme, in seinem armen Kopf herumschwirrten. Sie schwirrten herum, zweitausend Gedanken, jeder Gedanke ein Gulden, zweitausend Gulden. Der Baron Taittinger fragte: „Zweitausend, was?" „Jawohl, Herr Baron!" hauchte Lazik. „Die holen's sich morgen!" sagte Taittinger. Lazik stand mühsam auf. Er verneigte sich tief und murmelte: ,,Zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet, Herr Baron!" „Grüss Gott!" — sagte Taittinger. Er steckte die drei Heftchen in die Tasche. Nach gewohnter Weise, wie er es schon oft getan hatte, depeschierte er an den „langweiligen" Oekonomen: „2000 Imperial". Die zweitausend kamen, aber mit einer Begleitdepesche: „Befohlenes anbei, dringlicher Brief unterwegs." Diese Depesche zerris der Baron aus unüberwindlichem Ekel vor der Wendung: „dringlicher Brief . Er steckte das Geld in ein Couvert, befahl dem Portier, es dem „Herrn von gestern nachmittag" auszuhandigen, und stieg in einen Zweispanner. Er war lange nicht mehr in Grinzing gewesen. Morgen musste er in die Garnison zurück. XX. Sonst pflegte Taittinger in der Eisenbahn sofort einzuschlafen. Heute las er in den Heftchen Laziks, und sogar in der ersten Nummer, die ihm der Verfasser ja bereits vorgelesen hatte. Er steilte sich vor, dass alle Welt diese Heftchen mit dem gleichen begeisterten Behagen lesen müsste. Morgen wollte er im Regiment von seiner literarischen Entdeckung erzahlen und eventuell im Kasino einiges vorlesen, freilich in Abwesenheit des Obersten. Unter solch heiteren Gedanken verging die Zeit bis zur Ankunft in die Garnison. Es war Abend, als er ausstieg. Ein dünner langweiliger und kalter Regen rieselte sacht und zudringlich hernieder und umgab die armseligen gelblichen Petroleumlampen auf dem Perron mit einem nassen Dammer. Auch im Wartesaal erster Klasse lauerte eine seelenbedrückende Trübnis, und die Palme auf dem Büfett liess die schweren schlanken Blatter hangen, als stünde auch sie im herbstlichen Regen. Zwei Gaslampen, Neuerung und Stolz der Bahnstation, hatten schadhafte Netze und verbreiteten ein ewig wechselndes grünlichtrübes Licht. Ein jammerliches Surren ging von ihnen aus, ein Wehklagen. Auch die weisse Hemdbrust des Ober Ottokar zeigte verdachtige Flecke unbekannter Herkunft. Der metallene Glanz des Rittmeisters brach siegreich in all diese Trübsal. Der Ober Ottokar brachte einen Hennessy ,,zur Erwarmung" und die Speiskarte. ,,Heut gibt's Suppe mit Leberknöderln, Herr Baron!" — ,,Halten's die Goschen!" — sagte Taittinger fröhlich. Immer, wenn er dergleichen sagte, wünschte er eigentlich das Gegenteil, und das wusste Ottokar auch. Deshalb bot er auch noch ein mürbes Beinfleisch mit Kren an und Zwetschkenknödel, extra gekocht. „Die Goschen halten und servieren! sagte Taittinger. Der Kognak erheiterte ihn noch mehr und verstarkte seinen Appetit. Er erhob sich, um jetzt erst seinen Mantel abzulegen. Ottokar eilte hinzu. Aus der rechten Manteltasche lugten die bunten Rander der Lazikschen Werke hervor, Ottokars lüsternes Auge erhaschte sie sofort. „Geschichten aus der grossen Welt und aus der Halbwelt" — erlaubte sich der Ober zu sagen. Wenn der Rittmeister einmal „Halten's die Goschen!" gesagt hatte, durfte man mit ihm über Alles sprechen. „Ah, Sie lesen auch, Ottokar?^ fragte Taittinger. „Jeden Morgen die „Kronenzeitung , Herr Baron, erlaube mir ergebenst zu bemerken! Da stehn die Geschichtn eh' drin, und frischer noch, direkt wie vom Backer!" „Ah, so, ach so" — sagte Taittinger nur. Er ass mit gesundem Vergnügen, fand das Beinfleisch „famos und die Zwetschkenknödel „direkt interessant , trank zum Schwarzen einen Sliwowitz und beschloss, vorlaufig im Wartesaal sitzen zu bleiben, bis zur Ankunft des Wiener Abendzuges, der erst um 11 Uhr 47 kam und manchmal noch den oder jenen verspateten Kameraden brachte, wenn auch meist nur Offiziere des Landwehrregiments, mit dem die Dragoner die Garnison teilten. Es gab manchmal solche Launen, solche Abende. Solange man sich noch auf der Station befand, war man gleichsam noch nicht in die Garnison zurückgekehrt. Es regnete draussen auch ekelhaft. Die Fiaker taugten wenig in dieser Stadt, und das Pflaster war nicht ordentlich. Man blieb lieber sitzen. Ottokar konnte Patiencen legen. Taittinger selbst hielt es für unschicklich. Ottokar legte für ihn, stehend, ihm gegenüber, vorgeneigt und nachdenklich, die Serviette über der Schulter, als war's eine Kelle. Dawischen redete Ottokar. Er war noch jung, er gedachte, „sich zu verbessern", er hatte in Wien Kellner gelernt, er wollte bald nach Wien zurück. In Wien passierten noch Geschichten, wie sie da in den Büchl'n und in der „Kronenzeitung" beschrieben waren. Ja, und manche Herrschaften waren so genau beschrieben, dass man sie sogar erkannte. „Da schau her! Man erkennt sie!" rief Taittinger. Ja, sagte Ottokar. Der Herr Hanfl — es war der Pachter der Bahnhofrestaurants erster, zweiter und dritter Klasse — wüsste alles. Er war seinerzeit, als der Schah Wien besucht hatte, Restaurateur auf der Wieden gewesen. Er kannte das Haus, die Geschichte von den Perlen, der ganze Bezirk hatte damals von nichts anderem gesprochen. „Ja, und sogar Herrn Baron" — sagte Ottokar unbedacht, schwieg und tat so, als dachte er plötzlich angestrengt über den Ausgang der Patience nach. „Was haben Sie da gesagt?" fragte Taittinger. Es half nichts, der Ottokar musste erzahlen. So war es also, man kannte Taittingers Geschichte. Ottokar musste sogar den Restaurateur aus dem Kontor holen. Der Restaurateur, Herr Hanfl, erzahlte Einzelheiten, sagte aber nichts Gewisses über den Baron selbst. Er erzahlte mit dem aufgeraumten Behagen der Menschen, die schon lange auf eine Gelegenheit gewartet haben, um etwas mitzuteilen, was sie allein nur wissen können. „Woher kennen's denn die Geschichte?" — fragte Taittinger schliesslich. Der Restaurateur beugte sich etwas vor — viel zu viel dachte Taittinger — und flüsterte beinahe so, wie man mit eingeweihten Komplizen zu flüstern pflegt: „Der Herr Inspektor Sedlacek ist mein spezieller Freund, Herr Baron!" Auf einmal schien es dem Rittmeister, dass sich die Welt verwandelt habe, oder vielmehr, dass sie sich ihm in ihrer ganzen grauenhaften Gestalt zu entschleiern beginne. In seinem ganzen Leben gab es eine einzige peinliche Affare. Seit vielen Jahren würgte sie ihn, ein ekelhafter harter Bissen, den man nicht verschlucken kann und auch nicht wieder ausspucken. Zu keinem Menschen in der Welt konnte er von dieser Affare sprechen. Jetzt kam sie ihm entgegen, diese Affare, die Bahnhofrestaurateure kannten sie bereits. Wahrscheinlich sprachen auch die Kameraden, zumindest diese hinterhaltigen Landwehroffiziere von der Affare. Die scheussliche Gestalt des Geheimen Sedlacek sah Taittinger, und jenen Augenblick auf der Treppe erlebte er wieder, den leicht gelüfteten Zylinder über dem ordinaren Antlitz mit den glashellen Augen, die an blassblaue Lampchen erinnerten, mit dem hochgezwirbelten Schnurrbart voll sanfter goldbrauner Frechheit, unter dem die starken, langen, gelben Pferdezahne sichtbar wurden. Der Restaurateur sprach noch weiter, aber Taittinger hörte nicht mehr zu. Er vernahm plötzlich, was er bis nun nicht zur Kenntnis genommen hatte, das trübselige Trommeln des Regens auf das glaserne Perrondach und das wehklagende Surren der giftgrünen Gaskandelaber. Ohwohl Hanfl noch mitten im angeregten Erzahlen war, erhob sich Taittinger, liess sich den Mantel anziehn, setzte die Kappe auf, befahl, man möchte ihm Reisetasche und Rechnung zum „Schwarzen Elefanten" schicken und ging fast schon wie ein verlorener Mann hinaus. Ware nicht sein Sporenklirren gewesen, man hatte glauben können, er sei verschamt hinausgeglitten. , . , Die Kaiser-Josephstrasse, die vom Bahnhof geradeswegs in die Mitte der Stadt, zum Rathaus führte, war still, der kalte Regen allein bewohnte sie. Allein mit dem Regen und der Strasse war der Rittmeister Taittinger. Schlimme oder auch nur ernstere Ahnungen und Vorgefühle waren ihm unbekannt gewesen bis zu dieser Stunde. Unangegehme, das heisst: langweilige Stimmungen konnte er in musterhafter Weise leicht verscheuchen. Diesmal gab er sich ihnen preis, wie dem Regen und der Nacht und der Kaiser Josephstrasse. Früher hatte er immer noch, so oft er aus Wien zurückkam, einen kleinen Sprung ins Kasino gemacht, um sich „wieder einzuleben". Heute aber flüchtete er beinahe ins Hotel „Zum schwarzen Elefanten". Die Oberleutnants Stockinger und Felch wohnten auch dort. Taittinger wollte ihnen um keinen Preis begegnen. Er ging sofort in sein Zimmer. Er machte nicht die gewohnte grosse Nachttoilette, die er seit fünfzehn Jahren wie einen erhabenen Ritus zu vollführen pflegte! „Lass das!" sagte er zum Burschen, der in gewohnter Weise Kamm und Bürste, Zahnpasta, Pomade für die Haare, das Netz, das den Scheitel zu bewahren hatte, Vaseline und Kakaobutter auf dem Stuhl auszubreiten begann. Der Rittmeister liess sich nur die Stiefel ausziehn. „Geh' schlafen!" — sagte er dann. Er legte sich aufs Bett, in Hosen, in Strümpfen. Er wagte sich nicht auszuziehn, er verstand selbst nicht, warum er zum ersten Mal in seinem Leben Angst vor der Nacht hatte. Er wollte gleichsam den Tag, den Abend noch ausdehnen. Er hatte Angst vor dieser Nacht. Ich werde ja nicht einschlafen können — dachte er. Aber er schlief sofort ein. Er verfiel in Schlaf, als hatte man ihn betaubt. Dennoch war seine Furcht vor dieser Nacht berechtigt qewesen, denn ihm traumte zum ersten Mal nach langer Zeit teils Fürchterliches, teils unsaglich Trauriges. So sah er sich zum Beispiel die marmorne rotbekleidete Treppe hinuntergehn und Sedlacek ihm entgegenkommen und den Zylinder lüften; aber er selbst der Taittinger, war auch zugleich der Sedlacek; er selbst luftete den Zylinder; er selbst kam sich entgegen. Er ging die Treppe hinauf, er ging sie aber auch gleichzeitig hinunter. Plötzlich stand er in der Kanzlei des Direktors, in der Strafanstalt in Kagran, und der Pohzeiarzt fragte ihn: „Was fehlt Ihnen? Warum geben Sie mir kernen Bericht über die Zustande in meinem Regiment^ Er konnte nicht antworten, der arme Taittmger. r fürchtete auch, dass der Polizeiprasident jeden Augenblick hereinkommen könnte und sagen: den Baron Taittinger kenne ich gar nicht. Ferner erschien auch die Grafin Helene W. und hatte einen rasierten Kopt, genau wie die Mizzi Schinagl, und sie verlangte alle ihre Briefe zurück. Er konnte nur sagen, dass es ein schrecklicher Irrtum sei, niemals habe er von der Grafin irgendwelche Briefe erhalten, schon bestimmt keine rekommandierten. „Bitte, Grafin," sagte er, fraqen Sie den Rechnungsunteroffizier Zenower . „Z.u spat, zu spat!" rief sie, und er erwachte. Der Bursche hatte ihn geweckt. . Es war spat, dreiviertel Sieben, er fand keine Ze mehr, sich rasieren zu lassen. Zwei Korporale Lescha und Kaniuk, hatte er für heute zum Rapport befohlen, weil sie vorvorgestern unrasiert auf dem Exerzierplatz erschienen waren. Das dienstliche, das soldatische Gewissen plagte den Rittmeister. Einerlei, er musste hinein, in Stiefel, Rock, Tschako und schnell zur Kaserne. Sie sassen schon in den Satteln, die ganze Eskadron. Es war keine Zeit mehr, die Namen zu verlesen. Es regnete sacht und unerbittlich, wie es gestern abend geregnet hatte. Der Regen verband das Gestern mit dem Heute, als ob dazwischen kein neuer Sonnenaufgang stattgefunden hatte! Als würde nie mehr eine neue Sonne aufgehn! . . . Das Regiment formierte sich, das breite, schwarzgelb gestreifte Doppeltor ging auf, man ritt hinaus. Im Sattel erst fühlte Taittinger wieder die erwachende Wirklichkeit. Er konnte jetzt erst erkennen, dass er alles Grausige nur getraumt hatte. Durch den Sattel noch und noch durch die Schafte seiner Stiefel fühlte er die Warme und das Blut des Pferdes, das er ritt. Heute sass er gut auf seiner braunen Stute. Wally hiess sie. Er liebte sie, obwohl sie lange nicht so intelligent war wie sein Schimmel Pylades. So hatte er ihn getauft, denn er lebte in der Meinung, dass Pylades ein griechischer Philosoph gewesen sei. Wally war langsam, störrisch manchmal, man musste ihr lange zureden. Ein sachter Druck der Schenkel genügte niemals. Launisch war sie halt, nicht umsonst ein Frauenzimmer und urplötzlich aus Tragheit in Uebermut umsiedelnd. Aber, man liebte sie eben. Als er auf der Waldwiese absass, war er fast schon wieder der alte, der gewöhnliche Taittinger. Er nahm den Rapport ab, die Unrasierten bestrafte er sehr streng, je drei Tage Einzelarrest. „Eine Schande für eine Charge, unrasiert!" — sagte er. Er befühlte dabei unwillkürlich sein eigenes stachliches Kinn. Der Dienstführende Prokurak sah es wohl. Einerlei! Jetzt kamen Gelenksübungen, Reitübungen, Karabiner-Exerzieren. Rittmeister Taittinger war heute ausserst „sekkant!" Vier Stunden spater allerdings, nach dem Einrücken in die Kaserne, stand er wieder geradezu verlegen, fast kleinlaut in der Rechnungskanzlei. Es war ein rekommandierter Brief da. Schon wieder. Man musste den Zettel unterschreiben. Rechnungsunteroffizier Zenowermachte ein so erschreckend ernstes Gesrch, heute anders als sonst bei rekommandierten Briefe . DerBrief war auch sehr dick und schwer. Wenn man ihn in den Papierkorb hatte feilen lassen, so hatte es ein ordentliches unbehagliches und unpassendes Gerausch gegeben. Auf dem gelben Couvert stand „Burgermeisteramt Oberndorf". Lieber jetzt sagte sich der Baron Taittinger. Er nss den Umschlag "Dem des BOrge—, der Taittinger mitteilte, dass sich em Minderjahriger na lens Alexander Alois Schinagl im Bürgermeisteramt qemeldet habe und unter der Angabe, der uneheliche Sohn des Herrn Rittmeisters Baron ^inge*^zu sein, nach der Adresse dieses seines naturliche aefraqt habe und nach der seiner Mutter, der unvereheHeten Mizzi Schinagl, lag ein Brief des Oekonomen bï! Dies war eigentlieh kein Boef, sondern eme Ar. mathematiseher Schulaufgabe, w,e mar> s,e de^ detten in Mahrisch-Weisskirchen tuckischer aufzuqeben pflegte. Lediglich den allerletzten Satz i rr Taittinaer der also lautete: „Infolge des obe Sl~Ledieh mir respektvoll und ergens, Herrn Baron mitzuteilen, dass nur seine unverzughche Ankunft hierorts noch einige Mog T^nge" dTgten klugen Zenower zu geben. Er wusste schon scit langem, dass,er! Sf Schwarzen Elefanten. Und sagen Sie mir dann genau, was die Leut' eigentlieh von mir wollen. XXI. Am Abend, nach dem Befehl, kamZenower, inZivil, ins Extrastüberl. Und er sah noch ernster aus als in Uniform. Zum ersten Mal sah ihn Taittinger in Zivil. Es war gar nicht der Rechnungsunteroffizier Zenower mehr, kein Untergebener, auch kein Vorgesetzter, aber auch ebenso kein Zivilist, sondern irgend ein Wesen zwischen Weiten, zwischen Rassen, eigenartig, unverstandlich, aber auf jeden Fall düster und Unheil atmend. Man musste einen tiefen Schluck tun, immerhin gab es einige Zuversicht. „Lieber Zenower!" — begann Taittinger „trinken Sie Kognak?" — Es war Taittinger, als hinge jetzt sein Wohlergehn von der Bereitwilligkeit Zenowers ab, Kognak zu trinken. „Gewiss, Herr Baron!" — sagte Zenower. Er lachelte sogar. Merkwürdig, wie sich die Leute verwandelten. Zenower war durchaus nicht langweilig, durchaus nicht subaltern, durchaus nicht gleichgültig. Ware er nicht so streng gewesen, man hatte ihn sogar zu den „Charmanten" zahlen können. Sie tranken den Kognak. „Nun" — fragte Taittinger und er fühlte genau, dass ihn der Kognak noch nicht mutiger gemacht hatte — „was können Sie mir Gutes sagen, Zenower?" — Man sah plötzlich Zenowers echtes Angesicht. Es war hart und kalt, harter und kalter stieg es aus dem weissen Zivilkragen als aus den grünen Aufschlagen des hoch geschlossenen Blusenkragens. Unzahlige Falten gab es auf der hohen Stirn, noch viel mehr Runzeln unter den Lidern und an den Schlafen. Ja, seine Haare selbst schienen plötzlich ergraut. Es war ein alterer, strenger, besonnener Herr. „Herr Baron — sagte der besonnene Herr — „ich habe Ihnen leider nichts Gutes zu berichten. Wollen Sie mir, bitte, genau zuhören, Herr Baron? „Gewiss, gewiss!" — sagte Taittinger. „Also: Punkt eins, betrifft den Bürgermeister. Er teilt mit, dass sich Alexander Alois Schinagl, entlaufen der Anstalt in Graz und von der Gendarmerie aufgegriffen, bei ihm gemeldet habe. Der junge Schinagl ïst vierzehn Jahre alt. Er kam in Begleitung des Zugführers der Gendarmerie Eichholtz zum Bürgermeister. Die Anstalt in Graz war seit sechs Monaten nicht bezahlt. Der Leiter der Anstalt brachte in Erfahrung, dass seine Mutter, Fraulein Schinagl, augenbhckhch sich in der Strafanstalt Kagran befinde. Sie schrieb ihm auch, auf seine direkte Anfrage, dass Herr Baron Taittinger der natürliche Vater des Jungen sei, sie auch in der Anstalt besucht habe und gewiss fur das Kind sorgen werde. Der Junge muss diesen Brief gestohlen haben. Er fand sich in seinem Anzug. Er leugnete dennoch und fragte nach dem Aufenthalt der Mutter. Sein Vormund ist der Vater des Frauleins Mizzi Schinagl. Er befindet sich jetzt ïm Altersversorgungsheim in Lainz. Er ist beiderseitig gelahmt, sein Laden in Sievering ist sequestnert. Er lasst dem Bürgermeister mitteilen, dass der Herr Baron Taittinger, der Vater des Jungen, bis jetzt keine Alimente bezahlt kat. — Inzwischen hat der Bürgermeister, in Anbetracht der Umstande, den Jungen Ihrem Oekonomen ubergeben, damit kein grösserer Skandal entstehe. Man wartet auf Ihre Entscheidung, Herr Baron!" „Die Mizzi hat niemals Alimente verlangt sagte Taittinger. „Schade! — was soll ich also, Zenower. „Wenn ich raten darf, den Jungen nach Graz zuruckschicken lassen und dort vorlaufig die Schuld bezahlen. Sie betragt dreihundert Gulden etwa." „Ja, lieber Zenower, das will ich tun. ,,Nun Punkt zwei, Herr Baron" — sagte Zenower. Er wartete eine Weile. „Punkt zwei ist sehr unangenehm. Der Verwalter bittet um Entschuldigung, halt es aber fur seine Pflicht, Herrn Baron mitzuteilen, dass nach der letzten Sendung von zweitausend Gulden nach Wien etwaige weitere Abhebungen von Bargeld gefahrlich werden könnten. Herr Baron haben in den letzten vier Jahren etwa funfundzwanzigtausend verbraucht. Es bleiben an Bargeld etwa fünftausend. Dreizehntausend sind für die Auslösung der Wechsel Ihres Herrn Cousins, des Barons Zernutti gezahlt worden." „Ein langweiliger Mensch, der Zernutti" — sagte Taittinger. „Man kann's auch so nennen", erwiderte Zenower. Er hatte den Rittmeister gern, so wie er war, mit all seiner munteren Herzlosigkeit, den kümmerlichen paar Gedanken, für die der Schadel ein viel zu geraumiger Aufenthaltsort schien, mit seinen winzigen Liebhabereien und kindischen Leidenschaften und den zwecklosen Bemerkungen, die ohne Zusammenhang in die Welt aufs Geradewohl aus seinem Munde kamen. Er war ein mittelmassiger Offizier, die Kameraden waren ihm gleichgültig, die Soldaten, die Karriere. Zenower verstand keineswegs die innere Mechanik, die ein Lebewesen, wie den Baron, zu lauter sinnlosen, leeren und ihm selbst schadlichen Handlungen antrieb. Für Zenower, der sich über Welt und Menschen mehr Gedanken machte, als das ganze Regiment, den Oberst eingeschlossen, blieb Taittinger ein Ratsel der Natur. Wenn er wenigstens ausgesprochen dumm gewesen ware! Wenn er wenigstens ausgesprochen böse gewesen ware! Wenn er ein leidenschaftlicher Spieier oder Liebhaber gewesen ware! Wenn er wenigstens sichtbar gelitten hatte unter der Versetzung! Und dennoch, — sagte sich Zenower, — muss er unglücklich sein. Viel- leicht gar hat er ein so starkes Unglück erlebt, dass es ihm jede menschliche Art zu denken und zu fühlen verschlagt! Vielleicht auch wartet auf ihn solch ein Unglück, und er weiss es schon eigentlich und gleitet ihm entgegen. Wie konnte man denn sonst, beim Anhören derartiger Nachrichten gleichgültig bleiben? Da sitzt man nun, sagt einem erwachsenen Mann, dass er kein Geld mehr habe — und der antwortet nur: Ein langweiliger Mensch, der Zernutti! „Es steht schlimm um das Gut" — fuhr Zenower fort. „Die Hypothekenbelastung betragt dreissigtausend — soviel ich der Darstellung entnehme — ebenfalls zum Teil aus Schuld des Cousins. Er dürfte, soviel ich verstehe, seinen rechtmassigen Anteil langst überzogen haben. Ihr seliger Herr Onkel hatte offenbar bestimmt, dass Ihr Herr Vetter Bargeld abheben oder gar Darlehen aufnehmen ohne Ihre Zustimmung nicht dürfe. Ist es so, Herr Baron?" „Ja, es wird schon stimmen!" — sagte Taittinger. „Ich hab' immer „ja" gesagt, er war auch immer zu langweilig. Alles gibt er für Buben aus, sagen Sie Zenower, begreifen Sie, was man für ein Vergnügen an Buben haben kann?" „Nein, Herr Baron" — sagte Zenower hart — „aber es ist nicht wichtig. Wichtiger ist, dass Ihr Gut seit drei Jahren nichts mehr eingetragen hat. Vor zwei Jahren haben Sie den kleinen Fichtenwald abholzen lassen. Der Holzhandler ist fallit gegangen, es ist bei der Anzahlung geblieben. Vor einem Jahr war der grosse Schneefall im Mai, die Saat verdorben. In diesem Jahr ist die Ernte kümmerlich. Das Wohnhaus ist schadhaft geworden, seit über zehn Jahren hat kein Mensch mehr dort gelebt. Von dem Zustand der Tiere nicht zu reden. Man brauchte zwei Gaule, es ist kein Geld da." „Lauter Pech!" — sagte Taittinger, klatschte in die Hande und bestelite noch zwei Kognaks. Er trank in zwei grossen Zügen. Er schwieg. Schon begann eine leise Bitterkeit gegen Zenower in ihm aufzusteigen. Aber eine grosse Verlassenheit fühlte er ebenfalls und zugleich auch eine Spur von Dankbarkeit. Da war doch einer, der nahm alles Brieflesen und Ueberlegen und Nachdenken auf sich. Es war ein kluger Mann, der Zenower. Wahrscheinlich machte er es jetzt so mit ihm, wie alle klugen Leute, seit dem Mathematikprofessor Hauptmann Jellinek in der Kadettenschule mit Taittinger zu verfahren pflegten: Zuerst schreckten sie mit langweiligen Dingen, zermürbten einen, um ihn dann wieder aufzurichten, mit guten und gesunden Ratschlagen. Man brauchte ja nicht wirklich zermürbt zu sein, man musste nur so tun, als ware man's, dann wurde alles wieder gut. Diesmal aber hatte sich Taittinger verrechnet. Denn als er, das Schema anwendend, das ihm immer bei den Gescheiten genützt hatte, den Rechnungsunteroffizier fragte: „Was soll ich also tun?" antwortete Zenower: „Ihnen ist nicht zu helfen, Herr Baron!" — Welch eine merkwürdige Abartder Gescheiten, dieser Zenower. Eine lange Weile schwiegen beide. Dan bestellte Taittinger eine Flasche weissen Bordeaux. Er sah auf die Wanduhr, es war noch eine Stunde Zeit bis zum Nachtmahl. Als er vom ersten Glas getrunken hatte, begann Zenower: „Herr Baron, erlauben Sie mir, Alles aufrichtig zu sagen?" — Taittinger nickte. „Dann also. Sie könnten für den Augenblick den Schimmel verkaufen!" „Wen? den Pylades?" — rief Taittinger — „eher die Wally!" „Nein, sie bringt nicht genug, und dann wird doch der Schimmel dran mussen. Dann muss man Geld für die zwei Gaule haben, Sie müssen Urlaub nehmen, auf das Gut fahren, das Haus reparieren lassen, mit den Hypothekaren sprechen, mit dem Bürgermeister, dem kleinen Schinagl einen neuen Vormund besorgen. Ich glaube, ein Urlaub von drei Monaten, Herr Baron! Für den Herrn Vetter dürfen Sie nichts mehr unterschreiben, das versteht sich. Wenn Sie all dies nicht tun, sehe ich eine trübe Zukunft. Sie werden sich zur Infanterie transferieren lassen müssen!" „Zur Landwehr, was?! Ich kann nicht marschieren, lieber Zenower!" „Das ist alles" — sagte Zenower. Auch er sah auf die Uhr. „Erlauben Sie, dass ich mich verabschiede, Herr Baron!" „Nein, Zenower, Sie bleiben!" — sagte Taittinger, und er hatte dabei den flehenden Bliek eines Knaben, den man in ein finsteres Zimmer stossen will. „Bitte!" — sagte Zenower. Der Rittmeister ging zum Rechen, wo sein Mantel hing, und holte die bunten Büchln Laziks hervor. „Kennen Sie das, lieber Zenower?" Zenower blatterte in den Heftchen, las hier und dort und klappte sie wieder zu und sagte: „Grauslich, Herr Baron!" „Im Gegenteil!" — rief Taittinger. Und er erzahlte, dass alle Personen, die da vorkamen, „glanzend getroffen" seien. Er selbst habe den Verfasser Lazik kennen gelernt. Und die letzten zweitausend Gulden habe er eben dem Verfasser gegeben. „Das ist noch schlimmer als alles Andere!" sagte Zenower. Er ahnte schon, nach dem Titel allein, worum es sich handelte. Auch er kannte die Geschichten, die man rings um Taittinger spann, seit dem Tage fast, an dem er zum Regiment heimgekehrt war. Als langerdienender wohlerfahrener Unteroffizier kannte er wohl jene besondere Abart menschlicher Schwachen, die manche Angehörige der Armee kennzeichnete, die phantasiereiche Schadenfreude. Langst noch bevor Taittinger rücktransferiert worden war, hatten manche Herren im Regiment ohne Wohlwollen Geschichten von ihm erzahlt, deren Unglaubwürdigkeit sichtbar war. Man beneidete ihn wegen seines Postens in Wien. Dann aber, als er wieder Soldat war wie alle anderen, begann man, sich zu fragen, aus welchen Gründen er seiner besonderen Verwendung enthoben worden war. Manches erzahlte der Bahnhofrestaurateur. Der Ober Ottokar machte Andeutungen, seitdem die Artikel in der „Kronenzeitung" erschienen. „Haben Sie ihm das Geld etwa gegeben, damit er Sie nicht in dem Zusammenhang nenne?" — fragte Zenower. „Nein", antwortete Taittinger, „was weiss er denn von mir?" — „Gibt's denn etwas, was Ihnen schaden und was er wissen könnte, Herr Baron?" Taittinger antwortete nicht. Es war noch schlimmer, als gestern abend im Wartesaal. Er hatte tagsüber den gestrigen Abend bereits vergessen, trotz der beiden Briefe. Er bedauerte schon, dass er Zenower um Auskünfte gebeten hatte. Besser ware es wohl gewesen, man hatte, langjahrigen Erfahrungen treu, die Briefe gar nicht zur Kenntnis genommen. Es hatte sich aber dennoch etwas geandert, in der letzten Zeit, man wusste nur nicht genau, was. Man konnte sich gerade noch zur Not erinnern, wann diese Veranderung angefangen hatte: man konnte sich genau erinnern: sie war in dem Augenblick eingetreten, in dem Taittinger den rasierten Kopf der Mizzi Schinagl erblickt hatte. Ja, so war es. Es war alles so schwierig und so heillos verworren! Selbst, wenn er die Kraft besessen hatte, Zenower alles zu erzahlen, — auch die „Affare" - er hatte es in diesem Augenblick nicht vermocht, aus Unfahigkeit, auch nur zwei Satze logisch aneinanderzureihen. „Wenn Sie qestatten, Herr Baron — ich werde vielleicht gehn , hörte er Zenower sagen. „Nein!" nef er, „bleiben Sie um Gottes Willen! Ich kann nur im Augenblick nicht sprechen. Ich muss überlegen, lieber Zenower. — Aber er überlegte gar nichts. Seine Augen waren leer, zwei blaue Glasmurmeln. Auch das Nichtuberlegen war sehr anstrengend. Er trank, rauchte, versuchte ein paar Mal vergeblich, zu lacheln, strengte sichan, einen Witz, ein heiteres Wort, eine Anekdote zu hnden, und nichts half, und er schamte sich zugleich, dass er so vertrackt schweigen musste. Ja, ïm Kasino, nut seinesgleichen, fiel ihm in jeder Situation irgendetwas Passendes ein. Mit seinesgleichen! Er klammerte sich an dieses Wort, es erklarte ihm, dass er eigentlich in solche Verlegenheiten geriet, weil Zenower halt nicht „seinesgleichen" war. Für einen Augenblick glaubte er, Gleichgewicht, Festigkeit, Haltung wiederqefunden zu haben, und mit jener hochmutigen Freundlichkeit, mit der er zu Subalternen sprechen konnte, saqte er: „Erzahlen's doch was, lieber Zenower, aus Ihrem Leben zum Beispiel." — „Mein Leben ïst ganz uninteressant, Herr Baron!" - sagte Zenower. „Ich diene heute das dreizehnte Jahr. Ich war Goldmacher von Beruf. Das ist lange her. Ich bin nicht verheirate . Ich bin seinerzeit zum Militar gegangen, freiwil ig, mit 22, weil das Madchen, das ich geliebt hatte, einen andern geheiratet hat." „Das ist nicht nett. war Taittinger ein. „Ja, Hert Baron, das warjler em^ge Schmerz meines Lebens, auch der letzte, „ rief der Rittmeister. „Leben denn Ihre Eltern noch. Ich habe keine! Meine Mutter ist früh gestorben. Sie war Köchin. Von meinem Vater weiss ich nichts, ich bin ein uneheliches Kind." — „Interessant" — wiederholte Taittinger — „und Sie sind so ganz allein aufgewachsen?" — „lm stadtischen Waisenhaus, in Müglitz, dann kam ich mit sechzehn in die Lehre." — „Sie sind ein kluger Mann, Zenower" — sagte der Rittmeister. „Warum machen Sie denn eigentlich nicht die Rechnungsprüfung?" „Ich will's auch", sagte Zenower. „Obwohl ich ja nicht höher kommen kann als bis zum Rechnungshauptmann. Aber da gibts noch Schwierigkeiten wegen der unehelichen Geburt. Ich hab' aber einen Freund, Rechnungsrat im Kriegsministerium." „Na, es wird schon gehn!" tröstete Taittinger. „Interessantes Leben haben Sie, Zenower! Sie sind eigentlich, wie nennt man das: ein Kind aus dem Volke! Das hatt' ich nie gedacht." — „Ja" — sagte Zenower, „ein Kind aus dem Volke. Ich steil' mir wenig darunter vor. Ich weiss nur, dass ich das Kind einer Köchin bin!" — Taittinger erinnerte sich an die alte Köchin seines vaterlichen Hauses. Karoline hiess sie. Sie war sehr alt und weinte immer, drei Mal jahrlich, wenn Taittinger nach Hause kam, zu Ostern, in den Sommerferien und zu Weihnachten. Plötzlich aber sagte er — und er wusste gar nicht, dass er laut sprach: „Lieber Zenower, vorher hab' ich gedacht, ich kann mit Ihnen eigentlich nicht ganz frei sprechen. Jetzt weiss ich warum: ich schame mich namlich vor Ihnen, ich beneide Sie, und ich würde ganz gern mit Ihnen tauschen!" Er erschrak selbst vor diesem Satz, vor seiner Aufrichtigkeit, vor allem aber über die Schnelligkeit, mit der er vermocht hatte, Rechenschaft über seine Gedanken abzulegen. Er hatte sich auf einer Wahrheit ertappt; und zum ersten Mal nach langen Jahren wurde er rot, wie er einst, als Knabe, rot geworden war, wenn man ihn auf einer Lüge ertappt hatte. Zenower sagte: „Herr Baron, Sie brauchen niemanden zu beneiden und mit niemandem zu tauschen, wenn Sie nur immer aufrichtig zu sich selbs. sjncl. — Und heute auch zu mir!" — fugte er hinzut Ta Zenower" — sagte der Rittmeister. Er fühlte eine grosse Trauer und eine starke Heiterkeit zugleich. Ich treffe Sie nach dem Essen bei Sedlak, wo ich oft sitze wissen Sie? Wollen Sie kommen? In zwei Stunden verlasse ich das Kasino." Er drückte Zenowers grosse Hand, sie fühlte sich an wie ein einziger, warmer, sehr lebendiger Muskei. Er fühlte, dass etwas Gutes und Starkes von ihr ausging und etwas Beredtes und Hörbares. Es war, als ob die Hand Zenowers Gutes gesagt hatte. XXII. Die Gaststube Sedlaks lag hinter den Bahnschranken, gegenüber den sogenannten „Sandbergen , man brauchte eine halbe Stunde, urn sie zu erreichen. Gutspachter trafen sich dort, Getreidehandler, Gestütszüchter und von den gehobenen Standen lediglich manchmal die zwei Veterinare. Man war sicher, keiner Uniform in dieser Gaststube zu begegnen. Es begann. sachte zu schneien, als Taittinger das Kasino verliess, „Entschuldigung, ich hab' ein Rendezvous", sagte er dem Oberleutnant Zschoch in der Tür. „Wie heisst sje?» — fragte Zschoch, aber Taittinger hörte nicht mehr. Es war der erste Schnee dieses Jahres. Taittinger, auf den weder die gewöhnlichen, noch die unerwarteten Naturereignisse jemals irgendeinen Eindruck gemacht hatten, empfand zum ersten Mal eine knabenhafte Freude an den weichen, sanften, gütigen Flocken, die lassig und vertraumt auf seine Kappe und auf seine Schultern fielen und auf die ganze breite Strasse, die zu den Sandbergen führte. Es schien ihm bedeutsam, dass heute der erste Schnee fiel. Munter ging er durch den dichten weissen Schleier. Der Bahnschranken war geschlossen, er musste lange warten. An jedem andern Tag hatte er die Bahn „langweilig" genannt. Heute aber wartete er sogar geniesserisch. Er hatte das Gefühl, man würde starker eingeschneit, so, im Stehen. Ein endloser Schleppzug rollte vorbei. Was wohl in diesen stummen Waggons enthalten sein mochte? Waren's Tiere, Holz, Eierkisten, Getreidesacke, Bierfasser? Was mir doch für Gedanken heute kommen! — sagte sich Taittinger. Es gibt so viele Dinge auf der Welt, von denen unsereins keine Ahnung hat! So Leute, wie der Zenower, dessen Mutter eine Köchin war und die im Waisenhaus aufgewachsen sind, wissen sehr viel. Der Schleppzug nahm noch immer kein Ende. Die Güterwagen konnten auch Gepack enthalten, wie damals die vielen Koffer der persischen Majestat, die so spat angekommen waren. Der charmante Kirilida Pajidzani fiel Taittinger ein. Was machte der jetzt, in Teheran? Vielleicht schneite es dort auch. Glücklich war dieser Pajidzani. Er hatte keine Affare auf dem Gewissen, keine Mizzi Schinagl, keinen langweiligen Gousin Zernutti, keine rekommandierten Briefe, keinen Oekonomen, keinen Gutsverwalter! — Jetzt war der Zug vorbei, der Bahnschranken ging in die Höhe, als kampfte er langsam, mühselig gegen die leichte Last des Schnees. Ich werde ihm erzahlen, beschloss Taittinger, in dem Augenblick, in dem er die zwei Fenster der Gaststube durch den Schnee aufleuchten sah. Zenower sass schon da, er las in den bunten Heftchen, Taittinger erkannte sie vom Eingang aus. Er griff in die Manteltasche, unwillkürlich, er dachte, es waren seine Heftchen, die dort auf dem Tisch Zenowers lagen. Aber nein! Zenower las andere Büchln. „Ach, Sie haben sich bekehrt?" fragte Taittinger. „Sind's die gleichen wie meine?" — „Nein, Herr Baron, im Gegenteil! Es sind in der kurzen Zeit seit Ihrer Rückkehr schon zwei neue Heftchen erschienen. Leider!" — „Lassen's schau'n!" — sagte Taittinger. „Spater, Herr Baron" sagte Zenower — „es ist unerfreulich. Für Sie unerfreulich!" Sie tranken Vöslauer; wie schnell der Zenower sich veranderte. Noch am Nachmittag hatte er anders ausgesehen. Es war nicht das Zivil, das ihn veranderte, er trug ja noch den gleichen braunenZivilanzug. Er war etwas jünger als der Rittmeister, aber seine schütteren hellblonden Haare schimmerten schon grau unter dem Licht des grossen „Rundbrenners", und der helle Soldatenblick in den grauen Augen war weg, war in der Kaserne geblieben, mit Sabel, Kappe, Uniform. Es waren traurige, bekümmerte und prüfende Augen, die jetzt den Rittmeister anblickten. Er konnte sie kaum ertragen. Er konnte sich nicht entschliessen, sie „langweilig" zu nennen. Er wusste überhaupt nicht, wo er eigentlich den Zenower einreihen sollte. Der passte in keine Kategorie: weder zu den Charmanten, noch zu den Gleichgültigen. Was alles in diesem Zenower steckte, wusste man ebensowenig, wie den Inhalt der geschlossenen Güterwagen vor einer Weile. Und dennoch tat es gut, mit ihm zusammen zu sitzen, und alles Grausliche, das er sagte, klang eigentlich wie Tröstliches. „Sie sind der erste Mensch", begann der Baron, „dem ich endlich die „Affare" erzahlen kann . „Nicht nötig, Herr Baron," sagte Zenower, „ich kenne sie schon. Sie steht da drin, in dem Büchl, für jeden sichtbar, der zu lesen weiss. Sie sind nicht genannt, aber genau beschrieben". Taittinger wurde blass. Er stand auf, er setzte sich wieder. Er griff nach dem Blusenkragen. „Bleiben Sie ruhig, Herr Baron" — sagte Zenower. „Ich habe vorlaufig alle Büchln in den hiesigen Tabaktrafiken zusammengekauft". Und er zog einen grossen Packen aus der Tasche. „Man muss überlegen. Aber ich sehe keinen Ausweg. Um deutlich zu sein: dieser Lazik ist nicht schüchtern. Er schreibt: „die hohe Kuppelei" zum Beispiel. Man könnte glauben, sehr hohe Persönlichkeiten, auch Sie, Herr Baron, seien einfach Nutzniesser. Es ist schrecklich." Er schwieg lange. Taittinger trank hastig, aber in kleinen Schlückchen. Er hatte das Bedürfnis, wenigstens die Hande nicht untatig zu lassen. Er wollte etwas sagen, etwas weitab Liegendem gewissermassen mit Worten entfliehen. Aber gegen seinen Willen sprach er die schreckliche Phrase aus, die unaufhörlich in seinem Hirn klang: „Ich bin verloren, lieber Zenower!" Zenowers traurige Augen ertrug er jetzt ganz ohne Mühe. Sie waren sein Trost, sein einziger. „Verloren, Herr Baron, das ist es nicht. Sie kennen nicht Verlorene. Die Welt, in der Sie leben, verzeihen Sie, ist nicht die Welt, in der man wirklich verloren sein kann. Die wirkliche Welt ist sehr gross, und sie hat ganz andere Möglichkeiten der Verlorenheit. Aber es ist ja noch nichts, auch in Ihrem Sinne, nichts verloren. Sie sind nur gefahrdet. Dieser Journalist ist gewiss gefahrlich, aber sehr dumm. Es muss leicht sein, ihn unschadlich zu machen. In die gute Gesellschaft kommen diese Heftchen gewiss nicht. Was die Leser betrifft, ist es ganz gleich. Aber die Gefahr besteht, dass der Verfasser selbst zu den Herrschaften kommt — wie er zu Ihnen gekommen ist. Ich glaube nicht, dass Andere ihm auch Geld geben. Aber er selbst hegt derlei Hoffnungen. Er kann sich mit Recht auf Sie berufen." „Was soll ich tun, lieber Zenower?" Der Rittmeister sah aus, wie ein ergrauter Knabe. Er kaute an seinen Lippen. Er betrachtete seine Finger, als untersuchte er, ob es noch seine eigenen seien, oder schon fremde, die Hande eines Verlorenen. „Erlauben Sie mir, mit Lazik zu sprechen," sagte Zenower. „Ich werde morgen um drei Tage Urlaub bitten." Gewiss, alles klarte sich auf. Taittinger gewann seine alte Heiterkeit wieder. Zenower, dieser Kluge, Gute, er wird fahren, sprechen, Alles ordnen. Auch die andern Sachen. Den kleinen Schinagl schickt man nach Graz. Auf dem Gut ordnet sich schon Alles. Man verkauft Pylades. Morgen, gleich nach dem Exerzieren ein Sprung zur Post, poste restante liegt wahrscheinlich ein Brief von der Mizzi aus Kagran. Man hat von nun an keine Angst vor Briefen, vor Unterschriften, kurz, vor all den grauenhaften Ereignissen, die sich ausserhalb der Kaserne, des Kasinos, des Hotels Imperial in Wien und der „Gesellschaft" abspielen. Taittinger war nunmehr „ehrlich" überzeugt, dass er seit gestern um viele Jahre alter, um viele und bittere Erfahrungen reicher geworden sei und viele Hindernisse überwunden habe; Alles dank diesem Zenower. Und zu denken, dass es ein Kind aus dem Volke war! „Das Volk ist gut!" — sagte Taittinger laut. „Sie kennen es nicht" — sagte Zenower — „das Volk! das Volk besteht aus Menschen. Der Mensch ist gut und schlecht." — Damit erhob er sich, so entschieden, das Taittinger keine Zeit mehr fand, ihn noch um eine halbe Stunde zu bitten. Jetzt, wie der Zenower so da stand, im Zivilmantel mit samtenem schwarzen Kragen, steifem Hut und Handschuhen in der Linken, den Stock über den Arm gehangt, erinnerte er Taittinger zum dritten Mal nicht mehr an den Zenower. Noch einmal verandert war er, fremd, streng und lieb und — allerdings — auch ein bisschen wieder langweilig. Aber seine Hand war stark, warm und beredt, wie am Abend und, nachdem er fort war, fühlte Taittinger Heimweh nach ihm. Es verdross ihn auch, dass man ihn allein gelassen hatte. Er trank noch eine Flasche, sah die letzten Gaste gehn, Hoffnung und Trost blühten wieder auf in seinem Herzen. Es wird sich alles ordnen, dachte er. Es schneite immer noch, immer dichter, was hatte man jetzt? November. Der Schnee erinnerte selbstverstandlich an Weihnachten und also dachte Taittinger: „Bis Weihnachten wird sich alles ordnen!" In dieser Nacht schlief er gut, unbekümmert und traumlos. Am Morgen lag der Schnee schon hoch, fest und gefroren. Die Hufe des Pylades, den er heute ritt, sentimental und aus Abschiedsschmerz, glitschten gefahrlich über das leergefegte Kopfpflaster. Die Trompeten bliesen verhalten, verschleiert und betaubt. „Pylades", sagte der Rittmeister, als er auf dem Exerzierplatz absass, „Pylades, es ist das letzte Mal!" Er klopfte den Hals des Schimmels, holte ein Stück Zucker aus dem Patrontaschchen, steckte es zwischen die Zahne des Tiers und hielt lange die gehöhlte Hand vor die warmen weichen Nüstern und die dankbare, grosse, heiss-kühle Zunge. Er fühlte, dass er nicht mehr die Kraft haben würde, noch heute auf Pylades wieder in die Kaserne einzurücken. Er befahl dem Wachtmeister, das Pferd zurückzuschicken. Er übergab Oeberleutnant Zschoch die Eskadron. In der Zehnuhrpause ging er fort, meldete sich bei Major Festetics ab und schritt schnell der Stadt zu, immer schneller, mit möglichst viel Gerausch, um die Wehmut zu betauben und auch die leise Angst vor den Briefen, die am poste-restante-Schalter auf ihn warten mochten Es war nur ein Brief, schon drei Wochen alt und mit dem ekelhaften Kagraner Stempel. Er lautete: „Hochverehrter Herr Baron! Es war so aussergewöhnliche Ehre, sowie herzliche Freude bei mir, in meinem Herzen, dass Herr Baron an mich gedacht haben. Es geht mir gut, auch sind die Schwestern gut und arbeite ich jetzt in der Naherei, wo man auch singen darf. Ich werde bald entlassen und heute ist noch im Oktober. Hochachtungsvoll und mit Liebe voll empfiehlt sich Mizzi Schinagl. Taittinger las den Brief zwei Mal, in der Posthalle, denn er war auf einem grauen porösen Papier geschrieben, aus dem man Tüten macht, und die Züge waren von grossen Klecksen unterbrochen und entstellt. Taittinger war gerührt, vom Brief, noch mehr von seiner eigenen Kraft, ihn abgeholt und zwei Mal gelesen zu haben, am meisten aber wegen des Abschieds von Pylades, In Tartakowers „Frühstücksstube" starkte er sich mit Hering und Sliwowitz. Er wollte noch in die Kanzlei, Zenower sehn, vor seiner Abreise nach Wien. Er beschloss, nicht im Kasino Mittag zu essen, sondern draussen bei Sedlak. Die Luft war glashell und hart und umwehte angenehm frostig die süssen Wehmutsgefuhle des Rittmeisters. Die Sonne warmte den Rücken, durch die dicke Litewka spürte man sie. Es schien alles in der Welt gut und geordnet. Ueberraschungen gab es nicht mehr. Es war, als hatte man gestern, mit Zenower, das Schlimmste nicht nur besprochen, sondern auch überwunden. Es war ungefahr wie nach der Prüfung. XXIII. Leider stürzte das Unglück mit einer so jahen Rasanz über den armen Taittinger herein, dass er keine Zeit mehr hatte, aus der Munterkeit, in der er sich schon ganz heimisch fühlte, in die Verzweiflung hinüberzuwechseln. Er hatte nicht einmal Zeit zu erschrecken. In einer Art von Gebanntheit, wortlos und ohne Verstandnis, hörte er die Meldung Zenowers in der Kanzlei. Es war wieder der alte Rechnungsunteroffizier Zenower, in Uniform. Er stand Habt-Acht, als der Rittmeister eintrat, er hatte wieder seinen dienstlichen hellen Disziplinblick, und mit seiner gewöhnlichen dienstlichen Stimme sagte er: „Herr Rittmeister, melde gehorsamst, dass ich vom Herrn Oberst drei Tage Urlaub erhalten habe; melde gehorsamst, dass ich morgen vormittag fahren werde; melde gehorsamst, dass der Herr Oberst befohlen haben, Herr Rittmeister mochten sich unverzüglich in der Kanzlei melden; der Herr Oberst wartet!" ,,Ruht!" kommandierte Taittinger. ,,Sie können sich setzen, Zenower!" Er selbst setzte sich auf den Schreibtisch. „Was will er denn, der Alte?" Eine ferne Aehnlichkeit mit dem Zivilblick von gestern schimmerte für eine Sekunde im A'uge Zenowers: „Herr Baron, der Herr Oberst ist sehr aufgeregt. Er hat heute einen rekommandierten Brief vom Kriegsministerium bekommen, ich hab' ihn gesehn, auf dem Tisch des Stabswachtmeisters. Herr Baron " Weiter kam der Rechnungsunteroffizier Zenower nicht. „Na, so reden's doch!" sagte Taittinger. Noch einmal sprang Zenower in die HabtAcht-Stellung: „Herr Rittmeister, melde gehorsamst, dass der Herr Oberst befohlen haben, Herr Rittmeister mochten unverzüglich in die Kanzlei." „Aha, verstehe!" murmelte Taittinger, obwohl er noch immer nichts verstand. Er ging hinaus, überquerte den Hof. Der Alte lauerte manchmal, an seinem Fenster, hinter der Gardine. Man musste den Hof mit beflissenen Schritten überqueren und jeden Gruss der Soldaten, die sich im Hof befanden, reglementmassig beantworten. Vielleicht hat er gehort — sagte sich Taittinger — dass ich den Pylades abgeben will. Der Schimmel hat ihm immer schon gefallen. Er trat in die Kanzlei. Der Oberst Kovac war kaum zu erkennen. Er war ein kleiner, rundlicher, feister Mann mit einem runden Schadel, rötlicher Nase, grauem kurzem Schnurrbart und winzigen schwarzen Augen, die eigentlich nur aus Pupillen zu bestehen schienen. Seine kurzen Aermchen, die trotzdem in noch kürzeren Aermeln steckten, gingen unmittelbar in rote feiste Hande über, die an eine Art hautüberzogener Hammer erinnerten. Jetzt aber erschien der Oberst Kovac geradezu mager. Seine Nase war blaulich blass, seine Hande fast weiss. Quer über seiner kurzen Stirn, in die das stachlige Dreieck der grauen Haarbürste vorstiess, stand eine starke geschwollene blaue Ader, die sichtbare Künderin eines verborgenen aussergewöhnlichen Grolls. Der Oberst trat vor seinen Schreibtisch, stemmte eine Hand in die Hüfte und betrachtete aufmerksam den Rittmeister, der unbeweglich war, wie ein buntes Monument! Der Alte sagte nicht: Ruht, geschweige denn: Servus. Es begann Taittinger allmahlich unheimlich zu werden. Er konnte nicht nachdenken. Die Fünkchenaugen des Obersten glitten an Taittinger auf und ab, auf und ab. Es dauerte wohl eine, zwei, drei Minuten. Es war so still, dass man die eigene Taschenuhr und die des Obersten ticken hörte. , Endlich sagte der Oberst — und er sprach erstaunlich leise: „Herr Rittmeister, kennen Sie einen Grafen W., Sektionschef im Finanzministerium?" Taittinger fühlte die Kniee kalt werden, über dem Rand der Stiefelschafte begann das Eis, es waren gar keine Kniee mehr. Es war schwer, aufrecht zu bleiben, wenn die Schenkel auf Eisklumpen sassen. „Jawohl, Herr Oberst!" — „Und kennen Sie einen, einen, einen gewissen Redakteur Bernhard Lazik?" — „Jawohl, Herr Oberst!" „Wissen Sie jetzt, warum Sie hier stehn?" — „Jawohl, Herr Oberst!" — „Ruht!" — befahl der Oberst. Der Rittmeister streckte den rechten Stiefel vor. „Sie können sich setzen!" — sagte Kovac und zeigte auf den nackten hölzernen Stuhl. „Danke respektvollst!" — sagte Taittinger. Er wartete. „Setzen sich!, hab' ich gesagt!" schrie Kovac. Der Rittmeister setzte sich. Der Oberst ging auf und ab, kreuz und quer über den grossen Teppich. Von Zeit zu Zeit verschrankte er die Arme, löste sie wieder, ballte die Fauste, steckte sie in die Hosentaschen, klimperte mit Schlüsseln, zog die Schlüssel hervor, drehte sie im Kreis am Ring um den Daumen, steckte sie wieder ein. Er schien immer schmaler, blasser und unwirklicher zu werden. Der November-Nachmittag warf seine ersten Dammer in die Kanzlei, und nur der blanke Widerschein des frischen Schnees, der aus dem Hof durch die Fenster drang, konnte sie noch abschwachen. „So reden's doch endlich!" — schrie der Oberst auf. Es war ein Brüllen und ein Kreischen zugleich. „Erklaren Sie, Herr Rittmeister!" „Herr Oberst!" — sagte Taittinger — „es ist die fatale Affare, wegen der ich zum Regiment zurückgekommen bin." „Fatal, fatal!" schrie der Oberst. „Schrecklich ist sie, unselig, ein," — „er fand endlich das Wort: „ein Skandal! Ja! Nicht fatal, sondern Skandal! Und mir das! Unsern, nein, Herr Rittmeister, meinen Neunern! Nicht Ihren, Oh, nein! Ich dulde, dulde derlei, derlei Herren nicht bei mir. Ich bin ein einfacher Frontoffizier, jawohl, einfacher Frontoffizier! Ich war nie detachiert. Ich hab' keine Freunderln in Wien. Ich kenn' keine Exzellenzen! Jawohl, so wahr ich der Oberst Joseph Maria Kovac bin, einfacher Oberst, verstehen Sie, Herr Rittmeister, das werden Sie büssen! Hier, solche Briefe!" — Der Oberst trat hinter den Schreibtisch und schwang den Brief des Kriegsministeriums in der hoch erhobenen Faust. „Wissen Sie, was da steht?"—„Nein,Herr Oberst!" — sagte Taittinger. Jetzt stand schon der Schweiss auf seiner Stirn. Die Füsse brannten in den Stiefeln, aber über den Schaften, in den Knieen, herrschte der Frost. Das Herz pochte so stark, dass man seine Schlage wahrscheinlich durch das dicke Tuch der Bluse sehen musste. „Also hören Sie, Herr Rittmeister! Als Sie von Ihrer besonderen Verwendung zum Regiment zurückkamen, wusste ich natürlich, dass Sie einen faux pas begangen hatten. Die Geschichte war begraben. Jetzt aber! Sie könnens nicht lassen, diese Unterrock- geschichten, Sie sind, Sie sind Also, Sie begeben sich in die Gesellschaft eines Individuums, eines Individuums, sag' ich — und geben ihm zweitausend Gulden, und Sie beteiligen sich an seinem Schmutz, an seinem Dreck, Dreck sag' ich — und der Kerl geht zum Sektionschef W. und will von ihm auch Geld und sagt, was Sie schon gezahlt haben, und der Herr Sektionschef ist leider gelahmt, Paralyse, sag' ich, seit zwei Monaten, und die Frau Grafin kommt in die Scheissbüchln, und er kann sich nicht mit Ihnen schlagen, und das tat' er auch nicht als Gesunder, und er schreibt's seinem Freund, dem Herrn Kriegsminister, Seiner Exzellenz persönlich — persönlich sag' ich — und ich, und ich! Seitdem unsere Armee besteht ich sag' nichts mehr! Ich steh Ihnen zur Verfügung, Herr Rittmeister!" Taittinger sprang auf. „Herr Oberst!" rief er. „Habt Acht!" befahl Kovac. Und dann: „Ruht! Setzen!" Taittinger setzte sich wieder. Der Oberst schrie so laut, dass man es in allen Korridoren des linken Flügeltrakts hörte. Der Adjutant, Oberleutnant von Dengl, stand eine Weile vor der Tür, ein paar Akten in der Hand und den heutigen Tagesbefehl parat, um in jedem Augenblick sagen zu können, er sei eben im Begriffe gewesen, anzuklopfen. Der Standesführer, Wachtmeister Steiner, und seine zwei Kanzlei-Schreiber horten durch die Verbindungstür jedes Wort, obwohl sie so taten, alle drei, als seien sie vertieft in Standesregister, Desertierungsanzeigen, Meldungen der Gendarmerie und Conduitelisten. Sogar im Hof, in der Kantine, verstummte der Larm der kartenspielenden Unteroffiziere. Die glasklare frostige Luft dieses November-Abends vermittelte deutlich jeden Laut der brüllendenOberstenstimme. Es war die grollende Stimme des Kasernengottes, ein Naturereignis allererster Ordnung. Man wusste sofort, dass es sich um Taittinger handelte; nicht nur deshalb, weil man ihn zum Obersten hatte gehen sehn; ach nein! Man hatte die Heftchen Laziks gelesen, nicht in allen Tabaktrafiken hatte Zenower sie aufgekauft! Ein gewaltiger Schrecken und eine grosse Betrübtheit beherrschte Alle, obwohl ihnen der Baron Taittinger immer gleichgültig gewesen war. Er passte nicht zum Regiment, er passte nicht in die Kaserne. All die baurischen Menschen des Regiments, die aus der Bukowina, aus der Slovakei, aus der Bacska stammten und niemals einen Wiener Salon gesehen hatten, bekamen, wenn sie den Baron Taittinger ansahen, die überzeugende Vorstellung, dass er in einen Salon gehore. Dennoch konnten sie sich jetzt genau denken, wie er leiden musste, dank jener soldatischen Solidaritat, die aus Schwadronen und Regimentern eigentlich Familien macht, aus Vorgesetzten Vater oder altere Brüder, aus Untergebenen Söhne, aus Rekruten Enkel, aus Wachtmeistern Onkel und Oheime und aus Korporalen Vettern. Es wurde still in der Kantine, und die Karten lagen reglos und spiegelblank auf den Tischen. Der Oberst indessen schwieg plötzlich, und sein Schweigen war noch fürchterlicher als vorher sein Geschrei. Er hatte seine Stimme und seinen Sprachschatz erschöpft. Er, auch er, fühlte seine Kniee frieren und wanken, er musste sich setzen. Er vergrub den Kopf in beiden Handen und sagte mehr zu seinen Papieren auf dem Schreibtisch als zu Taittinger: „Der Abschied, Herr Rittmeister! Der Abschied, sag' ich! Ich will kein Ehrengericht! Hören Sie! Ich will mitteilen, dass Sie den Abschied genommen haben. Der Regimentsarzt, der Doktor Kallir, ich hab schon mit ihm gesprochen, weiss genau, wie schlimm es um Ihre Gesundheit steht. Ihre Nerven sind angegriffen, Sie haben den Verstand verloren. Den Abschied! Ich wünsche keine Transferierung mit dieser Conduitenliste, verstehen Sie, Herr Rittmeister?" Der Rittmeister Taittinger stand auf: , Jawohl, Herr Oberst! Ich werde morgen um den Abschied bitten!" Dem Obersten wurde weh ums Herz. Er wollte aufstehn, er fühlte sich zu schwach. Er streckte Taittinger die Hand über den Tisch hin und sagte: ,,Leb wohl, Taittinger!" XXIV. Sie sassen die ganze Nacht bei Sedlak, Taittinger und der Rechnungsunteroffizier Zenower. Aucher, Zenower, war betaubt von der Schnelligkeit des Schicksals. Auch er, das Kind der Köchin, war ein Kind der Armee. Auch er, obwohl er das wahre Leid der Welt ausserhalb der Kasernen kannte, war nicht imstande, den Schmerz Taittingers gering zu schatzen; und er war auch betrübt, wie heute Alle, vom Obersten bis zu den Rekruten. Es gab gewiss viel Unglück auf Erden. Aber hier war ein sichtbares, ein greifbares Unglück der Kaserne, in der man schlief und ass und lebte. Gestern noch hatte er dem Rittmeister etwas sagen, raten, helfen können. Heute war er stumm. Taittinger war stumm. Manchmal sagte er nur: „Denken Sie doch, Zenower! ..." Aber er wusste nicht, was Zenower eigentlich zu denken hatte. Die Wanduhr tickte, ihre schwarzen Zeiger drehten sich unermüdlich, gleichmassig glitten sie an den Ziffern vorbei und hielten sich nicht auf, als waren's nur Minutenstriche, und beide Manner blickten oft gleichzeitig nach der Uhr und beide empfanden mit der gleichen Deutlichkeit beim Anblick der unveranderlichen Zeitgesetze die menschliche Ohnmacht, auch allen andern Gesetzen gegenüber, den bekannten und den unbekannten. Die Stunden gingen, Teile des Lebens. Eine, zwei, drei oder auch zehn Stunden seines Lebens hatte Taittinger vertan oder verraten; es war nichts mehr zu reparieren. Die letzten Gaste gingen, das Petroleum im glasernen Rundbrenner verringerte sich zusehends. Sie Hessen Kerzen bringen und Wein und blieben sitzen. Man sah, als die Lampe vollends erlosch, den silbernen Schimmer des Schnees vor den Fenstern. Der frostige Wind sang dünn und heil durch die Nacht, und die Scheiben klirrten leise. Obwohl sie einander nichts Bestimmtes gesagt hatten, wussten sie doch beide, dass es galt, das erste Morgengrauen abzuwarten. Mitten in der Nacht konnte keiner den andern verlassen. Sie warteten. „Ich werde Sie begleiten, Herr Baron" — begann endlich Zenower. „Sie werden morgen Urlaub nehmen. Ich werde mit Ihnen nach Wien fahren. Ich hatte sowieso langst zu meinem Freund müssen, dem Oberrechnungsrat. Ich glaube, dass ich im Januar noch die Prüfung machen kann." — „Ja, gewiss!" — sagte Taittinger. Der Wirt Sedlak schlief hinter der Theke. Manchmal sprach er etwas Undeutliches aus dem Schlaf. Zenower sagte: „Der hat einen gesegneten Schlaf!" Aber Taittinger, der gar nicht zugehört hatte, antwortete: „Ja, er hat einen ganz guten Vöslauer!" — „Am liebsten trink' ich ja ein gutes Bier!" — sagte Zenower. Dann war es wieder still. Vergeblich blieben ihre Bemühungen, in ein gleichgültiges Gesprach zu flüchten. Sie dachten nicht an das, was sie sagten, sie sprachen nur so, um die Uhr nicht zu horen, es waren sinnlose Beschwörungen, zusammenhanglose Phrasen, törichte kleine Verlogenheiten. Die zwei Kerzen waren schon bis zum letzten Drittel abgebrannt, als draussen, vor den Fenstern, der Schnee blaulich zu werden begann, der Gesang des Frostes heftiger, der Himmel blasser. Zenower ging an die Theke, weckte Sedlak, zahlte. Sie gingen langsam der Stadt zu, in die Kaserne. „Morgen bin ich in Zivil, für immer!" sagte Taittinger, als sie in die Kaserne eintraten und der Posten salutierte. „Zum letzten Mal salutiert er!" sprach er weiter. Was ist es schon viel Grosses! — dachte Zenower, wenn man nicht mehr salutiert wird! — Aber er fühlte auch zugleich, dass es eine ungerechte Ueberlegung war. Es war ein Leben, das hier zu Ende ging. Wie ein Sterbender den Körper ablegt, so zieht ein Soldat die Uniform aus. Zivil, Zivil: das war ein unbekanntes, vielleicht ein schreckliches Jenseits. Um neun Uhr war Offiziersrapport. Den „Urlaub aus Gesundheitsgründen" bekam Taittinger sofort. Der Dienstzettel des Regimentsarztes Doktor Kallir verkündete ausdrücklich eine gefahrliche NervenZerrüttung. Sie enthob Taittinger auch der Pflicht, sich vom Regiment zu verabschieden. Um zwei Uhr vierzig, am Nachmittag, stieg er in den Zug, in Zivil, mit Zenower. Um sechs Uhr kamen sie an. Zenower schrieb das Abschiedsgesuch. Im Schreibzimmer des Hotels Prinz Eugen schrieb Taittinger es ab, mit seiner dienstlichen, steilen Schrift, vier Finger Abstand von oben, drei Finger Abstand vom Rand. Er unterschrieb sehr langsam: ,,Alois Franz Baron von Taittinger, Rittmeister." Es glich gar nicht seiner gewohnten Unterschrift, so langsam und vorsichtig hingemalt waren seine Buchstaben. Es war ihm, als ware es gar nicht sein Name. Einen fremden Namen unterschrieb er. In der Halle wartete Zenower. Er nahm das Gesuch, suchte lange darin zu lessen und den Anschein zu erwecken, als müsste er es vorsichtig prüfen, nur, um nicht den Rittmeister bald wieder ansehn zu müssen. Schliesslich faltete er es zusammen. Taittinger sagte: „Jetzt bin ich kein Vorgesetzter mehr, Zenower!" Er zog die Uhr aus der Westentasche, eine goldene Uhr, sie stammte aus dem Juwelierladen des Kommerzialrats Gwendl, auf der Rückseite eingraviert waren die Initialen Taittingers und die seines Onkels. Es war ein Geschenk des Onkels, anlasslich der Ausmusterung in Mahrisch-Weiskirchen. „Nehmen Sie die Uhr!" — sagte Taittinger. Zum ersten Mal schenkte er etwas her — ausser Geld und Blumen hatte er noch niemals etwas hergegeben. Zenower sah ihn lange an, zog seine eigene, eine umfangreiche silberne, und sagte: „Nehmen Sie diese, Herr Baron!" Dann, als er sah, dass Taittinger wartete, die silberne Uhr in der flachen Hand, fügte er hinzu: „Wenn Sie einen Freund brauchen " „Ich fahre heute noch aufs Gut!" — sagte Taittinger. Er liess die Uhr in die Westentasche gleiten. Er tat sehr geschaftig. „Nicht wahr? Sie erledigen das Gesuch! Verkaufen Sie beide Pferde. Ich mag sie nicht. Schreiben Sie bald. Danke Ihnen sehr, lieber Zenower! Meine Adresse haben Sie ja!" „Gute Reise!" — sagte Zenower und erhob sich. ^Mein Gepack!" — rief der Baron. Er fuhr zur Ostbahn. XXV. Das Gut Taittingers war nicht leicht zu erreichen. Es lag im Bezirk Ceterymentar, eingefangen zwischen den tiefverschneiten Karpathen. Man musste zwei Mal umsteigen. Vom Bahnhof Ceterymentar waren noch sechseinhalb Kilometer bis zum Gut emporzufahren, hierauf noch anderthalb wieder hinunter. Es hiess Zamky, aber Taittinger hatte es immer schon die Mausefalle genannt, auch als Knabe noch, wenn ihn der Onkel in den Ferien eingeladen hatte. Der Bürgermeister Wenk war ein Deutscher, einer der wenigen versprengten sachsischen Kolonisten, die in der Gegend wohnten. Der Oekonom stammte aus Mahren, die Bauern waren Karpathorussen, der bereits ertaubte Lakai ein Ungar, der aber vollends vergessen hatte, aus welcher Gegend er hiehergekommen war, wann und zu welchen Zwecken. Das Letzte, was er in der Erinnerung behalten hatte, war die Rebeilion in Budapest und der Tod seines Herrn, des alten Barons. Der Förster war ein Ruthene aus Galizien, der Wachtmeister der Gendarmerie ein Pressburger: der einzige Mensch weit und breit, mit dem Taittinger manchmal in der Schenke ein paar Reden führen konnte. Es war Anfang Dezember. Der Frost hauste ringsum auf den Gipfeln und auch unten im Gut. Die Raben hingen reglos und schwarz an den verschneiten Tannen. Wenn sie nicht urplötzlich aufflatterten und gewaltig zu krachzen anfingen, konnte man zuweilen glauben, sie seien verzauberte Früchte. Man hatte das Wohnhaus nur flüchtig reparieren können, (so schnell war Taittinger gekommen und so wenig Geld war überdies vorhanden). Der Oekonom bezahlte den Handwerkern ausserdem nur die Halfte des Ausbedungenen — und sie kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass sie den versprochenen Rest „nach Weihnachten" nimmer sehen würden. Uebrigens gab es zwei Mal Weihnachten, für die Römisch-Katholischen und für die Russischen! Das Dach bekam hier und dort ein paar neue Schindeln, behielt aber die alten Löcher. Als man nach so langen Jahren wieder zu heizen begann, bogen sich die alten Türleisten, die Fensterrahmen, kein Riegel passte mehr und kein Schloss, und es seufzte und krachte in den grossen schweren Schranken, in denen sich die Leisten und die Facherbretter krümmten. Schief an halbgelockerten Haken hingen im Schreibzimmer die alten finsteren Ahnenbilder der Familie Zernutti. Im übergrossen Speisezimmer wucherte der Schwamm. Grosse braune, blaue und weisse Pappendeckel füllten die hohlen Fensterrahmen der Veranda. In der Küche nisteten zwei uralte Kroten, die der Lakai Joszi fütterte mit den sparlichen Winterfliegen, die hervorkrochen, wenn der Herd geheizt wurde, und die Joszi auch im Nu erspahte. Es war eine peinliche Ueberraschung gewesen, als der Baron ankam. Aber man hatte gedacht, er würde höchstens eine Woche bleiben, den unehelichen Sohn wegschicken, sich ein wenig umsehn und wieder abfahren. Als man aber von dem Wachtmeister erfuhr, dass Taittinger die Absicht habe, zu bleiben, ja, dass er den Dienst gar quittiert habe, begann man den Baron zu hassen, mit dem besonderen Hass, den die Furcht eingibt. Sie kannten ihn nicht genau. Leichtsinnig war er bis jetzt gewesen, das stand fest: Korn und Weizen und das Waldchen und das Geld hatte er verschleudert. Aber jetzt, wo er offenbar um seine Armut wusste, war er nicht vorsichtig geworden? Hatte er nicht deshalb die Armee verlassen? Wenn er wollte — er hatte so viel Rechenschaft zu fordern. Was war aus dem Weinkeller geworden? Wer hatte bald Heuschrecken, bald schlechte Ernten erfunden, den Fallit des Waldkaufers? Es ist gleich der erste Abend in der Herberge, das Schlafzimmer ist angeblich noch nicht fertig, Taittinger muss im Gasthof schlafen. Ein paar Bauern sitzen noch da, an dem grossen, breiten braunen Tisch, neben dem nackten grossen Lehmofen. Janko, der Wirt, schleicht um den Baron herum, obwohl er weiss, dass Taittinger weder etwas sagen will, noch auch neugierig ist, irgendetwas zu vernehmen. Die Bauern sind gewohnt, laut zu sprechen, oder aber zu schweigen. Leise zu sprechen verstehen sie nicht. Laut sprechen können sie nicht wegen des Barons. Sie können gerade noch von Zeit zu Zeit die Pfeifen ausklopfen, aber auch nicht, wie sonst, an den Tischrandern, sondern an den Stiefelschaften, unter dem Tisch. Wie nun der Wachtmeister eintritt, stramm vor dem Baron stehen bleibt, und der Baron ihn einladt, sich zu setzen und ihm die Hand gibt und mit ihm sogar trinkt, wird es vollends still um die Bauern und in ihnen. Sie senken die Köpfe und blieken nur gelegentlich verstohlen nach dem Tisch des Herrn. Der Baron und der Wacht meister sprechen deutsch, man versteht jedes zehnte Wort, aber man hatte ja Angst, auch zu horen, selbst wenn die beiden slovakisch oder ruthenisch sprechen würden. Taittinger halt es für selbstverstandlich, dass die Bauern so stumm sind. Seitdem er das Gut hat, aber auch früher, war er im ganzen vielleicht zehn Mal hier, und immer waren die Bauern so lautlos gewesen. Der Wachtmeister aber weiss, wie sie poltern, und er sagt dem Baron: „Sie schweigen so, aus Angst vor Herrn Baron!" „Angst — vor mir!" denkt Taittinger. „Ich tu ihnen ja nix!" sagt er. „Ja, grad deswegen, Herr Baron! — meint der Wachtmeister. „Das ist penibel!" — sagt Taittinger. Der Wachtmeister geht hinüber und sagt den Bauern auf slovakisch, der Herr Baron wünschte, sie sollten nicht seinetwegen schweigen. Das ist nahezu ein Befehl. Sie reden etwas, zu zweit, zu dritt, Dinge, die sie gar nicht hatten sagen wollen. Dann verfallen sie wieder in Schweigsamkeit. Der Wirt bringt Gulasch und Bier. Taittinger und der Gendarm essen. Auf einmal geht die Tür auf, und ein junger Mann tritt ein und geht geradeswegs auf Taittinger zu. Der Baron hört zu essen auf, halt noch Messer und Gabel und sieht auf den jungen Mann, den er nicht zu kennen glaubt. „Servus, Xandl!" sagt der Wachtmeister. Alle Bauern wissen, dass es der uneheliche Sohn des Barons ist und sehen auf. Die mit dem Rücken zu Taittinger gesessen sind, wenden sich um. Der Baron wird ihnen zwar nicht vertrauter, aber die Neugier ist machtiger als die Angst; und die Schadenfreude entschadigt reichlich. Jetzt müsste noch einer der vielen Glaubiger herankommen. Die Bauern wissen, cltiss der Gutsherr verschuldet ist. „Ihr Sohn?" — fragt Taittinger den Wachtmeister. „Nein" — sagt der junge Mann — „Ihr Sohn bin ich, Herr Baron!" — „Ah" ^sagt Taittinger — „Sie sind der Schinagl!" — „Ja!" — sagt der Junge. Taittinger sieht ihn genau an. Er tragt einen griinen Samtanzug, hat kurze Aermel und viel zu grosse, rote, aufgesprungene Hande und unappetitliche Nagel. Der Kopf könnte angehn, Taittinger bemüht sich, irgendeine Aehnlichkeit zwischen sich selbst und dem jungen Mann zu entdecken. Es geht nicht, beim besten Willen nicht. Der Junge hat rotgeranderte Augen aus blauem Porzellan, er verzieht den Mund unaufhörlich, seine Ohren glühen rot, sein Kopf ist kahl rasiert, so dass man die Haarfarbe nicht erkennen kann, seine blaue, tintenbefleckte Kappe mit dem schabigen, verrunzelten Lackschirm knetet er unaufhörlich mit den hasslichen Fausten. Er kann nicht einen Augenblick still sein. Er tritt von einem Fuss auf den andern, manchmal wippt er im Stehen. Taittinger hat noch niemals ein ahnliches Lebewesen gesehn. Er denkt schon daran, morgen abzureisen. „Ja, Herr Schinagl", sagt er, „was wünschen Sie?" — Er hat seine gewohnte, die alte Baron-und-Rittmeisterstimme, eine sehr langsame, lassige, dennoch scharf trompetende Stimme. Der Junge wippt einen Schritt zurück. „Ich möcht' wissen, wie es der Mutter geht!" Er spricht sehr laut, Taittinger empfindet, dass die Stimme gleichsam rot ist, gerötet, wie die Fauste und wie die Ohren. Der Kerl ist unausstehlich — denkt er und schiebt das Gulasch weg und trinkt Bier. „Was wollen Sie?" — fragt der Baron noch einmal. „Wissen, wie's der Mutter geht!" — wiederholt der Xandl. Der Baron denkt nach, aber nicht über das Befinden der Mizzi Schinagl, sondern darüber, ob er sagen soll. Ihrer Frau Mutter oder Ihrem Fraulein Mutter! Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass man einfach sagen könnte: Ihrer Mutter. „Ich hab' lang nichts mehr von Fraulein Schinagl gehort", sagt er schliesslich. „Aber ihre Adresse?" — fragt der Junge. „Sie sind doch in Graz, in der Schule?" fragt der Baron. „Ja, aber hinausgeschmissen haben's mich. Meine Mutter hat auch nicht bezahlt. Ich hab auch was angestellt und ich mocht' auch gar nicht zurück!" Der Wachtmeister hat unbeirrt sein Gulasch aufgegessen, sein Krügl ausgetrunken, jetzt bestellt er noch ein Bier, tut einen gewaltigen Schluck, lauft plötzlich blaurot an und wischt sich den Schnurrbart mit einem fast ebenso rotblauen Taschentuch trocken. Dann erhebt er sich, steekt das Taschentuch ein und schlagt Xandl ins Gesicht. Der Junge torkelt. Der Wachtmeister setzt sich und sagt ruhig: „Xandl, Du wirst mit dem Herrn Baron so reden, wie es sich gebührt, oder ich führ Dich ab, und Du kommst zwei Jahre spater erst aus dem Kriminal. Weisst Du, wie Du Dich zu benehmen hast?" „Jawohl, Herr Wachtmeister!" „Also bitte den Herrn Baron um Verzeihung!" „Ich bitte um Verzeihung, Herr Baron" — sagt Xandl. Die Bauern lachen schallend im Ghor und klatschen sich auf die Schenkel. „Also, Herr Wirt," ruft der Baron, „geben's dem Jungen was zu essen. Drüben!" — fügt er hinzu. „Wenn Sie gegessen haben, gehen's heim, zum Herrn Oekonomen, und sagen ihm, dass Sie morgen nach Graz zurückfahren!" „Dank schön, Herr Baron, möcht' noch etwas bitten!" Ja?" 12 „Ob ich zu Weihnachten wieder herkommen dürft'?" „Ja!" — sagt der Baron. „Erlauben mir schon die Freiheit, Herr Baron , sagt der Wachtmeister, „aus dem wird nix Rechts." „Ist nicht seine Schuld!" antwortet der Baron. „Ich weiss schon", meint der Wachtmeister „die ho'hen Herrschaften denken immer viel zu gut von derlei Gesindel. Unser Herr Bezirkshauptmann, wenn ich ihm politisch subversive Elemente angebe, sagt immer, es wird nicht so schlimm sein. „Er ist ein Kind aus dem Volke!" — sagt Taittinger, er denkt dabei an Zenower und dass dieser auch ein uneheliches Kind war, vielleicht auch von irgendeinem Taittinger. Wer weiss, es ist alles so verworren. Der Xandl hat gegessen, erhebt sich, geht, bleibt noch einmal stehn, sagt: „Bitte um Entschuldigung! und reicht dem Baron ein Couvert und macht einen schauerlich unappetitlichen Knix und geht. Taittinger gibt dem Wachtmeister das Couvert: „Was will er? Der Wachtmeister liest vor: „Sehr geehrter Herr Baron, der Herr Oekonom ist unerhlich und der Bürgermeister weiss es. Die Frau des Oekonomen hat alle Tischtücher, Servietten und Leintücher mit der Krone und die grosse Fischterrine mit dem Portrat einer Kaiserin. Dies erlaubt sich Ihnen mitzuteilen aus Dankbarkeit Xandl Schinagl. „Es ist leider wahr! — sagt der Wachtmeister. Taittinger sagt: „Da kann man nix machen!" Er starrt in die Luft. Er weiss schon, er ist nicht für diese Welt gemacht. Seit dieser ersten Begegnung mit seinem Sohn weiss Taittinger, dass er sein Gut hasst, die ganze Gegend, das Haus, das Andenken an den toten Onkel Zernutti, dessen Sohn, den langweiligen Vetter, die Berge, den Winter, den Oekonomen, das gestohlene Geschirr sogar, den tauben Joszi. Man heizte nicht ausgiebig. Mitten in der Nacht, wenn das Feuer im Schlafzimmer ausging, wurde es plötzlich, ohne Uebergang, frostig und nass, die Kissen und die Leintücher schwitzten feuchte Kal te aus und rochen nach faulem Heu. Weihnachten nahte, ein unleidliches Fest, erfüllt von heuchlerischen Wünschen aller bösen Menschen, von gierig ausgestreckten süchtigen Handen, von verkleideten Bauernbuben und Engeln aus Papier und Weih- nachten dauerte in dieser Gegend, dank dem russischen Kalender, etwa drei Wochen. Nun hatte dieser junge Schinagl noch gedroht, hierherzukommen. Ohne den Wachtmeister war es unmöglich, den Jungen anzusehn. Beide Pferde waren verkauft, das nachste Semester für den Schinagl bezahlt, der Baron Taittinger hatte eigent lich noch Geld genug, um einige Wochen in Wien zu leben. Bescheiden allerdings, nicht im Hotel Imperial. Jede Nacht, wenn Taittinger die Herberge Jankos verliess, um den bitterkalten Leidens-Heimweg anzutreten, hatte er so viel Sliwowitz getrunken, dass er überzeugt war, er könnte heute noch packen, morgen früh einspannen lassen und wegfahren. Aber als er sein Haus betrat und die Kerze zuerst, dann die Lampe entzündete, ergriffen ihn Furcht und Ekel vor den nachtlichen Schatten der Möbel, vor dem Schwamm an den Wanden, vor den Gerauschen der knackenden Turen und Fenster. Er legte sich schnell hin, solange das Feuer im Ofen noch hielt, verfiel in unruhigen Schlaf, erwachte spat, trank einen Kaffee aus Zichorie, hierauf einen bleichen Landwein, kleidete sich an, streifte gedankenlos und ziellos durch die Gegend, sehnte sich nach dem Abend, ging in die Herberge, erwartete den Wachtmeister, sprach kaum ein Wort mit dem Bürgermeister und dem Oekonomen, die gelegentlich auch eintraten, und trank sich neuerlich einen kümmerlichen Zweistundenmut an, der gerade noch für den Heimweg reichte. Der Baron Taittinger gehorte zu den nicht seltsamen Menschen, die, in der Disziplin des Militars herangewachsen, vom Schicksal genau so Befehle und Anweisungen erwarteten wie von vorgesetzten Stellen. Eines Tages kam auch solch eine Weisung. Der Rittmeister Taittinger hatte sich am vierzehnten Dezember 9 Uhr 30 vormittags, vor der Superarbitrierungskommission im Zweiten Wiener Garmsonsspital zu stellen. Dies war die Folge seines Gesuches um einen langeren Urlaub aus Gesundheitsgrunden. Man hatte nicht wenig Eile, diesen Rittmeister loszuwerden. Sonst pflegten Befunde nicht so schnell zur Superarbitrierung zu führen! Freilich war Taittinger qekrankt. Er fühlte Wehmut, Schmerz, Selbstverachtung. Am zehnten Dezember schon fuhr er weg. Dem Oekonomen sagte er vor der Abreise: „So, im Februar bin ich wieder hier! Da wird alles anders! Dem Gendarmeriewachtmeister beim Abschied am Bahnhof, sagte er: „Ich verlass' mich drauf, dass Sie diesen Buben, den Schinagl, nach Graz zuruckschicken. r kann eine Woche beim Oekonomen bleiben! Als der Stationsvorstand das Zeichen zur Abfahrt ga , winkte ihm Taittinger vom Fenster freundlich zu Dankbarkeit im Herzen, als hatte der Beamte, ledighc des Barons wegen, den Zug abfahren lassen. Im Februar komm' ich wieder — dachte er un erfüllt von einer vollkommen grundlosen Sicherheit sagte er sich auch: lm Februar bin ich ein Qfjanderer Mensch; und: lm Februar ïst ja schon beinah Fruhling. Er dachte, dass es gut ware, in Wien auch den guten, lieben Zenower wiederzusehn, und er telegraphier e von Pressburg aus, wo er umzusteigen hatte: „Erwarte Sie dringendst Wien, Prinz Eugen . r ging vo er Hoffnung der Superarbitrierung entgegen. Sein„Befund" lautete: Herzerweiterung, hochgradige Neurasthenie, Herzmuskelschwache, zu aktivem Dienst vorlaufig ungeeignet. Er war nicht einmal untersucht worden. Der Generalstabsarzt im Zweiten Wiener Garnisonsspital hatte nur: „Servus!" gesagt und das Papier unterschrieben. „Alles Gute, Rittmeister!" sagte er dann noch. Es war eine Kondolenz. So also! Das war der Abschied von der Armee. Baron Taittinger ging die Wahringerstrasse entlang, er ging achtlos durch den geschmolzenen kotigen Schnee, zum ersten Mal kein Soldat mehr, seit er denken konnte, zum ersten Mal kein Soldat. Was denn sonst? Ein Zivilist eben. Es gibt lauter Zivilisten auf der Strasse, aber die sind es schon lange. Er aber ist sozusagen ein Rekrut unter den Zivilisten. Der Abschied liegt gefaltet in der Brieftasche. Es ist nicht leicht, so mir nichts, dir nichts ein Zivilist zu werden. Ein Zivilist hat vielleicht Vorgesetzte, aber keine Höheren. Ein Zivilist kann hingehn, wohin es ihm beliebt und zu welcher Zeit auch immer. Ein Zivilist ist nicht unbedingt verpflichtet, seine Ehre mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Ein Zivilist kann aufstehn auch ohne Burschen: einen Wecker hat ein Zivilist. Man geht, als wollte man sich immer noch zivilistischer machen, achtlos durch den kotigen Schnee, biegt links ein, in den Schottenring und will sich im Café niederlassen. Man sieht nicht mehr, wie früher, flüchtig durch die Scheiben, ob das Lokal standesgemass ist. Ein Zivilist kann sich alles erlauben. Taittinger tritt also in ein beliebiges Café am Schottenring, in der Nahe der Polizeidirektion. Es ist ein kleines, ein sogenanntes Volkscafé. An einem der wenigen Tische sitzen sechs Manner mit Hüten. Alle mit steifen Hüten. Sie spielen Tarock. Geht mich nichts an! — denkt Taittinger und sieht in den trüben Wintertag hinaus und trinkt Kaffee mit Schlagsahne. Noch ein Gast kommt. Taittinger nimmt wohl zur Kenntnis, dass irgendwer eingetreten ist, aber nicht anders, als wie man eine Fliege zur Kenntnis nimmt. Der Mann setzt seinen Hut nicht ab, er salutiert mit einem Finger und setzt sich zu den Tarockspielern und beginnt zu kiebitzen. In dem Augenblick, wo Taittinger: Zahlen! ruft — springt der Mann auf und sieht sich um. Taittinger glaubt, ihn irgendwo gesehen zu haben. Er zieht den Hut. Er kommt naher und sagt: „Herr Baron erkennen mich nicht? Herr Baron hier?" Ja, das ist der Mann vonden Büchln, Taittinger weiss es sofort. „Darf ich Platz nehmen?" fragt Lazik, und er sitzt auch schon. Und er erzahlt auch schon: „Diese Welt, heutzutage! Ich habe sie ganz durchschaut, diese Feiglinge, diese Schufte! Diese noblen Herrschaften! Jeder von ihnen hat mindestens ein Menschenleben auf dem Gewissen, Mörder sind es, privilegierte Mörder. Orden und Geld und Ehre haben sie. Sehen Sie, Herr Baron, wie ich heruntergekommen bin." Und Lazik stand auf, zupfte an seiner Hose, klappte den Rock um und zeige das zerfranste Unterfutter, hob den Fuss und deutete auf das zerrissene Oberleder, berührte den Kragen und sagte: „Seit einer Woche hab' ich ihn nicht gewechselt". „Das ist schlimm!" — sagte Taittinger. — „Herr Baron sind ein Engel. Herr Baron, Sie waren der einzige, der gut zu mir war" — sagte Lazik. „Ich möchte Ihnen die Hande küssen, Herr Baron. Erlauben Sie mir die Gnade, Ihnen die Hande zu küssen." Lazik beugte sich vor, Taittinger verwahrte die Hande in den Taschen. „Nein, ich verstehe, ich bin nicht würdig" — sagte Lazik. „Aber ich darf Ihnen von der himmelschreienden Ungerechtigkeit erzahlen, ja?" — „Ja!" — sagte der Baron. „Also da bin ich mit meinen Büchln zu dem Grafen W. gegangen, gelahmt ist er jetzt, Gott sei Dank, eine himmlische Gerechtigkeit gibt's noch. Und ich red' mit ihm, wie ich seinerzeit mit Herrn Baron gesprochen hab'. Aber der Herr Graf hat leider noch einen gesunden Arm, und den streckt er aus und klingelt, und der Diener kommt, und der Graf sagt: den Sekretar, und der Sekretar kommt, und der Graf sagt: behandeln Sie den Herrn, wie es sich gebührt. Ich sprech' ahnungslos, ein unschuldiges Kind, mit dem Sekretar — und wie ich nach Haus' komm, steht der Rothbucher von der Brigade da und sagt: Lazik, ich muss Dich verhaften! — Also, kurz und gut, die Büchln sind beschlagnahmt und verboten, aus der Zeitung schmeissen's mich hinaus, jetzt leb' ich nur noch von den Jüngln drüben, sie sind auch von der Brigade!" „Schlimm, Herr Redakteur!" — sagte Taittinger. „Herr Baron sind noch so lieb, mich so zu betiteln" -—- sagte Lazik, Tranen glucksten schon hörbar in seiner Kehle. „Wenn ich mich revanchieren darf: ich hab' hier so eine kleine Vertretung von Medikamenten". Er zog Tübchen und Pulverchen aus den Taschen. — „Man ist schlaflos, manchmal, ich weiss, Herr Baron, und der Doktor verschreibt's nicht!" In diesem Moment erhoben sich die sechs Manner, grüssten mit den ernsten steifen Hüten, und der letzte sagte: „Entschuldigung!" steckte die Tuben und Pulver in die Tasche und befahl Lazik: „Komm!" — Lazik erhob sich, verbeugte sich und folgte den Mannern. Der Kellner kam an den Tisch. „Bitte um Verzeihung, Herr Baron, ich soll vom Herrn Oberinspektor Sedlacek. (Herr Baron haben ihn nicht erkannt, sagt er), ausrichten, dass der Redakteur Lazik mit Kokain handelt und die Polizei benützt ihn und — und, sollt' ich sagen, dass Herr Baron ihn nicht unterstützen sollten!" „Danke!" — sagte Taittinger. Er trat hinaus, winkte einem Fiaker, befahl: Kagran! Als er die Strafanstalt betrat und sich beim Direktor melden liess, hatte er das Gefühl, dass er hierher gekommen sei, um sich freiwillig einsperren zu lassen. Es war noch immer der alte Direktor, er erkannte Taittinger sofort. „Ich lasse Herrn Baron hier" — sagte er, wie damals. „Nein, bitte!" — sagte Taittinger, so bestimmt, dass der Direktor sitzen blieb. „Ich möchte das Fraulein Schinagl nicht allein sprechen!" Man machte die Tür auf, die Schinagl kam, sie blieb an der Schwelle stehn, wie damals, sie schlug auch die Hande vors Gesicht, Taittinger ging ihr entgegen. „Grüss' Gott, Mizzi!" — sagte er. Mizzi erblickte den Direktor hinter dem Schreibtisch, erschrak und machte einen ungelenken Knix. „Kommen's naher, Mizzi!" — sagte der Direktor — und zum Baron: „Sie ist sehr brav! Im Marz wird sie frei!" „Was wirst Du machen?" — fragte Taittinger. „Oh, Herr Baron sind so gut!" —- sagte Mizzi. Sie erschien Taittinger anders als das letzte Mal. Er schob ihre Haube empor, das Haar quoll blond und voll hervor. Der Direktor sagte: „Wir sind nicht so grausam, Herr Baron!" „Dank' schön! Herr Rat!" — sagte Mizzi und versuchte noch einmal einen verfehlten Knix. Sie zog ein Taschentuch aus dem blauen Kleid und wischte sich die Augen. Aber ihre Augen waren trocken, der Baron sah es wohl. Nichts rührte sich in seinem Herzen. Es war nicht so wie das letzte Mal. Er wollte gut sein, vielleicht war die Schinagl nur wegen des Direktors so verandert oder wegen der nachgewachsenen Haare. „Dein Sohn war bei mir!" — sagte Taittinger. „Ich hab' ihn wieder nach Graz zurückgeschickt!" —• „Der Xandlü" rief Mizzi. „Wie sieht er aus?" —- Leider nicht wie ich — wollte Taittinger antworten, aber er sagte: „Ganz gut, recht gut!" — Mizzi begann, wirklich zu weinen, aber dies Mal wischte sie sich die Augen mit den Handknöcheln trocken. Sie war übrigens schnell fertig mit dem Weinen. Mit einer harten, gleichgültigen, metallenen Stimme bat sie um die Erlaubnis, gehen zu dürfen. „Bitte!" — sagte Taittinger. Sie wurde abgeführt. „Die fühlt sich ganz wohl, Herr Baron!" sagte der gefallige Direktor. „Gewiss, das sieht man!" — sagte Taittinger. „Sie sind sehr liebenswürdig." — „Immer zu Diensten, Herr Baron!" Der Direktor erhob sich. „Immer zu Diensten!" wiederholte er. Der Fiaker wartete. Taittinger hatte das deutliche Gefühl, dass etwas zerbrochen sei. Zugleich kam es ihm auch vor, dass er durchaus nicht imstande sei, nie und nimmer imstande sein würde, die verworrene Welt zu begreifen. Es war genau so wie einst, in Mahrisch-Weisskirchen, vor der mathematischen Schulaufgabe. Er war kein Soldat mehr und er war noch kein Zivilist. Hing es damit zusammen? Er wusste nicht, ob ein Mensch gut sei oder nicht. Er hatte, würde man ihn danach gefragt haben, nicht sagen können, ob Lazik gut, schwach, gemein sei, ob Mizzi brav, verdorben, böse, nicht einmal, ob ihr Sohn — sein Sohn, dachte er nebenbei — ein Luder sei oder noch kein Verlorener. — Wenn wenigstens der Zenower schon da ware. Es war offenbar ein ereignisreicher Tag, das Wort: schicksalsschwer, das er einmal irgendwo gelesen hatte, kam dem Baron in den Sinn. Man sagte ihm im Hotel, dass der Herr Leutnant Zenower eben angekommen sei. Zum vierten Mal verandert war Zenower in der Offiziersuniform, fremder noch als in Zivil. Jetzt, da er nicht mehr die Streifen des Wachtmeisters trug, sondern die jugendliche Distinktion des Leutnants, erschien er alt, weit alter, als er in Wirklichkeit war. Er selbst mochte es wohl spüren. Er ging nicht soldatisch mehr einher, er sah aus, wie Reserve aussieht: ein wenig verkleidet. Es war nicht Zivil und es war auch keine Montur. Ein Rechnungsleutnant hat keine Sporen. Man glaubt, nachdem man dreizehn Jahre lang Sporen getragen hat, entweder, dass man Zivil tragt, oder aber, dass man gar nicht geht. Es ïst fast, als hatte man keine Füsse! All dies erzahlte Zenower mit einem echten, beinahe bittern Ernst. Taittinger begriff ihn vollkommen. Bei der Parade-Uniform hatte man keinen Tschako mehr, sondern einen Krappenhut, wie ein Bezirkskommissar. Taittinger verstand diesen Schmerz. Es dauerte noch lange, ehe sie aufhören konnten, gemeinsam das tiefe Unrecht zu verdammen, das ein lacherliches Reglement den Rechnungsoffizieren zufügte. Die ganze angeborene Klugheit nutzte Zenower nichts. Dreizehn Jahre Kavallerie waren genau so stark wie die Natur. Man war ein Rechnungsleutnant. Man war ein altlicher Leutnant. Es konnte nicht fehlen, dass sie in dieser Nacht noch Bruderschaft tranken. Arm in Arm kehrten sie in das Hotel zurück. Der Rechnungsleutnant Zenower hatte am nachsten Tag in eine entfernte Garnison abzugehn, just dorthin, wo ein Rechnungsleutnant gebraucht wurde. Es war das vierzehnte Jagerbataillon, weit weg von aller Welt, in Brody, an der russischen Grenze. Man erwachte spat, hatte kaum noch Zeit, miteinander zu sprechen, vor allem wieder in den familiaren Duzton der gestrigen Nacht heimzufinden. „Wer weiss, wann ich Dich wiedersehe!" — sagte der Baron. „Wer weiss, ob ich Dich wiedersehe!" — sagte Zenower. Sie umarmten sich und küssten sich auf beide Backen. Der Baron blieb verlassen zurück, ein Waisenknabe. Er liess sich gehen. Seine Nachlassigkeit gewann allmahlich auch einen bestimmten Rhytmus. Er traf keine alten Freunde mehr. Er genoss stundenlange Gedankenlosigkeit, Gange ohne Ziel, Essen ohne Appetit, Trank ohne Lust, eine Frau ohne Freude, sinnlose Einsamkeit mitten im geschaftigen Getriebe und zuweilen den Rausch ohne Fröhlichkeit. Manchmal dachte er an Mizzi Schinagl und an den Marz. Eines Abends schrieb er an den Gefangnisdirektor. Er erfuhr, dass die Schinagl am fünfzehnten Marz entlassen werden sollte. Weder empfand er etwas besonderes für die Mizzi, noch auch etwas gerade für den fünfzehnten Marz. Es war wenigstens ein Datum, ein fester Punkt, eine Grenze. Die ruhelosen Gedanken hielten manchmal vor diesem Datum inne; vor einem Schranken. XXX. Dieses Jahr brachte einen frühen Frühling. Im Marz warmte bereits eine maienhafte Sonne. Mit einer jahen übersatten Kraft blühte der Goldregen in den Garten. Die Amseln übertönten alle Gerausche der Stadt. Zusehends breiter und wuchtiger wurden die hellgrünen Blatter der Kastanien und ihre Kerzen dufteten herb, stolz, weiss und ragend. Sogar die hurtigen Schwalben schienen in diesem Jahr zutraulicher zu sein. Hart über den Köpfen der Passanten schossen sie vorbei, friedliche Pfeile des Himmels. Vom Kahlenberg wehte ein standiger sachter Atem in die Stadt. Die Mauern und das Pflaster erwiderten ihm dankbar und zartlich mit ihrem eigenen besondern Atem. Und wenn der Abend kam, konnte man von jedem Punkt der Stadt das gütige Rot der Sonne die Spitze des Stefansturms liebkosen sehn. Es roch nach erwachendem Hollunder, nach dem frischen Brot der Backerladen, deren Türen weit offen standen, nach dem Hafer in den Sacken vor den Fiakergaulen, nach jungen Zwiebeln und Radieschen von den Markten. An einem solchen Tage, morgens um neun Uhr vierzig, wurde Mizzi Schinagl aus der weiblichen Strafanstalt entlassen. Ihre Entlassung war für Taittinger seit Wochen ein Grund gewesen, nicht so bald auf das Gut zurückzukehren. Manchmal, wenn er so allein sass, in einem der frühreif erblühten Gasthausgarten der Wiener Vorstadte, der Wein ihn traurig gemacht hatte und die Luft zugleich heiter, führte er stumme Zwiesprache mit sich selber. Er steilte sich Fragen, auf die er keine Antwort wusste Nicht sein Gewissen plagte ihn! Ob die Mizzi durch seine Schuld ins Haus der Matzner gekommen war oder nicht, beschaftigte ihn schon deshalb nicht, weil er nichts Betrübliches im Schicksal einer verlorenen Frau sehen konnte. Er kannte nur heitere, sorglose Freudenmadchen, denen das Leben viel mehr Spass zu bereiten schien als zum Beispiel den Frauen der Ministerialrate, der Sektionschefs, als den versauerten und bösen Tabaktrafikantinnen, als verweinten Köchinnen, von Mannern verlassenen Bürgerstöchtern. Im übrigen hatte er durch seine ekelhafte „Affare" der Mizzi ein paar gute, sogar marchenhafte Jahre verschafft; durch die gleiche „Affare", dank der er selbst seinen Glanz, seine Sorglosigkeit und um ein Haar Ehre und Namen verloren hatte. Weshalb also kümmerte er sich noch um die Mizzi? Liebte er sie? — Auch dies nicht. Das Herz gehorte zu den verkümmerten Organen Taittingers. Er wusste keine Antwort. Er fühlte nur irgendeine unbegreifliche und unlösliche Beziehung zur Mizzi, zur „Affare". Unbegreiflich war all dies zwar, aber so schien es ihm, beschlossen und besiegelt. Gegen Beschlossenes und Besiegeltes war einfach nichts zu machen. Er konnte sich einer gewissen feierlichen Stimmung nicht enthalten, als er am Morgen des fünfzehnten Marz nach Kagran hinausfuhr. Er wusste selbst nicht mehr, dass er allein es sich vorgenommen hatte, die Schinagl abzuholen. Ihm schien es, dass ihm irgendein Zeremoniell diese törichte Handlung diktiere. Uebrigens war die Fahrt im Fiaker durch den üppigen Triumph dieses Morgens durchaus geeignet, Taittingers aufkeimende Ueberlegungen in einem heiteren Rausch aufzulösen. So kam er, als ware es das Selbstverstandliche in die Kanzlei des Gefangnisdirektors, um die Schinagl abzuholen. Sie wurde infolgedessen eine halbe Stunde früher aus der Zelle geholt. Sie trug den braunen Mantel, in dem man sie im vergangenen Herbst ein- geliefert hatte. Den grossen Filzhut mit den Glaskirschen hielt sie in der Hand, aus Angst, er könnte in der Zwischenzeit unmodern geworden sein. Ihr immer noch kurzes, üppig nachgewuchertes schönes Haar leuchtete mit frischem Glanz, und ihr gebleichtes Angesicht erschien schmal, edel geradezu. Jetzt sieht sie wirklich wie die Helen' aus! — dachte Taittinger. „Ich kann mir die übliche Sittenpredigt ersparen" — sagte lachelnd der Direktor. „Mizzi Schinagl, der Herr Baron kümmert sich in so edler Weise um Sie,dass ich bestimmt weiss, ich werd' Sie hier nicht mehr wiedersehn. Herr Baron, ich steh' Ihnen immer zur Verfügung!" Auf Taittinger wartete draussen der Wagen. „Wohin willst Du?" fragte er. Mizzi aber sah sich erst bekümmert um, offenbar vermisste sie jemanden. „Ich muss noch warten" — sagte sie — „die Leni kommt noch. Sie haben mich zu früh herausgeholt!" — Es war ein Vorwurf. Die Freiheit, der Frühling, der wartende Gummiradler und der Baron schienen der Mizzi keine Freude zu machen. „Wer ist die Leni?" fragte Taittinger. „Meine Freundin, Herr Baron! Wir waren alle beide in der Zelle. Die Leni wegen Beihilfe zur Fruchtabtreibung, die ist ein sauberes Weibsstück, die Leni, wir waren gut miteinander, sie ist schon vor vier Wochen freigekommen. Die halt Wort, die kommt sicher." In diesem Augenblick sah der Baron auch etwas Stattliches, Grelles und Winkendes eilig herannahen. Jetzt konnte man diese Erscheinung schon vernehmen. Schrille Rufe wehten vor ihr einher. Immer deutlicher erkannte man, dass sie den Namen „Mizzi" rief und, dass es sich um ein weibliches Wesen handelte, in einem gelben, rohseidenen Kostüm, mit einem hellgrünen, radgrossen Hut, mit schwarzen, hervorquel- lenden Locken, in gelben Knopfstiefeln, mit Regenschirm, Boa und Pompadourtaschchen. Es war Magdalene Kreutzer, konzessionierte Karussellbesitzerin im Prater. Die Frauen küssten sich innig. „Sie sind der Herr Baron, weiss eh' schon, mir brauchn's nix mehr zu sag'n, i weiss eh' schon alles von der Mizzi. Und das ist der Wagen, da steig'n m'r ein und fahren erst zu Deinem Papa, der is gelahmt, sonst war' er hergekommen!" Und ehe Taittinger noch wusste, was eigentlich vorgefallen war, sass er schon auf dem Rücksitz, Mizzi und Leni gegenüber, schüchtern und ausserst unbequem, mit hoch gezogenen Knieen. Er senkte den Kopf. Ueber ihn hinweg rasten unverstandliche Redensarten, zuckten Ausrufe wie grelle Blitze, klatschte Gelachter wie heiterer Platzregen, in einem Dialekt, den er noch niemals so intensiv und in solcher Nahe vernommen hatte, und der an Raderrollen, Miauen und Hörnerblasen zugleich erinnerte. Endlich erreichte man Sievering. Hier war Mizzi einmal grossartig vorgefahren, als „Kebsweib" des persischen Kaisers. Die Hausmeisterin freilich lebte noch, der Friseur Xandl war verheiratet und nach Brünn verzogen. Der Laden war wieder geöffnet (er gehorte jetzt einem jungen Mann). Nur für diesen Tag war der al te Schinagl aus dem Heim in Lainz entlassen worden, denn er wollte seine Tochter nichts von seiner „Schande" wissen lassen. Drinnen, hart neben der offenen Tür, sass der gelahmte alte Schinagl. Im dunklen Hintergrund schimmerten die weissen Meerschaumpfeifen wie Knochen von Skeletten. Auch im Baron erweckte der Laden einige Erinnerungen. Hier hatte er die Mizzi zum ersten Mal gesehn. Der alte Schinagl konnte nur die Arme bewegen. Auch seine Zunge war hilflos, er stotterte, stöhnte und schneuzte sich schliesslich, mit uner- warteter Kraft. Aus Verlegenheit kaufte Taittinger fünf Pfeifen. Die Hausmeisterin fragte, ob sie Tabak holen dürfe. Aus Verlegenheit sagte er: „ja, bitte, danke vielmals!" — Ob die Mizzi nun hier bleiben wollte? — stammelte der Alte. „Nein!" entschied Magdalene Kreutzer. Es war langst beschlossen. Die Mizzi wohnte, um sich ein bisserl „zu renovieren" vorlaufig im Hause der Kreutzer, Klosterneuburgerstrasse. Sie hatte auch gedruckte Visitkarten im Pompadourtaschchen, sie kramte eine hervor, gab sie dem Taittinger und sagte: „Nicht verschmeissen, Herr Baron, wir erwarten Sie morgen, Sonntag, dritter Stock links, Tür 21, nicht vergessen, nachmittag fünf. Bitte, nicht zu spat kommen, Herr Baron!" Damit verabschiedete sie Taittinger. Er verneigte sich, sagte dem Fiaker die Adresse der Kreutzer, bezahlte die Fahrt der Frauen im Voraus und verlor sich in der nachsten Seitengasse, wo ihm eine Caféterasse tröstlich entgegenwinkte. Er verschmiss die Adresse nicht, er vergass auch nicht die Stunde, er hielt alles Abgemachte ein, wie immer. Mit einiger Bangnis stand er am Sonntag vor der Tür 21, roch er Sauerkraut, Katzen und trocknende Kinderwasche, hörte er Stimmen aus allen Zimmern, unter, über, neben sich, auch die Stimme der Mizzi unterschied er jetzt. Er zog entschlossen an der Klingelschnur, er trat unmittelbar in ein Zimmer, das aus rotem Plüsch, grünem Tischtuch, gelben Vasen, Torten, Orangen, Kaffeetassen und einem enormen Guglhupf bestand. In sommerlichen weissen, schwarzgetupften Kleidern sassen beide Frauen, wie Schwestern, da. Schwarz die eine, goldblond die andere. Er tat Alles, was sie ihm befahlen: er ass Guglhupf, schleckte Eingemachtes, trank Kaffee, hierauf Himbeerwasser, rauchte eine Trabucco, obwohl er nur Zigaretten vertrug, hörte zu, verstand nichts, dachte auch nichts und bekam Sodbrennen, Er entschloss sich, nach der Toilette zu fragen, wurde in die Küche geleitet, in einen unerkennbaren Raum gesperrt, begnügte sich damit, Wasser aus der Blechkanne in die Muschel zu giessen und wieder hinauszugehn. Er hatte sich kaum wieder hingesetzt, als die Klingel ertönte. Ein Ungeheuer trat ein, nicht von dieser Welt. Es erinnerte an einen Kutscher, an einen Schlachtermeister und ein angekleidetes Monument. Es war Ignaz Trummer, der Freund der Magdalene Kreutzer. So steilte er sich vor, und von Allem, was er im nachsten Augenblick noch hersagte, mit einer Geschwindigkeit, die weder seinen körperlichen Ausmassen, noch seiner grollenden Stimme entsprach, verstand Taittinger nur, dass er sich sehr geehrt fühle. Er ass, trank, sprach, rauchte, trank, ass und sprach. „Wos habt's denn nur?" — fragte er schliesslich. „Und fahr ma endli aussa?" — „Um Gottars wölln!" — rief er ohne Grund von Zeit zu Zeit und dann wieder: „Haarfix no amoi!" — Es war nicht mehr einfach der Wiener Dialekt. Es war, wie wenn ein Bar den Versuch gemacht hatte, italienisch zu sprechen. Die Pferdebahn war überfüllt, der Trummer, Haarfix no amoi, bestand darauf, dass sie zu Fuss in den Prater gingen, ins „Geschaft", — er meinte das Karussell. Gehorsam schritt Taittinger neben dem Ignaz dahin, die Frauen gingen voran. Wenn man sich an den Dialekt gewöhnte, konnte man bald Einiges begreifen. Trummer kannte die grosse Welt, er war in der Tat einmal Kutscher gewesen, beim Grafen Zamborski. Nach dem Tode des Alten war er Pferdehandler geworden. Dann hatte er leichtsinnig gehandelt und einer militarischen Pferde-Assentkommission Schwierigkeiten gemacht, einem Freunde zuliebe, und ein 13 anderes Tier geschickt statt des assentierten, und so „Sperenzchen" gemacht. Na, der Herr Baron kennen ja auch so G'schichten, vom Aerar halt, und so ist man jetzt beteiligt am Karussell der Magdalene Kreutzerl und ein gutes Geschaft war s; man könnt jetzt eventuel, das Wachsfigurenkabinett billig kaufen. Das ist was Nobles und direkt hohe Kunst, musealische . . . Das Karussell war in der Tat stattlich, es bestand aus Pferden, Wagen, Schlitten und Booten. Es drehte sich um eine grosse Statue aus buntem Pappmaché, einer Jungfrau, mit zwei weizenblonden Zöpfen, Riesenarmen, einer turmhohen Frisur und einer Riesenkrinoline. Auch diese Jungfrau selbst drehte sich um die eigene Achse. Aus ihrem Innern ertönte eine Drehorgel. Das Karussell stand auf einem runden hölzernen Unterbau. Eine Tür in diesem hölzernen Rund ging auf, die Frauen traten ein, Taittinger musste folgen, selbst das Ungetüm kam seltsamerweise durch die kleine Tür. Jetzt stand man unten, über sich den Larm der Menschen, die Musik der Orgel, das Gerassel der Ketten, an denen die Fahrzeuge schlenkerten. Es war dunkle und feucht. Ein Esel, grau wie der Dammer in diesem Raum, drehte sich unaufhörlich im Kreis, einem Hafersackchen nach, das unerreichbar vor ïhm baumelte. Das Tier erhielt das Karussell in Betneb, Schani feuerte es manchmal an, dermassen, dass es zu galoppieren begann, als war's ein Gaul. „Mir san keine Unmenschen", erklarte die Kreutzer, „nur hab n noch an andern Esel, zum Ablösen!" Sie klemmten sich alle wieder durch die kleine Tür an die Luft. Auf den Befehl Trummers mussten sie ins „Zweite Café . Die Militarmusik spielte, die Leute lachten, weiss, fröhlich, verschwitzt, in einer bewusstlosen Gemeinsamkeit. Die Luft war dennoch leicht, würzig, elegant beinahe, eine gesittete Luft, und selbst in der Lautheit blieben die Menschen diskret. Ihre Ausrufe klangen wie Aufmunterungen, an die Betrübten gerichtet, Wunsch der Fröhlichen, nur Fröhliches ringsum zu sehen. Taittinger wurde heiter. Die Kreutzer fragte ihn, ob er schon ein Panoptikum gesehen habe. Gewiss, sagte er, und er erzahlte angeregt, was er dort Alles gesehen hatte. Zum Beispiel den Blaubart, den Schwerverbrecher Zingerl, den Rauberhauptmann Krasnik aus Siebenbürgen, die Komitadschis aus Bosnien, die zusammengewachsenenZwillinge. „Der Herr Baron" — sagte Trummer, diesmal hochdeutsch und feierlich — „haben ein scheniales Kopfvermögen!" — Niemals hatte Taittinger derlei Komplimente gehort. Wann er wieder in Uniform erscheinen würde, wollte die Mizzi wissen. An Kaisers Geburtstag sagte Taittinger. Er wusste, dass er log. Aber er wollte aller Welt eine Freude machen. Eigentlich war dies alles hier ja Volk. Sie waren ganz charmant, die „Kinder aus dem Volke", sogar das Ungetüm, der Trummer. Um Mizzis zertrümmerte Existenz wieder aufzurichten, war es nötig, ihr jetzt die einzig günstige Gelegenheit zu verschaffen: das war das Panoptikum. Die Frau Kreutzer meinte, dass der Baron nichts dagegen haben könnte. Taittinger sagte auch: „Aber, wie denn!" Nun sei es ja einfach, man müsste sich nur nicht anschwindeln lassen und einen richtigen Preis erzielen. „Is zu vüll!" rief Trummer. Nicht, wenn der Herr Baron was beitragen wollte, statt der Alimente sozusagen, wo doch die Mizzi selber den Buben grossgezogen hat und sogar so nobel, wie es sich gehort für das Kind eines solchen Vaters. So — dachte Taittinger. Auf diese Weise bin ich endlich diese langweiligen Alimente los. „Selbstver- standlich!" — sagte er. „Im Rahmen meiner Möglichkeiten" — er sagte die Phrase nicht aus Vorsicht, sondern weil sie so seriös klang „will ich der Mizzi helfen!" Leider geschah im nachsten Augenblick etwas aussergewöhnlich Peinliches. Der Oberleutnant Teuffenstein von den elfer Ulanen ging, Arm in Arm mit seiner Braut, Fraulein Hoffmann von Nagyföteg, vorbei und rief: „Da ist er ja! Taittinger!" — Es war eine fürchterliche Situation, um ganz genau zu sein, eine „unkommode". „Ich wohne im Prinz Eugen! sagte er zu seiner Tischgesellschaft. „Bitte morgen nach mir zu fragen." Er vergass sogar, zu zahlen, stand auf, eilte dem Teuffenstein entgegen, wurde von ihm an einen andern Tisch gezogen, trank Wein, musste lachen, Anekdoten hören, erzahlen, dass er sich auf sein Gut beschranke. „Weisst" sagte er „es ist immerhin ein Vermogen, und es war sonst rettungslos verloren." Spat in der Nacht ging er einsam durch den Prater. Der Staub wirbelte immer noch in der Luft. Durch die Hauptallee trommelten zartlich die eleganten Hufe der Pferde vor den lautlosen Gummiradlern. „Rettungs -los-ver-loren, rettungs-los, rettungs-los trommelten die Hufe. Aus den Büschen am Alleerand kam das lüsterne Flüstern der Verliebten. Eine Blumenfrau bot ihm Veilchen an. Er kaufte fünf Strausse und behielt sie gedankenlos, bis ihm das erste Madchen in den Weg kam. Er gab der Kleinen die Blumen und ging mit ihr ins Hotel zur Nordwestbahn. Denn er hatte Angst vor der einsamen Nacht. XXVI. Der Prater offenbarte am Vormittag die gesittete Lieblichkeit eines Parks, die geheimnisvolle Stille eines Waldes und die rührige Bewegtheit eines Vorfeiertages. Man sah damals den Baron Taittinger haufig in der Hauptallee zu Fuss. Vor vielen Jahren — eine Welt lag dazwischen — war er diesen Weg geritten, auf dem Rücken des „Pylades". Manchmal ging der Baron den Rand der Reitallee entlang. An ihm vorbei trabten und galoppierten die Herrschaften. Manche erkannte er, ohne sie erst gesehn zu haben, am Rhytmus und am Schritt der Tiere, an der Reiter Art, im Sattel zu sitzen, Zügel und Peitsche zu halten, an der Krümmung der Rücken. Dies hier war die Stute Glans-Ei-re pasz. Dort ritt Tibor von Daniël. Drüben grüsste eben Emilio Casabona seinen Landsmann, den Grafen Pogatcio. Das Pferd des Bankiers von Goldschmidt war ein Brauner aus dem Gestüt des Grafen Khun-Hedervary, es war seine zweitausend Gulden wert. Dagegen ritt die Seilern und Aspang eine hassliche Stute mit plumpen Gang und viel zu breitem Hinterteil. Mit gründlichem Ernst machte Taittinger jeden Vormittag derlei Feststellungen. Er ging nirgends mehr hin, er kannte immer noch alle. Es kam ihm vor, dass es seine Aufgabe sei, sie in „Evidenz zu halten". Manchmal beunruhigte ihn die Abwesenheit eines Kavaliers, der schon zwei Tage nicht in der Allee erschienen war. Dann ging er bis zum Spitz und setzte sich ins Gasthaus, wo viele von den Reitern abzusteigen pflegten. Viele erkannten ihn. Was denn mit ihm geschehen sei, fragten sie, und er antwortete immer mit der gleichen lügnerischen Phrase: „Ich bin ganz verbauert!" — So sagte er. Es sei schauderhaft auf dem Gut, aber seine Anwesen- heit ware unbedingt notwendig. Weltfremd und menschenscheu sei er geworden. In einen Salon traue er sich nicht mehr.Und das Leben habe für ihn jeden Sinn verloren. „Jetzt endlich solltest Du heiraten!" sagte der alte Baron Wilmowsky, Mitglied des Herrenhauses und seit Jahren leidenschaftlich beflissen, altliche Herren mit jungen Madchen aus verschuldeten Familien zu verheiraten. Er gestand freimütig, dass er keine andere Politik betreibe und anerkenne als Familienpolitik. „Ich hatte damals die Helen' heiraten sollen!" sagte Taittinger. „Sie ist recht unglücklich!" — antwortete Wilmowsky — „Graf W. ist paralytisch. Der junge Tschirschky macht ihr den Hof. Ihr Mann war immer schon ein bissel teppert." Die Vormittage waren auf diese Weise meist der Aristokratie gewidmet. Die Nachmittage aber weihte der Baron dem „Volk", ebenfalls im Prater. Er kam oft am Karussell vorbei, unterhielt sich mit der Mizzi, mit der Kreutzer und mit Herrn Trummer, ging mit ihnen gerne zur Militarmusik, ins zweite Caféhaus, und liess sich den Stand der Verhandlungen über das Wachsfigurenkabinett berichten. Er fand Gefallen am Panoptikum überhaupt. Wachsfiguren waren ganz sympathisch; netter als ein Karussell auf alle Falie. Trummer sagte, es gehore ein ordentliches Stück Geld dazu, die Geschichte Himmel-Herr-Gott-sakra no amoi! — richtig zu machen. Allerdings waren dann die Verdienstchancen unabsehbar. Manchmal kam es vor, dass Mizzi Schinagl, als hatte sie sich plötzlich wieder einer langst vernachlassigten Pflicht entsonnen, mit der Kreutzer oder dem Trummer den Platz tauschte, hart an den Baron heranrückte und leise seine Hand streichelte. Das erste Mal erschrak er und wurde plötzlich schweigsam. Dann gewöhnte er sich an seine Ausrede: es macht eh' nix, die Mizzi ist brav; es sind über- haupt alles brave Leute. Es waren halt ihre „volkstümlichen Sitten". Allmahlich gehelen ihm diese Sitten sogar. Es ging eine freundliche Warme von Mizzi Schinagl aus, an so kühlen Frühlingsabenden. Warme Erinnerungen erwachten, Erinnerungen an ihren Körper, an manche seiner geheimen Merkmale, an seine verborgene Lüsternheiten, an seine wollüstigen Geschenke. Storende Gebarden vollführte die Mizzi freilich. Sie merkte sie aber selbst zuerst und begann allmahlich, sich ihrer zu enthalten. Sie bandigte ihre Lebhaftigkeit, schlug nicht mehr die Hande vors Gesicht, wenn sie lachte und schrie nicht mehr auf, wenn sie erschrak. All dies zwang sie sich ab, den Trost im Herzen, den sie einst in der Schule parat gehalten hatte: es dauert ja doch nur vier Stunden. Sehr wirres und widerspruchsvolles Zeug huschte durch ihren Kopf. Sie hatte sich auch in der Anstalt lediglich bestraft gefühlt, ebenfalls wie einst in der Schule; aber keineswegs etwa entwürdigt. Jetzt aber, in der Freibeit, empfand sie, dass ihr zu Unrecht ein Schimpf anhaftete. Zu Unrecht! Denn worin war sie schuldig? Sie überlegte angestrengt und schritt mit der Genauigkeit, deren nur Beleidigte und Geschmahte fahig sind, Jahr für Jahr, Handlung für Handlung ihres bisherigen Lebens ab. Am Anfang stand Taittinger. Vorher war nichts als der unbestimmte Dammer des vaterlichen Ladens gewesen. Ein Glanzumflossener trat plötzlich ein. Sterne hat er am Kragen, Sonnen am Rock und einen silbernen schmalen Blitz an der Hüfte. Man hatte brav den Friseur Xandl geheiratet, wenn der Strahlende nicht gekommen ware! Man ware zur Matzner nicht gekommen! Man ware auch nicht ein Kebsweib geworden und mit Perlen beschenkt. Perlen bringen Unglück! Schuld war der Taittinger. Unfahig, wie sie war, lange Zeit zu schweigen, sprach sie ihre Gedanken auch vor der Kreutzer aus. Sie erntete Zustimmung. Den Bankert erwahnte die Kreutzer. Es war Taittingers Pflicht, Mutter und Sohn zu erhalten. Ignaz Trummer kam herbei. Er war der gleichen Meinung. „Alle Menschen san gleich von dieser Pramisse ging er aus. Unseresgleichen wird „vurgeladen", wann er kane Alimenter zahlt — und ujegerl, was noch für Tanz! Zarwuzeln kennt ma si! Trummer dachte an seine drei unehelichen Kinder. Was für Scherereien! Ihn hatten die Mütter natürlich geklagt. In zwei Fallen war es ihm gelungen, die Vaterschaft abzuleugnen. Das dritte Kind, ein Madchen, hatte er bei seiner alten Tante in Krieglach untergebracht. Da war es in einen Waschkessel gefallen und verbriiht. Derlei „Sperenzln" machte man den noblen Herren nicht. Es war nur selbstverstandlich, wenn der Baron das Wachsfigurenkabinett der Mizzi zum Prasent machen tat! Und das war' noch auch für all das Ausgestandene eine mittelmassige Entschadigung. „Ich lieb ihn halt, immer noch!" — gestand die Schinagl. Sie liebte ihn in der Tat. Manchmal glaubte sie, dass sie dem Taittinger noch einmal folgen könnte, wie einst, vom Vater fort in die Herrengasse und hierauf ins Haus der Matzner gehen und ein Kind haben und Unglücksperlen bekommen und noch einmal eingesperrt werden. Sie bereute nichts von all dem. Auch das Heimweh nach ihm, seinen Handen, seinem Geruch, seinen Nachten, seiner Liebe zehrten an ihrem Herzen. Sie verlangte nach ihm; und es erschien ihr selbst merkwürdig, in klaren Augenblicken, dass ihr dieses Verlangen nicht allein die Liebe befahl, sondern auch Rachsucht. Vergeltung wollte sie üben. Sie gehorte zu Taittinger. Weshalb blieb er ihr fern? Sie wusste, dass er am Vormittag im Prater zu spazieren, pflegte; sie machte sich einmal auf, um ihm zu begegnen. Sie erblickte ihn zuerst aus der Ferne, weit vor ihr ging er, seinen Rücken erkannte sie und seinen Gang. Dünn und zart ging er dahin, mitten zwischen den starken Baumen, es rührte sie zu Tranen; über seine Art dahinzugehn, allein hatte sie weinen mogen. Es war eigentlich wunderschön, dem Herrn zu folgen, nur seinen Rücken zu sehen und zu lieben und seinen Schatten, wenn er dann und wann die Allee verliess und in der sonnigen Strasse weiterging. Sie nannte ihn in Gedanken: den Herrn, den Baron, den Rittmeister. Auch im stillen wagte sie nicht, ihn Franz zu nennen — aus körperlicher Angst. Wenn sie „Franz" dachte, fuhr ein Schwert durch ihr Herz. Es war gut, dass sie ihm nicht zufallig entgegengekommen war; das hatte sie vielleicht nicht ausgehalten. Sie wollte auch schon umkehren, damit er ihr heute, heute nicht, heute noch nicht begegne; das Umkehren aber konnte noch etwas Zeit haben. Sie ging, ohne es zu wissen, immer schneller. Jetzt konnte sie schon seinen Schritt horen. Plötzlich blieb er stehn, wandte sich schnell um und erblickte sie. Er hatte gefühlt, dass man ihm folgte. Er liess sie herankommen. „Weisst, Mizzi, Ueberraschungen hab' ich nicht gern!" — Es war ehrlich, er hasste Ueberraschungen. Weihnachtsgeschenke, die er nicht selbst gewünscht und gleichsam bestellt hatte, hasste er, vernichtete oder verlor er auch sofort. Er empfand Ueberraschungen als vulgar, ebenso wie Schreckrufe, lautes Weinen einer Frau, gerauschvolles Tarockspiel im Café, Streit zwischen Mannern auf der Strasse. „Es ist ein Zufall, bitt' um Entschuldigung, Herr Baron!" — log die Mizzi. „Ich hab' gedacht, Herr Baron reiten?" — „Ich hab' kein Pferd, Mizzi. Auf gemieteten Pferden reit' ich nicht! — Wohin gehst denn?" — Er war beinahe schon misstrauisch. „Nix, so halt" — sagte Mizzi. „Nun, geh zurück, setz' Dich zu Steinacker in den Garten, trink' ein Bier. Ich komm' in einer Stunde!" Er wandte sich um und ging. Er hatte aber in Wahrheit keine Lust mehr an diesem Spaziergang. Auch mied er die Reiter. Er kehrte um. Ein wenig Mitleid rührte sich für die Mizzi. Er schamte sich auch dieses Mitleids. Alles ware gut, wenn sie nur nicht diesen vertrackten Sohn hatte! Er erinnerte sich plötzlich, dass es ja sein Sohn war. Schuldig fühlte er sich nicht — keineswegs. Aber es war ein Faktum: unleugbar war der Xandl sein Sohn, und die Mizzi konnte nichts dafür — oder nur sehr wenig. Als er das Gasthaus Steinacker betrat, hatte er fast schon ein freundliches Gesicht. Es war ein etwas vorweggenommener Nachmittag des Barons. Die Mizzi eröffnete schon gegen elf die Abteilung Volk. Automatisch erwachte auch das Interesse Taittingers an den Wachspuppen. Es sei viel Geld nötig. Wieviel? Das wüsste der Trummer. Und wieviel sie selbst habe, fragte Taittinger. Mizzi gestand lediglich die von der seligen Matzner ererbten 300 Gulden. Was von der Pfaidlerei übrig geblieben war, verschwieg sie. Noch in der Zelle hatte ihr die Kreutzer geraten, von diesem „Notgroschen" keiner Seele etwas zu sagen, nicht einmal dem Trummer. Am allerwenigsten dem Sohn. Aber es war nicht nur der gute Rat der Leni, den sie jetzt befolgte, sondern auch die Stimme ihres Herzens. Seit ihrer Haft hatte sie eine grauenhafte Angst vor dem Alter und vor der Not. Es war, als ob der ganze Leichtsinn, dessen sie überhaupt fahig gewesen war, aufgezehrt, geschmolzen ware, gleichzeitig mit dem Geld; der ganze Vorrat an Unbekümmertheit, Vertrauensseligkeit, Uebermut und Grosszügigkeit verbraucht. Uebrig blieb auf dem Grunde ihrer Seele die natürliche, lediglich durch die Jugend verhüllt gewesene Angst vor dem Zufall des bittern Lebens, Sehnsucht nach der garantierten Sicherheit, warme Liebe zu Hab und Gut, eifersüchtige Zartlichkeit für Zurückgelegtes, Aufgespartes und Verborgenes, kurz, der ewige, den Frauen ihrer Art angeborene Glauben an Sparkasse und Assekuranz. Sie empfand keine Scham. Dieses Verschweigen war geradezu eine moralische Pflicht. Ebenso war es ein moralisches Gebot, Taittinger zahlen zu lassen. Das Geld, das er für sie ausgab, nahrte noch ihre Liebe zu ihm. Die zweitausend Gulden lagen in der Post, und das Sparkassenbüchl, eingewickelt im Taschentuch, auf dem Grunde des Koffers. Und der Kofferschlüssel hing um den Hals, neben dem Kruzifix und dem Medaillon mit der heiligen Therese. „Dreihundert sind gewiss zu wenig", meinte Taittinger, dem die Ehrfurcht vor den Wachsfiguren schon zu tief eingegraben war, ebenso wie die Geringschatzung des Geldes. Dergleichen Wachsfiguren konnten gar nicht billig sein. Gewiss, gewiss, er begriff es. „Ich werd' mir erlauben, Dir mit etwas auszuhelfen" — sagte er. „Oh, dank schön! Das ist so lieb, so nobel, ganz Ihre Art, Herr Baron!" — Und sie fasste schon mit ihren beiden Handen nach seiner Rechten; und ehe er noch eine Bewegung der Abwehr machen konnte, beugte sie sich über seine Hand und küsste sie innig. Er war erschrocken, verzweifelt, machtlos. Plötzlich brach Mizzi in Tranen aus. Dies steigerte Taittingers Unwillen, aber es rührte auch an sein Herz, fast so wie damals, als Mizzi in der Kanzlei des Gefangnisdirektors zu weinen angefangen hatte. „Sie haben mich noch ein bisschen lieb?" — fragte Mizzi. „Ja, ja, sicherlich" — sagte Taittinger, mit der festen Zuversicht, dass die Tranen innehalten würden. Aber das Gegenteil ereignete sich: sie strömten noch heisser und dichter. Es wahrte allerdings nicht mehr lange. Mizzi erhob ihr Gesicht. Ihr zerzaustes Haar, der verbogene Hut, das zerknüllte Taschentuch, das treuherzige Blau der Augen, die zwischen den verweinten Lidern geradezu kindlich erschienen, gehelen dem Baron eigentlich und machten ihm die Frau vertraut. Sie fühlte es sofort und mit der Schnelligkeit, mit der ein Adler nach langem, lauerndem Kreisen auf die Beute hinunterstürzt, sobald er deren schwachen Augenblick gekommen weiss, fragte sie: „Darf ich heute zu Ihnen kommen — abends?" — „Heut' nicht!" — sagte Taittinger. Er liebte nichts Unvorbereitetes. „Morgen? Uebermorgen? Wann?" — „Ja, morgen!" — sagte Taittinger — „das heisst, wenn ich nicht plötzlich abgehalten bin!" XXVII. Er hatte wirklich noch eine vage Hoffnung auf irgendein Ereignis, das geeignet ware, ihn abzuhalten. Aber solch ein Ereignis traf nicht ein, und die Mizzi Schinagl kam, wie abgemacht. Er gewöhnte sich schnell an sie, wie überhaupt an das Meiste, an das Gute, an das Schlimme, an das Charmante und an das Langweilige, das ihm zustiess. Er fand bei Mizzi vertraute Warme wieder und entdeckte ihre wohlbekannten Geheimnisse. Mizzi kam immer haufiger. Sie fütterte die wiedererwachte Gewohnheit eifrig. Sie liebte inbrünstig, wie einst, als es angefangen hatte. Und wie einst ergab sie sich zuweilen jenen gefahrlichen Traumen, von denen sie wusste, dass sie töricht waren und das Erwachen aus ihnen eine wüste Bitterkeit. Lacherliche Traume, gütig in ihrer Flüchtigkeit und beseligend noch in der Enttauschung, die sie selbst ankündigten: der Baron wird alt werden, vielleicht auch ein bisschen krank. Oh, nicht viel! Vielleicht eine ganz kleine, vorübergehende, Pflege erfordernde Lahmung. Dannpflegt man ihn, gehort ihm ganz, nicht nur so, sondern auch als Opfer. Dann wird er immer alter, und er braucht die Mizzi — und dann wird sie seine Frau. Eine Nacht lang war sie schon einmal Grafin gewesen. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens konnte sie ganz gut Baronin sein. An einem dieser Tage bekam der alte Schinagl — da er noch Vormund seines Enkels war — vom Direktor der Grazer Anstalt die Verstandigung, dass man nicht mehr in der Lage sei, den Xandl zu behalten; er müsste sofort nach Wien, zur Mutter, oder sonst irgendwohin. Weder sein sittliches Betragen, noch sein Fleiss, noch auch seine Begabung würden ihm gestatten, noch eine andere Anstalt, in der Steiermark wenigstens, zu besuchen. Der Alte schickte den Brief seiner Tochter. Sowohl die Magdalene Kreutzer, als auch der Trummer waren der Meinung, dass ein Kind zur Mutter gehore und ein Bankert niemals in eine Anstalt. In die Lehre sollte er einfach, da konnte etwas Anstandiges aus ihm werden. Es war übrigens ein Wink des Himmels, ein Fingerzeig Gottes, wie's geschrieben steht und der Katechet immer schon gesagt hat. Der Vater war hier, an Ort und Stelle. Dem sagt man nix. Der Bub' kommt einfach her. Dann schickt man ihn zum Herrn Baron, am besten morgens. Da bin ich, was soll ich nun machen? Da bin ich, Herr Vater! Vielleicht schickt er ihn aufs Gut, wer kann's wissen? Der Baron hat manchmal so Launen, Himmel- sakra no amoi! Eine Woche spater, am Morgen, als Taittinger das Hotel verlassen wollte, meldete man ihm den jungen Mann, Schinagl. Der grausliche Junge hatte einen starken Eindruck im armen Taittinger hinterlassen. Er wusste jetzt, ganz gegen seine Natur, im Nu, um wen es sich handelte. „Holen Sie ihn!" — befahl er. „Aber wenn er noch einmal hierherkommt, schmeissen's ihn 'naus!" Ja, das war der grausige Junge, grösser als das letzte Mal, das Maul schiefer, die Augenrander röter. Sein eigener Sohn! Sein eigener Sohn sah genau so aus, als wenn sich die Natur über den Baron hatte lustig machen wollen. Die Stirn war ahnlich, der Haaransatz, das Kinn, die Augenbrauen, der Schnitt der Augen. „Guten Morgen!" — sagte der Junge. Er hielt die Mütze in der Hand. Er war verandert, bedeutend hasslicher geworden, aber es war dennoch beinahe so, als ob man ihn gestern erst gesehen hatte. ,,Herr Schinagl?" — sagte Taittinger. „Die Mutter hat g'sagt, ich soll guten Morgen wünschen!" — „Danke, grüssen Sie Fraulein Schinagl!" — sagte Taittinger und winkte einem Fiaker. Ein schrecklicher Tag war angebrochen. Wohin fahren? — „Nach Baden!" — rief Taittinger, besann sich aber gleich darauf, in der Karntnerstrasse schon, und sagte: „Zur Polizeidirektion!" Er stieg aus, zahlte, hatte nicht den Mut, den Polizeiarzt aufzusuchen, mit dem er eigentlich den Fall Schinagl hatte besprechen wollen. Er wanderte ziellos durch die Strassen. Als es zwölf von den Türmen schlug, kam er just an der Burg vorbei, eine Sekunde vor der Wachablösung. Der Leutnant der Deutschmeisterkompagnie kommandierte: Kurzer Schritt!, weil die Uhr im Burghof noch nicht den Mittag zu verkünden begonnen hatte. Der Tambour hob sein Zepter, die letzten Klange des Radetzky-Marsches erstarben webmütig und weckten schon ein schwaches Echo unter der Wölbung des Burgtors. Jetzt dröhnte die Uhr im Hof, jetzt trommelte es sachte, wie wenn Sammetpfötchen auf das Kalbfell schlügen, jetzt erscholl drinnen das „Gewehr heraus!" Jetzt erschien irgendwo, hinter einem Vorhang, der Kaiser selbst. Eine unsagliche Traurigkeit bemachtigte sich Taittingers. Zum ersten Mal nach langer Zeit empfand er wieder Heimweh nach der Uniform und Schmerz um die Armee. Die Kapelle spielte den Donauwalzer. Das Volk im Burghof glaubte an einem der Fenster den Kaiser erblickt zu haben. Hüte und Hande erhoben sich. Im Hurrahgeschrei erstarb beinahe die Musik. Die Frühlingssonne lag milde über der Burg und lachelte: eine junge Mutter. Das Gott- erhalte! erklang, Taittinger durchrann der alte wohlbekannte Schauer, der Soldatenschauer, der Hymnenschauer. Er stand da, den Hut in der Hand; er hatte lieber salutiert. Auf dem Weg zum „Deutschen Haus", wo er heute mittags essen wollte, überlegte er ernstlich, ob er nicht wieder in die Armee eintreten sollte. Er hatte kein Geld mehr. Gut! Auch die Landwehr war ihm lieb. Den Befund konnte man wieder andern. Sein Freund Kalergi sass im Kriegsministerium. Für die Dauer einer Stunde oder zwei sah der Rittmeister a. D. die ganze Vergeblichkeit seines Lebens. Das Gut, die Mizzi, das Volk im Prater, diese Kreutzer und dieser Trummer! Und auch die Wachsfiguren weckten nicht mehr das geringste Interesse. Einmal hatte er schon eine Pfaidlerei gekauft, jetzt wird er freilich noch ein Panoptikum beschaffen müssen, aber dann ist s aus. Den lacherlichen Rest des Guts verkaufen! Und zurück zur Heimat! Heim in die Armee! Er wollte noch im Hotel ein wenig nachdenken. Er ging nach Haus, er setzte sich in die Halle. Der Portier kam und meldete ihm, dass der junge Mann von heute morgen wieder da sei, in Begleitung der Dame, die jeden Tag komme, und man wisse nicht, was zu tun sei. Sie mochten beide herkommen, sagte Taittinger. — Sie kamen. Taittinger hatte sich vorgenommen, nicht aufzustehen, aber er erhob sich: es hob ihn vom Sessel hoch. Er war unfahig, vor einem Wesen in Frauenkleidern sitzen zu bleiben. (Wenn sich ihm ein Kleid aus irgendeinem der Mode-Schaufenster genahert hatte, ware er ebenfalls aufgestanden.) Er lachelte sogar. Er bat, Platz zu nehmen. Mizzi Schinagl zog den Brief des Schuldirektors aus dem Sackchen und zeigte ihn Taittinger. Hierauf nahm sie auch das Taschentuch in die Hand. Sie praparierte schon das Weinen. Taittinger las ein paar Zeilen und legte den Brief auf den Tisch. Mizzi rührte schon mit demTuchan die Augen. Und schon mit heftig schluchzender Stimme stiess sie den Satz hervor: „Der Bub ist ganz missraten!" Es war ein deutlicher Vorwurf. Das Werk Taittingers war misslungen. „Liebes Fraulein Schinagl" — sagte Taittinger „wie alt ist ihr Sohn?" „Er wird jetzt grad' achtzehn, morgen!" „Ah, gratuliere!" — sagte Taittinger zu Xandl. „Was wollen Sie jetzt anfangen?" — fragte Taittinger. „Ich denk', und der Herr Trummer sagt's auch, er soll zu meinem Vater, im Geschaft helfen, und dann erbt er vielleicht das Geschaft, und der Vater ist ja krank! „Morgen nicht" — sagte Xandl — „morgen ist mein Geburtstag!" „Da will ich Ihnen auch gleich was schenken" sagte Taittinger — „da brauchen Sie sich morgen nicht noch einmal hierher zu bemühen!" Er zog einen Hundertguldenschein aus der Brieftasche. Xandl faltete ihn zusammen und behielt ihn in der Faust. „Danke! — sagte er. „Sag' Dank schön, Herr Baron!" rief Mizzi. „Ja", sagte Xandl, „dank' schön, Herr Baron!" Es war eine Weile still. Dann sagte Xandl plötzlich: „Geh' ma, Mizzi!" und erhob sich. „Ich muss auch fort!" — sagte Taittinger, sah auf die Uhr und erhob sich. Er nahm den Hut und ging zuerst. „Gib mir das Geld!" — sagte Mizzi zu ihrem Sohn auf der Strasse. „Fallt mir grad' ein!" rief Xandl. „Son Hunderter is nix für Frauenzimmer wie Du!" Er ging noch neben ihr ein Stückchen weiter, aber bei der nachsten Querstrasse bog er ein, ohne ein Wort zu sagen. „Xandl, Xandl!" rief Mizzi. Er wandte sich nicht um. Sie ging zu Fuss, durch die Rotenturmstrasse, am Franz-Josephskai musste sie sich setzen. Es war still um diese Stunde. Man hörte das gute Murmeln der Donau hinter den dichten Goldregenbüschen. Zutrauliche Amseln kamen zur Mizzi auf die Bank. Sie kamen um Atzung, den Strassenmusikanten ahnlich, die einsammeln gehn, nachdem sie ihr Liedchen gespielt haben. Mizzi erhob sich, sie wollte im Café nebenan einen Kipfel holen, um die Vogel zu füttern. Sie hatte für Vogel die Zartlichkeit aller kleinen Frauen, deren rührselige Dankbarkeit für die Zutraulichkeit der Tiere. Sie zerbröckelte langsam und sparsam einen Kipfel, um die Amseln möglichst lange in der Nahe zu wissen. Sie konnte heute nicht allein sein. Sie wollte auch schnell zur Kreutzer und zum Trummer zurück. Sie sprach leise zu den Amseln. Sie erzahlte ihnen, wie schlimm der Xandl sei, seit dem Augenblick seiner Ankunft. (Und so goldig is er gewesen, wie er zur Welt gekommen is — und spater auch, wie er noch die Locken g habt hat. Und so g'freut hat's mi, wann er mir Mutter gesagt hat. Und jetzt sagt er mir nimmer 14 Mutter, Mizzi sagt er hait und Frauenzimmer, Frauenzimmer! —) Sie begann, bitterlich zu weinen. Sie hatte das Gefuhl, dass sie erst seit der Ankunft des Buben zum ersten Mal Erniedrigungen erfahren habe. Im Haus der Josephine Matzner hatte man sie freilich missbraucht, aber niemals beschimpft. Auch bei dem obligaten wöchentlichen Besuch beim Arzt, auf der ,,Sitte", hatte sie nie Krankungen gefühlt, und spater auch nicht, weder in der Untersuchungshaft, noch im Gefangnis. Ihr eigenes Kind musste kommen, um sie zu schanden. Sie empfand in diesem Augenblick das ganze Gewicht des Wortes: schanden. Dieses Wort — wie wunderlich — gehorte, seit sie denken konnte, zu ihrem taglichen Sprachschatz — jetzt erst begnff sie seine wuchtige Bedeutung. Sie erhob sich, sah sich um, es war kein Wachmann in der Nahe. Sie traute sich auf den Rasen, trat an die Brüstung des Donau-Kanals und sah hinunter auf den Fluss. Vor ein paar Jahren hatte sich die rothaarige Karolin' in die Donau geworfen, etwas weiter oben, bei der Augartenbrücke; man hat sie nie gefunden. Die Matzner hat damals gesagt, dass die Donau nicht gerne Leichen hergibt. Sie schleppt sie bis zum Meer. Der Mizzi schauderte vor solch einem Tod; je langer sie auf das dahineilende Wasser blickte, desto starker wurde der Schauder; aber sie begann zugleich auch, ihre Furcht zu lieben. Sie liebte ïhre Furcht vor dem nassen Tode. Als sie unten, am KaïUfer, den Helm eines Wachmanns aufblinken sah, kehrte sie auf die Bank zurück. _ Sie hatte Sehnsucht nach dem Gefangnis. Dort war sie nicht so allein gewesen, die Zelle war klein. Aber hier draussen war die Welt gross, eine kleine frau war tausendfach einsam. Die Einsamkeit war so gross wie die Welt. Die Kreutzer war eine Freundin, aber sie hatte ihren Trummer. Wo gibts eine Freundin, auf die man sich verlassen kann, wenn sie einen Mann liebt? Den Baron konnte man niemals haben. Das einzige, was man von ihm behalten konnte, war der Xandl — und der lief ihr weg, für den war sie keine Mutter. Wenn man nur vergessen könnte, wie goldig er einmal gewesen ist. Vielleicht tat's ihm schon leid, und er erwartete seine \4utter wie jeden Nachmittag im Karussell. Sie ging in den Prater, sie ging langsam. Je spater sie kam, desto sicherer war Xandl schon dort. Aber Xandl kam erst spat, am Abend, er roch nach Bier und Schnaps. Er war stiller als sonst. In seinen Augen blinkte ein kleines fremdes Licht. Sie zögerte lange, bevor sie ihn nach dem Hunderter fragte. Aber schliesslich war die Vorstellung, dass sie wenigstens siebzig Gulden retten könnte, unbezwinglich. „Hier ist es! sagte Xandl. Er zog ein Bündel Zehnguldenscheine hervor. ,,Zwanzig Gulden hab' ich ausgegeben. Ichhab' ein Bizykl angezahlt, morgen will ich's holen." —■ „Gib mir den Rest!" Xandl steckte das Geld wieder ein. Er ging hinunter, den Esel ein bisschen anzutreiben und mit Schani zu sprechen. Er wollte auch seinen Reichtum zeigen. Schani brauchte Geld. Er hatte einen silbernen Ring mit einem echten Stein, aber Xandl traute weder dem Silber noch dem JuweL Der einzige Wertgegenstand, den Schani besass, war ein Revolver. Er verkaufte ihn, samt zwanzig Patronen, dem Xandl für fünf Gulden. Morgen sollte man den Revolver ausprobieren, auf der Wasserwiese, wo die Soldaten exerzierten und wo die Schüsse keinem Wachmann verdachtig erscheinen konnten. Herr Trummer zwangte sich eben durch den kleinen Eingang, im Augenblick, da der Handel abgeschlossen wurde. Er sah die Scheine, fragte, woher sie kamen nannte den Baron einen Teppen, ein narrisches Gewachs, befahl Xandl, das Geld sofort ihm oder der Mutter zu geben. Sonst wollte er den Wachmann holen; wegen des Revolvers würden beiden Buben eingesperrt. ,,Aber den Revolver behalt' ich" — sagte Schinagl konziliant. Er behielt den Revolver und lieferte das Geld aus. Trummer sagte der Mizzi, er würde es aufheben, solang der Bub im Hause sei. Ihm könne er's nicht stehlen, wie der Mutter. Mizzi hielt das Geld für verloren und sie wurde noch trauriger. Sie suchte ein paar Tage nach Taittinger. Er kam nicht mehr in den Prater. Im Hotel traf sie ihn nicht. Sie ging in die Konditorei Schaub in der Petersgasse, wo sich die noblen Herren zuweilen trafen. Da sass er auch, mit zwei Offizieren. Sie wagte nicht, an ihn heranzugehn nicht einmal, sich an einen anderen Tisch zu setzen. Sie blieb draussen. Sie ging vor der Tür auf und ab. Taittinger kam endlich, er war allein: „Pardon, Mizzi , — sagte er — „ich hab' in diesen Tagen zu tun. Eine Woche noch. Grüss Gott!" Er betrieb mit einer Energie, die er nie an sich gekannt hatte, seine Rückkehr zur Armee. In einer Woche wollte er vor der arztlichen Kommission erscheinen. Um zur Infanterie transferiert zu werden, brauchte er noch einen Kurs von sechs Monaten. Er war jugendlich aufgeregt wie ein Kadett. Er hatte, wie gesagt, einen heissen Eifer, aber unselig kindliche Vorstellungen von dem Eifer der militarischen administrativen Behörden. Er glaubte, es ginge im Kriegsministerium so zu wie im Regiment, der Vorgesetzte befahl, der Subalterne gehorchte. Am Nachmittag wurde der Regimentsbefehl verlesen, und am nachsten Tag vollführte sich alles so, wie es im Befehl gestanden hatte. Aber so war es nicht in den Kanzleien des Ministeriums. Man sprach nicht zueinander, man korrespondierte. Xaittingers Gesuch konnte auch der Oberstleutnant Kalergi nicht vor der verworrenen Wanderung bewahren, die alle Schriftstücke in der alten k.u.k. Monarchie zurücklegen mussten. Der „Akt Taittinger" wuchs und schwoll an, wahrend er wanderte. Er hatte noch lange nicht jene Ueppigkeit erreicht, die ihm gestattet hatte, zum Oberstleutnant Kalergi zurückzukehren. Und mochte dieser auch noch so aufmerksam die Kreuz- und Querfahrten des Aktes überwachen, dieser entschlüpfte immer, just in den Augenblicken, in denen er ihn gerade erwischt zu haben glaubte. Nein, Baron Taittinger kam noch lange nicht vor die arztliche Kommission. XXVIII. An einem dieser Tage erhielt er den höchst peinlichen Besuch seiner „Freunde aus dem Volke". Sie kamen gemeinsam diesmal, das Fraulein Kreutzer und der Herr Trummer. Taittinger sass in der Halle und sah sie mit einem gelinden Schrecken anrücken. Herr Trummer kam zuerst und fragte nach dem Baron. Im gleichen Augenblick sah er auch schon Taittinger vor seiner Kaffeetasse. Er schwenkte den feierlichen schwarzen Hut. Es sah aus, als gabe er Signale mit einer Trauerfahne. Er wandte sich sofort wieder dem Ausgang zu und winkte Magdalene Kreutzer heran. Er war würdig schwarz gekleidet, die Kreutzer sommerlich bunt. Neben dem dunklen Ernst des Mannes erinnerte sie an ein wandelndes Gartenbeet, das vom Tod persönlich betreut wird. Sie waren nun einmal da, Taittinger fand sich damit in einigen Sekunden ab. Er konnte nicht leugnen, dass er selbst schon daran gedacht hatte, sie an einem dieser Tage aufzusuchen. Sie setzten sich sofort, sahen einander lange an, überlegten gleichsam mit den Augen, wer von ihnen zuerst sprechen sollte. Schliesslich fingen sie gleichzeitig an, hochdeutsch und mit dem gleichen Satz: „Es ist ein grosses Malheur passiert!" — „Was ist geschehn?" — fragte Taittinger. „Ein Malheur!" — wiederholte die Kreutzer — und sie weinte auch schon. „Ruhe, Leni!" befahl Trummer. Er nahm das Wort, verfiel nach zwei hochdeutschen Satzen wieder in den Dialekt, wurde unsicher, fragte immerzu: „verstanden?" —- und musste schliesslich innehalten. Frau Kreutzer begann die Geschichte wieder von neuem. Das Weinen steckte noch in ihrer Kehle, farbte ihre Rede, erinnerte an das Miauen einer Katze und an Messerschleifen zugleich und hie und da an den durchdringenden Aufschrei einer Gabel, die auf einem Teller ausgleitet. Sie betaubte Taittinger dermassen, dass er zehn Minuten lang gar nichts begriff. Dazu kam, dass sie selbst nicht immer zu wissen schien, was sie eben erzahlt hatte, denn von Zeit zu Zeit, unterbrach sie ihre Rede mit der Frage: „Wos hab' ich jetzt gesagt?" — worauf Taittinger schwieg und Herr Trummer wieder von vorn anfing. Jetzt, nachdem er sich entschlossen hatte, durchwegs beim Dialekt zu bleiben, gelang es ihm auch, einen Zusammenhang in den Bericht zu bringen. Es verging immerhin eine Viertelstunde, bevor Taittinger begriff, dass der Xandl etwas Schreckliches angestellt hatte — und zwar infolge der Schuld des Barons. „Schuld hob' i gsogt!" — wiederholte Trummer. „Allen gehorsamen Respekt, Herr Baron" — warf die Kreutzer ein, — „aber man kann dem Buben doch kein Vermogen in die Hand geben!" „Was hat er denn damit angestellt?" — fragte der Baron. Alles ist falsch, was ich mache, dachte er. Jetzt hab' ich ihm das Geld gegeben, damit ich Ruh' hab', und das Gegenteil ist der Fall. „An Murd hat er begangen!" sagte Trummer — „aber Gott sei Dank: an mir. Und i leb' noch! I leb' noch lang!" „Wieso, einen Mord?" fragte Taittinger. „Geschossen hat er halt!" sagte die Leni. Und sie erzahlte, noch einmal, das Trummer das restliche Geld vom Hunderter dem Xandl abgenommen hatte; den Revolver hatte aber Xandl behalten. Vorgestern Abends nun, wie der Trummer das Geld vom Karussell, wie gewohnt, zusammenzahlt und sich nach Mitternacht auf den Heimweg macht, kommt ihm der Xandl entgegen und verlangt nicht nur sein Geld, sondern einen ganzen Hunderter. Der Trummer holt aus zum Schlagen. Da zieht der Xandl den Revolver und sagt: Hande hoch. Aber der Trummer, der hat noch nie Angst vor so einem Hascherl von Rauber gehabt und gibt dem Xandl einen Stoss, der Bub fallt hin, und der Schuss geht los, und nun schiesst der Xandl, wie ein Wilder, noch die anderen Patronen ab, so platt auf der Erde liegt er und schiesst hinauf, und da ist auch gleich die Polizei da. Und jetzt sitzen wir alle ,,in der Tinten". „Lesen's denn gar nie a Blattl?" fragte Trummer. Er war beleidigt. Seit gestern stand die ganze Geschichte ausführlichinderZeitung; auch sein Verhör im Polizei kommissariat Leopoldstadt. Heute hat ihn so ein Journalist sogar gezeichnet, und sein Portrat kommt morgen in die Oeffentlichkeit. So wars. Die Mizzi sass den ganzen Tag auf der Polizei. Es wird ein grosser Prozess werden, hat der Herr Kommissar gesagt, und die Delikte — „Dalikter" sagte Trummer — hiessen: versuchter Raubüberfall und Mordversuch. Auch die Mizzi ist verhort worden und sie hat ausgesagt und erzahlt, wer der Vater ist. — Und da steht's auch schwarz auf weiss in der Zeitung — Trummer holte ein Blatt heraus und deutete auf einen Satz. Taittinger las: „Der junge Attentater is die uneheliche Frucht einer echt romantischen Liebesbeziehung zwischen der jungen Mizzi Schinagl und einem Dragoneroffizier von Adel, der zur besten Wiener Gesellschaft gehort, einem Baron ..." Hier kamen drei Sterne. Der arme Taittinger blieb versteinert sitzen. „Hatten's nur nicht dieses Sündengeld gegeben, Herr Baron!" — sagte die Kreutzer. Sie hatte sich fest vorgenommen, dem narrischen Baron die Wahrheit zu sagen. Sie steilte alles Fürchterliche dar, das nicht nur den Buben, sondern auch die Mizzi und den Taittinger selbst erwartete, wenn es zum Prozess kam. Der Advokatursschreiber Pollitzer, ein Bekannter der Kreutzer, hat alles gesagt, wie es kommen muss. In anderen Landern, in Amerika zum Beispiel, so hat Pollitzer gesagt — werden Jugendliche ganz anders vom Gericht behandelt. Aber bei uns in Oesterreich ist alles rückstandig. „Weil's wahr is!" — grollte Trummer. „Weil die Herrn kan blauen Dunst haben. Himmel — Herr-gott — Sakra — no amoi!" Taittinger überlegte, aber er wusste ja schon langst, dass ihn noch niemals eine Ueberlegung zu irgend einem vernünftigen Ziel geführt hatte. Es galt vor Allem, die beiden loszuwerden. Er bediente sich also einer Methode, die einst, beim Militar, in vielen Fallen geholfen hatte, wenigstens eine vorlaufige Beruhigung herbeizuführen. Er erhob sich und sagte: ,,Ich werde das Nötige veranlassen!" Mit dem Bewusstsein, Alles erreicht und dem Baron eine Niederlage beigebracht zu haben, verliessen die Kreutzer und der Trummer das Hotel. • Im Laufe der nachtsten Tage aber musste Taittinger die Erfahrung machen, dass er durchaus nicht imstande war, „das Nötige zu veranlassen". Die Sache SchinaglTrummer war bereits dem Untersuchungsrichter anvertraut, als Taittinger den Polizeiarzt aufsuchte. „Weisst Du" — sagte der Doktor Stiasny — „bei uns, bei der Polizei, das lasst sich immer noch was machen. Bei uns, weisst Du, da gibt's sozusagen Abtreibungen, da sind die Geschichten noch Embryos. Aber Du bist zu spat gekommen! Beim Untersuchungsrichter reift die Frucht langsam, aber sicher und unaufhaltsam. Und da gibt's auch nix zu machen. Du kannst grad noch verhindern, dass beim Prozess Dein Name genannt wird, direkt oder indirekt. Das übernehm ich gerne: der Doktor Blum von der Gerichtssaalkorrespondenz ist mein Freund. Auch wenn von Dir die Rede sein sollte, im Verlauf des Prozesses, so kommt nix davon in die Zeitungen. Lieber Baron, das ist alles, was ich für Dich machen kann." Der Oberstleutnant Kalergi meinte ebenfalls, dass die Affare unrettbar verloren sei. Taittinger begriff nicht ganz, weshalb es schwieriger sein sollte, etwas beim Gericht zu unternehmen, als bei der Polizei. „Ein Richter, weisst Du" — so belehrte ihn Kalergi — „ist etwas anderes als ein Beamter der Polizei. Die sind so was wie die Engel unter den Beamten. Aber Dich geht ja die ganze Geschichte nur insoweit an, als sie Deinem Gesuch um Wiederaufnahme in die Armee schaden kann. Fahr' weg! Vorlaufig! Ich sorg' schon dafür, dass Alles gut geht." Nein, Taittinger fuhr nicht weg. Eine seltsame Bangnis hielt ihn zurück. Beinahe war es schon eine Furcht des Gewissens. Schon fühlte er sich schuldig und unlösbar verbunden mit fremden Schicksalen und Angelegenheiten. Er fiihlte selbst, dass eine grosse Ver- anderung in ihm vorgegangen war, er wusste nicht genau, wann sie angefangen hatte. Vielleicht damals, als Sedlacek ihm auf der Treppe entgegengekommen war. Vielleicht früher schon, im Laden Schinagls, in Sievering. Vielleicht spater dann, als er die Mizzi im Gefangnis besucht hatte. Vielleicht gar erst nach dem Abschied von der Armee. Er war jetzt sogar imstande, die gleichgültige Heiterkeit seiner früheren Jahre zu erklaren: Ahnungslosigkeit war es gewesen. Manchmal kam es ihm vor, dass er lange Jahre, gleichsam mit verbundenen Augen an wüsten und gefahrlichen Abgründen vorbeigewandert und lediglich deshalb nicht gestürzt ware, weil er sie nicht gesehn hatte. Viel zu spat hatte er sehen gelernt. Grosse und kleine Gefahren sah er j etzt überall. Gedankenlos begang ene Handlungen, harmlos ausgeführte, harmlose Einfalle, leichtsinnig hingeworfene Redensarten und aus purer Gleichgültigkeit unterlassene Massregeln rachten sich fürchterlich. Langst war die Welt nicht so einfach mehr wie früher; besonders nicht mehr seit der Stunde, in der man die Uniform abgelegt hatte. Langst gab es nicht nur drei einfache Kategorien von Menschen mehr. Charmante, Gleichgültige und Langweilige, sondern vor allem: Unerkennbare. Wie leicht hatte vor Jahren das nette Verhaltnis mit der netten Mizzi ausgeschaut, eine der vielen angenehmen Episoden, unbedeutend wie eine gute Mahlzeit, ein angenehmer Ritt, eine Einladung zur Jagd, eine Flasche Champagner, ein zweiwöchentlicher Urlaub. Die Erlebnisse sahen damals, als man ihnen begegnete, bunt, heiter, schwebend aus. Man hielt sie an einem Faden, wie Luftballons, solange sie Freude bereiteten. Dann, wenn sie anfingen langweilig zu werden, liess man den F aden los. Sie schwebten freundlich in die Luft, man sah ihnen noch dankbar eine Weile nach, dann mochten sie irgendwo in den Wolken zerplatzen. Aber einige waren gar nicht zerplatzt. Tückisch unsichtbar hatten sie sich lange Jahre irgendwo aufgehalten, allen Naturgesetzen zum Trotz. Mit Ballast gefüllt, fielen sie jetzt, wuchtige Gewichte, auf den armen Kopf Taittingers zurück. Er wehrte sich nicht mehr gegen das sinnlose Pflichtgefiïhl, das ihn jeden Tag antrieb, in den Prater zu gehn und der Mizzi, der Kreutzer und dem Trummer von denMisserfolgen seiner „Demarchen" zu berichten. Er konnte nichts gegen das qualende Bewusstsein, dass er an Allem Schuld war: an der Existenz Xandls, an den Hundert Gulden, an der Grauslichkeit des Buben. Er sank — er fühlte es wohl — in der Wertschatzung des ,,Volkes"; (denn die drei Personen waren für ihn das „Volk".) „Wann i die Grosskopferten so kenna tat', wie Sie!" — sagte der Trummer. ,,Es g'hört nur Kurasch dazu!" meinte die Kreutzer. ,,Mein armer Bub!" schrie die Mizzi. Sie weinte leicht, schnell und gehassig. Nicht der Kummer, sondern der Hass gebar ihre Tranen. Alle drei bildeten eine feindliche Front gegen Taittinger. Selbst er, der ebenso unfahig war, irgendein Misstrauen zu empfinden, wie er ausser Stande gewesen ware, etwa einer Pferdebahn nachzulaufen, oder sich nach einem fremden Gegenstand, der auf seinem Wege lag, zu bücken: selbst er entdeckte hie und da die flinken Blicke, die geheimnisvollen, die zwischen den drei Representanten des Volkes über seinen Kopf hinweg ausgetauscht wurden. Manchmal wurde „das Volk" auch direkt. Es sprach deutlich durch den Mund der Magdalene Kreutzer: „Ja, wann'S immer die Alimente gezahlt hatten!" und: „Mit so aner Pfaidlerei abfinden, wann man ein ehrliches Madchen verführt hat!" — Die Geringschatzung der Drei ging so weit, dass sie nur noch selten und immer seltener in den Dialekt verhelen. Sie schufen gewissermassen eine hochdeutsche Distanz zwischen sich und dem Baron. Er war nicht mehr würdig, Dialekt zu vernehmen. „Mir werden uns schon selber helfen!" — sagte bedeutsam eines Tages die Kreutzer. Sie hatte einen grossartigen Einfall, wie es ihr schien. Mit Hilfe Pollitzers, der für zwei Gulden fünfzig jedes gewünschte und gebrauchte Gesuch abzufassen bereit ist, schreibt man an Seine Majestat persönlich: ein Gnadengesuch. In der Hof- und Kabinettskanzlei sagt Pollitzer wird alles sorgfaltig geprüft. Man schreibt, dass die arme Mizzi, von Baron Taittinger verführt und mit einem Kind ohne Alimente sitzen gelassen wurde. Der Junge ist leichtsinnig und ohne Vater aufgewachsen. Man vernichtet sein blühendes Leben. Die allerhöchste Gnade des Kaisers allein kann einen Knaben, einen Staatsbürger, einen künftigen treuen Soldaten vor der unbarmherzigen Strenge des Gesetzes retten. Zuerst meinte der Pollitzer zwar, dass man mit diesem Gesuch noch Zeit hatte, bis zur Gerichtsverhandlung. Allein er dachte auch an die zwei Gulden fünfzig — und sagte nur: ,,Ich schreib's — aber auf ihre eigene Verantwortung!" Und er schrieb. Eine Viertelstunde, bevor Seine Majestat der Kaiser, seine tagliche Spazierfahrt durch die Strassen der Stadt Wien unternahm, kamen die „Geheimen" an die Kreuzungen und Strassenecken — nicht etwa, um nach Verdachtigen Ausschau zu halten, sondern, im Gegenteil, um ihre uniformierten Kollegen, die Wachleute im Strassendienst zu warnen. Die Spazierfahrt des Kaisers ist ahnlich wie einer der gewohnten und vertrauten Feiertage: man kennt sie schon lange, aber man erwartet sie, wie etwas Unbekanntes. So kennen die Menschen auch den Frühling, zum Beispiel, und sie begrüssen ihn doch jedes Jahr mit der gleichen begierigen Freude. Die Geschaftsleute schliessen ihre Laden und stellen sich am Strassenrand auf. In den grossenWarenhausern,die einige Stockwerke einnehmen, reissen die jungen Verkauferinnen, Naherinnen, Modistinnen, ewig neugierige, ewig flatterhafte, nach Abwechslung lüsterne, frühlingshaftgenaschige Kinder Wiens, alle Fenster auf. Eine halbe Stunde lang ist Feiertag: Der Kaiser fahrt vorbei. Da hört man auch schon seinen Wagen, die zwei schlanken Braunen, die hurtig und sachte, mit empfindlichen Hufen, das Pflaster zu liebkosen scheinen, wahrend sie es treten. Auf dem Bock sitzt der Livrierte, in kleiner Gala, und der Kutscher halt die Peitsche, lediglich als Zeichen seiner Würde und seines Amtes. Denn kaiserliche Pferde brauchen keine Peitsche. Die Pferde des Kaisers wissen immer, was sie zu tun haben, und auch, wen sie dahinführen. Es ist, als ob sie es auch gar nicht nötig gehabt hatten, vor den kaiserlichen Wagen eingespannt zu werden: von selbst haben sie sich Zügel und Geschirr angelegt. Sie geben dem Kutscher Richtung und Rhytmus an; nicht er ihnen. An diesem Tage stürzte, als die Pferde vom Ring in die Mariahilferstrasse einbogen, eine Frau aus der dichten Reihe der ,,Hoch"- und ,,Vivat"-Rufenden, war in einer Sekunde am Trittbrett des Wagens angelangt und warf einen Brief hinein, der dem Adjutanten auf den Schoss fiel. Aehnliche Vorfalle hatten sich oft ereignet, der Kaiser kannte sie bereits. Es waren Gnadengesuche, geschriebene Hilferufe seiner Untertanen. Er hatte schon viele gelesen, viele gutgeheissen, viele abgelehnt. Genau so aber, wie er derlei Begebenheiten fiir gewöhnliche, selbstverstandliche Folgen seines Amtes halten mochte, so erschienen seinen Dienern diese heftigen und überraschenden Bitten um Gnade ausserst gefahrliche Symptome einer anar- chischen und bedrohlichen Freiheit. Die Geheimen stürzten hervor, zwei, drei, vier, fünf; zu viel Manner für eine einzige Frau. Der Hut fiel ihr vom Kopf, das Pompadourtaschchen aus der Hand. Ein Polizist hob Beides auf. Der Kaiser war schon weit fort. Man brachte die Frau in die Wachstube, in die Neubaugasse, untersuchte sie genau, wie es die Vorschrift befahl, nahm ihre Personalien auf. Es war Mizzi Schinagl. Sie wurde entlassen. Man sagte ihr, dass sie von nun ab unter besonderer polizeilicher Bewachung stehe und gewartig sein müsse, jeden Moment vorgeladen zu werden. All dies bekümmerte die Mizzi nicht. Sie wusste, wie alle Welt, dass sie zwei Tage Arrest oder fünf Gulden Strafe zu bekommen hatte. Die Kreutzer und der Trummer, die mit der Mizzi gekommen waren, um ihr Mut zu machen, begleiteten sie triumphierend in den Prater. „Deinem Baron sagst nix!" — befahl Trummer. Der Baron war bereits ein erklarter Feind, für vogelfrei erklart sozusagen. Wenn er zu früh von dem Gnadengesuch der Mizzi erfuhr, war er imstande, das Geld für das Wachsfigurenkabinett zu verweigern. Mizzi Schinagl litt unter einigen peinlichen Empfindungen, wegen der Angaben, die sie im Gesuch gemacht hatte. Allein, sie sagte sich, dass sie ihren Sohn, ihr einziges Kind, ihr „Alles auf der Welt retten musste. Eine Mutter bin ich eben! sagte sie sich. Sie beschloss, spater erst, in zwei Tagen vielleicht, Taittinger von ihrer Tat zu berichten. Spater erst: sobald das Panoptikum bezahlt ware. In zwei, drei Tagen sollte man abschliessen; im Café Zirrnagl, im Artisten-Café in der Praterstrasse, wie es eine alte Ueberlieferung den Budenbesitzern vorschrieb. XXIX. Um fünf Uhr nachmittags sollte Taittinger ins Café Zirrnagl kommen. Seit vier Uhr erwarteten ihn die Schinagl, die Kreutzer und der Trummer. Jeden von den dreien beherrschte die Furcht, der Baron könnte es sich im letzten Augenblick überlegen und also ausbleiben, oder, was noch schlimmer war, gestern schon weggefahren sein. Man hatte ihn fester halten müssen! — dachte die Kreutzer. Aber da kam er schon, im Fiaker. Sie kannte seine Gewohnheit. Er liebte es nicht, an dem Ort vorzufahren, an dem er aussteigen sollte. Sie hatte Zeit genug, die breite Strasse zu überqueren und ihn noch rechtzeitig zu erreichen. „Ich bin hoffentlich nicht zu spat?" — fragte Taittinger. „Hast Du hier auf mich gewartet?" Er sah auf die Uhr, er war pünktlich, wie immer. „Ich muss was schnell vorher erzahlen!" — sagte Mizzi. Sie hatte gar keine Angst mehr vor dem Widerwillen des Barons gegen heftige und intime Bewegungen. Sie glaubte, in diesem Augenblick zu fühlen, dass er allein von allen Menschen in der Welt er allein, ihr vertraut war. Ihr Geliebter war er. Sie liebte ihn mehr als ihren Sohn und ihren Vater. Sie wusste es jetzt ganz genau. „Was gibt's denn, was gibt's denn?" — fragte er. Er liess sich in die Seitengasse führen. „Ich möcht' nicht, dass Du das Kabinett kaufst" — begann sie. Sie sagte „Du", es schien ihr selbstverstandlich, sie sprach zum ersten Mal so zu ihm, am Tage, wie sonst nur in der Dunkelheit vertrauter Nachte. Sie habe selbst noch Geld genug und sie brauchte ja auch seine Hilfe nicht. Sie hatte nur die Ratschlage der Kreutzer befolgt, aber dies sei schlecht von ihr. Sie wollte nichts mehr Schlechtes anstellen. Und ausserdem hatte sie noch ein Gnadengesuch gemacht, für den Xandl, ja „Nein, liebe Mizzi" — sagte er, mit einer Stimme, die sie nicht kannte. Er befreite seinen Arm. Seine Stimme kam von weitem, jede Silbe war eine zuschlagende metallene Tür. Die Satze schnappten ein wie einst der Riegel an der Zellentür draussen. „Nein, ich zahle meine Schulden. Du hast dann eine sichere Existenz und der Junge auch, wenn er einmal herauskommt! — Gehn wir!" — sagte er — und sie folgte ihm, einen halben Schritt hinter ihm, so schnell ging er dahin. Ihr Herz klopfte nicht mehr, obwohl sie jetzt eilen musste, und ihr Kopf war leer, ausgehöhlt und dennoch schwer. Wie eine fremde Last sass er auf ihrem Hals. Nur schnell fertig werden — dachte Taittinger, als er ins Café Zirrnagl eintrat. Da sassen sie schon, der Besitzer des Panoptikums und der Makier und noch einer, den Taittinger noch nicht kannte. Es war der juristische Beirat, der den Vertrag aufsetzen sollte, der Pollitzer. Taittinger strengte sich gar nicht an, um die einzelnen Phasen des Gesprachs zu begreifen. Er bemühte sich lediglich, die Verwirrung zu unterdrücken, die nicht aus ihm selber kam, sondern die von allen Seiten auf ihn einströmte, eindrang, wie Wind, Gestöber, Staub und Eisregen zugleich. Er hatte noch kaum seinen Kaffee angerührt, und schon mahnte der Pollitzer zum Aufbruch. Taittinger fragte, ob man endlich fertig sei. „Leider nicht, Herr Baron!" — sagte Pollitzer, der hier das Wort führte und den Alle „Herr Doktor" nannten. „Wir müssen mit dem alten Percoli sprechen, er wohnt nur zwei Hauser weiter. Herr Baron ziehen es vielleicht vor, uns hier zu erwarten? Nein, dagegen wehrte sich etwas in Taittinger. Er konnte hier nicht allein bleiben, obwohl er auch etwas Unbehagen vor Pollitzers Lavallière-Krawatte, vor seinem Schlapphut, seiner bunten Samtweste und den vielen Papieren in seiner Rocktasche empfand. Er ging, zwei Hauser weiter. Er folgte dem Trupp, gehorsam wie ein Haustier und mit verdoppelter, weil mühsam gezahmter Ungeduld. Er stieg die drei Treppen empor. Er trat hinter den Andren durch eine finstere Küche in ein helles, von einem Glasdach überdecktes Atelier. Der alte Neapolitaner blieb sitzen. Den Vertrag hatte Pollitzer mitgebracht, der alte Tino Percoli verpflichtete sich darin, die Aktualitaten der letzten Monate nachzuliefern, gegen einen Vorschuss von hundert Gulden. Er durfte innerhalb der Monarchie keine gleichen Modelle anbieten, an das Berliner Panoptikum erst in einem Abstand von zwei Wochen. Ausgenommen war das Musée Grevin in Paris und überhaupt das Ausland. „Den Vertrag behalt' ich bis morgen" — sagte Percoli. „Morgen nachmittag! Ich will ihn allein durchlesen." „Ich bitte um die Freundlichkeit, das durchzulesen, was Herrn Baron betrifft" — sagte Pollitzer. Taittinger musste noch einmal ins Café. Es erwies sich, dass er siebenhundert Gulden in bar zu erlegen hatte, für den Rest — achthundert rund — garantierte er. Man brachte ihm Tinte und Feder. Er unterschrieb mit fester und heiterer Hand. Es kam ihm vor, dass er gewaltige Lasten abgeworfen, das Gewissen befreit hatte, Sorgen entronnen war, allen möglichen Verwicklungen und Peinlichkeiten. Er nahm geradezu herzlichen Abschied von Allen. Er versprach, Sonntag zur Neueröffnung des Panoptikums zu kommen. Es sollte einen neuen Namen tragen. Pollitzer hatte vorgeschlagen: „Das Welt-Bioscop". Der Name gefiel allen Beteiligten. Man ging trinken. Man 15 machte nicht einmal den Ver3uch, den Baron einzuladen. Mizzi Schinagl begann plötzlich, zu weinen. „Warum?" — fragte man. „Ach, so, vor Freude" — erwiderte sie. * Die Eröffnung des neuen „Grossen WeltbioscopTheaters" fand statt unter dem Andrang des Spektakelsuchtigen Publikums der Reichshaupt- und Resi- denzstadt. _ • i • Der arme Taittinger hatte gar keine Möglichkeit fern zu bleiben. Er liess das ganze Programm über sich ergehen. Der Vorhang ging leise kreischend auf, und Taittinger sah masslos erschrocken die Mizzi auf einem roten Thron. Es war in der Tat unmöglich, zu erkennen, ob sie wachsern oder lebendig war. Eine schwere, gelb, silbern und zugleich auch blaulich schimmernde, dreifach geschlungene Kette aus schweren grossen Perlen zierte ihren wachsernen Hals und den wachsernen Ausschnitt der Büste. Wuchtige Diamanten hingen an ihren Ohrlappchen. Zauberlicht kam aus einem Rundbrenner, der sich hinter einem blauen Schleier verbarg, ander Decke. Auf dem Kopf trug die „Lieblingsfrau des Schahs" einen türkischen Halbmond, gestützt und gehalten von zwei silbernen schmalen Pfeilen, zwischen denen das Haar in goldener Fülle wucherte. Reglos sass die Mizzi — war sie es wirklich? - auf ihrem roten Thron. _ Ja, es war die Mizzi. Sie begann jetzt mit ïhrer gewöhnlichen Stimme zu sprechen: „Seine Majestat, der Schah von Persien, ist sehr gut zu mir, einmal war ich ein armes Kind aus dem Wiener Volke. Ich herrsche über alle Frauen des Harems, und mich hat er am liebsten. Ich gedenke, noch lange Jahre zu herrschen, und ich grüsse Wien, die Wienerstadt und das WienerVolk und den alten Steffl!" Alle klatschten. Mit hurtigem Gerassel schloss sich der Vorhang. „Diese Vision ist zu Ende!"—verkündete Trummer. Alle Welt drang nun zum Vorhang vor. Die Verwirrung benutzte Taittinger. Er ging. Er floh. XXX. Langsam zuerst, vorsichtig und dann immer heftiger begannen die Zeitungen, nach langen Jahren wieder einmal von Persien zu sprechen, dem befreundeten Königreich in nahen Oriënt und von seiner Majestat, dem Schah, dessen letzter Besuch in Wien dem Volk von Oesterreich, ja, allen Vólkern der Monarchie noch in Erinnerung sein musste. Russische Aspirationen, enghsche Winkelzüge, französische Intriguen berichteten die Korrespondenten aus Petersburg, London und Paris. Das „Fremdenblatt schickte einen Journalisten nach Teheran. Er erzahlte von persischen Sitten, persischen Frauen, persischen Garten, von der persischen Armee, von persischen Bauern. Nach einigen Artikeln glaubte sich ein Wiener ebenso heimisch in Teheran wie in Döbling, Grinzing, in der Leopoldstadt und am Alsergrund. Nichts steht in den Zeitungen über Persien, was nicht eine besondere Bedeutung hatte, eine besondere, pohtische Bedeutung. Die Politiker, die Diplomaten, die Journalisten wissen es: der Schah von Persien wird noch einmal nach Wien kommen. Am Ballhausplatz durchstöbert man die Protokolle. In der Hof- und Kabinettskanzlei Seiner Majestat forscht man nach dem geringsten Vorfall, der sich seinerzeit, beim letzten Besuch des Schahs von Persien, ereignet hatte. Man blattert auch in den alten Archiven der Wiener Sicherheitspolizei. In diesen Tagen hatte Lazik den glanzenden, um nicht zu sagen: unbezahlbaren Einfall, das neue WeltBioscop-Theater im Prater um eine Aktualitat zu bereichern. Alle Zeichnungen, Skizzen und Portrats der „Kronenzeitung" vom Besuch der persischen Majestat besass er noch. Zehn Gulden zahlte Mizzi Schinagl für die Idee. Es war kein Zweifel: die Reichshaupt- und Residenzstadt bereitete sich auf einen Empfang der persischen Majestat vor. Alle Redaktionen wussten es. Bald wussten es alle Amtsdiener, alle Hoflakaien, alle Kutscher, alle Dienstmanner, alle Wachleute; (zuletzt erfuhren es, wie gewöhnlich, die fremden Diplomaten.) Tino Percoli steilte für fünfzig Gulden die „brennende Aktualitat" her: den Schah von Persien, den Grossvizir und dessen Adjutanten und den Obereunuchen. Die Haremsfrauen waren überflüssig. (Zur Not konnte man sie aus dem bereits fertigen Harem des Sultans in das neu zu errichtende „Persische Zimmer" übernehmen.) In der Hof- und Kabinettskanzlei, im Ministerium des Innern und im Ministerium für Verkehr und Handel, in der Wiener Polizei und in der von Triest, im Triestiner Hafen und in der Direktion der Südbahn: überall war man parat. Winzige Radchen, unverstandige, im unverstandlichen Betrieb des vielfaltigen Reiches, begannen die kleinen Beamten, mit sinnlosem Eifer zu surren, zu suchen, zu schreiben, zu schwirren, Berichte zu erstatten, Berichte entgegen zu nehmen. Man erinnerte sich, dass die Koffer Seiner persischen Majestat einst eine unverzeihliche, fast irreparable Verspatung erlitten hatten. An alles erinnerte man sich. Alles grub man aus: Zeremonielle, Namen, Programm des Hofballs, des Empfangs, die Offiziere des seinerzeit an der Franz-Josefsbahn gestellten Ehrenregiments, die Oberstenuniform des persischen Eliteregiments, dessen Inhaber der Kaiser war. Man erinnerte sich auch an den Rittmeister Baron Alois Franz von Taittinger, der seinerzeit, zwecks besonderer Verwendung, von seinem Regiment detachiert gewesen war. Und einer der besonders eifrigen Beamten, Werkzeug des Schicksals und ahnungslos, wie die Werkzeuge des Schicksals sein sollen, folgte gewissenhaft den Spuren, die Taittingers Taten und Untaten hinterlassen hatten, und berichtete getreulich, was er erfahren hatte, der Polizei. Auch hier gab es eifrige Werkzeuge des Schicksals, und sie schickten Berichte an das Kriegsministerium. Um jene Zeit befand sich der Akt Taittinger in den Handen des Kriegsministerialrats Sackenfeld. Schon war er im Begriff gewesen, die Ueberprüfungskommission zu bestimmen und das Datum, an dem sich der Rittmeister vor ihr prasentieren sollte, als er den Bericht bekam mit der Ueberschrift: „Streng geheim, betrifft Taittinger". Er ging mit dem Akt und dem Bericht zum Oberstleutnant Kalergi, in den linken Trakt. Es war beiden Herren klar, dass man jetzt, im Augenblick, an Taittingers Gesuch nicht denken dürfe. Man musste es dem Baron sagen. Oberstleutnant Kalergi schnallte den Sabel um und ging. Er traf Taittinger im Hotel; einen verbitterten, veranderten und, wie es Kalergi schien, sehr schnell gealterten Taittinger. Das runde Tischchen in der Hotelhalle, an dem er sass, war von einem riesigen viereckigen Plakat überdeckt, das der Baron bekümmert studierte. Er erhob sich schwerfallig. Obwohl Taittinger keinen Stock hatte, schien es Kalergi, als stützte er sich auf einen unsichtbaren Stock. Kalergi setzte sich. Taittinger unterliess die übliche Frage nach Wohlergehn und Gesundheit und Frau. ,,Du kennst ja mein ganzes Leben, Kalergi"—begann er sofort. „Du weisst ja die blöde Geschichte mit der Schinagl und dann die Affare. Und von meinem Sohn hab' ich Dir auch erzahlt. — Jetzt also, vor zwei Wochen, hab' ich Alles geregelt. Ich hab' das Panoptikum bezahlt, Du weisst, das Neue Welt-BioscopTheater. Ihr Sohn, das heisst: mein Sohn, Xandl heisst er — das wirst Du auch wissen, ist wegen Raubmordversuchs, glaub' ich, eingesperrt — „Ah, die Geschichte!" — sagte Kalergi. „Die hab' ich gelesen!" „Ja, also!" — fuhr Taittinger fort. „Jetzt hab' ich natürlich, bevor ich wieder in die Armee geh', entschieden Schluss machen wollen mit den alten blöden Geschichten. Und jetzt aber, vor einer Viertelstund' eben bringt mir der Trummer, es führt zu weit, Dir zu erklaren, wer er ist — aber ist ein Freund der Mizzi — dies Plakat — und morgen wirds in allen Zeitungen stehn an allen Wanden kleben." Taittinger schob das Plakat dem Oberstleutnant Kalergi zu, der las: „Das Neue Welt-Bioscop-Theater zeigt aus Anlass der Wiederkehr Seiner Majestat des Schahs von Persien, naturgetreu gestellt und nachgebildet: 1). Die Ankunft des grossen Schahs mit seinen Adjutanten am Franz-Josefsbahnhof (Hofzug verkleinert). 2). Den Harem und den Ober-Eunuchen von Teheran. 3). Die Kebsfrau von Wien, ein Kind des Volkes von Sievering, dem Schah zugeführt von höchsten Persönlichkeiten und seitdem Beherrscherin des Harems in Persien. 4). restliche Suite des Schahs von Persien." Oberstleutnant Kalergi faltete sorgfaltig das grosse Plakat zusammen, sehr langsam, ohne aufzusehn. Er hatte Angst, den verzweifelten Bliek Taittingers anzuschauen. Aber er war gekommen, um ihm die Wahrheit zu sagen. Er wollte anfangen. Er glattete noch ein wenig das gefakete Plakat und überlegte die ersten Worte. „Ich bin ungeduldig" — sagte Taittinger. — „Verstehst Du das? Ich hab' mein ganzes Leben leichtsinnig gehandelt, ich seh's jetzt, aber es ist zu spat. Schau her — heut' hab' ich mich im Spiegel angeschaut und hab' gesehn, dass ich alt bin. Jetzt grad', vor dem Plakat, ist mir eingefallen, dass ich immer blöd gewesen bin. Vielleicht hatt' ich die Helen' heiraten sollen. Jetzt gibt's nix mehr für mich als die Armee. — Was weisst Du Neues von meiner Sache?" „Eben deswegen bin ich gekommen" — sagte der Oberstleutnant. „Na, und?" „Ja, lieber Freund! Die alte Geschichte, die Affare, wie Du sagst! Ich hab' eben die Sache mit dem Sackenfeld besprochen. Du musst warten, der Tepp von Teheran kommt uns dazwisschen. Die Polizei grabt die alten Akten aus und grad' jetzt, jetzt kommst Du wieder vor. Ich kann nur sagen: abwarten!" „Ich kann also nicht jetzt ?" „Nein" — sagte Kalergi. — „Deine blöde Geschichte ist wieder da. Lieber rührt man nicht dran." Taittinger sagte nur: ,,So" und ,,Danke! Dann blieb er eine kurze Weile still. Es war schon spat am Abend, man entzündete die Lichter in der Halle. „Ich bin ein Verlorener" — sagte Taittinger. Er schwieg eine Weile und fragte dann schrill, mit einer Stimme, die nicht aus ihm selbst kam: „Also, ist nichts mit dem Gesuch?" „Vorlaufig nichts!" erwiderte Kalergi. „Warten wir ab, bis die persische Geschichte aus is'." — Und, um den Freund wieder in das normale Leben zurückzufuhren, fügte Kalergi hinzu: ,,Gehn wir zum „Anker essen!" — und sah auf die Uhr. „Ja, ich muss mich nur waschen !" — sagte Taittinger. „Wart' einenAugenblick! Ich geh' ins Zimmer." Er stand auf. Fünf Minuten spater hörte Kalergi einen Schuss. Mit langem Echo tönte er wider auf Treppen und Korridoren. Man fand den Baron tot, neben dem Schreibtisch. Ofïenbar hatte er versucht, etwas aufzuschreiben. Der Revolver lag noch in seiner Rechten. Der Schadel war zerschmettert. Die Augen quollen hervor. Der Oberstleutnant Kalergi schloss sie mühsam. Man begrub Taittinger mit den üblichen militarischen Ehren. Ein Zug schoss die Ehrensalve ab. Am Leichenzug nahmen teil: der Direktor des Hotels Prinz Eugen, Mizzi Schinagl, Magdalene Kreutzer und Ignaz Trummer, der Oberstleutnant Kalergi und der Ministerialrat Sackenfeld. Auf dem Rückweg fragte der Ministerialrat: „Weshalb hat er sich eigentlich umgebracht? Sie waren ja sozusagen dabei?" „Halt so!" antwortete Kalergi. „Ich glaub', er hat sich verirrt im Leben. Derlei gibts manchmal. Man verirrt sich halt!" Dies war der einzige Nachruf auf den ehemaligen Rittmeister, den Baron Alois Franz von Taittinger. XXXI. Dies Mal hatte der Kapellmeister Nechwal von der Regimentskapelle der Hoch- und Deutschmeister kaum drei Tage Zeit, die persische Nationalhymne mit seinen Leuten ordentlich einzuüben. So plötzlich war der Befehl gekommen. Man übte also auch ausserhalb der Dienststunden. Der Tag, an dem die persische Majestat anlangte, war ein gütiger, blauer Frühlingstag; einer jener Wiener Frühlingstage, von denen das kindliche Gemüt der Bevölkerung annahm, dass lediglich ihre Stadt imstande ware, dergleichen hervorzubringen. Die vorgeschriebenen drei Ehrenkompagnien, eine am Perron aufgestellt, die zwei anderen vor dem Bahnhof Spalier bildend, vor der Menge der Neugierigen, der Jubelwütigen und der Beflissenen, sahen in ihren blauen Uniformen wie ein integraler aerarischer Bestandteil des spezifischen Wiener Frühlings aus. Es war ein Frühlingstag, ahnlich jenem, weit zurückliegendem, an dem der Schah zum ersten Mal nach Wien gekommen war; so ahnlich wie ein spater geborener Bruder dem altern. Dies Mal hatte den Schah nicht die Unruhe des Blutes nach dem Okzident gebracht, auch nicht die Neugier und kein ratselhaftes Verlangen nach Abwechslung. Seit einigen Monaten namlich lebte er in einer volkommenen Seligkeit mit einer neuangekauften vierzehnjahrigen Inderin Jalmana Kahinderi, einem Geschöpf aus Sanftheit und Wonne, ein braunes Reh, ein gutes Tier von den fernen Ufern des Ganges. Sie allein hatte der Schah diesmal mitgenommen und, ihretwegen allein, auch den Obereunuchen. Es war langst ein neuer Grossvizir vorhanden; (den früheren hatte seine Majestat aus plötzlichem Unwillen in eine mediokre Pension geschickt). Aber der Adjutant war der gleiche geblieben; es war immer noch der leichtlebige Kirilida Pajidzani, Liebling des Schahs geworden im Laufe der Jahre und, verhaltnismassig noch jung, dennoch befördert zum General mit dem Honorartitel eines Kommandanten der gesamten Reiterei. Der arme Taittinger freilich lag seit zehn Tagen im Grabe, und die Würmer nagten schon an seinem Sarg. Statt seiner war ein anderer Kavallerie-Offizier, dies Mal ein Ulane, zur besonderen Verwendung nach Wien versetzt, ein Pole namens Stanislaus Zaborski, der seinen Dienst ernster nahm, sei es auch nur, um den Herrschaften zu beweisen, dass der Ruf der polnischen Unzuverlassigkeit keineswegs berechtigt sei. Der Oberleutnant Zaborski stand auch nicht, wie einst der charmante Taittinger im Bahnhofsrestaurant am Büffet, sondern auf dem Perron, neben dem Güterwagen. Das Gepack war diesmal auch ordnungsgemass angekommen. Er steilte sich ordnungsgemass Seiner Excellenz, dem Adjutanten des Grossvizirs, dem General Kirilida Pajidzani vor. Pajidzani, an dessen Schlafen und dünnen Koteletts schon mattes Silber schimmerte, entsann sich des lustigen Rittmeisters Taittinger und fragte, ob der noch in Wien geblieben sei. „Excellenz", — erwiderte der Oberleutnant Zaborski, ,,der Herr Rittmeister ist vor zehn Tagen plötzlich gestorben("Pajidzani hatte ein oberflachliches Herz und ein hartes Gemüt, aber auch Angst vor dem Tod, besonders vor einem plötzlichen. Er sagte: „Der Herr Rittmeister war doch noch jung?" — und dachte gleichzeitig daran, dass er selbst noch jung war. — „Es war ein plötzlicher Tod, Excellenz!" — wiederholte Zaborski. „Herzschlag?" — insistierte Pajidzani. „Nein, Excellenz!" — „Also Selbstmord?" — Zaborski antwortete nicht. Pajidzani atmete auf. Seit einigen Jahren unterhielt Pajidzani mit dem Obereunuchen beinahe brüderliche Beziehungen. Beide hatten sie eifrig daran gearbeitet, den Grossvizir unmöglich zu machen. Es gelang ihnen, nun waren sie auf Tod und Leben Verbündete. Pajidzani war zwar nicht Grossvizir geworden, aber immerhin General. Der Obereunuch hatte den harmlosen Kirilida Pajidzani gern gewonnen. Es war ein Mann nach seinem Herzen. Ungefahrlich, horig, leichtfertig, hilflos manchmal und für jeden Rat dankbar; gelegentlich ein williges Werkzeug. Ein vorzüglicher Freund! Zwei Tage schon nach ihrer Ankunft schlenderten beide in europaischem Zivil durch die hellen Frühlingsstrassen. Sie betrachteten die bunten Laden, kauften sinnlose Dinge ein, Spazierstöcke, Operngucker, Stiefel, Westen und Panamahüte, Regenschirme und Hosentrager, Pistolen, Munition, Jagdmesser, Brieftaschen und Lederkoffer. Als sie durch die Karntnerstrasse kamen, blieb der Obereunuch gebannt, verblüfft, beinahe erschrocken vor dem Schaufenster des Hoflieferanten Gwendl stehen. Auf einem breiten, dunkelblauen Kissen aus Samt leuchteten opalen, wie eine Hagelwolke, weiss wie der Schnee auf den Gipfeln der heimatlichen Berge und blaulich — rosa zugleich wie ein gewitter-schwangerer Himmel drei Reihen schwerer grosser Perlen, die dem Eunuchen vertraut waren wie Schwestern. Unvergleichlich war sein Bliek für Edelsteine. Rubine, Smaragde, Saphire, Perlen, die er einmal mit der Hand, ja einmal nur mit den Augen betastet hatte, konnte er niemals vergessen. Diese Perlen — er wusste, woher sie kamen. Diese Perlen hat er einmal, auf Befehl seines Herrn in ein bestimmtes Haus gebracht. „Du hast mir gestern" — sagte der Obereunuch zum General, ohne' den Bliek von den Perlen zu lösen — ,,von dem Dragoneroffizier erzahlt, der sich das Leben genommen hat!" — „Ja" — sagte Pajidzani. — „Nun, das ist ganz gut!" sagte der Obereunuch. ,,Komm' mit! Du musst dolmetschen! Ich will den Handier drin sprechen." Sie gingen in den Laden, sie verlangten denBesitzer. Der General nannte Rang und Namen. Der Hofjuwelier Gwendl kam würdig die steile Treppe herunter. „Wir sind vom Gefolge Seiner Majestat, des Schahs" — sagte der Obereunuch. — Und der General übersetzte „Woher stammen die Perlen in ihrem Schaufenster?" Gwendl antwortete, der Wahrheit gemass, dass er sie zuerst vom Bankjiaus Ephrussi erhalten, nach Amsterdam verkauft habe. Jetzt waren sie ihm wieder in Kommission zurückgegeben worden. „Was kosten sie' — fragte der Obereunuch. — und Pajidzani übersetzte. „Zweihunderttausend Gulden!" — sagte Gwendl. „Ich werde sie zurückkaufen" — sagte der Eunuch. Er zog einen schweren blauen Lederbeutel, löste langsam die dicken Schnüre, die den Beutelhals umschlangen, und schüttete den Inhalt auf den Tisch, lauter goldene Reindln. Es waren fünfzigtausend Gulden. Er verlangte, dass die Perlen morgen für ihn bereit gelegt würden und dass sie sofort, im gleichen Augenblick noch, aus dem Schaufenster verschwanden. Er brauchte die Bestatigung nicht, die Gwendl zu schreiben sich anschickte. Er sah den Zettel eine Se- kunde an, zerriss ihn und liess die weissen Papierschnitzel auf die rötlichen Dukaten niederfallen. „Morgen um diese Zeit bin ich hier!" — sagte der Obereunuch — Pajidzani übersetzte es. „Warum hast Du das getan?" — fragte der General. „Ich liebe diese Perlen!"— antwortete der Obereunuch. Pajidzani blieb an der Ecke der Karntnerstrasse und des Stephansplatzes stehen. Hier lehnte eine grosse hölzerne Plakatwand. Eine bunte, von persischen Fahnchen eingerahmte rote Inschrift auf schwarzem Grunde lautete: „Der Schah, Seine Majestat, der Herr der glaubigen Perser und Anbeter Mohammeds in Naturahnlichkeit. — Der Harem von Teheran. — Die Geheimnisse des Orients. — Alles im Grossen Welt-Bioscop-Theater, Prater-Hauptallee!" „Fahren wir!" — sagte Pajidzani. xxxn. Nach alter Gewohnheit liess der Schah am Morgen den Obereunuchen rufen. Die Majestat schlürfte den gewohnten Karluma-Tee. Die Pfeife lehnte am Tisch, lang wie ein Wanderstab; sie schien von selbst zu rauchen. „Gestern hast Du die Welt gesehen!" — begann der Schah. „Was meinst Du? Ist sie verandert seit dem letzten Mal, da wir hier waren?" „Alles verandert sich, Herr" — antwortete der Eunuch. „Und alles bleibt sich dennoch gleich. Dies ist meine Meinung!" „Hast Du alte Bekannte vom letzten Besuch her wieder gesehen?" „Nur einen, Herr, eine Frau!" „Was für eine?" „Herr, sie war Deine Geliebte, eine Nacht. Und ich hatte die unermessliche Ehre, ihr Dein Geschenk zu überbringen." „Denkt sie noch an mich? Hat sie von mir gesprochen?" „Ich weiss es nicht, Herr! Sie hat nicht von Dir gesprochen." „Was hast Du ihr damals geschenkt?" „Die schönsten Perlen, die ich in den Kisten gefunden habe. Es war ein würdiges Geschenk. Aber . . ." „Aber?" „Sie hat es nicht behalten. Ich habe die Perlen gestern im Schaufenster eines Ladens gesehn. Ich habe sie zurückgekauft." „Und wie ist die Frau?" „Herr, sie ist nicht wert, dass von ihr gesprochen werde." „Und damals? War sie damals mehr wert?" „Damals, mein Herr, war es anders. Eure Majestat waren jünger, auch damals sah ich, wer sie war. Ein armes Madchen. Nach den Sitten des Westens eine kaufliche Ware." „Sie hat mir aber damals gefallen!" „Herr, es war nicht dieselbe; es war nur eine ahnliche!" „So bin ich also blind?" „Wir sind alle blind" — sagte der Obereunuch. Dem Schah ward es unbehaglich. Er schob den Honig, die Butter, die Früchte beiseite. Er dachte nach, das heisst, er gab sich den Anschein, als dachte er nach, aber sein Kopf war leer, ein ausgehöhlter Kürbis. „So, also, so!" — sagte er. Und dann: „Sie hat mir dennoch Freuden gegeben!" „Wohl, wohl, das ist so!" — bestatigte der Eunuch. „Sag' mir noch", begann der Schah wieder, „sag's mir aufrichtig: glaubst Du, ich irre mich, ich irre in andern wichtigeren Dingen auch?" „Herr, wenn ich aufrichtig sein muss: es ist gewiss! Du irrst, denn Du bist ein Mensch!" „Wo gibt es Sicherheit?" — fragte der Schah. „Drüben!" — sagte der Obereunuch, — „drüben, wenn man tot ist." „Hast Du Angst vor dem Tod?" — „Ich erwarte ihn, lange schon. Ich wundere mich, dass ich noch lebe!" „Geh!" — sagte der Schah, rief aber im nachtsten Augenblick: ,,Bring' mir die Perlen zurück!" Der Eunuch verneigte sich und glitt hinaus, ein behabiger Schatten. xxxm. Eine Woche spater verliess der Schah die Reichshaupt- und Residenzstadt. Der Kapellmeister Nechwal dirigierte die Regimentskapelle der Hoch- und Deutschmeister auf dem Perron. Die Ehrenkompagnie prasentierte das Gewehr. Der Oberleutnant Zaborski nahm einen herzlichen Abschied vom General Kirilida Pajidzani. Die kleine Jalmana Kahinderi stieg in einen diskret angehangten Waggon, in Begleitung eines alten, behabigen, immer noch munter scheinenden Herrn. Seine Majestat, der Kaiser, verabschiedete sich mit geübter Herzlichkeit vom fremden Monarchen. Hinter dem Fenster im Bureau des Stationsvorstands zeichnete der Illustrator der „Kronenzeitung" die Abschiedsszene, eventuelles Thema für den Maestro Tino Percoli oder einen seiner Nachfolger. Was das „Welt-Bioscop-Theater" betraf, so durfte es am Tag nach der Abreise der persischen Majestat wieder aufmachen. Mizzi Schinagl sass zuweilen an der Kassa, mit Perlen behangt. Manchmal dachte sie an den Prozess, der ihrem Xandl bevorstand. Manchmal ging sie ins Untersuchungsgefangnis, um ihm einige starkende Sachen zu bringen, Kase, Salami und, hinter dem wohlwollenden Rücken des Aufsehers, auch Zigaretten. Niemals kam sie mit der Empfindung zurück, dass Xandl ihr Sohn sei und sie seine Mutter. Sehr selten, aber dafür auch immer heftiger, dachte sie an den geliebten Taittinger. Dann wurde sie traurig. Da es aber keineswegs in ihrer Natur lag, traurig zu bleiben, zwang sie sich mit fröhlicher Gewaltsamkeit, an die zweitausend Gulden zu denken, die sicher in der Postsparkasse lagen und an das gute Geschaft, das sie mit dem Welt-Bioscop-Theater machte. Sie war gesund, munter, manchmal auch ausgelassen. Sie gehorte zu jenen Frauen, die man ihrer knusprigen Fülle wegen ,,resch" nennt. Und sie hielt manchmal Ausschau nach einem Mann. Der alte Tino Percoli, der dem Welt-Bioscop immer noch Wachsfiguren lieferte und der die Geschichte der Mizzi Schinagl kannte, pflegte manchmal zu sagen: ,,Ich könnte vielleicht Puppen herstellen, die Herz, Gewissen, Leidenschaft, Gefühl, Sittlichkeit haben. Aber nach dergleichen fragt in der ganzen Welt niemand. Sie wollen nur Kuriositaten in der Welt; sie wollen Ungeheuer. Ungeheuer wollen sie!" ÏOSEPH ROTH JOSEPH ROTH DIE GESCHICHTE VON DER 1002. NACHT ROMAN 1939 DE GEMEENSCHAP - BILTHOVEN Alle Rechte vorbehalten. Copyright ig39 by „Uitgeverij De Gemeenschap" Bilthoven (Holland). Printed in Holland. I. Im Frühling des Jahres 18.. begann der Shah-inShah, der heilige, erhabene und grosse Monarch, der unumschrankte Herrscher und Kaiser aller Staaten von Persien, ein Unbehagen zu fühlen, wie er es noch niemals gekannt hatte. Die berühmtesten Aerzte seines Reichs konnten seine Krankheit nicht erklaren. Der Schah-in-Schah war aufs Höchste beunruhigt. In einer schlaflosen Nacht liess er den Obereunuchen Patominos kommen, der ein Weiser war und der die Welt kannte, obwohl er den Hof nie verlassen hatte. Zu diesem sprach er so: „Ich bin krank, Freund Patominos. Ich fürchte, ich bin sehr krank. Der Arzt sagt, ich sei gesund, aber ich glaube ihm nicht. Glaubst Du ihm, Patominos?" „Nein, ich glaube ihm auch nicht!" sagte Patominos. „Glaubst Du also auch, dass ich schwer krank bin?" fragte der Schah. „Schwer krank nein — das glaube ich nicht!" erwiderte Patominos. „Aber krank! Krank jedenfalls, Herr! Es gibt, Herr, viele Krankheiten. Die Doktoren sehen sie nicht, weil sie darauf abgerichtet sind, nur die Krankheiten der körperlichen Organe zu beachten. Was aber nutzt dem Menschen ein gesunder Leib mit gesunden Organen, wenn seine Seele Sehnsucht hat?" „Woher weisst Du dass ich Sehnsucht habe?" — „Ich erlaube mir, es zu ahnen", „Und wonach sehne ich mich?" „Das ist eine Sache" — erwiderte Patominos — „über die ich eine Weile nachdenken müsste." Der Eunuch Patominos tat so, als dachte er nach, dann sagte er: „Herr, Eure Sehnsucht zielt nach exotischen Landern, nach den Landern Europas, zum Beispiel." „Eine lange Reise?". ,,EinekurzeReise, Herr! Kurze Reisen bringen mehr Freude als lange. Lange Reisen machen krank." „Und wohin?" „Herr" — sagte der Eunuch — „es gibt vielerlei Lander in Europa. Es hangt alles davon ab, was man eigentlich in diesen Landern sucht." „Und was glaubst Du, dass ich suchen müsste, Patominos?" „Herr" — sagte der Eunuch — „ein so elender Mensch, wie ich, weiss nicht, was ein grosser Herrscher suchen könnte." „Patominos" — sagte der Schah — „Du weisst, dass ich schon wochenlang keine Frau mehr angerührt habe." „Ich weiss es, Herr", erwiderte Patominos. „Und Du glaubst, Patominos, das sei gesund?" „Herr" — sagte der Eunuch und erhob sich dabei ein wenig aus seiner gebückten Stellung — „man muss sagen, dass Menschen meiner besonderen Art nicht viel von derlei Dingen verstehen." „Ihr seid zu beneiden." „Ja" — erwiderte der Eunuch und richtete sich zu seiner ganzen fülligen Grosse auf. „Die anderen Manner bedaure ich von ganzem Herzen." „Warum bedauerst Du uns, Patominos?" — fragte der Fürst. „Aus vielen Gründen" — antwortete der Eunuch, „besonders aber deshalb, weil die Manner dem Gesetz der Abwechslung unterworfen sind. Es ist ein trügerisches Gesetz: denn es gibt gar keine Abwechslung." „Wolltest Du damit gesagt haben, dass ich dieser bestimmten Abwechslung halber irgendwohin fahren sollte?" „Ja, Herr" — sagte Patominos — „um sich zu überzeugen, dass es keine gibt." „Und dies allein würde mich gesund machen?" „Nicht die Ueberzeugung, Herr" — sagte der Eunuch — „aber die Erlebnisse, die man braucht, um zu dieser Ueberzeugung zu gelangen!" „Wie kommst Du zu diesen Erkenntnissen, Patominos?" „Dadurch, dass ich verschnitten bin, Herr!" — erwiderte der Eunuch und verneigte sich wieder. Er riet dem Schah-in-Schah zu einer weiten Reise. Er schlug Wien vor. Der Herrscher erinnerte sich: „Mohamedaner waren dort schon vor vielen Jahren gewesen." „Herr, es gelang ihnen damals leider nicht, in die Stadt zu kommen. Auf dem Stefansturm stünde sonst heute nicht das Kreuz, sondern unser Halbmondl" „Alte Zeiten, alte Geschichten. Wir leben in Frieden mit dem Kaiser von Oesterreich." „Jawohl, Herr!" „Wir fahren!" — befahl der Schah — „die Minister verstandigen!" Und es geschah, wie er befohlen hatte. Im Waggon erster Klasse zuerst, spater im rückwartigen Teil des Schiffes, herrschend über den Frauen, sass der Ober-Eunuch Kalo Patominos. Er blickte auf die rotglühende untergehende Sonne. Er breitete den Teppich aus, warf sich auf den Boden und begann das Abendgebet zu murmeln. Man erreichte unerkannt Konstantinopel. Das Meer war sanft, wie ein Kind. Das Schiff schwamm sacht und lieblich, es selbst ein Kind, in die blaue Nacht hinein. zu sagen: es war kaum ein Wölkchen, es war ein Schleierchen, eigentlich nur der Hauch von einem Wölkchen. Auch der Kapitan hatte es im gleichen Augenblick erspaht — und schon hoffte er, ein Wunder sei ihm zu Hilfe gekommen, und er und seine Lüge und seine verlogenen, umgelogenen Instrumente würden in den Augen des Herrn aller Glaubigen plötzlich gerechtfertigt sein. Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn: so winzig und hauchdünn das Wölkchen auch war, so verstarkte es doch den Zorn des Schahs. Er hatte sich schon so daran gefreut, dass er Grossvizir und Kapitan auf einer niedertrachtigen Lüge ertappt hatte — — und jetzt kam die Natur selbst gebar ein Wölkchen (und wie leicht konnten richtige Wolken daraus werden!) und gab am Ende noch den lügenden Instrumenten recht! Mit grimmerAufmerksamkeitbeobachtete der Schah die unaufhörlich wechselnden Formen des Wölkleins. Bald lockerte es sich. Der Wind zerfranste es ein bisschen. Dann aber ballte es sich noch fester als vorher zusammen. Nun sah es aus, wie ein Schleier, in einen Knauel verdichtet. Dann dehnte es sich in die Lange. Dann schliesslich wurde es dunkier und fester. Der Kapitan stand immer noch hinter dem Rücken des Schahs. Auch er betrachtete die wechselnden Formen der kleinen Wolke, aber keineswegs grimmig, sondern mit tröstlichem Herzen. Ach, aber: wie trog ihn sein Sinn! Jah und wütend wandte sich der Schah um, und sein Angesicht erschien dem Kapitan wie eine Art gefahrlicher violetter Hagelwolke. „Ihr tauscht Euch alle" — begann der machtige Herr ganz leise, mit einer Stimme, die beinahe tonlos, aus unbekannten Gründen der Seele kam. ,,Ihr tauscht Euch alle, wenn Ihr glaubt, dass ich Eure Manöver nicht durchschaue. Die Wahrheit sagst Du mir nicht! Was erzahlst Du mir von Deinen Instrumenten? Was für einen Sturm verkünden sie? Mein Auge ist noch lange so sicher wie Deine Instrumente. Ringsum ist der Himmel klar und blau, selten noch habe ich einen so klaren und blauen Himmel gesehen. Mach' Deine Augen auf, Kapitan! Sag' selbst, siehst Du auch ein einziges, noch so geringes Wölkchen am Horizont?" Der Schrecken des Kapitans war gross, aber gewaltiger noch war sein Erstaunen. Und noch grösser als sein Schrecken und sein Staunen war seine Ratlosigkeit. War der Zorn des Herrn echt oder gespielt? Steilte ihn der Herr auf die Probe? Wer konnte es wissen? Er hatte niemals in der Nahe des Schahs gelebt, er kannte nicht seine Gewohnheiten. Der und jener hatte dem Kapitan gelegentlich erzahlt, dass der Schah manchmal den Erzürnten spielte, um den Grad der Aufrichtigkeit zu erkennen, dessen seine Diener fahig sein konnten. Unglücklicherweise dachte der arme Kapitan gerade jetzt an diesen einen, im allgemeinen durchaus nicht kennzeichnenden Charakterzug des Herrn und er entschloss sich, aufrichtig zu sein. „Herr" — sagte er — ,,die Augen Eurer Majestat haben soeben die Wolke dort am Horizont gesehen." Und er trieb, der unselige Kapitan, seine Kühnheit so weit, dass er sogar den Finger ausstreckte und nach dem Wölkchen wies, das inzwischen eine richtige, schwarzblaue Wolke geworden war, die mit unheimlicher Eile dem Schiffe nahertrieb. „Kapitan!" — donnerte der Schah— „willst Du mich lehren, den Himmel anzusehn? Nennst Du jenes lichte Nebelchen dort eine Wolke? Spürst Du nicht die Strahlen der Sonne?" In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas Unerwartetes. Die Wolke, sie war in einigen Sekunden eine tiefe, regentrachtige, blauschwarze Gewitterwolke geworden, hatte soeben die Sonne erreicht und sie verfinsterte die Welt. Der Kapitan streckte beide Arme aus, und über seine zitternden Lippen kam kein Wort mehr. Es sah aus, als wollte er sagen: ,,Herr, zu meinem Bedauern bin ich gezwungen, den Himmel sprechen zu lassen. Er schickt sich eben an, statt meiner, Eurer Majestat zu antworten." Zwar hatte auch der Schah selbstverstandlich gesehn, wie sich die Sonne verfinsterte. Noch wusste er nicht genau, ob er sich freuen sollte über die Ehrlichkeit seiner Diener, die ihm in der Tat genauen und wahrheitlichen Bericht über den nahenden Sturm gegeben hatten, oder ob er sich argern sollte darüber, dass er seinem eigenen Misstrauen erlegen war. Er fühlte, dass er in Gefahr war, seine Verwirrung zu verraten. Dies durfte auf keinen Fall geschehen — und deshalb befahl er: ,,Zeig' mir Deine Instrumente, Kapitan!" Wahrend sie das Deck entlang gingen, der Schah voran, der Kapitan hinterdrein, verfinsterte sich der Himmel noch mehr, soweit man sehen konnte, mit Ausnahme eines schmalen blauen Streifens im Nordosten. In Westen waren die Wolken ganz böse und violett, in Zenith des Himmels wurden sie etwas milder und heller, im Osten lichteten sie sich zu einer geradezu als gütig zu empfindenden Blasse. Der Kapitan, drei Schritte hinter dem Schah, geriet in eine wahrhaftige, ehrliche Furcht. Diesmal war es nicht, wie vorher, Angst vor dem Herrscher und vor der eigenen Lüge, sondern Furcht vor Allah, dem Herrn der Welt, und vor dem Sturm, den er so leichtsinnig vorausgesagt hatte. Zum ersten Mal hatte der Kapitan die Ehre, den Schah-in-Schah auf seinem Schiff zu beherbergen. Wass wusste er von den Gesetzen der flammchen spiegelten sich tausendfaltig in dem blanken Tanz- Oval des Parketts, sodass es aussah, als ware der Boden gleichsam von unten her beleuchtet. Der Kaiser und der Schah sassen auf einer scharlachrot überkleideten Etage, in zweibreitenStühlen aus spiegelndem Ebenholz, die aussahen, wie geschnitzt aus schwarzer Nacht. Neben dem Kaiser von Oesterreich stand der Hofzeremonienmeister. Sein schwerer goldgestickter Kragen sog, trank, schlang ungesattigt das goldene Licht der Kerzen, strahlte es wieder, glanzte, glitzerte, raffte gierig das Licht und verstreute es wieder grossmütig, wetteiferte geradezu mit den Kandelabern und übertraf sie noch. Neben dem Schah stand der Grossvizir, in schwarzer Uniform. Sein schwarzer Schnurrbart hing fürchterlich-majestatisch, wuchtig und schwer über seinem Mund. Er lachelte von Zeit zu Zeit in regelmassigen Abstanden und so, als dirigierte irgend eine fremde Macht seine Gesichtsmuskeln. Dem Rang und der Würde nach wurden die Damen und Herren der persischen Majestat vorgestellt. Er sah die Frauen genau an, mit seinen kindischen, glühenden Augen, in denen alles enthalten war, was seine einfache Seele zu vergeben hatte: die Gier und die Neugier, die Eitelkeit und die Lüsternheit, die Lieblichkeit und die Grausamkeit, die Kleinlichkeit und die Majestat trotz allem auch. Die Damen spürten den gierigen, den neugierigen, den lüsternen, den eitlen, den grausamen und majestatischen Bliek des Schahs von Persien. Sie erschauerten leicht. Sie liebten den Schah, ohne es zu wissen. Sie liebten seine schwarze Pelerine, seine rote, silberbestickte Mütze, seinen krummen Sabel, seinen Grossvizir, seinen Harem, alle seine dreihundertfünfundsechzig Frauen, seinen Obereunuchen sogar und ganz Persien: den ganzen Oriënt liebten sie. die Schösse hoben, bevor sie ein Knie zurückstreckten, hatte für ihn etwas unnennbar Keusches und zugleich unsagbar Sündhaftes, es war ein Versprechen, das man nicht zu halten gedachte. Lauter unverschlossene Turen, die man nicht öffnen kann, — dachte der Herr von Persien, der machtige Besitzer des Harems. Jede also halboffene und gleichzeitig abgesperrte Frau, jede einzelne, war lockender als ein ganzer Harem, angefullt mit dreihundertfünfundsechzig ratsellosen, geheimnislosen, gleichgültigen Leibern. Wie unergründlich musste die Liebeskunst der Abendlander sein! Welch vertrackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhullen! Was gab es in der Welt, das geheimer und entblösster zugleich sein konnte, als das Antlitz einer Frau! Ihre halbgesenkten Augenlieder verrieten und verbargen, versprachen und verwehrten, enthüllten und verweigerten. Was war der Glanz der Diademe, die sie im Haar trugen, gegen den schwarzen, braunen, blonden Glanz dieser ihrer Haare selbst, und wieviel Farbentönungen gab es innerhalb dieser Farben! Dieses Schwarz war blau wie eine Hochsommernacht und jenes hart und matt wie Ebenholz; dieses Braun war golden wie der letzte Gruss des versinkenden Abends und jenes rötlich wie das edle Ahornblatt im spaten Herbst; dieses Blond war heiter und leichtfertig wie der Goldregen im Frühlingsgarten und jenes matt und silbrig wie der erste Reif einer frühen Morgenstunde im Herbst. Und zu denken, dass jede einzelne dieser Frauen einem einzigen Mann gehorte oder bald angehören würde! Jede einzelne ein behüteter Edelstein! Nein! Daran wollte der Schah in diesem Augenblick nicht denken. Peinliche, schadliche Einfalle! Er war nach Europa gekommen, um das Einzige zu geniessen, um das Vielfaltige zu vergessen, das Gehütete zu rauben, das hier herrschende Recht zu brechen, ein Mal nur, ein einziges Mal der Wollust des unrechtmassigen Besitzes teilhaft zu werden und die ganz besondere, raffinierte Art der Europaer, der Christen, der Abendlandischen auszukosten. Als der Tanz begann es war zuerst eine Polka — verwirrten sich seine Sinne vollends. Er schloss sekundenlang seine grossen, schonen, goldbraunen unschuldsvollen Rehaugen, er schamte sich selbst der Gier und der Neugier, die er in ihnen leuchten wusste. Alle gehelen ihm. Aber nicht das Geschlecht begehrte er. Er hatte Heimweh nach der Liebe, das ewige mannliche Heimweh nach der Vergötterten, der Göttlichen, der Göttin, der Einzigen. Alle Freuden, die ihm das Geschlecht der Frauen gewahren konnten, hatte er ja bereits genossen. Ihm fehlte nur noch eins: der Schmerz, den nur die Einzige bereiten kann. Er schickte sich also an, zu wahlen. Immer mehr von den Frauen im Saai schied er aus. Bei der und jener glaubte er, mehr oder weniger verborgene Fehler entdeckt zu haben. Es blieb schliesslich eine, die Einzige: es war die Grafin W. Alle Welt kannte sie. Blond, heil, jung und mit jenen Augen begnadet, von denen man sagen könnte, sie seien eine merkwürdige Art von Veilchen mit Vergissmeinnichtblick, war sie seit drei Jahren, seit ihrem ersten Ball, der Gesellschaft eine Augenweide, den Mannern ein ebenso begehrtes, wie verehrtes Wesen. Sie gehorte zu jenen Madchen, die in den langstvergangenen Tagen ohne jedes andere Verdienst als das der Anmut Verehrung genossen und Anbetung erwarben. Man sah ein paar ihrer Bewegungen, fühlte sich reich beschenkt und war überzeugt, dass man ihr Dank schuldig sei. Sie war ein spat gezeugtes Kind. Ihr Vater konnte schon zu den greisen Dienern der Monarchie gezahlt werden. Er lebte einsam und lediglich seiner Mineraliensammlung ergeben auf seinem Gut inParditzinMahren. Manchmal vergass er Frau und Tochter. In einer jener Stunden, in denen er gerade einen recht seltenen Malachit von einem Freund aus Bozen zugeschickt erhalten und seine Familie völlig vergessen hatte, liess sich ein ihm unbekannter Sektionschef vom Finanzministerium melden. Es war der Graf W. Es war keineswegs, wie der Alte schon gehofft hatte, etwa ein Liebhaber von Mineralien, sondern lediglich der seiner Tochter. Jeden gewöhnlichen Quarzstein hatte der alte Herr von Parditz wenigstens durch die Taschenlupe betrachtet. Den jungen Mann aber, der seine Tochter begehrte, sah er nur einen Augenblick durch das Lorgnon an. „Bitte!" — sagte er, ohne weiteres „werden Sie glücklich mit Helene". Die junge Frau liebte ihren Mann, obwohl sie eine manchmal süsse, zuweilen lastige Erinnerung an den charmanten, zu besonderer Verwendung abkommandierten Baron Taittinger behalten hatte. Damals, als sie noch ein Madchen gewesen war, und obwohl sie einen durchaus gerechten Bliek für all seine Vorzüge gehabt hatte — sogar, wenn er sprach, schien es, als ob er tanzte — war er ihr in dem Masse gefahrlich erschienen, dass sie eines Tages begann, ihm mit frostiger Laune zu begegnen. Der arme Taittinger hatte zwar Phantasie genug, um sich einzubilden, dass er heftig und rettungslos verliebt sei, aber nicht so viel Ausdauer, wie in jenen Tagen dazu gehort hatte, das übliche Resultat heftiger Liebesbemühungen abzuwarten. Er war ein Kavallerist, zur besonderen Verwendung abkommandiert, hochmütig auch und, besonders nach einer Stunde mit dem Madchen, in der es ihm gesagt hatte, er möge vorlaufig gehn und sie sei nicht aufgelegt, mit ihm noch weiter zu sprechen, s vollkommen überzeugt, dass es viele solcher Madchen schliesslich gabe und dass seine Ehre auch etwas wert sei und vielleicht mehr. Es war also, wie er sich sagte, endgültig „ein Bruch" und dies machte ihn dermassen „melancholisch", dass er sich eines Tages entschloss, zu Fuss durch Sievering zu wandern. Was kümmerte ihn Sievering? Es war noch schlimmer als langweilig: es war namlich „fad". Einen Tag spater allerdings war es „charmant" geworden. — Das kam von der Mizzi Schinagl. VII. Leider liegen die Tage, in denen unsere Geschichte spielt, schon so weit zurück, dass wir nicht mehr mit Sicherheit festzustellen vermogen, ob der Baron Taittinger recht hatte, als er der Meinung war, die Mizzi Schinagl sehe aus wie eine Zwillingsschwester der Grafin W. Er hatte, traurig und geradezu verzweifelt durch Sievering schlendernd, den lacherlichen Entschluss gefasst, eine Tonpfeife zu kaufen. Und er trat in den Laden des Alois Schinagl ein. Er war darauf vorbereitet gewesen, einen alteren würdigen Mann im Laden vorzufinden. Die Tür hatte eine grelle Alarmglocke. Auch sie überraschte den Baron Taittinger nicht. Wohl aber überraschte, ja erschreckte es ihn, dass statt des alten Pfeifenhandlers, den er erwartet hatte, ein Wesen hinter dem Ladentisch erschien, das er bereits sehr wohl zu kennen glaubte: wenn es nicht die Grafin W. persönlich war, so war es gewiss ihre Schwester. Er beschloss zuerst, langere Zeit die Pfeifen zu prüfen, von denen er allerdings gar nichts verstand. Es waren lacherliche Pfeifen und lacherliche Preise. Wahrend er vorgab, die Pfeifen zu prüfen, jede einzelne an den Mund führte, durch jede hindurchblies — so wie er es einmal gesehn zu haben glaubte, als er seinen gottseligen Herrn Papa, den alten Hofrat Taittinger, zum Pfeifenkaufen in Olmütz begleitet hatte — beobachtete er verstohlen, aber inbrünstig das zarte Gesicht der Doppelgangerin. Ja, kein Zweifel, sie sah aus wie die Grafin W.: das gleiche Veilchenauge mit dem Vergissmeinnichtblick; der gleiche Haaransatz über der niederen Stirn; der gleiche aschblonde Knoten im Nacken man sah ihn, so oft sich das Madchen umwandte, um nach neuen Pfeifen auf den Regalen an der Wand zu suchen; der gleiche Augenaufschlag und das gleiche süsse und zugleich mokante Lacheln; die gleichen scharfen Eckzahne, die sich bei jedem Lacheln enthüllten; die gleichen Handbewegungen und die gleichen lieben Grübchen an den Armen, zu beiden Seiten der Ellenbogen. Die goldenen Knöpfe der Rittmeister-Uniform verbreiteten einen immer starkeren Glanz im Laden, je tiefer der Abend wurde. Man hatte noch ganz deutlich die Pfeifen sehen können, aber dem Madchen, der Doppelgangerin der Grafin W„ wurde es unbehagüch» allein, wie sie war mit dem fremden Offizier, und sie entzündete den Rundbrenner über dem Puit, rechts vom Verkaufstisch. Das Licht flackerte und blackte zuerst. Taittinger kaufte fünfzehn nutzlose Tonpfeifen. Er fragte noch: „Was ist eigentlich Ihr Herr Vater, liebes Fraulein?" „Der Ofensetzer Alois Schinagl!" sagte das Madchen. „Pfeifen macht er auch, aber nur nebenbei. Aber die meiste Kundschaft sind halt die Leut', die Oefen brauchen. Zu uns kommt seiten einer ins Geschaft, Pfeifen haben die Leut' alle eh schon." „Ich komme sagte der Baron Taittinger — „morgen noch einmal. Ich brauche viel Pfeifen." Er kam am nachsten Tag, mit dem Diener, und er kaufte nicht weniger als sechzig Pfeifen. Drei Tage spater kam er wieder nach Sievering, er fand es „charmant". Es war Samstag, drei Uhr nachmittags, und Mizzi begrüsste ihn wie einen alten Bekannten, obwohl Taittinger diesmal in Zivil war. Es war warm und golden draussen. !Mizzi schloss den Laden und stieg in den Fiaker und man fuhr zum Kronbauer. Man fuhr zum Kronbauer und erzahlte drei Stunden spater dem fremden Herrn, dass man eigentlich schon so gut wie verlobt war. Verlobt war man mit Xandl Parrainer, Friseur und Perückenmacher. Jeden Sonntag ging man mit ihm aus. Das waren Geschichten, die den Taittinger gar nicht kümmerten und die er auch nur halb verstand. Eigentlich glaubte er, dieses brave Madchen wolle ihm einen guten Barbier empfehlen. „Schick' ihn nur zu mir — sagte er — „schick' ihn nur! Herrengasse 2, erster Stock". vni. Sehr bald fand Taittinger, dass ihn die Mizzi langweilte. Eines Tages teilte sie ihm mit, dass sie schwanger sei und dieser Zustand war schlimmer als langweilig: namlich fad. Die Folge dieser Erkenntnis war, dass Taittinger zum Notar ging. Taittinger liebte weder die Grafin W. mehr, noch die Schinagl, die ihr ahnlich sah. Er liebte nur noch, wie gewöhnlich, sich selbst. Wie es in jenen Tagen die Sitte befahl, riet der Notar zu einer Pfaidlerei. Alle Herren, deren Geschafte er Menschen verkehrten dort — und was ware schon eine Pfaidlerei — und was ware das überhaupt schon ïiir ein Leben, so, mit einem Kind und unverheiratet und mit einer Pfaidlerei. Was war das für ein Leben? Mizzi Schinagl hatte es schon oft selber gedacht, wörtlich das Gleiche. „Was sind das für noble Menschen, die dort verkehren?" — fragte Mizzi Schinagl. „Die nobelsten" — erwiderte die fremde Frau. „Namen kann ich ihnen auch sagen. Ich muss nur die Liste holen." Sie eilte dahin und brachte die Liste. Die Mizzi wusste selbst nicht, weshalb sie zur Frau Matzner am nachsten Tage ging. Was kümmerte sie die Frau Matzner? Was hatte sie jemals von der Frau Matzner gehort? Es war Sommer, Spatsommer. Es war auch sehr heiss. Verspatete, immer noch leichtsinnige Amseln flöteten auf dem immer noch grünen Rasen, zwischen dem Kopfsteinpflaster. Es schlug sechs Uhr, als sie vor dem Hause der Josephine Matzner stand. „Josephine Matzner, Masseurin, liter Stock, dreimal Lauten" war unten gedruckt. Sie lautete dreiMal. Ein geradezu niederschmetternder Duft von Maiglöckchen, von Flieder, von Veilchen, von Verbenen, von Reseda schlug Mizzi entgegen. Noch eh' sie wusste, was mit ihr geschah, stand sie in dem sogenannten rosa Salon: Aus rosa Seide waren die Vorhange vor den Fenstern; aus rosa Seide die Vorhange vor der Tür; aus rosa Rosen bestand die Tapete: in eine Rosenknospe aus Porzellan ging selbst der Knopf der Türklinke aus. Eines Tages, eines Abends vielmehr, kommt er, der geliebte Taittinger. Seit vielen Jahren ist er im Haus der Josephine Matzner heimisch. Als er die Mizzi Schinagl in diesem Hause erblickte, war er durchaus nicht erstaunt, wie es wahrscheinlich viele andere Manner an seiner Stelle gewesen waren, sondern er strengte sich an, eine den Umstanden angemessene Frage zu finden. Er erinnerte sich nicht mehr, auf welche Weise sein Notar die Mizzi Schinagl abgefunden hatte, ob durch eine Wascherei, Naherei oder Pfaidlerei. Dagegen glaubte er sich genau erinnern zu können, dass Fraulein Schinagl ein Kind weiblichen Geschlechts von ihm bekommen hatte, und eine höfliche Frage nach dem Befinden dieser Kleinen hielt er wohl für angebracht. „Grüss Gott!" — sagte er also — „Was macht unsere Kleine?" „Wir haben einen Buben!" — sagte die Mizzi und sie errötete zum ersten Mal wieder nach langen Jahren, als hatte sie nicht etwa die pure Wahrheit gesagt, sondern eine Lüge. „Ach ja, es ist ein Bub!" — sagte der Baron. „Entschuldige!" Eine Weile spater bestelite er Champagner, um mit Mizzi auf das Wohl dieses Buben, seines Buben, zu trinken. Er hörte nicht mehr alles, was die Mizzi vom Buben erzahlte. Er hörte nicht, dass er gut untergebracht war bei Frau Schyschka, einer Frau, die zwar aus Bielitz-Biala stammte, aber dennoch durchaus zuverlassig war. Sie verwaltete auch die Pfaidlerei, die ganz gut ging. Insoweit war Mizzi Schinagl zufrieden. Sie trug ein tiefausgeschnittenes weisses Seidenkleid und von Zeit zu Zeit nestelte sie an ihrem rechten Strumpfband, offenbar um sich zu überzeugen, dass ihr Geld, ein Zehnguldenschein, den sie heute erworben hatte, noch vorhanden war. Obwohl sie wusste, dass der Baron nur aus Gewohnheit zu der Josephine Matzner gekommen war, begann sie sich nach zwei Glasern Champagner einzureden, er sei ihretwegen allein gekommen. Alsbald schien es auch dem Rittmeister so, dass er der Mizzi wegen heute den Weg hieher genommen hatte. Der Baron hatte ein kleines Herz, aber es war ebenso schnell gerührt, wie vergesslich. Er mochte die Mizzi noch sehr gerne und er fragte sich, warum er sie eigentlich verlassen habe. Er begehrte sie sogar, aber es gab nun ein gewaltiges Hindernis: er schien ihm einfach unschicklich, eine Frau zu kaufen, die man umsonst gehabt hatte, sozusagen umsonst, abgesehen von der Pfaidlerei. Es war ebenso unschicklich, wenn nicht noch unschicklicher, eines der anderen Madchen zu nehmen, sozusagen vor den Augen der Mizzi. In der Hoffnung, dass er dadurch allen peinlichen Ueberlegungen entgehen könnte, gab er der Mizzi zuerst ein Geldstück, ein goldenes Fünfguldenstück. Sie nahm es in die Hand, spuckte darauf und sagte: „Gehn wir hinauf, zu mir, ich hab' ein nettes Kabinett!" Der Baron ging ins Kabinett und blieb dort bis Mitternacht, in Erinnerungen versunken. Er versprach, oft wieder zu kommen, und er hielt auch sein Versprechen. Er wusste nicht, ob ihn ein Fluch trieb oder ein Segen; ob er eigentlich die Grafin liebte oder die Mizzi; ja ob er überhaupt liebte; ob er überhaupt noch der alte Taittinger war. Es fehlte nur noch wenig, und er ware imstande gewesen, sich selbst in die dritte und letzte Kategorie der Menschen einzureihen: in die Kategorie der „Langweiligen". IX. Der machtige Herr von Persien, der Herr der dreihundertfünfundsechzig Frauen und der fünftausenddreihundertzehn Rosen von Schiras war nicht gewohnt, ein Begehren, geschweige denn eine Begierde zu unterdrücken. Kaum hatte sein Auge die Grafin W. auserkoren, und schon winkte er dem Grossvizir. Der Grossvizir neigte sich über die Sessellehne. „Ich hab' Dir was zu sagen", flüsterte der Schah. „Ich möchte" — sagte der Schah weiter — „die kleine junge Frau heute, die silberblonde, Du weisst, welche ich meine". „Herr" — wagte der Grossvizir zu erwidern — „ich weiss, welche Eure Majestat meinen. Aber es ist, es ist " Er wollte: „unmöglich" sagen, aber er wusste wohl, dass solch ein Wort das Leben kosten konnte. Also sagte er: „ es ist hierzulande sehr langsam!" „Heute!" sagte der Schah, dem nichts von dem, was er befohlen hatte, unausführbar erschien. „Heute!" bestatigte der Minister. Der Tanz war eine Weile unterbrochen. Der Herr und der Diener begaben sich würdig und langsam zu ihren Platzen zurück. Der Kaiser lachelte ihnen freundlich entgegen. Die Musik setzte wieder ein. Der Tanz begann aufs neue. Vor Mitternacht erhoben sich die Majestaten. Sie verschwanden, die doppelflügelige Tür hinter den Thronsesseln verschlang sie. Der Schah wartete in einem Nebenraum. Ihm gegenüber und so, dass er sie genau betrachten kann, steht eine Diana aus Silber auf einem schwarzen runden Brett. Sie scheint ihm das getreue Abbild der begehrten Frau zu sein. Alles in diesem Raum erinnert überhaupt an die begehrte Frau: der dunkelblaue Divan, die Gaste. Er wandelte durch den Saai. Er bemerkte gar nicht, dass ihm die Leute auswichen und dass sie ganze breite Strassen vor ihm bildeten, und dass sich gleichsam die Welt vor ihm spaltete. Unentwegt spielte die Musik Walzer von Strauss, aber ein Unmut lahmte alle Anwesenden. Der Baron Taittinger hatte ihn sofort erspaht. Er wusste sofort, nach wem der Schah Ausschau hielt. Die Zeit rann unaufhaltsam, bald mussten die „Spezis" kommen. Es musste auf jeden Fall verhindert werden, dass der Schah innerhalb der nachsten halben Stunde etwa in ein Gesprach mit der Grafin geriet. Man konnte diesen Schah jedenfalls nicht aus dem Redoutensaal entfernen. Man musste also die Grafin nach Hause schicken. Um das Allerschlimmste zu verhüten, beschloss der Baron mit dem Grafen W. zu sprechen. Er naherte sich dem kleinen Tisch, an dem der Graf allein sass. Er tanzte nicht gern. Er spielte nicht gern. Er trank nicht einmal gern. Eifersucht war seine einzige Leidenschaft. Er freute sich an ihr, er lebte von ihr. Es bereitete ihm ein wüstes Vergnügen, wenn er so zusah, wie seine junge Frau dahintanzte. Er hasste die Manner. Es schien ihm, dass sie alle auf seine Frau lauerten. Von allen Mannern, die er kannte, war und blieb ihm der Rittmeister Taittinger der Liebste, der einzig Liebe. Den hatte er bereits erledigt, vernichtet, er kam nicht mehr in Betracht. Taittinger ging unmittelbar auf die Hauptsache ein. „Graf" — sagte er, — „ich muss mit ihnen ernstlich sprechen. Unser persischer Gast ist verliebt in Ihre Frau!" _ „Nun?" — sagte der kaltblütige Graf. —^„Es ist kein Wunder. Viele lieben sie, lieber Baron! „Ja, aber, lieber Graf, der Schah, wissen Sie, komme sofort! und entfernte sich, so schnell es die Umstande erlaubten. Er begriff zwar, dass der Polizeiprasident partout leugnen wurde, aber er ahnte noch lange nicht, was für Folgen der ganze Plan haben sollte. Er ging geradewegs auf die Grafin zu. „Ihr Mann schickt mich" — sagte er. Nun, es ging vorlaufig alles gut. Der Wagen fuhr vor. Die Grafin W. und ihr Mann stiegen ein. Bevor der Graf noch dem Kutscher etwas sagen konnte, rief Taittinger mit einer verzweifelten Geistesgegenwartigkeit zum Bock empor: „Nach dem Prater! Die Herrschaften wollen Luft!" Gleich darauf, als die lautlosen Rader schonim Rollen waren und man lediglich das elegante sachte Trappeln der beiden Braunen hörte, schamte sich der Rittmeister seines erbarmlichen Zurufs. Ich habe wirklich zu viel getrunken, dacht er, oder ich bin von Sinnen. Aber er War nicht von Sinnen: er hatte richtig vorausgesehen. Denn es war keineswegs notwendig, dem Geheimen Franz Sedlacek ausführliche Anweisungen zu geben und Einzelheiten zu beschreiben. Er besass Phantasie genug. Weder er, noch seine Untergebenen hatten im Laufe einer kurzen Stunde ein Frauenzimmer — oder, wie sich Sedlacek ausdrückte: „eine Person" — ausfindig machen können, die man der Majestat statt der von ihr auserkorenen Dame hatte darreichen können. Es blieb Sedlacek nur übrig: die Mizzi Schinagl aus dem bekannten Hause der Josephine Matzner. Eilig hatte er sie den Armen eines alten Försters entrissen und so, wie sie war, im knallroten Kleidchen, das bis zu den Strumpfbandern reichte, im Fiaker mitgenommen. Unterwegs hatte er Zeit genug, sie zu instruieren. „Du darfst den Mund nicht aufmachen" sagte er. „Wenn er Dich fragt, wie Du heisst, so weilte ihn, die Kameraden liebte er nicht, der Oberst war fad. Die Stadt war fad, das Leben war noch schlimmer, als fad. Es gab im Vokabular Taittingers dafür keinen Ausdruck. Er glitt und sank. Er fühlte sich auch gleiten und sinken. Er hatte gerne mit Jemanden darüber gesprochen, mit Mizzi Schinagl zum Beispiel, von der er auch manchmal traumte. Aber es war ihm, als sei er zu stumm und zu stumpf, um das Richtige und Wahre sagen zu können. Er schwieg also. Und er trank. • Indessen dauerte der grosse Rausch der Mizzi Schinagl kaum drei Wochen. Berauscht war übrigens auch das ganze Haus der Frau Josephine Matzner. Berauscht war ganz Sievering, als es vom alten Pfeifenhandler Schinagl erfuhr, dass seine Tochter zum Gefolge des Schahs von Persien nunmehr gehorte und nach Teheran zu fahren gedenke. Denn dermassen umgeformt kam die Kunde von dem morgenlandischen Abenteuer der Mizzi nach Sievering. Der Zwischentrager und Gerüchtetrager gab es viele. Die erste Nachricht brachte der Friseur Xandl. Zuerst glaubte man ihm nicht; er krankte sich darüber so sehr, dass er die Mizzi anflehte, selber zu ihrem Vater zu gehn. Sie tat es endlich. Sie fuhr im Zweispanner vor. Als sie einstieg, setzte sich der Friseur Xandl an ihre Seite und er blieb auch langere Zeit auf seinem Platze. Aber als sie sich Sievering naherten, wechselte er den Platz: er setzte sich Mizzi gegenüber auf den Rücksitz. Das Wiedersehen war herzlich, ja, herzerschütternd. Der alte Schinagl weinte. Es waren kaum sechs Monate seit dem Tage vergangen, an dem er ganz Sievering versichert hatte, dass er seine Tochter verstossen habe und dass er entschlossen sei, sie nie mehr im Leben wiederzusehn. Aber was kann der Mensch gegen die Gewalt des Goldes? Man sah den alten Schinagl die versfossene Tochter umarmen. Als Mizzi Schinagl den Laden ihres Vaters verliess, bildeten die Leute draussen eine kleine Gasse. Die Schinagl war lieblich und rührend anzusehn, in ihrem dunkelgrauen Kostüm, mit ihrem grossen Hut aus blauem Tuch und dem hellgrauen Sonnenschirm in der Hand. Keine andere Herrscherin hatten die Leute aus Sievering dem befreundeten persischen Lande wünschen können. Sie lachelte, sie grüsste, sie stieg ein, und ihr gegenüber nahm wieder der Friseur Xandl auf dem Rücksitz Platz. Die Peitsche des Kutschers knallte diskret und munter. Dahin, dahin, in die Stadt zurück rollte der Fiaker, und Mizzi winkte mit einem weissen Handschuh. Der alte Schinagl stand vor der Tür und weinte. Das war keineswegs die einzige erhebende Stunde im neuen Leben der Mizzi Schinagl. Es gab deren viele. Die Tage bestanden aus lauter erhabenen und erhebenden Stunden. Die Perlen lagen in der Bank Ephrussi, sie machten anscheinend keine Sorgen. Wenn aber das Glück über ein armes, hilfloses Madchen mit einer Gewalt hereinbricht, mit der sonst nur Katastrophen zu kommen pflegen, wieviel muss so ein armer Mensch nachdenken! Man muss ein neues Leben einrichten. Man muss den kleinen Xandl in ein Internat geben, damit einmal ein rechter Mensch aus ihm werde — ein nobler Herr soll er werden! Wie kann man die Matzner entlohnen? Wie den Brautigam Xandl? Sollte man in Wien bleiben? Soll man nicht lieber in eine andere Stadt? Ins Ausland vielleicht? Von Monte Carlo hörte man, las gelegentlich in der „Kronenzeitung", von Ostende, von Nizza, von Ischl, von Zoppot, von Baden-Baden, von Franzensbad, von Capri, von Meran! Ach, wie gross war die Welt! Die Schinagl wusste zwar nicht, wo alle diese Orte lagen, wohl aber wusste sie, dass es in ihrer Macht lag, sie alle zu erreichen. Ihr plötzlicher Reichtum regte alle anderen auf; sie selbst aber erschütterte er. Wirre Vorstellungen von Kurorten, Möbeln, Hausern, Schlössern, Lakeien, Pferden, Theatern, noblen Herren, Hunden, Gartenzaunen, Wettrennen, Lottonummern, Kleidern und Schneidern erfüllten ihre Nachte, wenn sie wachte, und ihre Traume, wenn sie schlief. Die Runden bediente sie langst nicht mehr. Josephine Matzner gab ihr Ratschlage, obwohl sie selbst von dem allzu gewaltsamen Glück betaubt war, das ihre Pensionarin getroffen hatte. Immerhin hatte sie noch genug Vernunft behalten, um Mizzi die besten Ratschlage zu geben. „Heirate den Xandl" — so riet Frau Matzner — „er wird einen grossen Laden, einen Salon, in der innern Stadt eröffnen. Einen Teil steckst Du in die Pfaidlerei. Einen Teil inmein Unternehmen. Alles notariell. Deinen Sohn gibst Du zum Stift in Graz. Und wenn Dich der Xandl langweilt, nimmst Dir einen Liebhaber! Geld hast Du, wie Heu, wenn Du's richtig anstellst. Sonst gibst Du's aus, weg is es in zwei Jahren. Lass Dir raten, ich will Dir gut!" Mizzi Schinagl aber war keineswegs in der Lage, vernüftigem Rat zu folgen. Sie dachte manchmal an einen Mann, es war der unerreichbare Rittmeister Taittinger. Sie steilte sich gerne vor, dass er den Dienst quittieren könnte und sie heiraten, jetzt, wo sie so reich war. Der Juwelier Gwendl schatzte den Wert der Perlen auf ungefahr fünfzigtausend Gulden. Das Bankhaus Ephrussi hatte zehntausend darauf geliehen. Auch dieses Konto erschreckte und betaubte die arme Schinagl. Tausend Gulden in Banknoten trug sie immer im Strumpf. Hundert Gulden hatte sie in zehn Goldstücken im Taschchen. Hundert weitere Gulden in Silber verwahrte die Frau Matzner. Eines Tages schien es der Mizzi, dass sie Taittinger sehen müsse. Dieser Gedanke kam mit solcher Gewalt, dass sie einen Fiaker nahm, zu Grünberg am Graben fuhr und vier Kleider auf der Stelle kaufte. Drei liess sie sich nach Hause schicken und jenes, das ihr am schönsten dünkte, zog sie an. Sie fuhr in die Herrengasse, in das wohlbekannte liebe Haus. Sie erfuhr, dass der Rittmeister zu seinem Regiment zurückversetzt worden war. Eine noch grössere Verwirrung erfüllte sie. Es schien ihr, dass sie ohne den berauschenden und betaubenden Glückssturm des Goldes den Geliebten ihres Herzens, den einzigen geliebten Mann behalten hatte. Nunmehr beschaftigte sie der Gedanke, dass sie in die Garnison Taittingers müsse. Sie sagte der Frau Matzner, dass sie fahren müsse. „Erst wirst Du ihm schreiben" — sagte die Matzner. „Man fallt nicht so mit der Tür ins Haus. Man wirft sich auch nicht einem so mir nix, dir nix, an den Hals, jetzt, wo Du mehr bist als er." Mizzi Schinagl schrieb, dass sie reich geworden sei und dass sie Heimweh nach Taittinger habe; und wann sie kommen könne. Der Baron Taittinger erhielt diesen Brief in der Regimentskanzlei. Die Schrift kam ihm bekannt vor; aber seit einigen Wochen empfand er just gegen die bekannten Schriftzüge einen Widerwillen. Er steckte den ungeöffneten Brief in die Tasche. Er beschloss, ihn am Abend zu lesen. Aber er kam erst gegen drei Uhr morgens ins Bett, geradeswegs aus dem Café Bielinger. Und er fand den Brief erst zwei Tage spater wieder und auch nur, weil ihm der Bursche die Taschen geleert hatte. Dem Baron schien es allzu fatal, Mizzi Schinagl wieder zu begegnen. Sie erinnerte ihn an seine leichtsinnige Missetat. Am liebsten hatte er die ganze Episode einfach aus seinem Leben gelöscht. Aber kann man Geschichten aus dem Leben wegradieren? Der Rittmeister Taittinger sagte also dem Rechnungsunteroffizier Zenower — es war einer der wenigen „Charmanten" im Regiment — er möchte sozusagen dienstlich dem Fraulein Mizzi Schinagl per Adresse Matzner mitteilen, dass der Herr Rittmeister aus Gesundheitsgründen in Urlaub gegangen sei und erst in sechs Monaten wieder zum Regiment einrücken würde. Mizzi Schinagl weinte lange und ausführlich, als sie diesen Brief erhielt. Es schien ihr, dass ihr Leben endgültig ausgelöscht sei und just in dem Augen- blick, in dem es erst hatte anfangen sollen. Sie beschloss, ihren Sohn zu holen und ihn vorlaufig auch zu behalten. Er war vielleicht ein Trost. Und sie zog nach Baden. Sie mietete ein Haus in der Schenkgasse für zwei Jahre. Die Perlen kaufte der Juwelier Gwendl. Das Geld verwaltete derNotar Sachs. Fünfhundert Gulden bekam der alte Schinagl. Fünfhundert Gulden bekam die Frau Matzner. Fünfhundert Gulden bekam der Friseur Xandl. Tausend Gulden erhielt der Schneider Grimberg am Graben. Alle Welt war zufrieden: ausgenommen die Mizzi Schinagl selbst. s xm. Es erwies sich namlich nach einiger Zeit, dass der Kurort Baden keine günstige Wirkung auf das Gemüt der Mizzi ausüben konnte. Es gab viele Gründe dafür. Vor allem gab es Trabrennen. Mizzi Schinagl konnte nicht zu Hause bleiben. Sie war niemals früher bei irgend welchen Rennen gewesen. Jetzt schien es ihr, dass sie zu jedem gehen müsse. Es war, als zwange sie irgendeine höllische Gewalt, das Schicksal immer wieder herauszufordern, das Schicksal, das ein Mal einen so seligen Glückssturm über sie hatte wehen lassen. Ohne jede Kenntnis der mannlichen Natur, wie sie es nach einem Aufenthalt in einem sogenannten öffentlichen Hause sein musste, wo man ebenso wemg von der wirklichen Welt erfahrt wie in einem Pensionat für junge Madchen, beurteilte Mizzi die Manner, die ihr begegneten, nach den Masstaben, die für die Einstundengaste im Hause Matzner vielleicht gerade noch gültig gewesen waren. Es konnte also nicht fehlen, dass sie Hochstapler und Taugenichtse für solide Herrschaften aus guter Gesellschaft hielt. Sie war einsam. Sie hatte Heimweh nach dem Haus der Frau Matzner. Sie schrieb jeden Tag Ansichtskarten, an ihren Vater, an Frau Matzner, an jede von deren achtzehn Pensionarinnen und an das Regiment Taittingers, mit dem Vermerk auf dem Umschlag: „Bitte bestimmt über- geben, Danke, Schinagl". Sie schrieb immer das Gleiche: sie lebe herrlich, sie geniesse endlich die Welt. Von Taittinger kam keine Antwort. Frau Matzner antwortete hie und da mit einer vernünftigen gewöhnlichen Postkarte, mit Ratschlagen und Mahnungen. Die Pensionannnen des Hauses Matzner antworteten alle zusammen auf einem blauen, goldgeranderten Briefbogen, der also anfing: „Wir freuen uns, dass es Dir gut geht, und denken oft an Dich. Folgten die Unterschriften: Rosa, Gretl, Vally, Vicky und alle andern, dem Alter nach und der Rolle gemass, die sie im Hause Matzner spielten. Jede dieser Korrespondenzen erwartete Mizzi mit Sehnsucht, las sie mit einer seltsamen Spannung: es war mehr eine Folter als eine Freude. Was die Manner betrifft, so kümmerte sich Mizzi um sie nur deshalb, weil sie der festen Ueberzeugung war, das Leben sei ohne Manner ebensowenig möglich wie ohne Luft. Als sie noch arm und im Hause der Matzner und ratlos gewesen war, hatte sie sich Geld zahlen lassen mussen. Jetzt konnte sie umsonst lieben. Es tat ihr wohl, umsonst zu lieben. Manchmal gab sie den Herren Geld. Manche liehen sich sozusagen Geld für „Unternehmungen". Kein einziger von diesen Mannern gefiel ihr. Manner waren ihr tagliches, nachtliches Brot gewesen. Sie glich einem armen Wild, das sich selbst seine Jager sucht. Ihr Heimweh nach dem Sohn war einmal so gross gewesen — und jetzt schien es ihr vergeblich und verschwendet. Er gefiel ihr nicht, ihr Sohn. Er behinderte sie in der Hauptsache deshalb, weil sie ihn überallhin mitnehmen zu müssen glaubte: in die Café's, zu den Rennen, in die Hotelhallen, zu den Theatervorstellungen, zu den Mannern, zu den Spazierfahrten. Mit seinen vielzugrossen, hervorquellenden, wasserblauen Augen prüfte der Kleine die neuen Weiten, still, mit einer unheimlich stummen Gehassigkeit. Niemals weinte er. Und Mizzi Schinagl, die sich ennnerte, dass sie selbst als Kind sehr oft geweint hatte, und der übrigens ein wohkatiger Instinkt sagte, dass Kinder, die nicht weinen, böse Menschen werden, versuchte oft, ihn ohne Ursache zu schlagen, nur, damit er zu weinen beginne. Er liess sich schlagen, er schien überhaupt keinen Schmerz zu emp finden, der Kleine. Obwohl er noch sehr wenig sprechen konnte, war doch aus dem Wenigen, das er hervorbrachte, deutlich sichtbar, dass er nichts andres zu wünschen entschlossen war, als was er im Augenblick nötig zu haben glaubte: ein Stück Papier, ein Zündholz, ein Schnürchen, ein Spielzeug, einen Stein. Nach einigen Wochen gestand sich Mizzi, dass ihr Sohn ihr fremder war als jedes fremde Kind. Dies war die zweite Enttauschung ihres Lebens, seit dem erschrecklichen Glücksfall; und schmerzlicher als j ene Kunde von der Abkommandierung des Rittmeisters Taittinger. Auch sein Kind war gleichsam abkommandiert. Sie eilte, lang' noch, ehe die Saison zu Ende war, mit dem Kind nach Graz. Sie wollte es eigentlich los werden. Sie nahm sich vor, ihren Buben nach der Art unterzubringen, in der die Kinder aus der guten Gesellschaft untergebracht waren. Sie hatte mehrere Adressen. Sie ging aber keineswegs in alle Hauser, die man ihr angegeben hatte, sondern in das erste, das auf ihrem Blatt verzeichnet stand. Also kam ihr Bub, der Xandl Schinagl, in das Erziehungsheim für minderjahrige Knaben, verbunden mit Gartenschule, zum Gymnasialprofessor Weissbart. Und Mizzi Schinagl, einmal auf der Richtung nach dem Süden beg riffen, konnte sich weder in Graz aufhalten, noch auch nach Baden zurück. Sie war der Meinung, es sei zu schabig, in Graz zu bleiben, in der Nahe ihres Sohnes, ohne ihn wieder zu sehn; und wiedersehn wollte sie ihn nicht; vorlaufig nicht. Nach Baden konnte sie auch nicht zurück: es erwartete sie dort Lissauer, der sie schon so viel gekostet hatte. Gott allein wusste, warum sie mit ihm zusammengelebt hatte, die letzten drei Wochen! Es peinigte sie nicht nur, dass dieser Mann wartete, sondern auch, dass alle anderen Manner zu warten schienen. Alle warteten auf sie: nur nicht der Taittinger. Der wartete nicht! Es fiel auch ihm nicht ein, auf Mizzis Heimkehr zu warten. Als er sah, dass sie nicht zurückgekehrt war, fuhr er nach Wien, ging zur Frau Matzner und liess sich die Adresse der Mizzi geben. Er sagte, er habe ihr eine wichtige Nachricht von Taittinger zu geben. Er war entschlossen, die Schinagl nicht mehr zu verlassen, ja, ihr, soweit es ging, zu folgen. Er fuhr also nach Meran. Mizzi Schinagl freute sich, als sie ihn auf der Promenade erblickte. In seinen strahlenden PajacewitschHosen, im blauen Jakett, in den dunkelgelben weichen Knöpfelschuhen, erweckte er ihr zartliches Gefühl und auch eine Art von Reue. Sie hatte Angst! Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Reichtum, Angst vor dem neuen Leben, zu dem er sie verpflichtete, Angst vor der grossen Welt, in die sie sich besinnungslos begeben hatte, und am meisten Angst vor den Mannern. Im Hause der Josephine Matzner war sie allen Mannern, bekannten, fremden, exotischen, heimischen, Herren und Pülchern überlegen gewesen. Dort war ihr Boden, dort war ihre Heimat. Sie besass weder die Fahigkeit, noch die Uebung, mit Mannern umzugehn, die nicht gekommen waren, um sie zu kaufen. Sie wusste wohl, ihre gierigen Blicke zu deuten, ihre Zeichen, sie erriet wohl ihre verhiillten Reden und ihre kindischen Witze. Allein, sie war hilflos, heimatlos, sie schaukelte dahin, ohne Steuer, ohne Segel, ohne Ruder auf dem Meer der Welt, und Angst hatte sie, eine unnennbare, namenlose Angst. Nach etwas Bekanntem suchte sie, nach etwas halbwegs Vertrautem. Sie war geneigt, etwas Bekanntes als Wohlvertrautes zu begrüssen. So begrüsste sie Franz Lissauer. Er musste ahnen, was in ihrem Herzen vorging, dank dem sicheren Instinkt, den gewisse Wesen in dem Augenblick auf bringen und sogar erzeugen, in dem ihnen eine Gefahr winkt, eine Nahrung, eine Lust oder eine Beute. Er grüsste flüchtig mit seinem sonnenfarbenen Panamahut und sagte zerstreut: „Ach, Du bist auch hier?" „Ich bin so selig!" antwortete sie, und sie umarmte ihn. In diesem Augenblick stand sein Plan fest. Es war die alte Geschichte mit den Brüsseler Spitzen. Um jene Zeit waren Brüsseler Spitzen ebenso geschatzt wie Juwelen — und zuweilen heisser noch von den Frauen ersehnt. Es gab infolgedessen zahlreiche Nachahmungen der berühmten Spitzen. Mit den bestgelungenen handelte der Freund Lissauers, Xavier Ferrente, dessen Ware, obwohl er selbst aus Triest stammte, von einem andern, fremden und ziemlich entfernten Hafen anzukommen pflegte: namlich aus Antwerpen. Also waren sie „deklariert", wie es in der Fachsprache hiess. In Wirklichkeit kamen sie aus der Pfaidlerei Schirmer in der Wienzeile. Wenn Lissauer überhaupt arbeitete, so bestand diese Arbeit darin, dass er seinem Freund Ferrente Abnehmer und sogenannte grosse Abnehmer verschaffte, Zwischenhandler und unter den grosseren Zwischenhandlern noch welche kleineren. Dafür bekam er „Provisionen" von Fall zu Fall, aber niemals „Beteiligungen". „Beteiligen kannst Du Dich nur mit Kapital" — sagte Ferrente. „Ohne Geld keine Welt" — fügte er hinzu. Es war eine gelaufige Weisheit der Tarockspieler vom Café Steidl. Jetzt, endlich, nachdem er so lange Jahre ,,fast umsonst für Ferrente geschuftet hatte" — wie Lissauer manchmal sagte — erblickte er eine Möglichkeit, sich mit einem Kapital an den Spitzen zu beteiligen; mit dem Kapital der Schinagl. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, begann Lissauer, Mizzi Schinagl offensichtlich zu vernachlassigen. Er machte Ausflüge mit einem gewissen Fraulein Korngold, schickte der Frau Glaeser Blumen, lustwandelte auf der Promenade mit der Brandl, hielt seine Verabredungen mit der Schinagl unpünktlich oder überhaupt nicht ein und gab ihr zu verstehen, dass sie ihm gar nichts bedeute. Ja, hie und da sagte er sogar, dass er bald, aus bestimmten Gründen, abzureisen gedenke. Nachdem er dieses Betragen ein paar Tage lang fortgesetzt hatte, fuhr er nach Innsbruck und depeschierte der Schinagl: „In wichtigen Verhandlungen verreist, erwarte mich morgen abends." Am Abend des nachsten Tages kam er auch. Er war nicht nur freundlich und gefallig, wie seit langem nicht mehr; er schien gar liebevoll. Zugleich aber zeigte er auch ein aufgeregtes Gehaben. Ein grosser Glücksfall, sagte er. Er sprach in atemloser Freudigkeit. Endlich sei er auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. „Wirst Du heiraten?" — Es war Mizzis erster Einfall. Wie sollte man sonst plötzlich ein reicher Mann werden? „Heiraten?" — sagte Lissauer — „ja, vielleicht!" Er tat, als ob er nachdachte. Von Brüsseler Spitzen wusste Mizzi Schinagl so viel, dass sie teuer waren — und gar nichts mehr. Sie ware kaum imstande gewesen, einen Musselinvorhang von einem Brautschleier zu unterscheiden. In ihrer eigenen Pfaidlerei war sie nicht öfter als fünf Mal gewesen. Sie sah aber ein, dass eine Spitze, die man für fünf Gulden fünfzig verkaufte und die man für einen Gulden achtzig einkaufen konnte, eine angenehme Ware sein könnte. ,,Wir teilen" sagte Lissauer. „Halbpart! Gemacht? „Gemacht sagte die Schinagl, und sie dachte gar nicht mehr an die Spitzen. Man begann, die grossen Lichter in der Hotelhalle auszulöschen. Eine unsagliche Traurigkeit strömte die weisse Pracht der Treppen und des Gelanders aus, die blutrote, plötzlich schwarzlich scheinende Pracht der Teppiche. Die riesigen Palmen in den riesigen Töpfen schienen eben vom Friedhof gekommen zu sein. Auch ihre dunkelgrünen Blatter wurden schwarzlich und erinnerten an eine Art verstorbener und verwelkter Waffen aus uralten Zeiten. Das Gaslicht in den Kandelabern surrte grünlich und giftig, und der grosse, rötliche, in falsche Bronze eingerahmte Spiegel zeigte Mizzi Schinagl, sooft sie flüchtig und furchtsam hineinblickte, eine andere Mizzi Schinagl, eine, die sie selbst nicht kannte, niemals gesehn zu haben glaubte, eine Mizzi Schinagl, die es niemals gegeben hatte. Sie wurde sehr traurig. Durch ihre einfache Seele huschte für ein paar Minuten ein hurtiger Abglanz jenes Lichts, das die Klügeren und Einsichtigen so selig und so traurig macht: das Licht der Erkenntnis. Sie erkannte, wie trostlos und vergeblich alles war: nicht nur die Spitzen, nicht nur der Lissauer, nicht nur Ihr Vermogen, sondern auch ihr Sohn und der Taittmger, und ihre Sehnsucht nach Heim, Liebe, Mann und die falsche Liebe ihres Vaters und Alles, Alles . . . Und aus ihrem eigenen Herzen kam ein wüster Hauch, wie aus dem Eiskeller daheim, in Sievering, als sie noch ein kleines Madchen gewesen war und fest geglaubt hatte, dort unten warteten der Winter und al le die bösen Winde. In dieser Nacht ging Lissauer mit ihr ins Zimmer, denn er wusste freilich, dass er sich ihrer jetzt auf jede Weise versichern müsse. Mizzi Schinagl spürte es. Sie war müde; müd und gleichgültig. In der Nacht, wahrend sie wach lag, fasste sie den Entschluss, am nachtsten Tag zurückzufahren. Zurück? — Wohin? Das Haus der Josephine Matzner war noch eine Heimat gewesen. Das gab's nicht mehr. Sie erinnerte sich an den schweren Atem, den süsslich parfümierten Bart, die braunlich-gelbe Haut, die weichen Hande, das unheimliche Augen-Weiss des Herrschers von Persien, des Urhebers ihres Glücks. Sie begann, sachte zu weinen. Es war ein bewahrtes Schlafmittel. — Als der Morgen graute, schlief sie ein. Fenster und an der Glastür eine grosse Tafel mit der Inschrift: „Echte Brüsseler Spitzen". Und ihr Iierz stockte, als sie im Innern des Ladens den Herrn Lissauer erblickte. Sie kannte diese Art Gaste ihres Hauses; „Kunden" war die richtige Bezeichnung für diese Leute. „Wir haben uns lange nicht gesehen, Herr von Lissauer!" — sagte sie, „ja, alle Welt hat uns verlassen. Wir sind den Herren nicht modern genug. Es geht wohl viel solider bei mir zu als in der Vorderen Zollamtsstrasse, zum Beispiel." „Wissen Sie, man wird alter und ernster!" — sagte Lissauer. „Und dann, Sie sehen ja! Ich arbeite hier fleissig!" Ja, sie sah es wohl. Mit einem der hurtigen und scharfen Rundblicke, derentwegen man sie in den früheren Jahren so gefürchtet hatte — in ihrem eigenen Hause, in den Laden, in denen sie einzukaufen pflegte, in der ganzen Gegend und selbst im Bezirkskommissariat, wo sie alle Wachleute und alle Geheimen kannte, überflog sie jetzt den ganzen Laden. War das überhaupt noch eine Pfaidlerei? Wo waren die kleinen niedlichen Schachtelchen mit den Knöpfen und Knöpfchen aller Art, Farbe, Form und Grosse? Wo die lieblichen und doch so soliden Hafteln und Hackchen? Wo die Prachtstücke der Pfaidlerei, die grossartigen sogenannten Besatzstücke? Wo alle diese unwichtigen, gewichtlosen Dingerchen, die man eigentlich nur so mitführte, eine Art nebensachlicher Begleiterscheinungen der wirklichen, der ernsten Ware, ohne die aber keine einzige Schneiderin in der Umgebung auskommen konnte. Und was sollten diese Brüsseler Spitzen? Wer in dieser Gegend, wer von dieser Kundschaft konnte Brüsseler Spitzen kaufen? Ihr, der Frau Josephine Matzner, brauchte man nicht zu erklaren, was Brüsseler Spitzen waren! Sie konnte sich nicht enthalten, Herrn Lissauer zu sagen: „Sie haben ja den Laden ganz schön ausgeraumt!" — „Ausgeraumt? Ausgeraumt? So nennen Sie's?" — rief der junge Mann. Und mit dem geschwatzigen Eifer, der ihm eigen war und der ihm schon recht viel unbegreifliche Erfolge eingetragen hatte, begann er, der Frau Matzner auseinanderzusetsen, welchen Aufschwung das Geschaft genommen hatte, und wieviel er schon an den Spitzen verdient habe und noch zu verdienen gedenke. Wie so mancher, dem eine Unredlichkeit langere Zeit Gedeih und Verdienst eintragt, vergass auch Lissauer zuweilen die Vorsicht über der Eitelkeit. Obwohl er wusste, dass er nicht befugt gewesen war, den Anteil der Matzner in das Geschaft mit den Spitzen zu stecken, schien es ihm doch sicher, in seinem törichten Optimismus, dass die Matzner nicht nur mit ihm einverstanden sei, sondern sich auch schon als seine Komplizin betrachtete. Er verdrangte die peinliche Erinnerung an die Tatsache, dass die Bücher nicht in Ordnung waren und ferner, dass er selbst ein Drittel der Einnahmen verwendet hatte. Mizzi Schinagl verlangte nie eine Aufklarung. Weshalb sollte die Matzner eine verlangen? Frau Matzner konnte eine leichte Uebelkeit nicht mehr ganz verbergen, Sie lehnte sich an den Ladentisch und verlangte nach einem Glas Wasser und nach einem Sessel. Sie trank in kleinen Zügen und lag halb ausgestreckt im Sessel, trotz dem Mieder, das ihren Körper mörderisch umpanzerte. Sie erholte sich langsam. Sie zog die Hutnadel aus dem gewaltigen Strohdach, das sie bedeckte, und, indem sie die Waffe gegen Lissauer kehrte, sagte sie: „Lissauer, ich möchte die Bücher sehn. Ich werde mit meinem Notar sprechen." Lissauer holte die Bücher herbei. Noch einmal sah die arme Matzner schwarze Ziffern, blaue Ziffern, grüne Striche, rote Linien; aber diesmal war sie nicht beruhigt. „Und wo ist das Kapital?" — fragte sie. „Und die Gewinne?" „Das Kapital arbeitet, Frau Matzner" — sagte Lissauer ganz leise. Er klappte die Bücher zu und sprach noch weiter. Sie hörte nicht mehr Alles. Sie vernahm nur noch ein paar Worte wie: „Neue Zeiten, moderne Geschaftsmethoden, kein totes Kapital" und dergleichen. Sie dachte mit Schrecken daran, dass ihre zehntausend Gulden verloren waren. Unverzüglich verabschiedete sie sich, ohne die ausgestreckte Hand Lissauers zu beachten. Sie ging zur Post. Es war höchste Gefahr. Die Hutnadel hielt sie immer noch in der Hand. Der Riesenhut wackelte. Sie überwand die Angst vor einer ausserordentlichen Geldausgabe. Sie depeschierte nach Baden an Mizzi Schinagl: .Sofort herkommen' telegraphierte sie, überlegte eine Weile und steckte den Bleistift zwischen die Lippen. Mizzi Schinagl würde einfach nicht kommen. Was nutzte die teure Depesche? Schon war die Matzner zu einer einfachen Postkarte bereit, als ihr einer jener guten Lügengeister, die so lange ihre Handlungen bestimmt hatten, eine nützliche Idee eingab. „Taittinger erwartet Dich morgen , depeschierte sie. Natürlich kam Mizzi Schinagl in den ersten Morgenstunden. Nach sehr langer Zeit betrat sie wieder das Haus der Matzner. Alles war ihr fremd geworden. In der Erinnerung hatte sie es sich nicht nur kostbar, sondern auch glanzend vorgestellt. Nun war sie lange an glanzendere Raume und Hauser gewöhnt. Das Haus der Matzner war armselig, sogar schabig, mit seinen erblindeten Spiegein, dem Salonkandelaber, von dem schon so viele Kristalle abgefallen waren, und der an einen teilweise entlaubten Baum erinnerte, den grossen grauen Mottenlöchern im roten Plüsch des Divans, der abgesprungenen falschen Bronzeverscha- lung an dem Rahmen des Spiegels, dem ausgefransten Seidendeckchen über dem zerkratzten polierten Deckel des Fortepianos und den verstaubten Gardinen an den Fenstern. Aber was bedeuten Erinnerungen gegen die Erwartung? Bald sollte sie Taittinger sehn. Sie hatte im Taschchen das letzte Bild seines Sohnes, und die letzten, allerdings sehr kümmerlichen Schulzeugnisse. Das sittliche Betragen war „nicht entsprechend" und der Fleiss „hinreichend". Bis jetzt hatte der Sohn noch jede Klasse repetiert. Der Mizzi war der Junge gleichgültig. Weihnachten hatte sie ihn zuletzt besucht. An der Bahn verlangte er zuerst einen Kakao, und sie ging mit ihm in den Wartesaal. Den Kakao trank er mit Appetit, den Koffer öffnete er sofort und nahm die obenauf liegenden Geschenke an sich. Dann schloss er den Koffer und rief: „Zahlen!" — So war ihr Sohn. Aber in der letzten Nacht hatte sie ein Dutzend Geschichten erfunden, die sie Taittinger erzahlen wollte: Xandl war ein guter Turner, ein goldenes Herz, ein begabter Sanger. Und einmal hatte er sogar ein Kind vor dem Ertrinken errettet. Dies war auch keine erfundene Geschichte. Xandl hatte in der Tat ein Kind aus dem Wasser gefischt; genau so, wie er Frösche, Fische und Eidechsen zu fangen gewohnt war. Ja, all dies wollte Mizzi Schinagl erzahlen. Es schien ihr, dass sie etwas lange wartete. Frau Matzner liess sie warten. Endlich kam sie, in voller Rüstung, nicht wie sonst am Vormittag im Schlafrock, sondern geschnürt, gepudert, frisiert. Die Umarmung war flüchtig, der Kuss trocken und kalt. „Der Taittinger kommt nicht!" — sagte die Matzner sofort. „Dienstlich verhindert!" Mizzi Schinagl atmete schwer und setzte sich wieder. „Aber, Aber" — begann sie, schwieg eine Weile und fand endlich einen schwachen Trost: „Er wollte mich 6 doch sehen?" „Ja" — sagte die Matzner. „Aber vorlaufig ist er eben dienstlich verhindert. Du kannst ihm ja schreiben! Hast ja seine Adresse. Mizzi sass noch da, die Matzner stand vor ihr, drohend, einem Gendarmen ahnlich. „Ich hab' Dir was Ernstes zu sagen" begann sie. Du hast mich betrogen, Du und Dein Lissauer. Ihr habt mich beraubt, Ihr habt mich begaunert. Alles för meine Güte. Wie eine Mutter war ich zu Dir. Goldkind hab' ich Dich genannt. Mein Geld habt Ihr verprasst. Du begleistest mich auf der Stelle. Wir gehn zum Notar. Weh Dir, wenn Du weglaufst! In Mizzi Schinagl war nichts mehr lebendig. Das Gehirn schien ihr tot und das Herz auch, und nur eines lebte in ihr: eine grosse Furcht ohne Namen. Auch die Furcht gibt manchmal Erleuchtungen, und also fiel Mizzi Schinagl die Geschichte mit den Spitzen ein, und sie erinnerte sich an alle Papiere, die sie von Lissauer bekommen und unterschrieben hatte, ohne sie zu lesen, und es tauchte in ihrer Ennnerung auch ein langst gehörter, langst verschollener Satz auf, den Lissauer einmal geaussert hatte, in einer zartlichen Sekunde; und der Satz lautete: „Wenn man mich erwischt, sperrt man Dich auch ein!" Nun, es war Sie erhob sich, sie ging. Eine Verhaftete bereits schritt sie willenlos neben der unerbittlichen Matzner dahin. XV. Neue Krafte strömten der Frau Josephine Matzner in den folgenden Wochen zu. Diese Krafte machten sie zwar keineswegs jünger, sondern verstarkten, umgekehrt, die ausseren Zeichen ihres rapide heranstürmenden Alters. Sie selbst aber merkte es nicht und fuhlte sich leicht, gesund, vergnügt und verjüngt. Es schien ihr, dass sie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe, die Aufgabe namlich, ihr Geld zu retten oder, was ihr noch besser gefiel, obwohl es sie zugleich schmerzte, dieses verlorene Geld zu rachen. Ein grossartiger gehassiger Elan erfüllte sie, warmte sie, heizte sie geradezu. Ein kochender Zorn trieb sie. Ihre Tage, ihre Nachte waren verandert, der alte, gutmütig' harmlos und sinnlos schludrige Rhytmus ihres Lebens verwandelt. Sie schlief gut und traumlos einen gesunden Schlaf, sie erwachte neugestarkt an jedem Morgen und zu allerhand Taten bereit. Sie offenbarte eine erstaunliche Fahigkeit, Gesetze zu begreifen, auszulegen, mit Advokaten zu sprechen und sie genau zu verstehen. Sie hatte jetzt deren zwei, der Sicherheit halber: Den Hof- und Gerichtsadvokaten Doktor Egon Siberer und den nebensachlichen Doktor Gollitzer, der eine Art Winkeladvokat war und den sie eigentlich weniger des Prozesses selbst wegen brauchte, als zu lustvollem und zugleich lehrsamem Zeitvertreib. Denn der Hofund Gerichtsadvokat Doktor Silberer hatte kaum eine halbe Stunde für sie — drei Mal in der Woche — und der Gollitzer stand ihr taglich lange zur Verfügung. Eigentlich hielt sie sich diesen Gollitzer aus Misstrauen gegen Silberer. Der Gollitzer war es, der sie aufklarte, wie man grosse und angesehene Advokaten zu behandeln habe. Er war es, der sie über das Privatleben der Richter aufklarte, über die Chancen, die das Gesetz bot und über die geheimen Tücken, die es enthielt. In seiner düsteren Kanzlei, in der Wasagasse 43, im dritten Stock, begann sie allmahlich sich zu einer Art juristischer Canaille heranzubilden. Lüste erlebte sie da, wie sie keine je gekannt hatte. Der verbotenen und selbst verpönten Lüste hatte sie bereits viele kennen gelernt, aber die wahre Wollust lernte sie jetzt erst kennen, in der Wasagasse, als sie erfuhr, dass eben jene Gesetze, die sie instmktiv Zeit Ihres Lebens gefürchtet hatte, ihr gefügig werden konnten wie gezahmte Hunde. Zeit ihres Lebens hatte sie in der falschen Vorstellung gelebt, dass Frauen ihresgleichen ausserhalb der Gesetze lebten, ausgeliefert auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen oder der üblen Laune jedes beliebigen Polizeikommissars. Auf dem Grund ihrer Seele hatte immer schon das Heimweh nach einer legalen Existenz geschlummert. Lange Jahre schon hatte sie gehofft, einmal, wenn sie Geld haben würde, im wohltatigen bürgerlichen Schatten der Gesetze leben zu können; irgendwo weit weg von ihrem Hause, das sie günstig, im günstigen Augenblick zu verkaufen gedacht hatte; zu leben als die „Private" Josephine Matzner, ohne Beruf, ohne Gefahr und mit sehr viel Geld ausgestattet. Aber jetzt war Gefahr, dass kein Geld bleiben würde. Kein Geld. Nach einem ganzen langen Leben jenseits der Gesetze. Welch ein entsetzlicher Zustand für eine alternde Frau, die gehofft hatte, endlich, im Alter, in den geschützten Bezirk der Bürgerlichkeit eintreten zu können! — Nun, und trotzdem: die Gesetze sprachen fur sie, beide Advokaten waren dessen sicher. Nicht mehr als eine abseitige oder ausgestossene Person verkehrte die Frau Josephine Matzner mit den Gesetzen: sondern als ïhre Herrin und Nutzniesserin sozusagen. Ausser dem Winkeladvokaten Gollitzer stand ihr zeitung", ein intimer Freund Sedlaceks, fand, dass es gerade jetzt angebracht und auch im Interesse des Polizisten angebracht sei, die Geschichte zu einer Art Skandalaffare ausarten zu lassen. Diese Geschichte enthielt alle Elemente, die zu einer Skandalaffare notwendig waren: das Milieu, die marchenhafte Herkunft des Vermogens, die man allerdings nur andeutungsweise, aber immerhin reizvoll genug erklaren konnte; die glanzenden paar Jahre der Mizzi Schinagl und nunmehr ihren Untergang; die abenteuerliche Persönlichkeit Lissauers; die Bedeutung der Brüsseler Spitzen im allgemeinen; Enthüllungen über den seit langen Jahren von der Triestiner Firma betriebenen Schwindel; schliesslich die geniale Wachsamkeit der Wiener Polizei, beziehungsweise des Inspektors Sedlacek. Uebergenug Stoff für den Polizeireporter Lazik!.. Es herrschte damals tiefer und übermütiger Frieden in der Welt. In den Zeitungen der Monarchie las man: Hof- und Personalnachrichten, Berichte über die Vorbereitungen zum nachsten Fiakerball, Feuilletons über den Kahlenberg, über die Katakomben der StefansKirche, über landliche Feste in Agram, Aussichten für die Tabaksernte der braven Schwaben im Banat, Manöverberichte aus der Umgebung von Lemberg, Schilderungen eines Kinderfestes im Prater unter dem Protektorat einer Kaiserlichen Hoheit, von Kegelvereinsfesten der Schlachtermeister, Tischler, Schuster, und was dergleichen mehr an friedlichen, heiteren, sinnlosen Ereignissen in der nahen Welt und in der weiten vorkommen mochte. Gerichts- und Kriminalafifaren von Bedeutung kamen in jener Zeit selten vor, und die Polizeireporter sassen in Grinzing beim Schopfner haufiger als im Café am Schottenring, neben der Polizeidirektion. Die Geschichte von den Brüsseler Spitzen, in bruchstückhaften Fortsetzungen jeden Tag mitgeteilt, aufgeputzt, aufgefrischt, in niedlichen Glossen kommentiert, wurde eine echte Sensation. Der Prozess dauerte allerdings nur zwei Tage. Es war Anfang September, der klare Sommer ging brüderlich in einen klaren Herbst über. Im Gerichtssaal herrschte noch eine bedeutende Hitze. Der Zuhörer gab es viele. Aus der Untersuchungshaft wurde nur einer der Angeklagten vorgeführt: Franz Lissauer. Sein Triestiner Auftraggeber war verschwunden. Auf freiem Fuss belassen hatte man Fraulein Mizzi Schinagl. Sie kam, begleitet von ihrem Anwalt. Die berühmte Firma Seidmann, die seit vielen Jahren mit echten Brüsseler Spitzen handelte und sich geschadigt fühlte, erhob Anspruch auf Schadenersatz. Auch diese Firma, ebenso wie die Frau Matzner, vertrat der Hofund Gerichtsadvokat Doktor Silberer. Es bestand alle Aussicht, dass Mizzi Schinagl den Rest ihres Vermogens verlieren würde. Der Verteidiger Lissauers bemühte sich, nachzuweisen, dass die Schinagl dank ihrer weiblichen Damonie ihren leichtsinnigen Geliebten verführt hatte. Dunkel war ihre Vergangenheit. Durch einen marchenhaft-orientalischen Glücksfall zu einer reichen Frau geworden, hatte sie innerhalb weniger Jahre in verbrecherischer Verschwendung den grössten Teil ihres Vermogens verbraucht, ihr Kind — ein uneheliches natürlich — fast verkommen lassen, nur ein Maljahrlich flüchtig besucht, und schliesslich, wie es ja nicht anders möglich ist, einen verliebten Mann zu einem Werkzeug degradiert und zum Verbrechen verführt. Mizzi Schinagl begriff sehr wenig von den Vorgangen und Reden im Gerichtssaal. Zuweilen kam ihr alles sogar harmlos vor, harmloser noch, als dereinst in der Schule. Sie erinnerte sich, so ahnlich war es auch einst in der Klasse gewesen, in der Volksschule. Man stand auf, wenn man gefragt wurde, und man wusste nicht auf alle Fragen zu antworten, nur auf einige. Bei besonders schwierigen flüchtete man in sich selbst hinein. Ein Knauel steckte im Hals, Tranen kamen in die Augen, man musste sich schneuzen, die Augenlider taten weh vom scharfen Salz der Tranen. Alles wiederholte sich hier. Sie weinte, schwieg oft, sagte aus Verlegenheit und Verzweiflung „Ja!", wenn der Staatsanwalt sie hereinlegen wollte, und „Nein!" wenn ihr Verteidiger sie retten wollte. Sie wunderte sich nur über die grausame Unerbittlichkeit der Manner, dieses ratselhaften mannlichen Geschlechts überhaupt, das sie ja eigentlich langst zu kennen glaubte, wenn überhaupt Erfahrungen Kenntnis verleihen. Aber diese Manner trugen ja auch Roben und sie sahen seltsam aus, wie Kaplane manchmal und auch wie feierliche Zwitter. Ganz anders gekleidet waren sie einst in den Salon der Matzner gekommen. Der Verteidiger Lissauers fragte seinen Klienten: „Wie oft hat die Mizzi Schinagl grössere Summen angefordert?" „Mindestens jede Woche ein Mal! sagte er prompt. „Und warum mussten Sie es herschaffen?" Lissauer schwieg und senkte den Kopf. „Haben Sie keine falsche Scham!" rief der Anwalt. „Die Schinagl hatte sich Ihnen sonst verweigert!" Lissauer seufzte. „Es ist nicht wahr! schrie Mizzi Schinagl schrill. Aber die Verzweiflung hat keine angenehme Stimme. Sie klingt wie die Stimme der Verlogenheit. Es war der wichtigste Tag im Leben der Frau Josephine Matzner. Auf die Frage nach Stand und Beruf antwortete sie: ledig und Kassierin. „Eingetragen als Besitzerin eines Freudenhauses auf der Wieden — verbesserte der Vorsitzende. Undank hatte sie erlebt, lauter Undank — sagte Frau Matzner. Alle Madchen hatte sie immer gut behandelt. Sie begann, zu weinen. Sie verlangte vom hohen Gerichtshof nichts mehr als ihr Geld. Sie bat um Milde. Ihre Pleureusen, violett und heute von einem lila Papagei am Hutrand festgehalten, schwankten dennoch wie in einem starken Sturm. Rechts und links starrten zwei scharfe Hutnadelspitzen, blitzten bedrohlich. Wuchtig und geschwollen hing das Retikül aus blassblauer Seide am linken Arm. Diamanten funkelten an den Ohrlappchen. „Sie können gehn!" — sagte der Vorsitzende. Er hatte sie mitten im Satz unterbrochen. Sie war noch betaubt vom Widerhall ihrer eigenen Worte. Sie verstand nicht sofort. „Es ist genug! Sie können gehen!" wiederholte der Prasident. Sie begriff endlich, verneigte sich tief, erhob sich wieder und rief: „Ich bitte um Gnade!" Ohne sich umzusehen, ging sie hinaus. Inspektor Sedlacek wurde diskret darauf hingewiesen, dass er dienstlich verpflichtet sei, über den Ursprung des Schinaglschen Geldes zu schweigen. Er berichtete — und sein Herz erwarmte sich dabei ein wenig — dass er beruflich die Angeklagte seit langem zu beobachten gezwungen sei. Er traue ihr nur Leichtsinn zu, kein bewusstes Verbrechen. Die Ansprüche auf Schaden-Ersatz beliefen sich, alles in allem, auf rund vierundzwanzigtausend Gulden. Mizzi Schinagls Anwalt erklarte, dass seine Klientin mit den fünfzehntausend, über die sie noch verfügte, gutstehe. Er rettete ihr auf diese Weisefünftausend, von denen sie nach Abzug seines Honorars noch leben konnte. Sie wurde dennoch verurteilt. Lissauer bekam drei Jahre Zuchthaus, die Schinagl sechzehn Monate Gefangnis. Sie weinte nur. Sechs Monate, ein Jahr, zehn Jahre oder lebenslanglich: das war ihr in diesem Augenblick gleichgültig. Ihr Verteidiger versprach ihr, alles zu tun, damit sie früher frei werde. „Ich will ja gar nicht! sagte sie. Sie weinte nicht mehr, auf der ganzen langen Fahrt vom Landesgericht bis zur Strafanstalt. Es roch nach feuchter schmutziger Wasche und nach Spülwasser und Suppenresten im Korridor. Man zog sie aus, in einem kleinen Zimmer, steilte sie auf eine Waage und unter ein Zentimetermass. Die Barmherzige Schwester brachte ihr den blauen Kittel. Sie zog sich an. Sie sah gleichgültig, wie eine andere Nonne das schone, dunkelblaue englische Strassenkostüm, die hohen Knöpfelschuhe mit den Lackspitzen und das rosa Retikül in eine Pappschachtel packte und daran eine Blechmarke hangte. Sie musste sich hinsetzen, mit dem Rücken zur Tür. Sie hörte die Tür aufgehen, sie wagte sich nicht umzusehn. Etwas Metallenes, Klapperndes, Klirrendes kam von hinten an sie heran, kaltes Eisen und eine warme Hand rührten gleichzeitig an ihren Kopf. Sie stiess einen grellen Schrei aus. Die Nonne nahm ihre beiden Hande. Ringsum fielen ihre aschblonden jungen Haare in Büscheln und Flocken nieder. Es wurde kühl an der Kopfhaut. Kamme und Nadeln raumte die Schwester auf. Man brachte ihr eine blaue Haube, die musste sie anziehn. Sie sah sich nach einem Spiegel um. Nirgends ein Spiegel. Dies verwunderte sie. Man hiess sie aufstehn. Sie erhob sich. Am Arm der Schwester hing sie, ihre Sandalen klapperten auf dem Stein des Korridors. Schlüssel klirrten. Graues Licht sickerte aus seltenen, hoch angebrachten Lucken, man hörte irgendwo in der Welt einen Vogel zwitschern. Die Zelle 23 war leer, obwohl zwei Betten dastanden. „Wahlen Sie, Kind!" — sagte die Schwester, sie hatte keinen andern Trost zu bieten als die Freiheit der Wahl zwischen der rechten und der linken Pritsche. Mizzi Schinagl fiel auf die linke hin. Sie schlief sofort ein. Eine Stunde spater weckte sie jemand. Es war der weibliche Haftling Magdalene Kreutzer, ehemals Seilakrobatin, derzeit Karussellbesitzerin im Prater, wie Mizzi Schinagl bald erfahren sollte. XVI. Auch zwei Tage noch nach dem Prozess hatte die Frau Matzner reichlich Gelegenheit, sich an ihrem plötzlichen Ruhm zu delektieren. Noch war sie halb betaubt von den Tagen, die sie im Gerichtssaal des Landesgerichts verbracht hatte, von dem Verhör, von ihrer Aussage und von ihrem grossartigen und grossherzigen Apell an die Gnade der Richter, und schon begann sie, in allerhand verworrenen, aber tröstlichen Vorstellungen von ihrer eigenen Zukunft zu schwelgen. Nur knappe zwei Tage nach der Beendigung des Prozesses durfte die Frau Matzner in diesem seligen Reich des Rausches und der Traume verweilen, gerade so lange, wie die Zeitungen Lust hatten, der Sensation Nacbrufe zu widmen, in immer kleineren Artikelchen allerdings. Frau Matzner scheute keine Kosten, sie kaufte alle Blatter. Aber auch Nachbarn und Bekannte brachten ihr Ausschnitte. Am dritten Tage aber erstarb, wie durch einen bösen Zauber, die Rede von den Brüsseler Spitzen und, soviel Zeitungen die Frau Matzner auch an diesem Tage kaufte, nirgends fand sich auch nur ein Wort, das nur von ferne an den Prozess hatte erinnern können. Es war der Frau Matzner, als ware sie in eine entsetzlich starre Stille eingetreten, wie sie auf Friedhöfen in der Nacht herrschen mochte und in den Katakomben. Nein! nicht einfach eingetreten war sie in diese makahre Stille, hineingestossen hatte man sie. Sie erlitt die grausamen und bitteren Gefühle aller Verlassenen und Verratenen, das verblüffte Staunen zuerst, die verstandnislose Verwunderung, die trügerische Hoffnung, dass man selber nur traume, die schmerzliche Erkenntms, dass man dennoch wache, die Verbitterung, die Ohnmacht und schliesslich die Rachsucht. Sie versteckte die schnöden Zeitungen, in denen nichts enthalten war, damit sie keines ihrer Madchen in die Hand bekome. Sie ging hinunter, in die Gasse, blieb eine Weile noch vor dem Haustor stehn, um sich ihre Haltung wiederzugeben, die sie in all den Wochen getragen hatte, denn es schien ihr, dass sie gebrochen und verkümmert aussehe. Vor allem sollte man es ihr nicht ansehn. Sie ging in verschiedene Laden einkaufen, obwohl sie gar nichts nötig hatte. Aber es trieb sie, die Leute zu sehen und zu erforschen, ob auch sie schon etwas von der tödlichen und gehassigen Stille ausströmten, die in den Zeitungen waltete. Sie brauchte keine Brezeln — langst war ihr Appetit erloschen, und sie glaubte, sie würde niemals mehr im Leben einen Bissen nötig haben. Sie brauchte die Hafteln nicht — sie dachte nicht daran, alte Kleider auszubessern. Sie brauchte keinen Schuhknöpfer, kein neues Miederband, keinen Steckkamm und keine Haselnüsse. Aber sie kaufte alle diese Sachen ein, sie errichtete geradezu Barrikaden aus Paketen in Zeitungspapier rings um sich, aus diesem gesinnungslosen, verraterischen Zeitungspapier. Ihr Bliek fiel auf das Skarnizl, in dem die Nüsse eingepackt waren: da stand es fett gedruckt: der Prozess um die Brüsseler Spitzen. Drei Tage war es her — und schon packte man Haselniisse in jene Blatter! Nicht auszudenken, welches andere Schicksal noch diesen Blattern vorbehalten war! In gleichförmige Rechtecke geschnitten hingen sie bündelweise an Nageln in den Toiletten der Schenken und der Café's. Frau Matzner bemühte sich noch, mit den Handlern in ihrem gewohnten herablassenden Hochmut zu sprechen. Allein es schien ihr, dass sie nicht den grossartigen Eindruck mehr machte wie bisher. Eine gewisse Familiaritat in der Ausdrucksweise aller Leute war nicht zu verkennen. Dank ihrer geübten und gepflegten Empfindlichkeit gab sie sich Rechenschaft darüber; und schon begann sie, zu fürchten, sie sei sogar noch weniger geworden, als sie vorher gewesen war, vor dem Prozess. „Nun, Sie haben ja alles erreicht", sagte Ephrussi zu ihr. „Alles erreicht" sagte der Mann! Er dachte offenbar nur an das Geld . . . Ein paar Wochen spater beschloss sie, zu resignieren. Das Haus war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Sie kaufte den Sekt nicht mehr beim Hoflieferanten Weinberger, sondern bei Baumann in Mariahilf. Wozu auch? Wie sparlich waren jetzt noch die alten guten Kunden. Und selbst diese erschienen ihr verwandelt, geradezu verkümmert. Sie waren nur noch vergilbte und verblasste Abbilder ihrer selbst. Die Gaste waren erbleicht, die Körper und Gesichter der altlichen Madchen verhelen zusehends, der Frack des Klavierspieiers wurde grünlich, die Tapeten schalten sich langsam von den Wanden, das Sopha seufzte, wenn man sich nur hinsetzte, auf dem Spiegel hauften sich die blinden Flecke, und sogar die Putzfrau Clementine Wastl hatte schon die Gicht. Es war nichts mehr zu machen. Frau Matzner unterwarf sich dem grausamen Gebot der Zeit. Sie verkaufte das Haus. Es wurde eine