KONINKLIJKE BIBLIOTHEEK GESCHENK VAN De Heer D.H.Gobius du Sart, Voorburg., Form. 67 - 42?614#-22 5mm;- - - VON JOHANNA ZU JANE Adrienne Thomas erzahlt den Roman cincs heranwachsenden Madchens, das durch Begabung und Charakteranlagen zur Schauspielcrin bestimmt ist. Der Roman des Schulmadchens Johanna, aus der Wiener Leopoldstadt vor dem Krieg, eines frühreifen, genialen Kindes, das in schlimme Abenteuer der Sehnsucht gerat, von Trieben und Phantasie gestossen fast in den Abgrund stürzt und triebsicher hinaufdrangt zu grossem Wanz der erfüllten Theaterlaufbahn. Adrienne Thomas, die wie wenige heute die Natur des Kindes erfasst und dichterisch darzustellen weiss.findet im „verdorbenen" liederlichen Kind den Geniekeim und den Fleiss, wodurch einMensch vom Abgrund zur Grosse und Bedeutung aufsteigt. Ein Madchen, das weder hübsch noch reich ist, in einer kleinbürgerlichen Umgebung aufwachst, besiegt und überwindet durch die grosse Kraft ihrer Phantasie alle Schwierigkeiten, die sich ihr in der Realitat entgegenstellen. Die erste Phase der Laufbahn einer grossen Schauspielerin wird mit psychologischer Kunst wiedergegeben. Alt POUR MONSIEUR EDOUARD KUNTZ ADRIENNE THOMAS VON JOHANNA ZU JANE ROMAN 19 3 9 VERLAG ALLERT DE LANGE AMSTERDAM Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Copyright 1939 by Verlag Allert de Lange, Amsterdam. Printed in Holland. Gedruckt bei Drukkerij v.h. G. J. van Amerongen N.V., Amersfoort (Holland). Im Miedersalon von Frau Rosa Deutsch arbeiteten seit sechs Uhr früh die Anstreicher. Es wurde „neu renoviert", wie mail in Wien zu sagen pflegt, und wie auch I* rau Deutsch ihren Kundinnen, die an diesem Tage zur Anprobe kommen sollten, auf einer Postkarte mitteilte. Alles wurde in einem dezenten elfenbeinfarbenen Ton gestrichen und mit einem Goldstreifen abgesetzt. Das breite Regal, auf dem, staubdicht verpackt, die Stoffe, vom einfachsten Köper bis zum feinsten Damast, aufbewahrt wurden. Die beiden Stühle und der Tisch. Der Rahmen des hohen Spiegels zwiscben den Fenstern. Der bölzerne Wandschirm, hinter dem sich die Kundinnen auszogen, und der immer behangt war mit den zur Anprobe vorbereiteten Korsetts und Büstenhaltern. Sogar der Waschkorb, in dem die Stücke lagen, an denen gearbeitet wurde, bekam die Elfenbeintönung und dazu goldene Henkei. Frau Deutsch war seit sechs Uhr auf den Beinen, und jeder Pinselstrich geschah unter ihren Augen. Sie trieb zu grosser Eile an, beachtete, dass keine Minute ungenutzt verging, und versprach den beiden Malergesellen aus der innern Leopoldstadt ein grosses Stück Linzertorte zur Jause, wenn sie heute noch fertig würden. Urn sieben Uhr standen die Kinder auf. Es gab viel Larm und die iiblichen Zankereien. Frau Deutsch hör- te nur mit halbem Ohr hin, wahrend sie den Madchen noch Anweisungen für den Einkauf gab. Erst als Sohn und Tochter ihre Streitigkeiten auch beim Frühstück fortsetzten, fuhr sie dazwischen: „Wir sind zu Hause vierzehn Geschwister gewesen und haben unsere Eltern in zehn Jahren nicht so viel sekiert wie ihr beide uns an einem Tag!" Auf die Kinder machte das keinen grossen Eindruck. Sie hatten es schon zu oft gehort, und ausserdem sikkerte gelegentlich da und dort etwas durch, was diese Behauptung einigermassen in Frage steilte. So tat auch jetzt der mütterliche Einspruch nicht seine Wirkung, sondern die dreizehnjahrige Johanna schrie auf den Bruder ein: „Kümmere dich um dich und deine Angelegenheiten! Was ich sag und tu, geht dich einen Schmarrn an!" „Es geht mich an!" überschrie sie der Bruder, „denn eines Tages wird man auch auf mich mit dem Finger zeigen: der da, der ist der Bruder der Johanna Deutsch!" „Wie redest du denn mit deiner Schwester?!" geriet nun auch Frau Deutsch in Arger, „Zustande sind das!" „Ich rede mit ihr, wie sies verdient! Warum blamiert sie mich denn in der ganzen Schule, dass ich mich kaum noch sehn lassen kann!" „Tu du nur deine Pflicht in der Schule und sei ein ordentlicher Schiiler. Dann kannst du dich überall sehn lassen", riet Leopolds Mutter. „Das hat damit überhaupt nichts zu tun! Johanna macht mir Schande, wo sie kann. Als Neuestes erzahlt sie Jungen aus meiner Schule, wir haben einen Onkel in Paris. Diese gemeingefahrliche Lügnerin!" „Schweig still mit deinen ordinaren Redensarten!" herrschte die Mutter ihn an, weiss ich, ob mein Brudei Joseph nicht wirklich in Paris istP Oder SandorP Kann sein. Ist das aber ein Grund für soviel Geschrei in aller Herrgottsfrüh?" „Nimm du nur immer deinen Liebling in Schutz!" begehrte Leo auf, „ich jedenfalls komme für ihre Schwindeleien mit dem reichen Onkel in Paris nicht auf. Ich sage es jedem, dass sie ganz infam lügt!" „Reich? Frau Deutsch hob die runden Schultern, „reich? Pleite sind sie, aber nicht reich. Der Joseph und der Sandor." Und seufzend wandte sich ihr Interesse sekundenlang von den streitenden Kindern ab und den bankrotten Brüdern zu. Nein, reich war niemand in der Familie. Frau Deutsch hatte elf Brüder, von denen sie nie so genau wusste, wo sie sich gerade aufhielten. Nur, dass es keinem von ihnen besonders gut ging, das wusste sie. Leo konnte sich noch nicht beruhigen: „Wenn unser Onkel in Wirklichkeit auch pleite ist, so ist er doch von Johannas Gnaden der grösste Briefmarkensammler von Paris!" Frau Deutsch überlegte. Mit altem Eisen, mit Feilen, mit Kohlen, mit Rohprodukten aller Art handelten ihre Brüder. Gewiss. Mit Briefmarken aber — darunter konnte sie sich beim besten Willen nichts vorstellen und schon gar nicht in Yerbindung mit ihren Brüdern. Noch weniger aber ging ihrs in den Kopf, dass die Kinder darüber mit erhitzten Köpfen stritten und taten, als wollten sie jeden Moment aufeinander losgehen. Mit der ihr eigenen harten und gedankenlosen Geschaftigkeit fegte sie Brotkrumen mit dem Tischbesen zusammen und sagte: „Briefmarken oder nicht! Aber wenn ihr euch nicht augenblicklich vertragt, bekomint ihr alle beide ein paar Watschen." Leo entzog sich sowohl der Versöhnung mit seiner Schwester als auch den angekündigten Ohrfeigen, indem er rasch nach seiner Schulmappe griff, und mit einem seiner Schwester zugezischten „Lügenmaul, ausg'schamtes!" schlug er die Tür hinter sich zu. Die Mutter wies erneut auf die Einigkeit unter den vierzehn Geschwistern in ihrem Elternhaus hin und gab der Meinung Ausdruck, sie selbst ziehe keine Geschwister, sondern zwei Feinde nebeneinander gross. Dann verliess auch sie das Zimmer. Johanna, ein mageres dreizehnjahriges Ding, dessen rote Haarmahne aussah, als wiirde einem Kamm nur selten zugemutet, sich hier durchzuarbeiten, blieb noch eine Weile unschliissig am Tisch sitzen. Die Schultern in Scheu und Abwehr hochgezogen, wartete sie, bis draussen imVorzimmer alles ruhig war und die Stimme der Mutter nebenan in der Werkstatt scharfe Anordnungen erteilte. Dann griff auch sie zu ihrer liederlich mit Heften und Büchern vollgestopften Mappe und machte sich auf den Schulweg. Wahrscheinlich wiirde sie heute zu spat zur Schule kommen. Trotz dieser Erwagung beeilte sie sich keineswegs. Sie mochte nicht den Jungen der dritten Klasse begegnen, die ihr diesen Krach mit Leo eingetragen hatten. Eine schamlose Lügnerin hatte der Bruder sie genannt. Sie fühlte sich durchaus nicht als Lügnerin. Es war doch alles nur Spass. „Spass?" überlegte sie. Natürlich Spass! Was denn sonst? Für die Buben der dritten Klasse war es ein Hauptvergilügen, Johanna auf dem Schulweg zu hanseln. Man zog sie wegen ihrer roten Haare auf — Karotte nannte man sie — und man machte sich recht breit, damit Johanna keinen Sitzplatz bekam, und man versperrte ihr, die früher aussteigen musste, nach Möglichkeit den Ausgang. Johanna argerte sich auch jedesmal prompt und immer wieder von neuem; aber es war ein oberflachlicher Arger. fast als habe sie das Gefühl, sie sei ihn den Jungen schuldig; denn mstinktiv dammerte ihr, dass derart eben die Aufmerksamkeit ist, die das starke Geschlecht schulp flichtigen Alters dem schwachen erweist. In die Tiefe ging Johannas Arger erst, als man sie eines Morgens überhaupt nicht beachtete, da sich alle um Emmerich Hottmann, den Wortführer und Wichtigtuer der dritten Klasse, drangten. Sie dachte, es habe sich weiss Gott was ereignet - dabei steckten sie die Köpfe nur uber einer Briefmarke zusammen. Emmerich hatte sie vorsichtig mit einer Pinzette gefasst und legte sie auf den Armel seines Mantels. „Der beste Fehldruck den es je von einer deutschen Marke gab! Lest einmal: ,r utsches Reich steht da. Und die tadellose Zahnung!" Johanna schielte neugierig hinüber, und sofort riet ihr einer der Burschen: „Schau du dir lieber Kreuzstichdeckchen an! Was will so ein Madel von Briefmarken verstehen?" "P*' Metr aIs illr aI'e zusammen!" kam flink ihre Antwort, „mein Onkel in Paris hat mehr Marken, als ihr m euerm ganzen Leben je zu sehn kriegen werdet'" Dieser kleine Schwindel schoss Johanna, zwischen Arger und Übermut, ganz ohne Uberlegung heraus. Die U n spitzten die Ohren, steilten Fragen, und Johanna antwortete, was man von ihr wissen wollte. Sie kam nicht so rasch in Verlegenheit, und das Interesse ihrer Zuhorer wuchs. Es entstand eine lebhafte Nachfrage nach ihren Erzahlungen über des Onkels Briefmarkensammlung. Und so wurde eben der Mutter zwölfter Bruder geboren, und mit den seltensten Marken der Welt und den hervorragendsten Charaktereigenschaften ausgestattet. Es war eine lustig erschwindelte Geschichte mit soviel Fortsetzungen, wie es Tage gab. Johanna wollte die andern unterhalten und unterhielt sich selbst am besten. Immer neue Spasse fielen ihr ein, immer neue Tugenden legte sie dem Onkel bei. Allmahlich entsprach er dem, was man von den Erwachsenen immer erwartet, und was sie doch nie sind. Mit der Zeit fasste sie eine ehrliche Zuneigung zu ihrem neuen Verwandten. Die Buben aber waren auf seinen in Aussicht gestellten Besuch neugierig und gespannt wie sonst nur auf Zeugnisse. Die Markensammlung, drei dicke Schaubeckalben, hatte der berühmte Philatelist natiirlich immer bei sich. Das verstand sich von selbst. Ebenso verstand es sich von selbst, dass die Jungen durch Johannas Gnade nur so in seinen Doubletten schwimmen würden, und es würde ihm nicht einmal darauf ankommen, die dreieckigen Marken vom Kap der guten Hoffnung zu verschenken, wenn Johanna ihn darum anginge. Davon, dass die Niehte eines solchen Mannes „nur ein Madel" sei, davon war bei keinem einzigen der Buben mehr die Rede. Irgend eine F rage Emmerichs an Johannas Bruder hatte dann den ganzen PariserVerwandten in Luft aufgelöst. Und nun trottete sie, traurig und beschamt, ohne die lachende, larmende Bubengesellschaft, zur Trambahn. Mehr noch als ihr allmorgendlicher Hofstaat fehlte ihr mdessen der Onkel selbst, der Onkel an sich. Dass es in Wirklichkeit vielleicht einen Onkel Joseph oder Sandor in Wien gab, verschlimmerte ihre Lage nur. Zwar kannte sie nicht alle elf Brüder ihrer Mutter und hatte diese beiden wahrscheinlich nie gesehen; aber sie konnten nicht das Mindeste zu tun haben mit dem erdichteten Pariser Philatelisten. Leos Beschimp fungen fielen ihr wieder ein. War sie wirklich eine Lügnerin? Das ganze Geflunkere war doch nur Spass gewesen, irgendeine Art Entgegnung auf die Wichtigtuerei der Freunde. Am ersten April, so hatte sie sich vorgenommen, würde sie ihnen gesagt haben, dass sie ihr insgesamt tuchtig auf gesessen waren. Würde sie es wirklich gesagt haben? Darauf gab sie sich keine exakte Antwort. Als sie vor der Schule ankam, war sie resigniert zu der Uberzeugung gelangt, die Menschen seien so fad — ganz besonders ihr Bruder Leo — dass man ihnen in Zukunft nur die nackte und fade Wahrheit sagen sollte. Johanna nahm es sich vor. Es gab einige feststehende Begriffe in der Schule, aus denen man nicht recht klug wurde. Eine davon war: ihr werdet euch noch oft genug nach eurer glücklichen Schulzeit zurücksehnen. Johanna dachte viel darüber nach, ob das wirklich zutreffe. Sie erkundigte sich bei der Mutter, ob denn ihre Schulzeit „glücklich gewesen sei. Zwar waren ihr die Ansichten der Mutter nicht massgebend, jedoch dieses Mal erwartete sie gerade von ihr die Bestatigung, dass es sich um eineNotwendigkeit handle,diemit Glück nicht das Mindeste zu tun habe. Eine Notwendigkeit wie etwa der Büstenhalter, dessen eine Halfte die Mutter gerade zuschnitt. Frau Deutsch sah von ihrer Arbeit gar nicht auf, und auch sonst hatte Johanna in keiner Weise den Eindruck, dass ihre Frage ernst genommen wür- de. „Gelernt habe ich eben", sprach Frau Deutsch, „und fleissig war ich. Und meinen Eltern Freude gemacht habe ich." Johanna war schon draussen. Man konnte wirklich kaum je die Meinung der Mutter einholen; denn sie hatte keine, sogar hier nicht, wo sie aus eigener Erfahrung eine eigene Meinung hatte haben müssen. Johanna wandte sich zwecks weiterer Erforschung dieser Frage an Franzi, das Madchen für alles. „Franzi, glaubst du, dass die Schulzeit die glücklichste Zeit unseres Leben ist?" Franzi dachte einen Moment nach und kam zu dem Ergebnis, „ein Christenmensch müsse halt lesen und schreiben lernen." Dann fügte sie noch rasch und leicht gehassig hinzu: „Du übrigens auch!" Denn wo stand schliesslich geschrieben, dass nur ein Christenmensch sich plagen müsse, wahrend die Juden nichts zu tun brauchten und einfach nur „a Göld" hatten. Johanna gab es auf, über diesen Punkt Klarheit zu erlangen, und verliess sich auf ihre eigenen Wahrnehmungen. Sie jedenfalls fühlte sich von der Schule nur behindert und bedrangt. Sonst sehr widerstandsfahig, ermüdeten die Unterrichtsstunden sie unsagbar. Sie glaubte, dass die Schulfacher sie samt und sonders nicht interessierten, und wusste nicht, dass sie lediglich für vieles keine Aufnahmefahigkeit besass und mit einem Mangel an Konzentration behaftet war. Ihre Gedanken vagabundierten ungezügelt und planlos über den jeweiligen Stoff hinweg. Wurde über Alexander den Grossen vorgetragen, so beschaftigte sie an der ganzen Erscheinung nichts weiter als das Pferd Bukephalos. Ihrer Tierliebe zeigte sich das Pferd greifbar nahe, sie sah sein buntes, goldbeschlagenes Sattel- und Zaumzeug, fühlte seine weichen rosa Nüstern. Auch in der Mathematikstunde gerieten ihre Gedanken auf andere als die vorgeschriebenen Wege. Die Person des Pythagoras und die des Archimedes standen bei ihr weit mehr im Yordergrund als ihre Lehren. Sie versuchte, sich die gewiss immens gescheiten Gattinnen dieser Geistesgrössen vorzustellen, die, in wallende Gewander gehüllt, geniengleich ihre unsterblichen Gebieter umschwebten. So ungefahr steilte siehs ihr ^ar- ~ der Geographiestunde erweiterte sie keineswegs ihr Wissen hinsichtlich der Bodenschatze und khmatischen Yerhaltnisse des Landes, das man gerade durchnahm, sondern sie reiste durch ein Irland oder Spanien ihrer Erfindung und hatte nach der Stunde auch nicht eine einzige Grenze ihres Traumlandes bestimmen können. Aus diesen Quellen flossen ihr die zahlreichen Tadel im Klassenbuch, „sie folge dem Unterricht nicht." Bei ihren Lehrern galt sie für arbeitsunlustig und geistestrag, und sie setzte sie nur gelegentlich in Staunen, wenn sie Gedichte aufsagte oder in der Literaturstunde das Klarchen oder die Jungfrau von Orleans las. Das geschah allemal in einer sehr durchdachten und erfassten Art, die sehr im Gegensatz stand zu ihrer sonstigen Zerfahrenheit. In Johannas Augen war die Schulzeit etwas, das man durchaus hinter sich bringen musste, das zu überwinden war wie eine Krankheit. Das ging vorbei. Denn das haben Kinder mit Erwachsenen gemein: die Zeit, die für sie nicht zahlt, von der sie wünschen, sie möge rasch vorbeigehen, die erscheint ihnen nie als das, was sie ist, namlich ungenütztes, entgangenes Leben. Sondern Kinder und Erwachsene haben das unklare und wiederum feste Gefühl, diese Zeit müsse ihnen rückvergütet, ihrem Lebensfaden irgendwie wieder angeflickt werden. So katte sich Johanna ausgerechnet, wieviel Tage sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr noch „abzusitzen" hatte, und diese Tage, eine schwindelnd hohe Zahl, wurde in Wochen umgerechnet. So schien es immer hin weniger; aber wenn man nur gekonnt hatte, wie man wollte — man würde auch von diesen überflüssigen Wochen ganze Handevoll zum Fenster hinausgeworfen haben! O nein, Johanna würde sich nie — nie nach dieser Zeit und ihren tausend Fussangeln zurücksehnen. Jeder einzige Tag war voller Tücken und Gefahren. Ein vergessenes Heft, eine Verspatung, eine liederliche Hausarbeit — alles konnte einem zum Verhangnis werden. Heute zwar wurde Johannas Zuspatkommen nicht bemerkt, weil die Klassenlehrerin, Frau Professor Ulrichs, noch im Konferenzzimmer aufgehalten war. Dafür aber gab es andere Ereignisse, die Johannas Schulwelt erschütterten. Seit Wochen schon war von nichts weiter die Rede als von der grossen Feier anlasslich des zwanzigjahrigen Bestehens des Bergmanninstituts. Heute nun wurden die Gliicklichen in Johannas Klasse ausgewahlt, die „aufsagen" durf ten. Als bekanntgegeben wurde, dass der grosse Monolog aus der Jungfrau von Orleans zum Yortrag gelangen würde, hielt Johanna den Atem an: nun musste ihr Name genannt werden; denn das war ihr Monolog! Ihr, ihr Monolog! Sie hatte einen absonderlich ausgepragten Besitzsinn immateriellen Gütern gegenüber, hatte ihre Klavierstücke, ihre Lieder, ihre Farbe. Dies alles war ihr wie persönlich verbrieftes Eigen- tum. Sie tobte und raste, wenn der Bruder ihre Stücke spielte oder ihre Lieder vor sich hinpfiff, und es wurde ihr heiss und kalt, wenn ein andres Kind in der Klasse „ihre" Farbe, ein samtiges dunkles Flaschengrün, besass oder trug. Vielleicht war es mit „ihrem" Monolog ahnlich. Vielleicht. Der Bruder nannte sie wegen ihrer heftigen Ausbrüche in dieser Richtung „Neidhammel". Das Wort brachte sie fast in Weissglut — wie alle Vorwürfe, die entweder fürchterlich zutreffend oder fürchterlich ungerecht sind. Herr Professor Hieber, der Deutsch und Literaturgeschichte lehrte, wusste das. Johannas Gesicht wurde jedesmal gelblichweiss, wenn ein andres Kind das Klarchen oder die Jeanne d'Arc sprach. Keine Eintragung ins Klassenbuch und kein Tadel sonst wirkten so nachhaltig auf diese liederliche und offensichtlich trage Schulerin wie die anderweitige Yergebung ihres Monologes. Als heute die zum Aufsagen Bestimmten bekanntgegeben wurden, vermied Herr Professor Hieber, Johanna anzublicken. Er wusste, wie sie jetzt aussah: die Augenlider flogen über weitaufgerissenen Augen, der Mund klaffte mit vorgeschobener Unterlippe, eine hassliche, ungesunde Blasse überzog das Gesicht, und die Stirn glanzte feucht. Professor Hieber kannte diese Einzelheiten, ohne zu Johanna hinüberzuschauen. Er sah eine Weile zum Fenster hinaus, ehe er langsam, leise und gedehnt den Namen von Friederike bkriebitsch aussprach. ,,Nein!" rief Johanna dumpf in die Klasse, „nein'" Aber der Protest ging unter im Gerausch von Friederikes hochschnellendem Sitzplatz, was bei dieser Schüenn immer ein wenig an Hackenzusammenschlagen erïnnerte. Friederike Skriebitsch hatte eine fadendünne Stimme, und ihr Yortrag war ein ausgesprochenes Herunterleiern. Auch ihr Ausseres war alles eher als reizvoll; aber Lehrer haben in der Regel ihre eigenen unerforschlichen Masstabe gegenüber der Tochter eines Militarattachés der deutschen Botschaft. Nach dem ersten glühenden Protest sank Johanna in sich zusammen, völlig apathisch gegen das, was noch urn sie herum geschah. Sie war zerschmettert. Das Bergmanngymnasium ist eine der führenden Schulen in Wien und eines der ersten Madchengymnasien überhaupt. Man legt hier ganz besonderen Wert auf individualistische Erziehung, und ebenso wichtig wie die obligaten Schulfacher ist die Anstandslehre, in der jegliche Lebenslage, Tischsitten mitinbegriffen, besprochen und, nach Möglichkeit, praktisch berücksichtigt wird. — Frau Direktor Bergmann, die Leiterin, hatte entdeckt, das Grundelement einer Schule müsse im Yertrauen der Zöglinge zum Lehrerpersonal bestehen. Eine Schule war eben auch nichts anderes als ein Staat, wo Popularitat und mystische Unantastbarkeit gegeneinander abgewogen werden mussten. So hatte die Frau Direktor eine Beratungsstunde eingerichtet. An einem schulfreien Nachmittag war sie für ihre Schülerinnen zu sprechen, und man konnte sich über alles und jedes bei ihr Rat holen. Es hatte ihr bei dieser Massnahme vorgeschwebt, die Kinder zu veranlassen, sich in allen Fragen des privaten Lebens an sie zu wenden. Das geschah nicht. Wohl war die Beratungsstunde immer besucht; aber man kam, um sich — als Ratsuchende — über den Irrtum, die Ungerechtigkeit eines Lehrers zu beklagen oder über das Verhalten einer Mitschülerin, oder man kam, um über die eigenen Unzulanglichkeiten in diesem oder jenemFach zu jammern. Am überfülltesten war die Beratungsstunde jeweils unmittelbar vor den Zeugnissen. Die T rau Direktor war enttauscht. Sie hatte nich< Schulfragen diskutieren wollen. Sie hatte einen lebendigen Kontakt gewünscht zwischen sich und den Kindern, hatte an ihren grossen und kleinen hauslichen Sorgen, an ihren grossen und kleinen Geheimnissen teilnehmen wollen; aber dazu kam es nicht. Kinder haben namlich keine kleinen Geheimnisse, sondern nur grosse. Ihnen ist alles wichtig. Und wenn sie auch zutraulich sein können, so sind sie dabei trotzdem verschlossen, fest verwahrt wie Muschelschalen, deren Bander erst mit den Jahren nachlassen und ersclilaffen. Yon dem herben Zutrauen bis zur peinlichen Vertrauensseligkeit, dem Bedürfnis, sich mitzuteilen — das ist die kurze Spanne des grossen Anlaufs: der Kindheit. Sie ist eine Republik für sich. Erwachsenen werden hier manchmal, aber nur höchst selten, die biirgerlichen Ehrenrechte zuerkannt. Um die Yierzig herum, zu dem Zeitpunkt, wo sie als Führer der Jugend hauptsachlich in Frage kommen, sind sie meist saturiert oder resigniert. Die Satten und die Enttauschten aber werden erbarmungslos aus dieser Republik verwiesen. Zugelassen sind hier lediglich jene, die, wenn auch nur im Prinzip und der Gesinnung nach, noch zu den selben Torheiten und Fehlern und Irrtümern bereit sind wie das Kind. Es war nicht Frau Direktor Bergmanns Schuld, dass sie zu diesen Zugelassenen nicht gehorte. Sie war eine erfolgreiche und von ihrem Leben zufriedengestellte Padagogin. Ihr Leben war Klarheit, Ordnung, Ruhe. 2 Nicht die kleinste Spur eines Tumults, einer winzigen Torheit. Sie war ein richtiges Yorbild, für das nur kein Bedarf war. Dass die Kinder nicht den Weg zu ihr fanden, enttauschte sie wirklich, und sie hatte sehr gern die Beratungsstunden, die keine waren, wieder eingestellt; aber andere Schulen hatten ihre Idee bereits aufgenommen. Man anerkannte überall, dass Frau Direktor Bergmann wieder einmal eine interessante Neuerung angeregt hatte, und das „Neue Wiener Journal" brachte einen Artikel über sie, worin von ihr als einer „bahnbrechenden Dame unseres Schulwesens" die Rede war. So kam es, dass ihr System zu einem Zeitpunkte am höchsten im Kurs stand, da sie schon bereit war, es zu liquidieren. Nun wurde sie es nicht mehr los, sondern war, wie mancher Politiker, gezwungen, zu einem einmal begangenen Missgriff zu stehn, nur weil er von andern schon übernommen worden war. In die Bergmannschule gingen neben der Elite der Wiener christlichen und jüdischen Gesellschaft eine Anzahl Madchen auSj, meist jüdischen, Burger- und Kleinbürgerfamilien. Töchter kleiner Geschaftsleute, von Fellund Rohproduktenhandlern, von Handwerkern aus der Leopoldstadt. Eltern, die für nichts sonst auf der Welt lebten als für ihre Kinder, von keinem andern Ziel wussten als deren Zukunft. Diese Kinder bildeten so etwas wie den dritten Stand. Zu ihnen gehorte Johanna. In Johannas Klasse herrschte im allgemeinen, trotz der Yerschiedenartigkeit der Elemente, ein gutes Einvernehmen. Nur das „Podium" lebte etwas von den andern abgesondert. Diese Bezeichnung führte die Crème, vier Madels, deren durchweg jüdische Yater Namen trugen, die der öffentlichkeit angehörten. Gussy Senders Yater war der in aller Welt bekannte Komponist. Er hatte sich nur schwer, aber im Jahre 1912, das wir schreiben, bereits endgültig durchgesetzt. Seine einzige Tochter wusste nichts von den Bitter nissen und Enttauschungen der Jahrzehnte, in denen der um Anerkennung Ringende sieli und seine überraschenden, überrumpelnden Klangformen, als exotisch angefeindet, schon fast aufgegeben hatte. Gussy war im Glanz des Erfolgs zur Welt gekommen und wusste nur von Glanz und Erfolg. Ihr Hochmut kannte keine Grenzen, und die Mitschülerinnen zahlten bei ihr nach der sozialen Stellung ihrer Yater. Schulleistungen berechtigen im allgemeinen nicht zu einem abgeschlossenen Urteil über die Anlagen eines Schülers. Aber wo, wie und wann ein Schuier versagt, das lasst wohl Symptome erkennen, aus denen man sich ein Urteil bilden kann. Gussys Leistungen wurden meist schonend dahingehend zusammengefasst, dass sie in der Klasse mitkomme. Sie war über etwaige kleine Schönheitsfehler in ihren Zeugnissen auch niemals bedrückt; denn sie war in der Schule ohne Ehrgeiz, hatte von sich die höchste Meinung und von den Fachern, die ihr „nicht lagen ', die geringste. Für sie war die Schule eher eine Institution zur Pflege und Knüpfung gesellschaftlicher Beziehungen, unliebsam unterbrochen von den Unterrichtsstunden. Professor Rudolf Wolnitz, Madges Yater, war der berühmte Wiener Internist, von dem man sich in der Klasse erzahlte, die Kaiser und Könige sassen in seinem Wartezimmer nur so herum, von Erzherzögen gar nicht zu reden. Einen besonderen Nimbus verlieh ihr der Umstand, dass sie zwei-, dreimal im jahr zu einer kleinen englischen Prinzessin eingeladen wurde, einer Patientin ihres Yaters, die an spinaler Kinderlahmung litt. An dieser Auszeichnung fühlte sich die ganze Klasse jedes Mal beteiligt. Madges Mutter batte die kellblonden Haare ihrer Tochter zu jener extravaganten Ponniefrisur geordnet, der gleichen, die die gelahmte Prinzessin trug; aber trotz des englischen Namens und der extravaganten englischen Frisur war die kleine Wollnitz eher eine Mizzi als eine Madge, ein rechtes Wiener Madel, heiter, liebenswürdig, gutartig und ohne alles Zeremoniell. Sie war kein intellektueller Typ, aber von einer lebhaften Gescheitheit, die nie das Bestreben hatte, im Yordergrund zu stehn. Ganz anders war Trixie F alk. Sie hatte bisweilen schon eine harte Falte über der Nasenwurzel, wenn man sie fragte: „Sind Sie vielleicht verwandt mit Joseph Falk?" Joseph Falk war zur Zeit gerade mit seiner Gattin in Amerika, wo ein Drama von ihm mit sensationellem Erfolg aufgeführt wurde. Die gesamte Klasse folgte mit Spannung allen Phasen seines Triumphes, mehr als Trixie selbst. Trixie war fast krankhaft eitel und ehrgeizig, aber in einer ganz unbestimmbaren Art; denn sie hatte kein Ziel und wusste nicht, wohin mit sich. Sie wusste nur, dass sie einmal etwas Grosses leisten müsse. Eine WeiIe — immer zu Beginn des Schulsemesters — schien dieses Ziel darin zu bestehen, sich den ersten Platz in der Klasse zu erobern. Aber sie hielt nie durch. Ob die Kriifte nicht ausreichten, ob ihr Phlegma sie behinderte, sie glitt immer zurück ins Mittelmassige. Eine gute und glücklichere Zeit erlebte sie, als der Zeichenprofessor glaubte, in ihr eine besondere Begabung für Landschaften entdeckt zu haben. Sofort warf sie sich mit Feuereifer auf „ihre KunstEine ihrer besten Zeichnungen wurde anonym an Professor Klimt geschickt. Sie kam mit ein paar höflich bedauernden Worten zurück, die ihre künstlerische Berufung in Frage steilten. Es war eine berbe Enttauschung, und der Traum, eine Malerin zu werden, war zu Ende. Zu Hause fühlte sie sicb nicht wohl. Sie gab nicht ihren dreizehn Jahren Schuld, die sie daran hinderten, am gesellschaftlichen Leben der Eltern teilzunehmen, sondern war iiberzeugt, der Vater wolle sie nicht neben sich aufkommen lassen. Sie war cm unentwickeltes, unruhiges Kind, gewohnt, dass die Freunde des Vaters ihre altklugen Bemerkungen belachten und weitergaben. Das führte sie zu einer enormen Uberschatzung ihrer kleinen Person, soviel Mühe sich die Eltern auch gaben, dieses Durcheinander zu ordnen. Die Vlerte war Stella Maurer. Sie war die einzige von den Vieren des Podiums, die keinen grossen Namen trug; denn bei ihr war es die Mutter, die ihren Ruhm auf zwei Erdteilen hinaussang. Der Yater war einmal einer der grössten Finanzleute Wiens gewesen, mit allen Amtern und Würden und in der Sonne der kaiserhchen Gnade. Er konnte sich alles, sogar die um achtzehn Jahre jüngere Sangerin leisten. Bei unglücklichen Transaktionen verlor er sein Vermogen und gleichzeitig die Gattin. Zwar nicht an den Tod, sondern an das Leben, das sie ihm davon führte. Wahrend er sich ein für allemal als bescheidener Hauseragent zu den unzahligen anonymen Menschen begab, an die die Welt vergisst. Ihre einzige Gemeinschaft war nur noch das Kind. Es trug des Vaters kleinen Namen und lebte das grosse, üppige Leben der Muttcr, Christin (tóe sie, war sie von einer wirklichen tiefen Frömmigkeit, machte sich aus Kunst und Künstlern gar nichts. Dabei hatte sie eine hübsche Singstimme, von der sich die Mutter viel versprach; aber Stella lebte in einer ganz andern Welt als die Mutter, und sie hatte deren flüchtigen Weggenossen, den verarmten Yater, keineswegs vergessen. Zu diesen vier Mitschülerinnen, dem Podium, hatte Johanna keinerlei Beziehung, und die Vier kannten sie kaum. Nicht, dass es von Natur hochmütige, unkindliche Geschöpfe gewesen waren — Gussy ausgenommen — und es ware ihnen gewiss nicht eingefallen, eine Sonderstellung in der Klasse zu beanspruchen. Die Klasse raumte sie ihnen vielmehr von sich aus ein, zwang sie geradezu mit ihrer Bewunderung in diese Abgesondertheit. Die Voraussetzung einer führenden Stellung ist ja immer eine Gefolgschaft. Im Anfang war der Untertan. Auch für eine Schulklasse muss darin eine Wollust liegen, in der sich Idolatrie und Hass und Missgunst in einer erschreckenden und sonderbaren Weise auflösen. Johanna aber gehorte zum dritten Stand und gehorte ihm wiederum nicht an. Johanna gehorte eigentlich sich selbst. Und wusste so wenig wie Trixie Falk, die Dichtertochter, wohin mit sich. Sie schloss sich niemandem ganz und wirklich an. Sie liebte niemanden. Zwar bildeten sie und Marianne Koppel eines der üblichen Freundespaare; aber das sah nur so aus. Johanna fühlte sich in dieser Freundschaft allein und unbefriedigt und beneidete das Podium glühend wie etwas Fernes, Unerreichbares. Sie waren alle so fein und still. Nichts mehr von jüdischer Unsicherheit war an ihnen, überhaupt nichts von jüdischem Wesen und jüdischer Eigenart. Sie waren ganz so, wie sie gern selbst gewesen ware, wie sie nie sein würde. In Johanna frass eine unersattliche Unruhe, die sie voran trieb. Sie wusste selbst nicht wohm. Diese Unruhe liess nicht zu, dass man fein und still war. Sie larmte, schrie und trieb und trieb. In dieser Beziehung glich sie eher den Buben ihrer Generation. Da sitzen in der Klasse ihres Bruders ~ er sechzehn Jahre — Jungen wie er, aus klemburgerhchen Verhaltnissen der Leopoldstadt. Es sind Söhne von Fleischhauern, Altwarenhandlern, deren Vorfahren keine andere Schule als den Cheder und sich keine andere Bildung als das Talmudstudium und Kenntnisse der jüdischen Literatur angeeignet hatten. Aber die über Talmudfolianten krumm gewordeneD Rucken der Vorfahren sind ein gewaltiges Sprungbrett für den hochschiessenden neuen Geist und anders gerichteten Ehrgeiz der Jungen. Mancher dieser Sechzehnjahrigen schreibt unter seiner gnechischen Grammatik in der Schule an klassischen Dramen, in denen gewaltige Reden fliessen, meist in strengen Hexametern, die selbst Hölderlin als zu hellenisch und mondscheinumflossen vorgekommen waren. Man schickt das fertige Manuskript an den bartigen Halbgott, Arthur Schnitzler. Und Schnitzler, Freund und Berater der Voranstürmenden, antwortet, dankt, ermutigt. Man tragt dieses Wunder, diesen Schnitzlerbrief, Tag und Nacht bei sich, ist durch ihn zum Dichter geweiht, auf den die Welt schon wartet. Andere wieder leben fast nur auf dem vierten Rang des Burgtheaters, schon da und dort an zu starrer Tradition, an Unjungem ihre kritische Feder versuchend oder in Begeisterung lodernd über Adolf, Ritter von Sonnenthal — ehemaligem Schneidergesellen aus dem Budap ester Ghetto, dem man es gleichtun würde. Und mitten unter sich in der Klasse Latten sie einen standigen Ansporn in dem Anblick Jakob Nahums. Zwar war nichts Besonderes an dem kleinen stammigen Bengel, weder an seiner gedrungenen Gestalt, noch an der steilen Stirn, der gerade vorspringenden dicklichen Nase, den rund vorgewölbten blauen Augen. Diesen Jakob Nahum, dessen Mutter in der Leopoldstadt ein beschauliches Leben führte, gab es aber fünf Mal in den verschiedensten Jahrgangen. In Intervallen von drei, vier Jahren gab es immer wieder den selben Nahum mit der steilen Stirn, der vorspringenden dicklichen Nase, den runden Augen mit dem herausdrangenden, weitschauenden Bliek. Das Besondere an den fünf Nahums war, dass es noch einen sechsten gab, der aber schon Ernst Greifenberg hiess und in Berlin sass als ganz grosser Mann. Er ist zu dieser Zeit schon berühmt, macht ein ganz neues Theater mit machtiger Ausstattung. Die einen sagen dazu, er sei ganz gross, die andern nennen es mit einem durchsichtigen Nebensinn: orientalisch. Dieser berühmte Mann war als Ernst Nahum geboren und hatte sich in der grossen Welt seinen grossen Namen gemacht. Und auf den Bildern, die es von ihm in den illustrierten Zeitungen und Magazinen gab, war ganz das gleiche Gesicht, das die andern fünf Nahums durch die Leopoldstadt trugen, und auch der jüngste Nahum, Jakob, der Klassenkamerad Leo Deutschs. Und das eben war Jakobs Besonderheit: der grosse Bruder in Berlin. Und in all diesen Jungen war die selbe vehemente Durchschlagskraft, die diesen „grossen Bruder", oder einen andern, schon hinaufgetrieben hatte. Gestützt auf die ungenützt aufgespeicherten Krafte der Vorahrenschufen sich Ehrgeiz und Tatendrang ihren Weg. Wie immer in der Generation, die die erste ist die von unten kommt. Wahrend die Kinder der Arrivierten schon fein und still geworden sind und matl und ohne rechten Schwung, was sie tun Es war nur natürlich, dass Johanna mit sehnsüchtiger Bewunderung auf die Feinen, Wohlerzogenen schaute. nsgeheim machte sie ihren Eltern erbitterte Yorwür- %+irT f6 ^ daS widerwartige Leben Leopoldstadter Kleinburger hineingesetzt hatten, sie, die sich zu ganz anderem ausersehen glaubte Eine bequeme Weltanschauung verbreitet von einer Generation zur andern den frommen Irrtum, dass Eltern ihren Kmdern alles bedeuten. Wer klar und ohne oentimentalitat und ohne seine kindlichen Lebensumstande nachtraglich zu dramatisieren, zurückzudenken vermag, weiss, das Yerhaltnis des Kindes zu den Eltern bleibt lebenslang fast das gleiche wie in den neun Monaten vor der Geburt. Es steht und fallt fast immer mit der Zweckmassigkeit. Alles andere ist Zutat aus menschlichem Hirn, eine Fiktion, schonungsvolle iauschung auf beiden Seiten. Johanna nun erschienen ihre Eltern höchst hinderlich. j10 hlelt es fur emen bittern Missgriff der Vorsehung ass sie an diese Eltern geraten war und nicht an die' von Madge oderTrixie.wohin sie eigentlich gehörte.Sie s elite sich das Leben ihrer bevorzugten Mitschülerinnen so vor, als sassen sie zu Hause unausgesetzt an den Quellen der Ethik, wahrend sie brennenden Durst litt nach geistiger Führung und Beratung und moralischer /.ïelgebung. In sich versponnen, überlegte sie oft, wie sie selbst einmal diesen Missgriff der Natur ausgleichen könne. Sie war nicht in grosse Verhültnisse hineingeboren worden. Sie hatte keinen Yater, dessen Marmorbüste einst in der Universitat Aufstellung finden oder über den eine spatere Generation in der Literaturgeschichte lernen würde. Ihr blieb, nach ihrer Meinung, nur eine einzige Chancezur Unsterbliehkeit: siemusste die Gefahrtin eines Mannes werden, der durch die Zugehörigkeit zu ihr zu gewaltigen Werken entflammt würde. Einzig nach ihrem Urteil, ihrer Klugheit und enormen Welterfahrung sollte dieser Mann einmal seine Taten richten, wie Numa Pompilius seiner Egeria weisen Ratschlagen folgte. Eine Egeria würde sie sein. Sie las viel, um sich auf ihren Numa Pompilius vorzubereiten. Sie las viel und wahllos, verstand einiges halb. einiges gar nicht und vergass wohl auch über ihrer Lektüre deren Zweck, die weihevolle Yorbereitung auf den dereinstigen hohen Ratsuchenden. Sie vergass sie so sehr, dass sie ihren Numa Pompilius erst gar nicht abwarten wollte, sondern früh zu sterben beschloss. Denn sie las gerade das Tagebuch der Moussia und war nicht mehr Egeria, sondern Moussia, die in edler Schönheit an Schwindsucht dahinsiechte. In ihrer Verstiegenheit hatte sie nun wirklich eine Periode, in der ihr Schwindsucht das erstrebenswerteste Ideal schien. Sie ass wenig, fühlte sich matt und elend und genoss diesen Zustand mit Entzücken als die Vorboten ihrer baldigen Yerklarung. Eine grosse Rolle spielten dabei die letzten Worte, die sie für die Nach welt zurücklassen würde. Eine Weile wollte sie mit Hölderlin ihren Erdenwandel beschliessen: „Ich bin zu gross geworden, um noch wiederzukehren zu dem Glück der Erde...." Dann wieder hatte sie lieber einen eigenen Ausspruch hmterlassen, der zum Ausdruck bringen sollte, wie nichtig, ungerecht und unvollkommen sie hienieden aJJes gefunden habe, so dass sie gern scheide. Aber die Mutter widersetzte sich dem edlen Ziel der baldigen Verklarung. Sie batte dafür gar nichts übrig und tat unter Vorwürfen und Schelten das Zunachstbegende. Mit Lebertran und Arsen rückte sie ihrer rochter zu Leibe: „Schön bist du nicht, reich bist du nicht. Wenn du mir dazu auch noch spindeldürr bleibst wird dich ein Mann nicht einmal anschauen!" Ein Mann! Die Mutter redete von einem Mann, wahrend der Tochter ganze Sehnsucht nach nichts sonst stand als nach zwei unrettbar angegriffenen Lungenflugeln! Ob der Lebertran den Umschwung ihrer Ziele mit sich brachte oder eme Wiener Sensation — ein Dollarmillionar hatte einen Wiener Mannequin geheiratet — ist nicht ganz ersichtlich. Jedenfalls wollte Johanna plötzlich kemeswegs mehr dahinsiechen, und sie wurde der ochwindsucht genau so untreu wie zuvor ihrem Numa rompibus. Zwar war es Johanna nicht, wie man annehmen sollte, urn den Dollarmillionar zu tun, sondern die Heldin dieser wahren Begebenheit fiel ihr eines lages ein, als sie vor Stone und Blyth in der Karntnerstrasse stand. Jedes andere Madchen würde sich vielleicht dieses oder jenes der ausgestellten Modelle gewunscht haben; aber Johanna wurde ganz unvermittelt von einer heftigen Eitelkeit und Besitzgier erfasst und, wie immer, kannte sie in ihren Wünschen kein Mass. Sie wollte alle Kleider - alle. Da sie aber auch den unvernünftigsten Wünschen und Zielen in ihren Cjedanken so etwas wie eine reale Grundlage zu geben bemuht war, entstand vor der glanzenden Spiegel- scheibe, die sie von den Gebilden aus Taft, Satin und Georgette trennte, der Plan, Mannequin zu werden. Damit würden ihr alle Kleider der Welt gehören! Kein einziges müsste sie zweimal tragen. Die standige Redensart der Mutter „schön bist du nicht, reich bist du nicht...." fing an, auf der Haut zu brennen. Das musste sie abwaschen! Niemand sollte wagen, sie einstmals auch nur daran zu erinnern! Sie würde so schön werden, dass alle Welt ihr nachschauen würde. Sie nahm es sich mit solch heiligem Ernst vor, als unterstehe schön zu sein dem Willen. Bei ihr war kein Zweifel, dass die Zeitschriften sich darum reissen würden, ihr Bild zu bringen, dass sie auf allen Rennen, auf allen Ballen zu sehen sein würde. Sie, Johanna Deutsch, die sich heute noch der Mutter „schön bist du nicht, reich bist du nicht!" anhören musste — sie wird einmal der Mittelpunkt dieser grossen gesellschaftlichen Veranstaltungen sein. Dollarmillionare werden um sie werben, Grafenkronen und hohe Titel und Würden sollte man ihr dereinst zu Füssen legen, sie aber würde an all dem vorübergehen, keinem anderen Ziel entgegen als diesem einen: schön zu sein. Sie lebte nun ganz dieser Hoffnung, verwandte Stunden darauf, andere Frisuren auszuprobieren, ass oft mehr, als sie vertrug, schnitt sich aus den Zeitschriften die Toiletten von Königinnen und Revueprinzessinnen heraus, entwarf sich wohl auch selbst exzentrische Kostüme zu dem Zweck, sie einmal der Welt vorzuführen. Sie spielte mit sich selbst wie mit einer Puppe und war voller Erwartung des Berufs, der eigens für sie erfunden schien. Unnötig zu sagen, dass ein derartig mit sich besehaftigtes Kind in der Schule kaum noch mitkam. Sie mogelte und schmuggelte sich gerade so durch, und jeden Tag konnte sicks kerausstellen, dass sie keine Ahnung vom Unterricktspensum katte. Und wieder kam eine neue Periode. Anlasslick einer Hockzeit innerkalb der hohen Aristokratie geriet Jo- kanna als Zusckauerin in die Sckottenkircke an der r reyung. Sie stand zum erstenmal in einer katkoliscken Kircke, zudem in einer, die mit kockzeitlickem Pomp erfüllt war. Aber sie folgte weder der Predigt nock dem Trauungszeremoniell mit Aufmerksamkeit. Die Atmospkare der Kircke, das Orgelspiel, die Ckorgesange, der betaubende Geruch des Weikrauckkessels - das alles benakm ikr den Atem. Als Brautpaar, Hockzeitsgaste und Zusckaner langst die Kircke verlassen katten stand sie nock lange an eine Sanle geleknt, weltverloren im Dnnkel. Etwas Grosses, Unbekanntes stürmte anf sie ein. Mit nnsickern Sckritten ging sie von Altar zu Altar, sak die vielen Yotivtafeln vor dem Gnadenbild des Heiligen Judas Tkaddans. Von ikm wnsste sie sckon durck ikre ckristlicken Mitsckülerinnen. Auck die unter iknen, die an gar nickts glaubten und gar nickts luelten auf den keiligen Judas Tkaddaus sckworen alle. Er wird in österreick besonders verehrt als Heller in aussergewöknlick sckweren und koffnungslosen Fallen. Jokanna füklte sick eigenartig und tief angezogen von dem blassen, kimmelgewandten Gesickt des Heiligen, der, ein Yerwandter Ckristi, diesem immer sekr ahnlick dargestellt wird. Sie drückte s!Ck sckeu in die kleine Türniscke, die zum Nebena ar fuhrt. Zu setzen traute sie sick nickt. Sie gekort ja mekt kierker. Da aber schien ikr das Gesickt des eiligen zuzulackeln, und sein Bliek zog sie aus ikrem Winkel vor den Altar, wo sie sich zaghaft auf einer der Banke niederliess. Unbeweglich verharrte sie liier, bis die Kirche geschlossen wurde. Am nachsten Tag kam sie wieder, am übernachsten auch. Es zog sie mit Macht her. Der anfanglichen Fremdheit folgte bald ein Gefühl unendlichen Vertrautseins. Sie sah Andachtige in den Banken und in den Beichtstühlen knien. Eine heisse Sehnsucht nahm von ihr Besitz, auch hier zugehörig zu werden. Was sie vorher gewünscht und erstrebt hatte, war nicht mehr da. Hier war ihre Heimat. Hierher gehorte sie, wo man seine Sünden bereut, wo sie verziehen werden, wo man einen reinen, gelauterten Lebenswandel beginnen kann. Beten konnte Johanna natürlich nicht. Sie hatte ihre höchst persönliche Art, sich mit ihrem Heiligen zu unterhalten: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Heiliger so beschrankt ist wie die Menschen. Und darum wird es dir ganz einerlei sein, ob ich Jiidin oder Christin bin. Ich denke mir, du wirst dich freuen, dass ich dich besuchen komme. Dir ist es ja gewiss auch lieber, es gibt lauter gute und anstandige Menschen, und so einer will ich ja gerade werden. Ich bitte dich sehr, gib dir ordentlich Miihe mit mir, dass aus mir etwas Richtiges wird." Etwas Richtiges? Aber was? Man konnte wohl den heiligen Judas Thaddaus um Hilfe angehen; aber die Wahl konnte man schliesslich nicht ihm allein überlassen. Natürlich will sie einen reinen, gelauterten Lebenswandel führen; aber das ist nicht genug. Mit solchen Kleinigkeiten kann sie sich nicht abgeben. Wieder will sie alles. Nur das Absolute. Beten — bereuen — es genügt nicht. Sie möchte Nonne werden. Dass sie zuvor erst die Taufe nehmen müsste - das allein sagt hr nicht zu. Dagegen straubt sich etwas in ihr Aber tagheh gebt sie in die Kirche. Wenn sie Nonnen r Priester auf der Strasse siebt, grüsst sie sie beimiicb nut den Augen nnd innig mit dem Herzen- sie gehort dazu. Johaena Iügt „ictt nehr. Nie „idersprich. sie ihrer Muiter „n erordnet sich ,„s.r dem Bruder. Es gibt ein geduldigeres, liebenswürdigeres Kind als Johanna. Die Mutter ist glüeklieh; aber der Bruder deutet Sti'rntippt °n hah' iDdem ^ geIegentIich a" seine Dann kam eine Klippe, an der Johannas Frömmigkeit zerschellte. Der beilige Jndas Thaddaus hatte sie im btieb gelassen. Er hat sie nicbt bescbützen wollen. Wie fconst batte ibr Bruder ihr beimlicb in die Kircbe folgen und sie dort beobachten köunenP Selbstverstandlich bencbte e er den Eltern von seinen Wabrnebmungen ver iT t tagfaDg mit VerWeinten Augen herum, versicberte, ibre seligen Eltern würden keine Ruhe im Grabe fmden aus Schmerz über dieses entartete En6 a' Un Wilnde hallten wider von ibren Klagen. Abtriinnig - ihre Tochter abtrünnig! Zu diesem uminer kam noch ein anderer. Johanna wurde nur unter der Bedingung in die nachste Klasse versetzt dass sie Nachhilfestunden in Mathematik erhielte Mattm Jf°?ef,Stf eVnS HaUS" Er so«te Johanna in Mathematik den Bruder in Latein und Griecbisch un- emchten; aber ausserdem sollte er mit beiden Kin- dern soviel wie möglich jüdische Geschichte treiben Die Beziehungen von Josef Stadler zu seinen Zöglin- gen entwickelten sich aber in ganz anderer Richtung. war nahm er mit Johanna und Leo alle Facher durch, in denen sie ihm schwach erschienen. Nur Themen der jüdischen Geschichte mied er. Spater, meinte er, wenn man den Anforderungen der Klasse nachgekommen sei, habe man dazu noch Zeit. Im übrigen verging aber nicht ein Tag und nicht eine Stunde, in der Josef Stadler nicht zu jüdischen Eigenarten und Gewohnheiten Stellung genommen hatte, und dies geschah in der denkbar ablehnendsten Form. Es war seine Art nicht, etwas zu tadeln oder zu beanstanden. Doch eindringlicher als jeder Tadel war seine nervöse Abwehrgebarde einer spezifisch jüdischen Denkungsart gegenüber oder gegenüber jüdischer Geste, jüdischer Ausdrucksform. Wie einen Schmerz aber empfand er jene merkwürdige Kadenz des Tonfalls, der dem Leopoldstadter Dialekt anhaftet. Besonders dieser singende Tonfall, eindringlich, oft zudringlich, wie Menschen reden, die gewohnt sind, nicht angehört zu werden, besonders dieser Tonfall schien in Josef Stadlers Ohren zu brennen, seine Augen zu beizen; denn er kniff sie jedesmal fest zu, und einmal schlug er sogar den Rockkragen hoch, als ob er friere. Johanna aber spürte sofort, es galt sprachlicher Entgleisung, und er wünschte sich mit dieser Geste nur gegen eine Welt abzuschliessen, die seine Nerven und Sinne beleidigte. Josef Stadler sollte jüdische Geschichte mit den Kindern Deutsch treiben, aber er trieb ibnen zunachst nur die ausserlich schadlichen Folgen und Begleitumstande dieser Geschichte aus. Da und dort im elterlichen Hause, und besonders bei der Mutter, brach der singende Tonfall, in Yerbindung mit dem Leopoldstadter Dialekt, noch durch — keine glückliche Yerbindung übrigens; aber viele Redensarten wurden noch von ihr beherrscbt. Josef Stadler glühte diese Spracbe bei Jo- n ar ltre"'Bruder ™ ^lurch kein anderes MitteUals das exner halben Geste, eines nur angedeuteten und memals ausgesprochenen Abscheus. Das wirkte as erzog zu Sprache und Ausdruck der andern, jenseits des Donaukanals. Der zudringliche Tonfall war bei Johanna schon völlig erschwunden, gleichwie die verraterische Schwierig- etlal^T Ü Und Ö' Nictt im Z°rn' Und nicht emmal lm Traum passierte es einem noch, dass man "möglich" D aDStatt "SÜSS" °der "meglict" «^att " g . • Das war ausgemerzt. Nur mit dem R hatte R weTde emei SCWeren Sfand" ES W°IIte kein rechtes R werden, es lag zu tief in der Kehle und erinnerte eher an e.n Ch wie in lachen als an ein R. Waren die Umlaute eme Frage des Gedachtnisses und der Ton- fall eme des Ohres - das R hing einzig und allein von der Zunge ab. Das musste man üben und wieder üben- aber was Johanna sprach, war eben immer noch kein makelloses R. Dabei litt man, genau wie Stadler schon darunter, die Mutter und den Vate, wenn a„S SeItener' noch so reden zu horen. Wie Stadler fuhr man zusammen, wenn einer der unzahligen Jargonausdrucke fiel empfand sie wie etwas Unreines und tete sich selbst pemlich vor dieser, wie einem schien modrigen Sprache. ' Wie ein Polizist wachte Frau Rosa Deutsch darüber dass d,e Anstreicher im Miedersalon keinen Pinsel-' staeh mehr taten „nd das LeWdehen Sein» das ».t se.ner Arbeit i„s Schlafeimmer mnq„,rti„t wot. den war, keine Nadel mebt einfiidelte, sowie der ersle Stern am Himmel stand. Sabbathruhe. 3 Denn so fleissig und erwerbseifrig Frau Deutsch aucb war, die Sabbathruhe wurde in ihrem Hause strikt eingehalten. Da gabs einmal nichts! Das war sie ihren frommen seligen Eltern schuldig, genau wie ihren Kindern, denen man vor allem Religion mit ins Leben geben musste, wenn etwas Ordentliches aus ihnen werden sollte. Im Esszimmer war der Tisch schon gedeckt. Frisches Tischzeug, die Gebetbücher am Platze des Hausherrn zwischen den silbernen Leuchtern mit den Sabbathkerzen, wiesen auf die Besonderheit des Abends hin. Und obwohl Frau Rosa bis zum letzten Moment im Miedersalon war und zur Eile angetrieben hatte, stand sie noch vor Beginn des Sabbathabends gewaschen und umgekleidet am gedeckten Tisch und zündete die Lichter an. Im Kerzenlicht war das dicke, fahle Gesicht seltsam verjiingt, fast verschijnt. Oder hatte ein anderes Licht, das nicht von aussen kam, die von vielzuvieler Arbeit und manchen Sorgen eingekerbten Linien heute geglattet und ausgemerzt? In den grossen dunkeln Augen standen heute nicht Zahlen und alle Notwendigkeiten des Tages, sondern auch in ihnen brannte ein Licht. Das der Kerzen oder ein anderes. Leise, die Hande über die Augen gedeckt, murmelte sie den Segen über die Lichter, die den siebenten Tag heiligen sollten. Als das Gebet beendet war, blieb sie noch sekundenlang stehn, und, wie immer am Freitagabend, zogen Bilder aus ihrer Jugend, dem Elternhaus in Eisenstadt, an ihr vorbei. Wie dort der Schulklopfer durch die enge Gasse gelaufen war, an alle jüdischen Geschafte geklopft hatte, um zu erinnern, dass man rechtzeitig schliesse und sich in den Tempel begebe. Sie hatte noch das Rasseln der eisernen Kette im Ohr, mit der am Freitagabend das Eisenstadter Ghetto abgesperrt wurde — übrigens eine freie Massnahme der Irommen Eisenstadter Gemeinde. Denn im Burgenland genossen die Juden unter der fürstlicb Esterhazyschen Herrschaft Schutz und Freiheit seit Jahrhunderten. Frau Rosas Familie war hier seit dem sechzehnten Jahrhundert ansassig, immer waren die Familienvater kleine Handelsleute, die nichts hatten als eine zahlreiche Kinderschar und ihren Freitagabend. Das Schliessen des Ghettos war aus ursprünglichem Zwang eine liebe Gewohnheit geworden, an der man festhielt, als die Esterhazys diese Bestimmung langst aufgehoben hatten. Frau Rosa, wenn sie daran dachte, empfand noch etwas von dem Gefiihl der Geborgenheit nahen Beieinanders mit sabbathlichen Glaubensgenossen. Sie sah den Vater den weissen Gebetmantel zusammenfalten, ehe er in die Synagoge ging, sah die Mutter bei den Sabbathkerzen, genau so, wie jetzt sie selbst und wie vor ihr Generationen und Generationen jiidischer Frauen den Frieden des siebenten Tages segneten, den zu heiligen geboten war. Johanna stand unterdessen am Fenster des kleinen Kabinetts, das ihr Schlafzimmer war. „Le participe passé conjugé avec être...." murmelte sie vor sich hin; aber sie kam nicht weiter. Sie war nicht bei der Sache. Sie steilte sich Friederike Skriebitsch vor, wie sie diejungfrau von Orleans aufsagen würde. Sie versuchte, mit Friederikes reichsdeutschem Dialekt den Monolog herzusagen. Sie übertrieb scheusslich und brach in leises, schadenfrohes Gelachter aus; aber das Lachen zersprang wie ein Gefass mit einem kleinen wehen Laut, der in bitterliches Aufschluchzen über- ging. Spott half nicht. Hohn half nicht. Nichts half. Tranen liefen ihr übers Gesicht. Johanna war tödlich getroffen; denn Friederike Skriebitsch würde vor aller Welt Johannas Jungfrau von Orleans aufsagen, ihre, ihre Jeanne d'Arc! In ohnmachtigem Zorn und ohnmachtiger Yerzweiflung fuhr sich Johanna immer wieder durch die strahnigen, wenig sorgsam gehaltenen Haare, die gleichwohl in der Farbe unvergleichlich schön waren. Die wie in Angst und Abwehr hochgezogenen Schultern wurden in kurzen Zwischenraumen von heissem Schluchzen durchschiittelt. Dann wieder trommel ten ihre kleinen Fauste wild auf das Fensterbrett los wie auf einen Angreifer. Sie zitterte am ganzen Körper. „Affen! Schweine!" kams dabei mit rauher Stimme von ihren Lippen. „Affen! Schweine!" und damit war das gesamte Lehrerkollegium der Bergmannschule gemeint. Wie war denn das nur möglich, dass man sie so vor aller Welt überging, zurücksetzte? Wenn es wenigstens Minna von Barnhelm gewesen ware! Aber Jeanne d'Arc gehorte doch einzig und allein ihr. Nie hatte eine andere Mitschülerin die Jungfrau gesprochen, und plötzlich wurde ihr genommen, was sie für ihr unverbriichliches Eigentum hielt. Wie war das möglich? Warum? Gut, sie war eine schlechte Schülerin; aber Gussy, zum Beispiel, war in keinem einzigen Fach besser und hatte bei der letzten Schulfeier etwas aus Evangeline von Longfellow aufgesagt, weil sie am besten englisch sprach. Ist sie übergangen worden, weil sie Jüdin war? Das Podium wurde bei allen Gelegenheiten ausgezeichnet, und die dazu gehörten, waren, Stella Maurer ausgenommen, ebenfalls Jüdinnen; aber ihnen sah man es nach oder hatte es bei ihnen bereits vergessen. Wenn man jedoch Jüdin ist, keinen berulimten Chirurgen oder Dichter zum Yater hat, dann könnte man wohl die beste Schülerin sein und deklamieren wie die grösste Tragödin der Welt und würde doch nicht für die Schulfeier zum Aufsagen erwahlt. Trotzdem glaubte sie, sie unterscheide sich in keiner Weise von ihren Mitschülerinnen. Aber wie um diese Rechtfertigung vor sich selbst zu entkraften, fiel ihr jene blamable Szene in der Schule ein, wie sie vor em paar Tagen in der deutschen Stunde statt „Spaziergang" „der Spazier" gesagt hatte. Die ganze Klasse hatte gelacht. Das geschah wohl oft; aber diesmal war es kein einfaches Gelachter gewesen. O nein! Es kam einem Anprangern gleich, und es war, als habe nicht nur eine Schulklasse, sondern die ganze Welt mit Fingern auf sie gezeigt. Mit weit aufgerissenen Augen und hochgezogenen Schultern, als wolle sie sich verkriechen wie eine Schnecke in ihr Haus, erlebt Johanna jetzt, am Fenster, noch emmal diese Schmach. „Spazier" statt Spaziergang — mit einem Ruck hatte dieser Jargonausdruck sie wieder dorthin zurückgeschleudert, woher sie kam. Am lautesten hatte sich Marianne Koppel über die 1-ntgleisung amüsiert, Marianne, die doch für Johanna, wenigstens nominell, die obligate beste Freundin vorstellte. Marianne hatte an sich die selben sprachlichen Schwierigkeiten überwinden mussen wie Johanna, ein wenig erschwert durch den Umstand, dass ihr Vater aus Czernowitz stammte, wo der krasseste Jargon beheimatet ist. Dafür war aber die Stiefmutter, die der Yater ihr erst kürzlich gegeben hatte, Christin. Wenn Marianne lauter und langer als die andern Mitschiilerinnen über den Jargonausdruck lachte, so wollte sie Johanna nicht, wie diese annahm, blosstellen oder verachtlich machen. Sie fand den Ausdruck auch gar nicht so komisch. Niemand in der Klasse fand ihn komisch. Die christlichen Madchen lachten aus Nachahmungstrieb, und das Podium nahm an der allgemeinen Heiterkeit überhaupt nicht teil. Dem Podium war die Ursache dieses Gaudiums wirklich unerfindlich. Sie hatten das Wort „der Spazier" nie gehort, ihnen erschien es nur unangenehm, peinlich, und die kleine Johanna tat ihnen eher leid. Aber das Gros der jüdischen Mitschülerinnen lachte im Chor, Marianne an der Spitze. Johanna konnte natürlich nicht wissen, dass sie mehr aus eigener Not als aus Heiterkeit lachten. Bei vielen von ihnen fiel zu Hause das Wort „jüdisch" nur noch in Yerbindung mit jüdischer Hast, jüdischer Unmanier, jüdischem Yorwitz. Ihnen allen und ganz besonders Marianne war, seit die Stiefmutter befehligte, der Begriff „ Jude" nur noch eine Last, von der man bei jeder Gelegenheit etwas loszuwerden anstrebte. Und darum verspottete man die kleine Johanna, um darzutun, wie himmelfern man schon diesen Dingen war. Die Erinnerung an diese peinliche Szene bemachtigte sich wieder Johannas ohnehin bedrückten Gemüts. Wie gebrandmarkt stand sie am Fenster, starrte in das trübe Licht der Gaslaternen und weinte. Ihrem leidenschaftlichen Naturell fehlte jedes Mass und die Vorstellung, dass Schmerz vorübergehe. Alles, was sie tat, tat sie mit tiefster Hingabe. Und so fügte sie ihrem Schmerz noch einen Stachel bei durch die qualende Yermutung, ihr sei aus dieser sprachlichen Tücke das Hindernis erwachsen, das nun riesengross zwischen ihr und der Jeanne d'Arc stand. Nebenan sprach die Mutter immer noch die Segenssprüche über die Kerzen. Johanna hörte auf die ihr unverstandlichen, fremdartigen und doch unendlich vertrauten Laute. „Negermurmeln" nennt es Marianne Koppels Stiefmutter, fallt Johanna ein. Sie hebt den Kopf, lauscht. Und plötzlich schlagt ihr grosser Klimmer in wilden Zorn um, der sich gegen die Mutter wendet. In dieser Stunde hasst und verabscheut sie die Mutter, von der sie diese Sprache gehort und aufgenommen hat, diese Sprache, die sie von allem trennt, was für sie Wert hat. INie, nie wieder durfte sie solche bösen Rückfalle erleben! Nie wieder! Das schwor sie sich jetzt zu. Die Sprache der Mutter war nicht die ihre. Wieder hammerte sie mit den Fausten gegen die Fensterbank. Aber statt wieder Beschimp fungen auszustossen, riss sie sich zusammen, straffte sich. Tranen hingen ihr noch in den Wimpern, als sie Scham, Zorn, Kummer mit emer wilden Bewegung von sich abtat. Schluss damit! Besser machen! Das kleine Kabinett, das neben Johannas Zimmerchen lag, hatte Frau Rosa Deutsch dem Studenten Josef Stadler als Arbeitszimmer eingeraumt. Es hatte einen separaten Eingang vom Hausflur, Josef Stadler kam und ging, wann er wollte. Eine Kiste mit Holz und ein Eimer mit Kohle standen immer bereit neben dem eisernen Ofen. Der junge Mann konnte sich nach Bedarf einheizen, brauchte nicht in seinem feuchtkalten Hofzimmer in der Flossgasse zu frieren, sondern hatte hier einen hellen, sauberen Raum, in dem er von nie- mandem bei der Arbeit gestort wurde. Das Fehlen des elektrischen Lichts in dem Kabinett bemerkte der in armlichen Verhaltnissen Erzogene gar nicht einmal, und es hiitte Frau Rosas Hinweises, „bei Ihren vielen wissenschaftlichen Schreibereien ist Petroleumlicht gesünder für die Augen", nicht erst bedurft. Zusammen mit dem Taschengeld, das er für seinen Posten als Hauslehrer erhielt, war das eine enorme Yerbesserung seiner mehr als dürftigen Lebensumstande. Josef Stadler war etwa dreiundzwanzig Jahre alt und wirkte wie ein Schuljunge. Er gehorte zu jenem Typ, aus dem sich nie wirkliche Manner entwickeln. Schon ausserlich nicht. Die Schultern bleiben schmal, das Gesicht behalt den graublassen Schimmer der Pubertatsjahre, und ob nun der Wuchs gross oder klein ist, es bleibt der Gestalt etwas kindisch Linkisches, Flattriges zu eigen. Solche Menschen gehn nie ruhig auf der Strasse, immer rennen sie, auch wenn nichts sie zur Eile drangt. Abbild ihres Lebens. Sie sind es auch, denen es mit vierzig Jahren noch passieren kann, dass man sie einen „dummen Jungen" nennt, und irgendwie trifft das auch zu. Mannlich an ihnen ist nur die Stirn, das Auge. So etwa wirkte auch Josef Stadler. Gross, schmal, engbrüstig, vornübergebeugt. Aber auf seiner wuchtigen Stirn spiegelten sich Gedanken von solch mannlicher Kühnheit, wie sie nur das unbeirrbar zahe Yerstandestraining ganzer Generationen in einem Menschen ansammeln kann, und in seinen glanzlos trüben und rotgeranderten Augen, die vom Tag nichts und von der Ewigkeit alles sehen wollten, brannte ein uraltes Feuer, das jüdische Lagerfeuer: der Geist. Dieser Mann nun war Johannas und ihres Bruders Hauslehrer. In seinem Leben war kein Platz für menschh^ Bmdungen und schon gar nicht für Kinder. Sein Lebensmotor war: sehen, suchen, erkennen -ssen. Das trieb ihn, und nichts sonst zahlte. Er war' in guter Lehrer; aber er übertrug diese Triebkraft te "!86111 fUf SCine Schüler" Sie begannen hin- ter dem, was sle lernen mussten, den Sinn zu spüren ine grammaükalische Regel war plötzlich keine Fussgel mehr sondern ein wirklicher Gehbehelf. Alles bekam das Geprage wohlgefügter Ordnung, wenn Josef Stadler mit dem Bleistift auf die Stelle deutend - Talmud 6 1°' Unt6r BenUtzUng des Deitelholzes Ta mud gdernt haben mochten - etwas auseinander- gleich. Cm S eChfer Lehrer UDd dn - Sich mit Kindern zu befassen, war ihm nicht gegeben und er verlor darum oft die Geduld. Manchmal wieder schien er sich sehr für Johanna und ihre Einfalle und deen zu interessieren, er befragte sie oft um ihre Anschauungen und brachte sie zum Sprechen. Aber obwohl sie m diesen Gesprachen sehr aus sich herausgmg, hatte sie kern ausgesprochenes Zutrauen zu ihm Er hatte so eine eigentümliche Art, hinzuhören und doch nlcht tö Eg ^ alg s.ebten se.ne otren gen Und61; 7f biS ZU Seinem Be™tsein dringen. Und trotzdem tat es ihr gut, mit ihm zu reden Was man h, war bei ihm auf eine besondere Weise aufbewahrt und eingeordnet, und man selbst * ng ïrgendwie glattgebügelt aus diesen, übrigens völlig einseitigen, Unterhaltungen hervor. uch für seine eigene Person hatte Josef Stadler nur em partielles Interesse. Er bemerkte nicht, wenn er -Ir'' Cr }Terkte höchsteDS' dass Fieber oder Kopfschmerzen ihn am Arbeiten hinderten. Er litt ebensowenig unter seinen dürftigen Verhaltnissen, wie er deren Verbesserung im Hause Deutsch wesentlich empfand. — Frau Deutsch, mit dem jedem Juden eingebornen Hang, wohlzutun und Not zu lindern, sorgte in ihrer trocknen, wenn auch ein wenig wortreichen Art vom ersten Tage an für ihn; aber sein Dank war zerstreut, blieb oft ganz aus. Trotzdem fuhr sie in ihrem Tun fort. Taglich fand er in seinem Zimmer eine Mahlzeit vorbereitet. Sein Mantel wurde stillschweigend vom Kleiderhaken im Yorzimmer genommen und das Futter ausgebessert, und sein Shawl wurde gewaschen und geplattet. Stadler bemerkte es kaum, höchstens, dass es ihn jedesmal empfindlich störte, wenn er nicht mehr — wie gewohnt — in das zerrissene Armelfutter fuhr statt in den Armel, und seinen Shawl erkannte er in gewaschenem Zustand überhaupt nicht wieder, sondern liess ihn erst eine Woche hangen, im Glauben, er habe seinen verloren. Frau Deutsch ausserte ihrem Mann gegenüber, sie verlange ja keinen Dank für diese kleinen Wohltaten; aber bei Herrn Stadler finde sie nicht einmal Anerkennung. Ihr Gatte steilte sich aber immer entschieden auf die Seite des Hauslehrers. „Er hat eben andere Sorgen — das verstehst du nicht", hiess es oft, sehr zu Frau Rosas Verdruss; denn sie war der Meinung, dass sie alles verstehe. Was ihr nicht einging, war eben Unsinn. Auch heute, am Freitagabend, sass der Hauslehrer — was Frau Rosa Deutsch nicht ahnte und sich als Sabbathentweihung sehr verbeten haben würde — in seinem Kabinett und korrigierte an grossen Druckbogen. „Schnuuuuuuuhre nicht, Katzchen", klang es da aus dem Nebenzimmer, und wieder „schnuuuuuuuhre nicht, Katzchen, schnuuuuuuuhre schnuuuuuuuhre nicht, Katzchen, schnuuhre nicht'" Zuerst fühlte sich Josef Stadler unangenehm belastigt. Was war denn das? Es gab doch gar keine Katzen im Haus. Aber aus dem Nebenzimmer kams unentwegt- „ochnuuuuuuuhre nicht, Katzchen!" Das war doch Johannas Stimme! Leise stand er auf, leise öffnete er einen Spalt der Verbindungstür zu' ihrem Zimmer. Da stand Johanna im Dunkeln, das schmale Figürchen hob sich unwahrscheinlich zart von der Fensterscheibe ab, hocherhoben der Kopf mit zugespitzt vorgeschobenen Lippen, wahrend sie auf die im Licht emer Gaslaterne dammernde Strasse hinabsprach: „Katzchen, schnuuuuuuuhre nicht!" Josef Stadler musste lachen. Sie wandte sich. heftig erschrocken, mitten im Schnurren urn, gewahrte im Lichtspalt der Tür gegenüber ihren Hauslehrer und sagte erleichtert: „Ach, Sie sind es!" „Ja. Was machst du denn da?" Er bekommt keine Antwort. Die zarte Silhouette am Fenster geht in Abwehrstellung, stützt die Hande ruckwarts aufs Fensterbrett, zieht die Schultern hoch. Ls ist klar, sie kampfte wieder einmal ihren ewig unit usgekiimpften Kampf gegen das Schreckgespenst, gegen das falsche R. „Warum sagst du denn „schnuuuhre" und nicht einfach schnurre? Das U ist doch kurz. Warum sprichst du nicht gleich das R?" Sie gluckste beim Lachen und sagte: „Ich traue mich mcht , und fuhr fort, sanft und süss zu artikulieren: „ochnuuuuhre nicht, Katzchen." Sie wiegte und wippte auf dem U, es wollte kein Ende nehmen. Es war wirklich so, dass sie den Mut nicht fand, auf den ominösen und gefahrlichen Konsonanten überzugehen. „Das klingt aber manieriert, wenn du es beibehaltst", sagte Stadler und knipste das Licht an. Johanna gluckste wieder in sich hinein. Ihr Gesicht strahlte. Eine rote Strahne fiel ihr ins Auge, sie schüttelte sie ab. „P!" machte sie, „ich finde es hübsch. Es weiss ja niemand, warum ich es mache." Und schon sagte sie nicht mehr „warum", sondern „waruuuuuuhm". „Wenn du meinst", sagte Stadler achselzuckend. „Marianne macht es mir schon nach", tramp fte sie auf. In die Gesprachspause hinein klingen ein paar halb gesprochene, halb gesungene Worte der Mutter aus einem Gebettext. Johanna fahrt zusammen, verlasst hastig ihren Platz am Fenster und geht, an Josef Stadler vorbei, in dessen Kabinett. „Darf ich ein bisschen bei Ihnen bleiben?" bittet sie jetzt erst um Erlaubnis. Er nickt, schliesst fester, als er sonsttut, dieTürhinter sich, setzt sich wieder zu seiner Arbeit. „Ich werde Sie gar nicht storen", verspricht Johanna, nimmt in einem dunkeln Winkel auf der Holzkiste neben dem Ofen Platz und schlagt ihre französische Grammatik auf. Aber sie schaut nicht hinein, sondern redet, ungeachtet ihres Yersprechens, weiter: „Bei Ihnen riechts wenigstens nicht so ekelhaft nach Fisch wie im ganzen Haus." „Nein", sagt Stadler, ohne sich umzuwenden, und fahrt mit dem Finger über die Tischmitte, als ziehe er einen Grenzstrich zwischen sich und der Atmosphare des Hauses. ,.Es riecht überhaupt so ekelhaft hier", kommts wieder von der Ofenecke her. Stadler antwortet nicht. Aber Johanna kennt dieses Schweigen. Es ist intensivstes Zuhören. ,.Ich meine natürlich keinen richtigen Geruch", spricht sie weiter, „aber ich kanns am ehesten mit einem Geruch vergleichen. Ach, es ist scheusslich schwer, das alles zu sagen. Aber ich glaube, Sie müssen das auch schon manchmal gehabt haben." „Was denn?" „Dieses merkwürdige Gefühl, eigentlich viel schlim- mer als Abneigung viel schlimmer es ist schon mehr so etwas wie Hass." „Hass gegen wen?" fragt er weniger erstaunt als sachlich. «Gegen die eignen Angehörigen." „Wie meinst du das?" „Wenn ich Ihnen das nur richtig erklaren könnte " es stöhnt nun fast aus der Ecke, und obwohl Stadler nicht zu Johanna hinschaut, sieht er sie vor sich, wie sie sich mit ihren zehn Fingern in das ohnehin unordentliche Haar fahrt und so, die zehn Finger im Haar, mit hilflos geweiteten Augen dasitzt, „aber ich kann Ihnen das einfach nicht erklaren. Ich halte sie — meinen Bruder — meine Eltern, einfach nicht aus. Vielleicht verstehen Sie mich, wenn ich Ihnen sage, dass ich mit allen Vieren ausschlagen könnte, wenn von ihnen jemand mich anrührt oder nur in meine Nahe kommt. Ich vertrag nicht einmal die Luft, die um sie ist. Mir ist, als gehe ein abstossender Geruch von ihnen aus, obwohl ich do-ch ganz genau weiss, dass es nicht wahr ist." „Vielleicht bist du du rek irgend ein Ereignis überreizt", sagt Josef Stadler, und man hort ihm an, dass es ihm mit diesem Widerspruch nicht ernst ist, dass er sie nur weiter zum Reden bringen will. „Uberreizt!" lacht sie auf, „dann ist Marianne genau so überreizt und Mimi Zucker erst recht und Esther Jonas — alle alle sind wir dann überreizt. Aber nicht von was Ausserem. Keine Spur. Marianne mag doch ihre christliche Stiefmutter überhaupt nicht. Aber sie sagt, sie fangt erst an zu leben, seit die im Haus ist. Es gibt kein Geschrei mehr, wenn man die Butter von einem Tisch auf einen anderen stellt oder ein Zündholz an einem Feiertag anzündet. Und bei Koppels wird jetzt gekocht, was Frau Koppel bestimmt, weil es der namlich nicht einfallt zu essen„ was die alten Juden in der Wüste gegessen haben und was für Europa einfach gar nicht mehr passt." „Koscher heisst rein", murmelt Stadler mit einem undurchdringlichen Gesicht vor sich hin. „Ja schön!" bricht Johanna los, „aber mir ist es der Inbegriff von uralt, modrig und abscheulich!" „Nicht so laut!" wehrt Stadler, halb lachend. Leiser und weniger heftig fahrt Johanna fort: „Ich weiss ja, dass es bei uns sauber bis dahinaus ist, dass von morgens bis abends gerieben und geputzt wird. Aber was nützt es, dass ich es weiss? Es ist bei uns doch nicht rein, sondern modrig." „Wenn du also nicht eine wirkliche körperliche und hausliche Unsauberkeit meinst — was ist es dann — denk einmal richtig nach und drück dich klar aus", sagt seltsam hart und scharf vom Tisch her Josef. Stadler, und er arbeitet dabei an seinen Korrekturfahnen weiter, als interessiere ihn das Gesprach nur so nebenher. „Es gibt Gerüche, die gar keine sind. Ich muss es aber so nennen, weil es sonst nicht zu begreifen ist, und übrigens ist es genau so wenig loszuwerden wie ein Geruch. Es setzt sich überall fest und nimmt einem direkt die Luft zum Atmen fort. Am klarsten wird mir das immer wieder bei Mariannes Mutter. Die macht ihr doch das Leben oft schwer genug. Trotzdem ist da ïm ganzen Haus so etwas wie frische Luft. Der Yater darf nicht mehr mit dem Hut auf dem Kopf in seinem Laden stehen und noch weniger so ins Zimmer kommen. „Auf der ganzen Welt ist das eine Flegelei", sagt Frau Koppel, „nur bei euch nicht. Mach das bei den Turken, aber nicht bei mir!" Und damit hat sie recht, auch wenn wir sie nicht leiden können. Es werden auch keine Kerzen mehr am Freitagabend bei Koppels angezündet und auch nicht über jedem Glas Wein etwas gemurmelt, was man doch nicht versteht." „Ist das alles?" „Nein, noch lange nicht. Es gibt noch viel was Schlimmeres. Wie kommt es denn, dass wir uns über all das so entsetzlich schamen?" „Ihr schamt euch eurer Eltern?" fragte Stadler lauernd. „Wir schamen uns über alles. Einmal bin ich mit einer chiistlichen Mitschülerin nach Hause gegangen und traf in der Rotenturmstrasse Papa, der mit Leib Pomeranz ging. Sie wissen doch, das ist der, der die Resterhandlung in der Franz Hochedlingergasse hat und der noch mit einem Kaftan, rundem Plüschhut und mit Pejes herumlauft — kennen Sie ihn?" ,Ja. Und da hast du dich vor dem christlichen Madel geschamt?" „Geschamt — das ist gar kein Ausdruck! Ich tat, als sahe ich Papa und den Leib Pomeranz gar nicht, und fing an zu rennen, dass die Elsie Gottschlich gar nicht mitkam. Wenn aber Mariannes infamer Streich geglückt ware — damals, Sie erinnern sich, wie sie mit meiner Stimme ein paar christliche Mitschülerinnen telefonisch zum Freitagabend zu uns einlud — wenn ihr das aber gegliickt ware, hatte ich einen Herzschlag gekriegt vor Scham. Andere Kinder brauchen sich doch nicht zu schamen. Ich war da einmal bei Stefanie Hochberg. Sie war krank, und ich hab ihr die Klassenarbeit gebracht. Stefanies Yater ist Sektionsrat, und es sind richtig feine Leute. Nicht nur so ein Getue. Und ich habe bei Stefanie am Bett Tee getrunken, und ihre Mutter war dabei. Ich kann Ihnen wirklich nicht beschreiben, was für eine feine Mutter die hat. Wie sie sich bewegte, uns Tee eingoss — wie sie dann dasass und an etwas stickte und immer nur so ein Wort dazwischen warf, das uns zum Reden brachte und mir die Schüchternheit rein wegblies — wenn Sie so eine richtige Mutter, ich meine eine, auf die ein Kind stolz sein kann — wenn Sie so eine nie gesehen haben, dann kann ich Ihnen auch nicht schildern, wie — wie anders das ist. Und wie ich dann wieder über die Schwedenbrücke ging und den zweiten Bezirk vor mir sah, da kam er mir wie ein Chinesenviertel vor!" „Chinesenviertel...." spricht Stadler dem Kind nach. wendet sich ihr nun voll zu und sieht sie nachdenklich an. „Ich muss da raus!" flüsterts wieder leise vom Ofen her, „ich muss — ich muss da raus!" Stadlers Interesse aber war keineswegs ihr zugekehrt: „Sag einmal, glaubst du, dass es deinem Bruder ebenso geht wie dir?" „Er spricht nicht mit mir darüber. Aber ich denk mir mein Teil über ihn. Er ist doch fast nie zu Hause, gerade nur, urn Schularbeiten zu machen. Und sonst zieht er immer mit christlichen Madeln herum, und eigentlich laufen ihm die direkt nach. Als ich ihm das einmal vorhielt, hat er gesagt, das versteh ich nicht. Aber er muss mich für dümmer halten, als ich bin; denn ich verstehe es ganz gut." „Wenn du es also verstehst"- Stadler blattert in einem Buch, scheint über etwas nachzudenken und fragt dann zögernd, aber trocken und sachlich: „Dann magst du mich demnach auch nicht?" „Sie? ' fragt Johanna erstaunt zurück, „Sie? Aber Sie zahlen doch da überhaupt gar nicht mit, so hoch stehen Sie! Eigentlich halte ich Sie direkt für etwas Heiliges." Obwohl hier Stadler eine nervöse, beinah gereizte Abwehrbewegung macht, redet sie hastig weiter: „Ich muss Ihnen einmal etwas erzahlen: ich wollte immer so gern wissen, was ein Heiliger tut, wenn er allein ,st _ wie das aussieht, wenn ihm so die ganz grossen Gedanken kommen, mit denen er einmal die ganze Welt umkrempeln wird. Und da hab ich durchs Schlüsselloch geschaut. Aber da hatten Sie gar keine grossen Gedanken, sondern Sie sassen am Tisch und assen. Natürlich weiss ich, dass Sie essen und schlafen und trinken müssen wie andere Menschen. Ich hab es mir nur nie vorgestellt. Und nun sah ich das plötzlich. Sie assen ganz genau wie ich und andere Menschen auch. Das warf mich direkt um. Noch tagelang da- 4 nach war mir ganz dumm und blöd im Kopf. Sooo heilig, wie Sie vorher für mich waren, sind Sie nun nicht mehr — aber trotzdem noch sehr heilig/' „Das ist wirklich höchst merkwürdig", sprach Stadler auf seine unbeteiligte Art, „aber sag einmal, warum erzahlst du mir das denn alles?" „Weil es die Wahrheit ist. — Warum lachen Sie denn jetzt?" „Seit wann hast du denn so einen heftigen Drang zur Wahrheit? Deine Mutter klagt doch standig über deine Verlogenheit und deine heillose Aufschneiderei." „Ach so sie hat mich wohl schon wieder bei Ihnen ausgerichtet und Ihnen die Sache mit dem Onkel in Paris erzahlt?" „Ja. Das hat mir deine Mutter allerdings mitgeteilt. Was war denn das schon wieder?" „Ach — natürlich ist es nicht wahr — ich habe ja gar keinen Onkel in Paris. Ich habe ihn mir eben nur ausgedacht. Er war ein bisschen wie der Onkel Jason in Jettchen Gebert. So einen Onkel wollte ich schon lange haben, und dann hatte ich ihn eben eines Tages. Ich sah ihn ganz deutlich vor mir. Natürlich noch viel grossartiger als der Onkel Jason. Denn wenn ich etwas schön finde, finde ich es gleich furchtbar schön. Ich weiss ja ganz genau, dass es nicht wahr ist; aber die Mama tut mir Unrecht, wenn sie sagt, ich lüge und schneide auf; denn in mir ist es doch so — in mir ist es doch wahr! warum lachen Sie denn jetzt schon wieder?" „Weil, was du sagst, wirklich wahr ist." An diesem Freitagabend gab es eine kleine Störung, ehe man sich der gewohnten Sabbathruhe hingeben konnte. Selma, das Lehrmadchen, hatte im Treppenhaus einen von Stadler verlorenen, von seiner Hand korrigierten Druckbogen gefunden und der Chefin übergeben. Frau Rosa las ihn neugierig durch. Aber sie kam nicht auf ihre Kosten. Es war, in ihren Augen, lauter wirres Zeug. Nur eine handschriftliche Anmerkung erregte ihr Interesse. „Ich verweise auf " es folgte ein unleserlicher Name, dann ein Doppelpunkt und in Anführungsstrichen der Satz: „Die Abneigung gegen die Geschlechtsgemeinscliaft mit seinesgleichen lasst sicli schon an einzelligen Wesen beobacbten. Individuen einer Kultur, die durch fortgesetzte Teilung aus einem Urexemplar hervorgegangen sind, konjugieren sich niemals, wohl aber kommt es sofort zu einer Konjugation, wenn sie mit den Individuen einer andern Kultur zusammentreffen. Das gleiche Gesetz beobachten wir bis hinauf zum Menschen." Das las Frau Rosa immer wieder und stürzte dann, den Bogen in der Hand, dem eintretenden Gatten entgegen. Mit zornglühenden Wangen, kaum, dass sie sich Zeit liess, „gut Schabbes" zu wünschen, rief sie: „Nun schau dir das an! Sowas schreibt dein Hauslehrer!" „Die Abneigung gegen die Geschlechtsgemeinschaft mit seinesgleichen " las Herr Deutsch vor sich hin, stutzte, las sah von dem Blatt auf und zu der vor ïhm stehenden kleinen, dicken Frau, deren machtiger Busen anscheinend der Segnungen ihrer selbstfabrizierten Büstenhalter nicht teilhaf tig wurde. Herr Deutsch umfasste die Gattin mit einem langen Bliek, in dem ein kleiner Reflex ist von der Spitzbübe- rei in Johannas Augen, schaut wieder auf den ominö sen Satz und nochmals auf die Gattin und sagt: „Stimmt." Im Alter von vierzig Jahren kokettieren selbst erfolgreiche Manner gern mit der Idee, ihren Beruf „eigentlich" verfehlt zu haben. Der Richter gefallt sich in der sentimentalen Anwandlung, er sei „eigentlich zum Yerteidiger beruf en gewesen — und er fahrt fort, Urteile zu fallen. Der Geistliche sehnt sich nach der Politik, der Kaufmann kommt auf seine schone Stimme zurück, der Arzt auf seine Neigung zur Botanik. Dies alles stellt so den behaglich sehnsüchtigen Seufzer des Erfolgreichen dar. Herr Deutsch aber, Johannas Yater, hatte es gut; denn er war ein Mann ohne allen Erfolg. Seiner Sehnsucht war nicht jenes Behagen beigegeben — sie war echterer Art, und sie war auch reicher. Der Gebiete, auf denen er „eigentlich" hatte etwas leisten können, waren Legion. Da war vor allen Dingen einmal das Universitatsstudium, von dem der arme Leopoldstadter von vornherein ausgeschlossen war. Und doch war in seinen Augen jeder akademische Grad nicht nur ein sozialer Glorienschein, sondern auch ein Waffenpatent auf samtliche schweren Geschütze des Geistes, mit denen der Inhaber nach Herzenslust manövrieren konnte. In diesem Licht sah er auch den Hauslehrer seiner Kinder. Herr Deutsch hatte es nicht weiter gebracht als bis zum Yertreter einer Textilwarenfabrik, und das war für seine arbeitsscheue Natur die angenehmste Art, nichts zu tun. Was richtige Arbeit ist, wusste er kaum. Er koniite tagelang vorher über jeden geschaftlichen Schritt stöhnen und über jeden notwendigen Brief jammern. Passierte es, dass er einmal bei schlechtem Wetter einen Kunden besuchen musste, so nannte er das ingrimmig, „sich bei Wind und Wetter auf der Landstrasse herumtreiben — und alles für die Kinder. In der Tat hatte dann das ganze Haus Mitleid mit ihm. Dass in Wirklichkeit er und die gesamte Familie von den Ertragnissen des Miedersalons lebten, davon nahm niemand Notiz. Am wenigsten er. Er batte eine hohe Meinung von seinen beruflichen Leistungen. Daran, dass nichts nacb Wunsch ging, war, nach seiner Auffassung, keineswegs er schuld, sondern „die Zeiten" oder „die Konkurrenz". Im übrigen empfand er eine tiefe Befriedigung in der Yorstellung, was aus ihm hatte werden können im Besitz besagten Waffenpatents. Er sonnte sich gewaltig in der Erinnerung, wie man einst seinen Yater in die Schule zitiert hatte, um ihm zu raten, den Sohn einer höheren Lehranstalt zu übergeben zum Zwecke eines Studiums. Herr Deutsch gab diese Tatsache seinen Kindern oft mit den glanzendsten Ausschmückungen zum besten und sie war, in Ermangelung der richtigen, immerhin auch eine Art von Matura. Herr Deutsch war durchaus überzeugt, dass seine Frau an ihm eine glanzende Partie gemacht habe, und ihr kam gar nicht in den Sinn, etwas anderes anzunehmen. Bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit erteüte er seiner Frau freigebig seinen Rat in geschaftlichen Fragen, etwa beim Einkauf von Stoffen, Spitzen und sonstigen Materials — und oft musste ihm der Glaube in sich selbst die mangelnde Fachkenntnis ersetzen. Seine Frau, in angeborener Gutartigkeit, ver- gass fast automatisch seine Missgriffe, und er verfehlte nie, sie bei jedem Anlass zu erinnern, wenn sein Rat ihr vielleicht auch einmal von Nutzen gewesen war. Sie erkannte das gern an, schatzte ganz besonders seine exakte Buchfiihrung, und so kam es, dass dieser an sich arbeitsscheue und fast nichtstuende Mensch sich in seinem Hause doch wie ein König vorkam, auch wenn ihn seine Frau, mehr instinktiv als aus Absicht, nicht an die Regierung liess. Sie bestatigte ihn in seiner Uberzeugung, er sei eigentlich „die Seele des Geschafts", und er dankte ihrs, indem er von den Kindern verlangte, sie sollten „alle Hochachtung" vorm Fleiss der Mutter haben. Eine Forderung übrigens, die jedes kindliche Gemüt nur als Redensart hinnimmt und bewertet. Herr Deutsch hatte aber den typisch jüdischen Respekt vor der geistigen Leistung eines Menschen. Aus gelegentlichen Gesprachen mit dem Hauslehrer glaubte er herausgehört zu haben, dass er ein Buch über die Juden und die Frauen geschrieben habe. Es war Herrn Deutsch eine Ehre und eine Genugtuung, dass unter seinem Dach solch grosse Dinge vor sich gingen, und seine Achtung vor Josef Stadler stieg noch mehr. Zwar hielt er ihn für einen et was verworrenen Sonderling, aber für hochbegabt, fürchtete nur manchmal, er könne sich zuviel zumuten. Jedenfalls nahm er ihn stets gegen die Angriffe seiner Frau in Schutz. Sie fand immer wieder etwas an dem Hauslehrer auszusetzen und blieb ihm gegenüber voll Misstrauen. Ihr war unbegreiflich, wie ein junger Mensch „von heute" nur Sinn für alte, dicke Folianten haben konnte und womöglich noch selber sowas schrieb. Mommsen und Nietzsche und Schopenhauer und Hegel, lauter solche treifenen Bücher standen da herum. Nicht ein einziger ordentlicher Roman zur Unterhaltung und Zerstreuung. Frau Rosa verlangte von einem jungen Menschen, dass er modern zu sein habe, und ein moderner Mensch ïhrer Auffassung spielte in seiner freien Zeit ein wenig Klavier oder fuhr Rad. Auch ein Theaterbesuch dann und wann konnte nicht schaden. Von all dem aber war bei Josef Stadler nicht die Rede. Nicht einmal mit einem jungen Madchen sah man ihn. Selma, das vorwitzige Lehrmadel, das die Nase überall hat, wollte wissen, dass er mit einer Nachbarin aus ïhrem Haus schlechte Erfahrungen gemacht habe; aber Frau Rosa hielt ihn nicht einmal schlechter Erfahrungen mit dem schonen Geschlecht fahig. Er hatte auch keine Freunde, kannte seine Kollegen nicht naher. Das war kein Mann, wie er sein soll, dachte Frau Rosa oft, bei dem ist nichts auf dem rechten Fleck, wos hingehört. Und was er zusammenliest in seinen treifenen Buchern — das kann kein gutes Ende nehmen.... Mit Bedenken solcher Art lag sie ihrem Mann oft genug in den Ohren, und darüber hinaus machte sie sich über ihren Hauslehrer noch ihre eigenen Gedanken. In Marianne Koppels EIternhaus gab es keinen Hauslehrer. Frau Koppel nannte das „Uberschwenglichkeiten , und solche duldete sie nicht. Mariannes Stiefmutter, das ehemalige Fraulein Mizzi Kutschera, entstammte einer kleinen christlichen Beamtenfamilie. Kindererziehung hatte im Hause Kutschera nicht viele Register: Ohrfeigen, ein Stück Kuchen und das vierte Gebot. Das vierte Gebot wird, wie meist, missverstanden und ein wenig gehandhabt wie eine Erpressung: auf dass es dir wohlergehe auf Erden". Vorerst ergeht es den Kindern nicht allzuwohl. Nie erfahren sie wirklich, was von ihnen erwartet und verlangt wird, und, ernstlich befragt, wüssten ihre Erzieher es selbst nicht anzugeben. „Respekt sollt ihr vor euern Eltern haben und nicht immer im Weg sein —" ist eine Aufforderung, die fast taglich an sie ergeht, den Kindern kaum verstandlich. Sie wissen weder, was sie respektieren sollen, noch, wie sie sich, da sie doch einmal da sind, aus dem Weg raumen sollen. Wenn man will, sind diese beiden elterlichen Forderungen dennoch so etwas wie ein Programm: die eigene Bequemlichkeit. Sie ist im kleinbürgerlichen Milieu, von dem hier die Rede ist, der Ausgangspunkt für alles. Wird sie in Frage gestellt, so wachsen die Ohrfeigen geradezu in der Luft. Dass die Kinder sie oft gar nicht verdienen, wissen die Erzieher recht wohl. Aber der Sprachschatz der Sprichwörter und Redensarten nimmt einem das Denken ab. „Schade der Schlag, der vorbeigeht — das haben meine Eltern schon gesagt, und wir sind dabei alle gross und stark geworden —In welcher plebejischen Kinderstube, die sich sehr wohl auch innerhalb einer Zehnzimmerwohnung befinden kann, hat es diesen Satz nicht gegeben? Das war immer so. Das wird immer so bleiben. Eine unerzogene Menschheit wird auf Kinder losgelassen, formt sie nach ihrem unentwickelten Ebenbild und verlangt dafür Hochachtung und Respekt. Hier wuchs Mizzi Kutschera, die nachmalige Frau Koppel, auf. Sie war nicht glücklich, und sie war auch nicht unglücklich. Da sie es oftmals hörte, nahm sie zur Kenntnis, dass die Eltern ihre Pflicht an den Kindern voll und ganz erfüllten. Sie war praktisch, ordentlich, und von ihrem Gemüt legt wohl am besten eine kleine Begebenheit Zeugnis ab: wahrend die Geschwister jeden Heller, dessen sie habhaft wurden, vernaschten oder im Prater beirn Ringelspiel ausgaben, besass die damals Vierzehnjahrige eine Sparbüchse, in der sie die gelegentlichen kleinen Geldgeschenke aufbewahrte» Mizzi gonnte sich nicht das geringste Yergnügen — alles wanderte in ihre kleine Kasse. Nach dem Zweck | er Ersparnisse befragt, gab sie nnbefangen Ausunft: von diesem Geld beabsichtigte sie, sich ein irauergewand anzuschaffen, wenn der Yater oder die Mutter sterbe. Dem ist noch hinzuzufügen, dass sich beide der besten Gesundheit erfreuten, was indessen Mizzis praktischen Sinn nicht von ihrem Vorhaben abhielt. Aus diesem Milieu und von solchen Anlagen war Frauein Kutschera, aus der Mariannes Stiefmutter wurde. Der Name Mizzi passte übrigens nicht recht zu ihr. tme Mizzi muss zuallererst heiter sein, und auch das Mollerte - worunter man drall und rund versteht, und das Wort kommt wahrscheinlich aus dem französischen mollet — ist für eine Mizzi unerlasslich. Aber beides war Mizzi Kutschera nicht. Als sie Herrn Koppel kennen lernte, war sie schon in jenem vorgerückten Alter, in dem sie nicht mehr damit rechnete, sich einen Gatten aussuchen zu können,sondernzuneh'men, was ihr das Leben übriggelassen hatte. So war sie immerhm fr°h ihren ermüdenden Kassierposten in der K. affeehandlung Meinl aufgeben und den wohlhabenden Inhaber eines kleinen Wirkwarengeschaftes in der laborstrasse heiraten zu können. Sie hatte sich bereits damit abgefunden, dass ihr höchstens noch einmal ein itwer mit Kind beschieden sein würde; denn sie war me hubsch und immer über ihre Jahre hinaus verwit- tert. Dass dieser Witwer init Kind aber aucli noch ein Jude war, daran gewöhnte sie sich nur mit grosser Uberwindung. Ebenso ihre Angehörigen. Ihr Vater erklarte rundheraus, so ein Ausbeuter, Wucherer und Menschenschinder, wies die Juden alle seien, komme ihm nicht ins Haus. Doch seine Frau beschwichtigte. Begabt mit Verstandnis für das Zunachstliegende, hatte sie sich. als Kundin, den Laden ihres künftigen Schwiegersohns angesehen. Hochbefriedigt von dieser Augen-Inventur kam sie nach Hause und steilte ihrem Gatten vor, wie vorteilhaft diese Verbindung für alle Teile sei. Die berechtigte Frage, was er wohl von einem Eisenbahnbeamten als Schwiegersohn habe, und ob er sich vielleicht Schienen in die gute Stube legen lassen wolle, gab ihm zu denken. Das Resultat war, dass der Aufnahme Herrn Koppels in die Familie Kutschera nun nichts mehr im Wege stand, und eines Sonntags wurde er als Brautigam zum Kaffee empfangen. Diese Begegnung zeichnete sich durch eine Besonderheit aus. Namlich nicht nur die Familie Kutschera, sondern auch Herr Koppel, also beide Teile, sahen in diesem Besuch für sich einen Akt ausgesprochener Herablassung. Selbst der kleinbürgerliche Jude hat einen ganz aristokratischen Hochmut jedem sozial gleichgestellten Christen gegenüber. In diesem Falie könnte ihm nicht einmal Geld imponieren — er fühlt sich ihm überlegen. Vielleicht kommt es daher: des Juden Dasein war seit Generationen mit Vorbedacht geregelt und logisch aufgebaut. Die Halfte des Tages gehorte der Arbeit und die andere Halfte dem Erfassen und Diskutieren aller Lebensfragen — falsch oder richtig gesehen — CS war geistiges Training von enormer Spannkraft. Und es bestand für den Juden innerhalb seiner Gemeinscliaft schon ein strenger Schulzwang, als der benachbarte Christ Lesen und Schreiben noch für Teufelswerk und Hexerei hielt. Herr Koppel wusste so genau nicht, worauf er stolz war. Ihm fehlten für seinen Stolz eigentlich alle Yoraussetzungen und Unterlagen. Streng genommen, war er nicht einmal Nutzniesser dieses geistigen Trainings vieler Jahrtausende. Aber auch Enkel grosser Eroberer, die nichts geleistet haben, leisten sich immerhin den Stolz auf ihre Yergangenheit. Und von diesem Gesichtspunkte aus war es eben ein Akt von Herablassung, dass sich Herr Koppel zu seinen künftigen Schwiegereltern am Margaretengürtel begab. Es gab Kaffee und Gugelhupf, und Herr Koppel ekelte sich ein wenig, von dem Kuchen zu essen, wie seine neuen Verwandten sich ein paar Tage spater ekeln würden, bei ihm etwas zu geniessen. Er vermutete überall Schweineschmalz, was ihm grasslich war, und in den Kutscheras wiederum klang ganz zutiefst etwas von der Mar, dass die Juden irgendwann irgendwas mit Christenblut backen. Aber das alles würde sich geben. Schon der erste Besuch zeigte, dass man einander doch nichts vorzuwerfen hatte, dass keiner dem andern Böses wollte, und alles liess sich recht gut an. Es gab eigentlich nur eine kleine Entgleisung des Vaters Kutschera. Im Bestreben, den Gast zu unterhalten, liess er den Hund des Hauses ein Kunststück vormachen. Herr Kutschera legte dem ziemlich hoch- und gradbeinigen Dackel ein Stück Kuchen hin mit der Weisung: „Nimm nicht, es ist vom Juden!" Aber das steilte lediglich einen Dressurakt dar und war wirklich ganz ohne alle Nebenabsicht gesagt; denn die ganze Familie, Yater Kutschera an der Spitze, nahm dann spater recht gern und oft und viel vom Juden. Frau Mizzi Koppel liebte ihre Stieftochter nicht; aber sie hatte auch keine ausgesprochene Abneigung ihr gegenüber, und zu eigenen Kindern ware sie soviel anders nicht gewesen. Ihrer Gemütsdürre waren Gefühle nicht gegeben. Sie war aber fest entschlossen, an dem „mutterlosen Kind" ihre Pflicht zu tun. Vor allem verlangte sie von Marianne unausgesetzt guten Willen und Gehorsam. Kinder stumpfen indessen gegen alles, was ihnen gedankenlos und oft gesagt wird, ab, und ohne Liebe als Yoraussetzung ist bei ihnen überhaupt nichts zu erreichen. Bei einem Madchen, das, wie Marianne, sich schon seine eigenen und höchst selbstandigen Gedanken machte, stiess sie nur auf Widerstand, selbst wo Marianne einsehen musste, dass die Mutter im Recht war. Frau Koppel begann als erstes einen wahren Feldzug gegen alle „Czernowitzer Unmanier", wie sie sich bald, ohne alle überflüssige Rücksicht auf den Gatten, ausdrückte. Sie affte Marianne nach, wenn sie in den bewussten Tonfall verfiel oder in den auf Leopoldstadter Manier verpatzten Satzbau. Das hatte zur Folge, dass Marianne heftig widersprach, hinter der Mutter her lachte und eine Weile absichtlich so übertrieben mauschelte, wie selbst der Vater es kaum je gehort hatte. Und trotzdem nahm sie das neue, ganz andere Element der Mutter fast durstig in sich auf. Alles, was ihr vom Yater anhaftete, fiel ab, und die Frau, die nicht ihre Mutter war, setzte sich in ihr durch. Natürlich passte Frau Koppel auch Mariannes Um- gang mit Johanna nicht. Aber schon aus Trotz schlossen sich die Madchen, seit die Stiefmutter das Regiment führte, nur noch enger aneinander an. Dennoch ist es schwer zu sagen, wie Johanna und Marianne zueinander standen, ob sie wirklich Freundinnen waren. Manchmal sah es ebensogut nach dem Gegenteil aus. Sie hatten sich gleich am ersten Schultag angefreundet. Und vom ersten Schultag an war da auch schon das Fluktuieren ihrer Beziehung. Es war in gar keiner Hinsicht die übliche vorbehaltlose Kinderfreundschaft. Sie war schon den vielen Schwankungen ausgesetzt, denen die meisten Frauenfreundschaften im Ablauf der Dinge unterliegen. Oft schien es, als seien die beiden unzertrennlich und als bilde sich hier eine tiefe und innige Zusammengehörigkeit heraus, die ein ganzes Leben lang anhalten werde. Dann wieder massen sich die beiden mit hasserfüllten Blieken oder sahen noch hasserfüllter an einander vorbei. In der Klasse wusste man nie, ob sie sich gerade böse oder gut waren. Immer gab es Reibereien zwischen beiden aus unergründlichen Anlassen, die dann plötzlich wieder beigelegt und vergessen, sogar jedem andern gegenuber bestritten wurden. Es konnte vorkommen, dass Marianne und Johanna eben noch eifrig tuschelnd und lachend Arm in Arm gesehen worden waren — „Liebe und Waschtrog" nannte man diese Art innigen Einvernehmens in der Klasse — und fünf Minuten spater machte jede ihr Erscheinen bei einer Kinderjause, zu der sie gerade gebeten wurden, davon abhangig, dass die andere wieder ausgeladen würde. Schon am nachsten Tag, wenn vielleicht zufallig die Freundin m der Schule fehlte, lief die andere wie ein verlorenes Schaf in den Pausen herum, nicht imstande, sich Dritten anzuschliessen. In diesen Widersprüchen kannte sich niemand in der Klasse aus, am wenigsten wohl Marianne und Johanna selbst. Ein weiteres Phanomen war die Ahnlichkeit zwischen beiden. Marianne war wohl grösser und etwas breiter als die unwahrscheinlich zarte Johanna; aber die leicht slawisch zugeschnittene Gesichtsflache war beiden eigentümlich, ebenso die kleinen geraden Nasen, die sie immer, wie neugierig schnuppernde junge Hunde, hocherhoben trugen. Mariannes Haar war dunkier, hatte aber doch etwas von Johannas Kastanienschattierung. Dass ihre Augen blau waren und nicht braun wie die Johannas, vergass man fast, weil sie oft verhangen und dunkel waren von tiefen Grübeleien und allerlei vagem Herumraten um Dinge, deren Kern sich diesem Alter noch nicht recht erschliesst. Eigentümlich war auch beiden eine sonderbar verangstigte, in sich gekehrte Haltung, unentschlossener Gang, alle Bewegungen und am meisten die Stimme. Wenn sie miteinander böse waren, beschuldigte jede die Freundin, sie affe ihr nach. Aber das konnte nie bewiesen werden. Besonders ihre Stimmen konnte kein Mensch in der Klasse unterscheiden, so oft man auch Proben unternommen hatte. Johanna und Marianne hatten die selbe zwischen Höhe und Tiefe schwebende fragende Stimme, die rauh war und doch melodisch, spröde und schmelzend, sprunghaft unrhythmisch und ebenmassig dahinfliessend. Nicht ganz mit Unrecht sah Frau Koppel in Johanna die Anstifterin zu allerlei Ungehorsam und Aufsassigkeit ihrer Stieftochter. Frau Koppel hatte einen schweren Standpunkt. Für ihr padagogisches Repertoire waren die beiden Madchen entschieden zu wach. Man konnte ihnen gegenüber nicht immer mit gezücktem viertem Gebot losgehen. Sie sind unerzogen, gewiss; aber für die Begriffe der Kinder ist es Frau Koppel ebenfalls. Was die beiden von jeher umgab, ist Arbeit und Geldverdienen und alle Notwendigkeiten des Tages, und was Frau Koppel ihrer Toch ter zu geben vermochte, ist das gleiche — nur nicht in Leopoldstadter Mundart, sondern nach den Gepflogenheiten des Margaretengürtels. Die Madchen haben aber einen wahren Heisshunger nach anderem. Was, das wissen sie nicht; aber das jedenfalls dammert schon jetzt manchmal in ihnen: mit dem, was ihnen an Erziehung zuted wird, können sie vielleicht nichts Besseres anfangen, als es so rasch wie möglich zu drei Vierteln zu vergessen. Ohne sichs einzugestehen, ist es aber gerade diese wache Hellhörigkeit, die Frau Koppel an Marianne zutiefst reizt: denn dies verhindert alle Arten von Einschüchterung — von Frau Koppel mit „kindlicher Bescheidenheit" verwechselt — und hier gibt sich nicht einmal die Religion zum Missbrauch der Jugend her. Hier wehrt man sich eben mit Macht und mit jedem Mittel gegen Yerbitterung und Yersauern. Frau Koppel durchschaut die Dinge nicht, und ihre allgemeine Ratlosigkeit rettet sich gelegentlich in hass- erfüllte Ausbrüche gegen Johanna. Dies Gefühl ist nur dem einer ohne Würde alternden und unter Zwang abdankenden Frau dem jungen Madchen gegenüber zu vergleichen. Dieses Gefühl ist Ohnmacht gegen etwas kraftvoll Aufblühendes. Der Jude nun ist uralt und doch immer wieder jung, denn sein ganzes Sein ist darauf gestellt, dass ihm immer nur eine kurze Ruhepause über ein, zwei Gene- rationen gegönnt ist. In dieser Zeit lebt er dreifach: für sicb, für die, die vor ihm den Winterschlaf des Ghettos hielten, für die, die ihn nach ihm wieder halten werden. Der Jude m u s s dreifach leben, und darum geht bei ihm alles schneller, lauter, bunter zu; denn in dieser kurzen Spanne Zeit muss er nachholen und vorauseilen. Seit zweitausend Jahren. Denn dies ist sein Schicksal und seine Bestimmung: er hat im Grunde genommen nichts anderes zu tun, als immer wieder hochzukommen. Seit zweitausend Jahren. Es ist dasWien der ausgehenden Luegerepoche. Schnell nach dem Taumel der Judenbefreiung hatte man überall in der Welt sich wieder erinnert: Jude war ein Schimpfwort. Machtige Krafte des Geistes und des Lebenswillens hatten sich ehedem hinter den verrammelten Ghettotoren gestaut. Als man sie öffnete, schoss es wie eine heisse Welle von Energie und Kraft daraus hervor, wohl allzu heftig, allzu lebensgierig. Die Herauskommenden hatten nichts gefühlt als die beglückende Leidenschaft ihres neuen Europaertums. Überall, wo Gehirn, Zahigkeit und Passion verlangt wurden, sassen sie nun. Lueger sagte, sie diktierten die Welt, beherrschten Kapital, Wissenschaft, Kunst und Presse. Sie merkten kaum etwas von dieser neuen Missliebigkeit. Hatte man ihnen denn nicht die Glcichheit gegeben? Sie sahen nur ihr Recht, das neue, verbriefte. Dass es klug sein konnte, von einem Recht nur massigen Gebrauch zu machen.klug und weitsichtig — die Wenigsten dachten daran. Als schon wieder Hass rings um sie herum war, waren sie ahnungslos. Als der Hass losfuhr und aufspritzte, waren sie entsetzt, sprachen nur vom Recht. Im Osten Pogrome. In Frankreich vereinigten sich Priester und Generale, um die überhastete Gleichmachung zurückzudrehen. In Deutschland reiste der geisteskranke „Dreschgraf" durch die Lande und empfahl, dem krummen Isaak die Gedarme herauszureissen und die dicke Sarah an den Baum zu hangen. Der liberale Kaiser schmunzelte dazu, mit einem Auge tadelnd. Im Oriënt grub man Steintafeln aus der Erde, und schon mussten sie beweisen, dass die Juden den Dekalog gestohlen hatten. Und diesmal tadelte nicht einmal mehr eines der Augen des Kaisers, sondern er begrüsste, dass der Nimbus des auserwahlten Yolkes schwinde. So sah die neue Welt der Juden aus. Ein Teil von ihnen zog sich erschreckt ins Ghetto zurück. Ein anderer versuchte sich in der Kunst der Mimikry. Alles Leid kam aus der Schule. Seit damals statt Johannas Name der von Friederike Skriebitsch gefallen war, seit man Johanna um „ihren" Monolog betrogen hatte, seither war ihr die Schule völlig verleidet. Sie genoss es nicht einmal, dass viele Unterrichtsstunden wegen der Proben zur Feier geopfert wurden. Die einzige Mitwirkung, die von ihr verlangt wurde, war die in der dritten Stimme des Chors. Hier aber streikte sie ganz offensichtlich und presste herausfordernd die Lippen fest aufeinander. Den Lehrern entging ihr erbitterter Protest nicht. Sie kannten dessen Ursache und hielten es für das Beste, zu tun, als ob sie nichts bemerkten. Es waren böse Wochen für das Kind, und es litt unbeschreiblich. So kam der lag der Generalprobe heran. Friederike Skriebitsch trug bereits das Kleid, das sie bei der Feier 5 tragen wollte, ein weisses Cheviotkleid mit blauem Matrosenkragen. Sie wirkte darin wie ein bis zum aussersten in die Lange gezogener Weihiiaehtsengel aus Gummizucker. Friederikes Mutter hatte in der Absicht, die Toch ter zu verschönern, Friederikes hellblondes Haar mit der Brennschere bearbeitet. Es war aber ein Brennschere aus der Mutter Jugendzeit, und sie hatte in dein weichen hellen Haar das angerichtet, was man gelegentlich noch in den Schaukasten von Kleinstadtfotografen als Festfrisuren provinzieller Konfirmandinnen und Braute bewundern kann. Die Wiener Madels standen ratlos um Friederikes Haaraufbau herum. Friederike war nicht gerade beliebt unter ihren Mitschülerinnen, und ein wenig gönnte man ihr diese Niederlage. Andrerseits war man doch daran irgendwie mitverantwortlich. Sie gehorte, schliesslich, zur Klasse. Warum sie nur „schliesslich" zur Klasse gehorte, hatte man so auf Anhieb nicht sagen können. Man hatte nichts fiir und nichts gegen die Deutschen. Dreizehnjahrige Madel geben sich über solche Fragen, glücklicherweise, noch keine Rechenschaft. Aber man nannte sie, nicht offen, sondern insgeheim — was schwerer wog — „eine Piefke". Diesen Namen führen die Reichsdeutschen, vornehmlich die Preussen, in österreich. Es ist kein wohlmeinender Ubername wie „Tommy" oder „Yankee'. Mit Piefke will man wohl diese besondere Wesensart kennzeichnen: pfiffig und vorlaut, statt klug, und es drückt auch wohl etwas von dem forschen Draufgangertum des Deutschen aus, und von all dem will der Wiener halt nichts wissen. Vielleicht war es zunachst Friederikes Ausseres, das ihren Kameradinnen missfiel. Sie war gross, flach, breit und stach sehr gegen die anmutigen, beweglichen Wienerinnen ab. Jeder ihrer Schritte mass einen halben Meter, und das gab besonderen Anlass zu Spott. Dazu kam die Sprache. Friederike sprach ein korrektes Hochdeutsch; aber gerade das geht den Wienern auf die Nerven. Sie vertragen kein korrektes Deutsch. Sie wollen ihre Art der Sprache, und sie wollen auch weiterhin in Seelenruhe sagen können: ich habe den Hut am Kopf — ich gehe bei der Tür herein — schaue beim Fenster heraus — ich lies ein Buch — und ich kann ihm (mit Bezugnahme auf ,eahm') nicht leiden. So hat man in Wien immer geredet — beim Greisler und in der hohen Aristokratie. Des Wieners besondere Abneigung aber gilt dem Imperfektum. Das rangiert glattweg als Zungenfehler. Aber dies alles hatte man noch hingenommen, wenn da nicht dieses besondere Idiom gewesen ware, dieser bekannte preussische Tqnfall. Nirgends liebt man ihn. Seine Kadenz und die des Jiddischen sind wohl von allen Dialekten der Erde die, über die man die meisten Witze macht, und denen man am meisten aus dem Weg geht. Das eine wird eben als „deutsch" empfunden, und das andere gleichfalls als zu anmassend. Beim österreicher hat es mit dieser Abneigung noch eine besondere Bewandtnis. Die norddeutsche Aussprache passt ihm nicht in die Landschaft, passt nicht zu der Heiterkeit seines Barocks. Sie passt nicht zu seinem heurigen Wein und nicht zu seinen Volksliedern. Der Preusse stampft seine Sprache, der österreicher singt sie, singt jedes Wort noch mit hinein ins nachste. Für eine Schulklasse, und vielleicht darüber hinaus, ist das ein wesentlicher Unterschied. Liebe und Sympathie gehen die verschiedensten Wege. Das Ohr ist auch einer, wahrscheinlich sogar keiu Seitenweg, und wie man zu sagen pflegt, man könne jemanden nicht riechen, sind Abneigungen viel öfter damit zu begründen, dass man jemanden nicht hören kann. Nichts war so komisch wie die Versuche der Klasse, es Friederike gleichzutun und im Berliner Dialekt zu reden. Dann sprachen die Madels nicht, sondern gurgelten ihre Worte vielmehr ganz hinten aus der Kehle vor. Es geht ihnen nicht allein so: es gibt kaum österreicher — Schauspieler vielleicht ausgenommen — die das Berliner Idiom auf andere Weise wiedergeben. Die Laute, die sie dafür halten, sind schauerlich, aber übereinstimmend schauerlich. Dabei sind österreicher enorm sprachbegabt für Französisch — sehr im Gegensatz zu den Deutschen — die Nasallaute, an denen man sofort den Deutschen erkennt, machen dem österreicher nicht die mindesten Schwierigkeiten. Auch ltalienisch liegt ihm und Englisch — nur nicht Reichsdeutsch — das können sie beim besten Willen nicht. Aus der Art, wie sie übereinstimmend gurgeln und wurgen, geht hervor, dass sie es so hören. Im österreichischen Ohr muss sich gegen diese Sprache eine Zwischenschaltung befinden. Wenn Friederike „Po'esieh" sagte oder — Leopoldstadter Dialekt mit umgekehrten Vorzeichen — ihr nach U hin abgedecktes I oder ihr an ö erinnerndes E sprach, so gab das kaum weniger Anlass zu Heiterkeitsausbrüchen als Johannas „Spazier". Friederike war keine glanzende Schülerin, man konnte ihr keine Streberei nachsagen, sie war auch auf eine forsche und kurz angebundene Art gefallig und gutartig. Man konnte ihr beim besten Willen nichts Konkretes vorwerfen; aber man mochte sie nicht. Und die christlichen hohen Beamtentöchter mieden sie so, wie man in ihren Kreisen in deutschen Schulen Jüdinnen zu meiden pflegte. Ubrigens gab es einen Punkt, in dem sie die ganze Klasse übertraf — das war ihre peinlich gewissenhafte Ordnungsliebe. Nie kam sie zu spat, nie hatte sie ein Heft, eine Aufgabe vergessen. Ihre Arbeiten, ihre Bücher waren stets vollendet sauber, ihre Schultasche. ihr Etui fiir Bleistifte und Federhalter nach einem wahren System geordnet. Hier war sie wirklich unerreichbar, und auch ihr Gedachtnis funktionierte in dieser Hinsicht wie ein Prazisionsapparat. Die Lehrer konnten sich blind auf sie verlassen. Wenn sie vergessen hatten, wo man stehn geblieben war — Friederike wusste es. Wenn man versehentlich ein Thema wiederholte, Friederike merkte es sofort und steilte es richtig. Oft wusste sie die betreffende französische oder englische Regel selbst nicht; aber sie wusste auswendig die Seite und den Abschnitt, wo sie in der Grammatik zu finden war. Die Lehrer schatzten gewiss diese Qualitaten, aber manchmal waren sie ihnen zu eklatant und etwas lastig. Anfanglich hatten sie Friederikes Ordnungsliebe als vorbildlich hingestellt, gaben es aber bald auf. Denn — wie das einmal so ist — sie wussten, dass einem bei jemandem, den man so ganz ohne Grund, so völlig instinktiv nicht mag, auch Tugenden auf die Nerven gehen, zuweilen so sehr, dass man die eigenen Fehler mehr liebt als die Yorzüge des andern. Heute aber, vor der Generalprobe, umstand die gesamte Klasse Friederike mit mehr Anteilnahme, als man im ganzen Semester für sie übrig hatte. Man schlug ihr vor, zur Feier ein geblümtes Volantkleid anzuziehen, das zwar ihr Sommerkleid war, ihrer Figur aber doch etwas Weicheres gab und sie nicht so in die Lange gezogen erscheinen liess. Eine andere Schulkameradin riet ihr, von der Brennschere und auch den fest um den Kopf gelegten Zöpfen abzusehen. Eine lockere Frisur ohne Brennschere — das konnte einen ganz anderen Eindruck hervorrufen, dachte man, und auch für die dünne und doch scharf durchdringende Stimme musste unbedingt etwas getan werden. Ein rohes Ei vorm Aufsagen — das war ein unfehlbares Mittel. Friederike nahm dies alles halb dankbar, halb verstört zur Kenntnis. Johanna Deutsch hörte zuerst teilnahmslos zu. Plötz- lich fuhr sie zwischen die Ratgeberinnen: „Alles falsch! Alles unwichtig!" rief sie, „sie muss es nur richtig aufsagen! Hört einmal zu!" Damit sprang sie aufs Katheder, hob den linken Arm und schmetterte: „Denn wenn im Kampf die Mutigsten verzagen, Wenn Frankreichs letztes Schicksal nun sich naht, Dann wirst du meine Oriflamme tragen Und, wie die rasche Schnitterin die Saat, Den stolzen Uberwinder niederschlagen!" Das gehort doch ihr — das kann doch niemand ausser ihr sprechen! In diesem Moment ist sie Jeanne dArc, ist es wirklich. Irgend eine geheimnisvolle Kraft hat von diesem schmalen, kleinen Madchenkörper Besitz ergriffen — genau wie die himmlischen Machte einst von Jeanne dArc. Man spürt, glaubt, erlebt den gleichen Yorgang. Kraftvoll reckt sich Johanna empor, dem stolzen Uberwinder entgegen. Alles an ihr ist glühend, wundervoll lebendig. Sie spricht mit tiefem, wahrhaftigem Gefühl. Die Kinder sind fasziniert. Lautlose Stille vom ersten A\ort an. Es zieht sie zum Katheder. Immer naher kommen sie. Niemand kiimmert sich darum, dass in der offenen Tür der Schuldiener auftaucht und zuhört und einige Sekunden spater eine gerade am Klassenzimmer vorbeigehende Lehrerin. „Den Feldruf hör ich machtig zu mir dringen, Das Schlachtross steigt, und die Trompeten klingen!" Jeanne d'Arc hat es hinausgeschmettert, und es ist wieder Johanna Deutsch, die vom Katheder herunterspringt und mit grosser Gelassenheit sagt: „So muss man es machen — es ist ganz einfach!" Der Schuldiener ist der Erste, der Worte findet: „Grossartig, Johanna! Meiner Seel, wie die Medelsky hast du das gemacht!" Das ist das Signal für die Klasse, in Begeisterung loszubrechen. „Wie die Medelsky! jubeln die Madel, widerrufen es aber sofort, indem sie ihren Beifall noch steigern: „Nein! besser! zehnmal besser!" „Ganz grossartig! Wirklich klaaass!" hört man die tiefe Stimme Gussy Senders, und sie geht auf Johanna zu und sagt ihrs noch einmal ins Gesicht, „also unerhört grossartig!" Man denke, Gussy Sender sagte das — Gussy, die an eine Mitschiilerin erst das Wort richtete, wenn der Yater mindestens Major war! Gussy, die auch für nichts Interesse bezeigte, was nicht sie selbst betraf! ,,Eine Schande, dass man nicht Johanna aufsagen lasst", meint auch Stella Maurer und spricht damit etwas aus, worüber sich alle einig sind. Sogar Friederike Skriebitsch empfindet sich als eine ganz unrechtmassige Jeanne d'Arc. „Ich habe mich ja gar nicht darum gerissen", entschuldigt sie sich, „und mir liegt eigentlich gar nichts dran. Wenn ihr wüsstet, wie piepe mir dieser ganze Quatsch ist!" „Piepe und Quatsch!" macht man ihr leise und amüsiert nach — denn diese beiden Ausdrücke waren es vornehmlich, die man immer wieder als besonders komisch empfand. „Wirklich!" beteuert Friederike, „und vor allen Dingen kann ich nichts anderes sein, als was ich bin!" Johanna sieht sie erstaunt an, möchte etwas sagen; aber der Gedanke hat nur eine ungefahre Kontur in ihrem kleinen, noch nicht durchgebildeten Kopf. „Nichts anderes sein als das, was ich bin...." Was aber ist man? Man ist jede Stunde, man ist jeder Tag. Man ist der Monat und das Jahr. Man ist alles, und alles gehort einem. Sonst kann man doch gar nicht leben. Friederike aber kann nur sein, was sie ist? Fast mitleidig sieht Johanna zu ihr hin, die doch, nach Johannas Meinung, im Uberfluss hat, was ihr selbst fehlt, und die in Wirklichkeit das gleiche und noch mehr entbehrt. Sie hat nur Boden unter den Füssen, sehr festen, sehr zahen, viel zu ziihen Boden, darum wird sie nie fliegen können. Denn wer vier Kleider hat, der will vielleicht noch ein fünftes, wer nur eines hat, will alle Kleider der Welt. Es liegt eine grosse Macht in der grossen Sehnsucht des Besitzlosen. Johanna hört kaum noch, was um sie herum geschieht; aber sie spürt, wie sie für ihre Mitschülerinnen immer noch Jeanne d'Arc ist, spürt es wie ein unendlich wohltuendes warmes Bad. Nur Mananne kann, aus einem ihr selbst nicht deutlichen Grunde, nicht in die allgemeine Begeisterung einstimmen, und sie weiss Johanna nichts anderes zu sagen als: Horst! aber gar nicht zum Wiedererkennen sahst du plötzlich aus! Direkt herzig!" Das reisst Johanna jah aus ihrem Taumel. Sie fahrt herum: „Sei nicht so keek zu mir! Yielleicht bist du herzig! Ich aber, wenn ich die Jungfrau von Orleans spreche — ich bin grooooossartig! Merk dirs, ein für allemal!" Damit rannte sie aus der Klasse. Dann war der grosse Tag da. Friederike hatte die guten Ratschlage samtlich befolgt. Sie hatte das geblumte Volantkleid an, sie trug die Haare anders, und sie würgte kurz vorm Aufsagen mit furchtbaremEkel zwei rohe Eier herunter. Nur einen Ratschlag: „So musst du es machen — es ist ganz einfach —" den würde sie nicht befolgen können. lm Grunde ist es durchaus unwichtig. Solche Schulfeiern sind ein Ereignis nur für die Schüler und ein paar eitle Eltern. Im Grunde genommen sind solche Veranstaltungen von höchster Langeweile, und dieser hier hörte überhaupt niemand zu; denn alle Blicke sammelten sich auf dem mittelgrossen, sehr schlanken Herrn, vorn in der ersten Reihe auf dem Ehrenplatz. Es war Leonhard Pfeil, österreichs grosser Schauspieler, der berühmteste Schauspieler des Jahrhunderts. Er war, seiner kleinen Tochter Malwy zulieb, bei allen Schulfeiern des Bergmanngymnasiums anwesend. Sein gescheiteltes dünnes Haar, das sehr tief in die Stirn fallt, hat jene dunkelblonde Tönung, die grau schimmert, ohne grau zn sein. Nur an den Schlafen sind schon weisse Stellen. Die graublauen Augen haben eine sachliche Traurigkeit. Der übermassig breite, voltairische Mund lachelt ganz wenig, wenn er zu seinem Töchterchen hinüberschaut, das in der ersten Stimme des Schulchors mitsingt. Die pergamentene Blasse seiner Haut erklaren wir uns jetzt naehtraglich als den bösen Schimmer nachtlicher Körperschmerzen. Denn schon im nachsten Jahr wird die Erde Leonhard Pfeil deeken. Er sitzt vollkommen regungslos da, still, bescheiden, und gehort doch, ganz grosser Abglanz von Wien, der ganzen Welt. Der da auf seinem Ehrenplatz freundlich interessiert den unter dem Mittelmass stehenden Darbietungen zuhört, der ist schon ein Stück Geschichte. Friederike Skriebitsch sagt zuletzt auf. Friederike Skriebitsch ist fürchterlich. Sie sagt „vazagen ' statt „verzagen" und ihr breites A, ihr nach tl abgedecktes I und nach ö klingendes E, ihre schneidig geschluckten Endsilben machen die Zuhörer sichtlich unruhig und nervös und reizen die unter ihnen zum Lachen, die nicht gewohnt sind, sich zu beherrschen. Nur ein einziger Mensch im ganzen Saai bemerkt von all dem gar nichts; denn dieser eine Mensch hat in seinem Ohr nur die eigene Stimme, formt jeden Yers nach eigenem Gefühl und jedes Wort nach eigenem Rhythmus. Es ist Johanna Deutsch. Wieder reckt sie sich kampfesmutig auf, ballt die Fauste, erlebt jede Silbe. Alles geht einmal zu Ende, auch eine Schulfeier und folglich auch Friederike Skriebitschs Vortrag. Als, höflich und schwach, Beifall einsetzt, atmet Johanna ihn durstig ein. Sie hat den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen, ihre Nasenflügel weiten sich. Der schon versickernde Applaus wird in ihrem Ohr zum Orkan. Noch einmal dankt man mit Handeklatschen denjenigen, die mit soviel Mühe, Anstrengung und Fleiss die fehlende Begabung zu ersetzen bemüht waren. Die Besucher driingen sich urn die Mitwirkenden und beglückwünschen sie. Auch Leonhard Pfeil ist aufgestanden und sagt Friederike, den ihm bekannten Eltern zulieb, ein paar nette, durchaus konventionelle Worte. Kaum hat Johanna bemerkt, dass Leonhard Pfeil sich I riederike nahert, als sie die Fluten der Menschen zertedt wie eine Schwimmerin. Nun steht sie dicht hinter Friederike, kann Pfeil ganz aus der Nahe sehn und jedes Wort horen. Es ist nicht die heil schmetternde Stimme von der Bühne, nicht der minutenlang schwingende Diskantton, sondern er redet ganz leise, wienerisch gefarbt, und recht monoton. Johanna frisst ihn mit den Augen und verschlingt jedes seiner Worte. Denn zu Unrecht wendet er sich ja an Friederike. Ihr, ihr, Johanna Deutsch, gebührt jedes seiner Worte. Es ist ein Unrecht oder ein Irrtum! Sie kann es nicht mehr auseinanderhalten. Als Leonhard Pfeil Friederike die Hand reicht, streckt Johanna auch die ihre aus. Aber niemand greift danach, niemand sieht sie. Johanna aber empfangt den Handedruck, der ihr gebührt, sie spürt ihn körperlich. In einem Zustand süsser Betaubung kommt sie nach Hause, zurück in die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit riecht nach angebranntemKraut, und in der Wirklichkeit zankt die Mutter mit dem Dienstmadchen. In der Wirklichkeit sitzt der Vater am Schreibtisch, achzt und schnauft vor Arbeitsunlust. In der Wirklichkeit tritt der Bruder Leo ein, schmettert seiner Gewohnheit gemass die Tür hinter sich zu, und der Yater fahrt, seiner Gewohnheit gemass, hoch mit dem ganzen Repertoire seiner stehenden Redensarten: „Manieren sind das! Dazu schick ich euch auf die hohe Schule und zahle das teure Schulgeld, und dafür plagen sich eure armen Eltern Tag und Nacht für euch ab...." Und zu seinen heftigen Reden wackeln auf dem Umbau des Schreibtischs das Parchen aus imitiertem Delfter Porzellan, der Löwe von San Marco aus Kunstbronze und der Trompeter von Sackingen aus bemaltem Ton. Dies ist die Wirklichkeit. Johanna hat sich die Hande gewaschen und sitzt wartend am Esstisch. Aus der Küche hört man siedendes Fett zischen und spritzen. Der Yater arbeitet immer noch, wobei er abwechselnd auf die nicht zahlende Kundschaft und auf die ihrer Klientel gegenüber zu nachlassige Mutter schilt. Das macht ihm die unliebsame Arbeit ertraglicher. Johanna kannte das bis zum Uberdruss. Nun würde gleich der Hinweis darauf kommen, was aus „euch Fratzen wohl werden würde, wenn ihr euern Vater nicht hattet —" und abzuschliessen pflegte er diese Rede mit der Anfrage: „Ob man von euch dafür je Dank hat? Einsehen werdet ihr das alles erst, wenn eure Eltern einmal nicht mehr sind/' Yom dereinstigen Ableben sprach der Yater gern und mit Bewegung. Man hatte den Eindruck, dies Schicksal sei aus- schliesslich ihm und seiner Gattin reserviert. Johanna kannte das bis zum Überdruss, sie konnte es nicht mehr horen. Johanna hielt sich die Ohren zu. Dies aber war ihre Wirklichkeit. Und dafür sollte sie dankbar sein? Dafür, dass man da war in dieser Welt, eine kleine Null, zwischen angebranntem Rotkraut, einer scheltenden Mutter, einem missmutigen Yater? All diese Banalitaten, die sie sich tagtaglich mitanhören musste, erschienen ihr plötzlich viel schlimmer als schlechte Behandlung — Banalitaten waren mörderisch! Wie kam sie denn nur hierher? Sie gehorte doch hier zu niemandem! Nur aus Versehen konnte sie hier abgesetzt worden sein, und schon morgen vielleicht würde sich dieser verhangnisvolle Irrtum aufklaren. Als man im Begriff ist, sich zu Tisch zu setzen, tritt Josef Stadler ein, will dem Vater nur einen Zeitungsartikel geben und wieder gehn. Der Vater verwickelt ihn in ein Gesprach, halt ihn zurück. Johanna bemerkt, wie Stadler angewidert den Essensdunst wahrnimmt und nervös zum Vater schaut, weil der jetzt seinen Teller zurückschiebt mit der Bemerkung; „Das ist angebrannt, das esse ich nicht". Kampfbereit und mit rotem Kopf fahrt die Mutter herum, um ihr Rotkraut zu verteidigen. In diesem Augenblick fügt es sich ganz von selbst, dass Johanna das, was sie nach der Generalprobe in der Klasse erlebt hat, auf die Feier selbst übertragt. Wirklich zu erfinden braucht sie nur, Friederike Skriebitsch sei vor Aufregung und Angst krank geworden, und man sei in der Not auf sie, Johanna verfallen. Sonst fügt sich beinahe alles von selbst in die Erzahlung: Aus der Klasse wird der grosse Saai, aus den Mitschü- lerinnen das wirkliche Publikum. Gleich nach ihrem er sten Yers herrscht eine Stille, in der nur das Knarren eines Stuhles, das Knistern eines Programms vernehmbar ist und von den atemlos Lauschenden wütend niedergezischt wird. Alle stehn völlig im Bann der Yortragenden. Als sie geendet hat, dauert die ergriffene Stille noch sekundenlang an, bis ein Sturm von Applaus und Ovationen losbricht, wie ihn die Schule in den ganzen zehn Jahren ihres Bestehens noch nicht erlebt hat. Und als der Beifall seinen Höhepunkt erreicht hat, er hebt sich Leonhard Pfeil, und wieder ist es kirchenstill im Saai. Leonhard Pfeil aber geht auf Johanna zu, die gerade von der Bühne hinunter in den Saai schreitet, und er nimmt ihre beiden Hande und sagt, allen im Saai vernehmbar: „Grossartig! Einfach grossartig! Meiner Seel! Wie die Medelsky!" Der angebrannte Kohl ist vergessen. Das fleckige Tischtuch ist nicht mehr da. Auch nicht das kleine an die Wand gedrückte Judenmadchen Johanna Deutsch. Dies alles hat sich auf gelost in den erhabenen Glanz, der von Leonhard Pfeils Nahe auf Johanna übergegangen ist. Frau Deutsch sieht auf ihr Kind wie auf das Allerheiligste im Tempel. Tranen treten in ihre Augen. Das Kuhdunkel ihres Leben wird plötzlich von überirdischem Licht zerteilt, und über alle platten Redensarten und noch platteren Gedanken hinweg geht ihr etwas auf von dem hohen Sinn und dem hohen Schmerz, Mutter zu sein. Mutter dieses leidenschaftlich ekstatischen fremden Kindes, dem sie sein leidenschaftlich ekstatisches, ihr so fremdes Leben gegeben hat, um dann für immer aus diesem Leben gestrichen zu werden. Dieses Erlebnis in der Schule, das spiirt sie, ist etwas Entscheidendes. Ihre Rolle ist damit bei dem Kind zu Ende. Ihre Rolle ist nun die aller Mütter auf Erden: Verzicht. Als sie wieder in ihrer Weise zu denken vermag, begmnt sie augenblicklich zu jammern, wie sie nie Zeil habe, an anderes zu denken als an das Geschaft. Da hatte man ihre Johanna in der Schule zum Aufsagen ausersehen, und statt dass sie, als Mutter, vorn in der ersten Reihe sitzt und stolz ist, weil sich endlich einmal das teure Schulgeld rentiert und sie sich mit ihrer Johanna sehen lassen kann, statt dessen probiert sie zu Hause der dicken Frau Wagschal und deren Tochter Mieder an! Dass aber ihre Johanna vor Pfeil — Pfeil — aufgesagt hatte und von ihm mit der Medelsky verglichen worden war, das benahm Frau Deutsch fast den Atem. Der Vater hingegen begann wieder von dem angebrannten Kraut zu essen und nahm Johannas Erzahlung ziemlich nüchtem auf. Er wechselte mit dem sich ebenfalls gar nicht aussernden Josef Stadler einen vielsagenden Bliek. Wahrend die Mutter wieder zu wehklagen beginnt: wenn man das doch nur vorher geahnt hatte! Wenigstens ein neues Kleid hatte man dem Kind machen konnen. Hatte ihre Tochter nötig, vor Pfeil in einem leid zu stehn, das in den Nahten schon glanzte! „Das stimmt nicht!" stichelte der Bruder Leo - „das stimmt nicht! An den Ellbogen ist Johannas Kleid a'uch schon ganz speckig." „Du schweig still!" herrscht ihn die Mutter an, „du wirst noch einmal einsehen lernen, was du an deiner Schwester hast! Vertrage dich beizeiten mit ihr — ich rate dir gut." Dann verschwindet sie im Salon, um der Arbeiterin und dem Lehrmadchen von der ihrer Tochter widerfahrenen Auszeichnung Mitteilung zu machen. Und da sie gerade am Fenster gegenüber Frau Feige Feuer entdeckt, ruft sie ilir die Neuigkeit, geschwollen von Stolz, zu. Bald weiss es das ganze Haus. Dann aber kommt Marianne Koppel, und in zwei Minuten ist Johannas Glanz zerstört. Die Mutter ist ratlos. Plötzlich ist da wieder nur das gewohnte Kuhdunkel, ihr Kind ein kleines, mageres Judenmadchen wie tausend andere auch — und wiederum nicht — denn das von etwas Unfassbarem durchglühte Gesicht des Kindes beu te bei Tisch, das hatte sie doch leibhaftig vor sich, spürte auch in diesem Moment so ein furchtbares Losreissen, eigentlich eine zweite Entbindung — was war das? Was war geschehen? In ihrem hilflosen Unverstand überkommt Frau Deutsch eine rasende Wut. Sie nennt Johanna „den Schandfleck der Familie'" und eine „ausg'schamte Lügnerin" und versetzt ihr ein paar Ohrfeigen. Johanna lauft, durchdrungen von der Ungerechtigkeit der Welt, auf und davon. Frau Deutsch weint noch lange heisse Tranen über ihre Tochter, bis dem Lehrmadchen Selma das erlösende Wort einfallt: „Es ist halt nur .mommentane' Sinnesverwirrung, Frau Chefin", deklamiert sie nach Art unbelesener Leute, wenn sie etwas Gedrucktes wiedergeben wollen. Sie verfallen dann immer in die ganz einheitlich falsche Betonung vorlesender Elementarschüler. „Eine ,mommentane' Sinnesverwirrung", erfreute sich Selma noch einmal des ominösen Wortes. Frau Deutsch tat diese Zusammenfassung irgendwie wohl, wirkte besanftigend, und sie konnte über die Tochter ruhiger nachdenken. Man wird Johanna bald verheiraten miissen. Wenn sie einen Mann hatte und spater Kinder, würde sich das alles geben. Momentane Sinnesverwirrung.... Da war schon einmal eine bis heute unaufgeklarte Sache passiert, damals mit dem Kind der Trafikantin, — vier oder fünf Jahre war das her.... Frau Deutsch erinnerte sich noch, es hatte mittags einen Wortwechsel zwischen ihr und dem Gatten gegeben, ganz belanglos übrigens, vielleicht wieder über angebranntes Kraut oder ahnliches. Herr Deutsch aber war plötzlich aufgesprungen und hatte gesagt, er habe das jetzt satt, und er gehe zu Neugröschl essen. Frau Deutsch nahm es nicht weiter tragisch. Neugröschl war ein streng koscheres Lokal, dies vor allem; aber es war auch sündhaft teuer. Sollte also der Gatte bei Neugröschl essen, die Augen würden ihm übergehen bei den Preisen. Übrigens waren mitten in der Woche dort fast mehr Christen anzutreffen als Juden — mochte sich also dei unzufriedene Ehemann ruhig dazusetzen. Johanna begegnete dem Vater etwas spater auf der Gasse. Sie spielte gerade mit dem Baby der Trafikantin, das vor dem Tabakladen in seinem Kinderwagen lag. Dem Vater tat sein aufbrausendes Wesen schon langst leid. Er war durchaus nicht zu Neugröschl essen gegangen, sondern hatte irgendwo eine Tasse Kaffee getrunken. Jetzt beauftragte er Johanna, der Mutter zu bestellen, sie möge zum Abend frischen Kukuruz kochen und reichlich Butter dazu geben, er komme heute früher nach Hause. 6 Was nun in Johanna vorgegangen war, begriff niemand, damals nicht und heute nicht. Jedenfalls stand sie kurze Zeit darauf, mit dem fremden Kind auf dem Arm, vor der Mutter. Nie wird Frau Deutsch die kalte, beinah gehassige Ruhe vergessen, mit der die Tochter ihr eröffnete: „Dieses Kind schickt dir der Vater zum Andenken. Was ihn anbelangt, so ist alles aus, lasst er dir sagen. Er kehrt in seinem ganzen Leben nicht mehr zu dir zurück." Und sie begann mit dem Baby zu spielen, mit dem sie eine unbandige Freude hatte. Frau Deutsch dachte damals, sie treffe der Schlag, am meisten über die unfassbare Infamie ihres Mannes, der ihr da „seinen Bankert" ins Haus setzen wollte. Natürlich klarte sich alles in kürzester Zeit auf. Aber Johannas Beweggründe blieben unerfindlich. Sie wehrte sich nur wie eine Wahnsinnige, als man ihr das Baby wieder fortnahm. Man konnte nichts anderes aus ihr herausbringen als: „Ich wollte so gern das kleine Kind haben." Wer fand sich da zurecht? „Momentane Sinnesverwirrung" war ein gutes Wort. Yon da aus konnte man weiterdenken: manche Madchen müssen eben schon mit siebzehn Jahren verheiratet werden — dann gibt sich das gewiss. Frau Deutsch sah eine Sekunde von ihrer Arbeit auf. Und sonderbarerweise dachte sie nicht mehr an einen Mann und eine Heirat, sondern sie hatte wieder das leuchtende Kindergesicht vor Augen, so wie sie ihre Tochter heute bei Tisch gesehen hatte. Und dabei geht über ihr unschönes und zerarbeitetes Gesicht genau die gleiche Helligkeit. Sie lasst aus der tiefen Einfalt dieser stumpfen Züge fast etwas Gross- artiges aufflammen. In der Stunde des Todes sehen oft die ganz einfachen Gesichter so aus, wie aus einem Guss, und auch in den vereinzelten Momenten einer Erkenntnis, die sckon über ihre kleine Existenz hinausreichen. „Weiss icb, was der Ewige, sein Name sei gelobt, mit ihr vor hat?' dachte Frau Deutsch, und dann knirschte wieder die Schere durch den dicken Köperstoff. Einsam und unverstanden schlendert Johanna an der Feuerwehr vorbei über den schonen Barockplatz Am Hof. Es ist gerade Markt. Die letzten Rosen und die ersten Astern füllen die am Rand gelegenen Blumenstande und durchdringen die Luft mit jenem melancholischen Geruch, der, niemand könnte sagen warum, an Graber erinnert. Johanna schlendert durch den bunten Herbst des Gemüsemarkts, hört nichts, sieht nichts. Nur diese modrig-süsse Luft von den Blumenstanden her empfindet sie. Johanna ist mit Gott und der Welt zerfallen. Vor dem schmucklosen Portal der Schottenkirche macht sie halt. Ein Hund sitzt geduldig am Eingang und wartet wohl auf seinen betenden Herrn. „Ich muss auch draussen stehn, genau wie du", erzahll sie dem Hund, „obwohl es da drin ein berühmtes Gnadenbild des heiligen Judas Thaddaus gibt. Ich kenne ihn gut, früher habe ich ihn immer besucht; aber für uns zwei arme Hunde tut er keine Wunder — du brauchst gar nicht erst um etwas zu bitten." Der Hund lacht sie ein wenig an mit seinen klugen Augen und wedelt mit dem Schwanz. Er hört angestrengt zu. „Ich könnte ja auch Wunder vollbringen', eröffnet ihm Johanna, „ich kann machen, dass alles auf der Welt schoner und gerechter und bun ter und lustiger ist. Aber weisst du, was der Dank dafür ist, wenn ich einmal solch ein Wunder vollbracht habe? Meine Mutter haut mir eine runter. Und sagt, ich bringe sie noch unter die Erde mit meinen Lügen...." Der Hund gibt sich grosse Mühe; aber er begreift doch nur unvollkommen, wovon die Rede ist. Doch die Kreatur ist eben unmenschlich und darum gütiger. Dies jedenfalls begreift er, das Kind ist so allein, dass es einen fremden Hund anspricht. Unaufgefordert gibt er die Pfote. Die wundertatige Johanna wandert weiter. Die Welt will von ihr nicht schoner und heiterer gemacht werden. Yorlaufig noch nicht. Johanna sitzt in der Strassenbahn und fahrt zur Schule. Wie alle Tage. Nur noch unlustiger. Sie kommt von zu Hause, wo man sie seit der Schulfeier wie einen Schwerverbrecher behandelt, und sie fahrt in die Schule, wo sie, eine Schülerin ohne alle Bedeutung, und eine Kameradin ohne jeglichen Wert, eine Null ist. Hier in der Strassenbahn ist vielleicht der einzige Platz auf der Welt, wo sie ein wenig in Sicherheit ist. Nur hier verfolgt man sie nicht mit abstrafenden Blieken, nur hier rangiert ein vergessenes Schulheft nicht als Charakterdefekt. Sie kommt aus der Angst und geht in die Unruhe; aber hier ist sie ein paar Minuten sicher. Der schmale Streifen Holzbank einer Strassenbahn ist ihr einziger Ruhepunkt. Exterritoriales Gebiet. Johanna gegenüber sitzt ein junger Mann, gross, dünn, hat eine an der Spitze lcicht aufwartsstrebende Nase, grosse wasserhelle Augen, einen ziemlich weichlichen Mund und ein Grübchen im Kinn. Vielleicht liegt es an dem zur Bürste geschnittenen stumpfen Blondhaar, dass sein Kopf etwas von einer Birnenform hat, so, als sei er einer Daumierfigur nachmodelliert. Nur die Stirn ist bemerkenswert, hoch und gut im Schnitt. Sein Anzug ist niichtern, praktisch, ordentlich. Er verrat einen ausgesprochenen und sichern Hang zum Unkleidsamen. Der Shawl unterm Mantel wirkt in seiner Farbenpracht wahrhaft kindlich — der Mann dürfte fünfundzwanzig Jahre alt sein — und die Schnürstiefel, solid und aussergewöhnlich plump, schauen unter den zu sehr hinaufgezogenen Hosenbeinen vor. Besonders aufsehlussreieh sind die Schuhbander, die in tragikomischem Ungeschick rückwarts in kleine Schleifchen gebunden sind. Er blattert in einem roten „Fackel"-Heft. Jetzt sieht er auf, und mit jenem Bliek, der ebenso tiefste Gedankenlosigkeit wie ausserste Yertiefung sein kann, starrt er auf eines der vielen Reklameschilder der Strassenbahn. „Kaffee Hag schont Ihr Herz." Der Zufall will es, dass einen Dezimeter unter diesem Schild Johanna Deutsch sitzt. Und der Bliek des Mannes, der an niemands Adresse geht, ohne Kraft und ohne Feuer ist, entzündet ein Schicksal. Was von dieser Sekunde an geschieht, ist alles zwangslaufig. In dem kleinen, zarten und schwachlichen Kind beginnt das Leben. Wie sieht sie dieser Mann denn an, denkt sie. Kennt er sie? Oder ist sie ihm schon vorher beim Einsteigen aufgefallen? Nein, geht es weiter in ihr, dieser Bliek gehort einem Mann, der in alle Menschen hineinschaut, als waren sie aus Glas. Dieser Bliek ist von überirdischer Güte, er löscht aus, woher sie kommt, schiebt weit fort, wohin sie fahrt, er dringt tief in sie hinein, durchdringt sie ganz, dieser Bliek ergreift von ihr Besitz auf alle Ewigkeit. Solche Augen gehören nur zu einem Mann, der sucht, nein, der nicht mehr sucht. Denn in eineinhalb Sekunden hat er endlich aus dem grossen Gewimmel der Welt den einzigen Menschen herausgefunden, der zu ihm gehort: Johanna Deutsch. Johanna Deutsch schaut zu ihm hinüber; aber ihre Phantasie arbeitet schneller und detaillierter als ihre Augen. Eine Maske, aus Wunsch und Traum gemacht, wird über ein belangloses Gesicht gestiilpt, eine unscheinbare Existenz mit Erlöserkraften ausgestattet. Johanna betritt die Schule. Sie fürchtet sich nicht mehr. Sie ist ja nicht mehr allein. Zwölf Minuten in der Strassenbahn haben genügt, ihr die Erfüllung all ihrer vagabundierenden Sehnsucht zu bringen. Johanna liebt. Sie liebt mit der ganzen, heftigen und anspruchsvollen Ausschliesslichkeit des Enterbten, Besitzlosen, Heimatlosen. Hier ist Liebe nicht ein schoner, seliger Uberfluss — hier ist sie der Ausgleich. Was finden, der alles hat, nur ein Genuss mehr ist, ist für den Besitzlosen ein Lebensmittel. Für die meisten von Johannas Mitschülerinnen wird Liebe wahrscheinlich als Flirt beginnen, dem als konkretes Ziel die Ehe gesetzt ist. Für Johanna ist Liebe óhne Anfang und ohne Ende. Sie ist da. Und sie muss sie für alles schadlos halten, wovon sie das Leben ausschliesst. Sie muss Elternhaus sein und Stützpunkt der Gesinnung und Masstab der Gesittung. Die Liebe, wie Johanna sie fordert, ist nicht mehr und nicht weniger als die Komplementarfarbe des Lebens überhaupt. Und dies alles sammelt sich wie im Brennpunkt einer Linse auf der Daumierfigur aus der Strassenbahn. So ausgerüstet, im Bannkreis dieser elementaren Kraft, fürchtet man keine Schule. Das tragt einen. Johanna Deutsch, die schlechte Schülerin, hat auch heute wieder die Anfertigung einer Hausarbeit vergessen, ein Aufsatz iiber die Kapuzinergruft, der Grabstatte aller Mitglieder des Kaiserhauses. Als sie es bemerkt, meldet sie sich sofort und gesteht mit einer so gewinnenden Liebenswürdigkeit ihr Versaumnis ein, dass die Frau Professor ihr vergibt und keine Eintragung ins Klassenbuch erfolgt. „Es wird aber ganz bestiiiiiiimt nicht mehr vorkommen", versichert sie mit soviel Eifer, dass die Klasse zu lachen beginnt, die Frau Professor lacht mit und auch Johanna. Wie körperliche Warme umgibt sie die gute und teilnehmende Stimmung einer ganzen Schulklasse. Ein Wunder ist ja heute geschehen. Übrigens ist es Johanna heiliger Ernst, als sie verspricht, es werde bestimmt nicht mehr vorkommen. Ein Wunder ist geschehen, sie muss sich dessen würdig erweisen, sie muss sich dieses Mannes würdig erweisen und ein neues Leben beginnen. Gewiss legt er besonderen Wert auf eine ausgezeichnete Schulbildung. O, er wird sich mit ihr sehn lassen können. Sie wird alles nachholen. Ab heute beginnt ein neues Leben. Seinetwegen. Auf dem fleckigen Umschlag eines kleinen blauen Schulheftes steht: „Englische Yokabeln. Johanna Deutsch. III. Klasse." Darin befinden sich aber keine englischen Yokabeln, sondern folgende Eintragungen: „Ich friere nicht mehr so schrecklich. Und ich zerwarte mich auch nicht mehr immerzu auf etwas. Denn das, worauf ich gewartet habe, seit ich auf der Welt bin, das ist nun da. In meinem Leben gibt es nun etwas ganz Grosses. Oder mein Leben selbst ist ganz gross geworden. Das klingt nach Verliebtsein. Ich bin aber nicht verliebt. Nein. Gar nicht. Es ist etwas ganz anderes. Yiel mehr. Ich gehore zu einem Menschen, der mich, genau so wie ich ihn, gesucht hat, seit er denken kann. Und dann sitz ich ihm eines Tages in der Strassenbahn gegenüber. Er schaut mich an, fahrt zusammen, erkennt mich, dass ich die bin, die er gesucht hat, die er so nötig zum Leben braucht wie ich ihn. Es ist wie eine Offenbarung, auch für mich. Für mich genau so. Und dabei doch auch die selbstverstandlichste Sache der Welt." „Unnötig, noch ein Datum zu schreiben. Für mich gibt es keine Daten mehr. Der heutige Tag ist der Tag unserer zweiten Begegnung. Das werden in Zukunft meine einzigen Zeitabschnitte sein: von einer Begegnung zur andern. Dazwischen ist nicht Tag und nicht Nacht und kein Sommer und kein Winter. Dazwischen ist nur: Warten. Als ich heute aufwachte, hatte ich entsetzliche Angst, das alles könne ich nur getraumt haben. Halb von Sinnen stürzte ich zur Tram. Aber da stand er bereits an der Haltestelle, schaute in die Richtung, aus der ich kommen musste. Das bewies mir, dass er schon weiss, wo ich wohne. Vielleicht sogar, wer ich bin. Gerade kam die Tram, und da er sah, dass ich rannte, was ich konnte, um sie noch zu erreichen, stieg er ganz langsam und umstandlich ein. Es wirkte direkt ungeschickt — aber er tat es meinetwegen. Ich hatte sonsl die I ram nicht mehr bekommen. Daran sehe ich, welchen Wert er darauf legt, dass ich pünktlich in der Schule bin. Ich darf mir nichts mehr in der Schule zuschulden kommen lassen, da er keine Nachlassigkeiten bei mir ertragen würde. Aber er soll mit mir zufrieden sein." „Heute habe ich meine Mutter um Verzeihung gebeten. Ich fiihle mich zwar nicht schuldig in der Sache mit der Schulfeier. Ganz und gar nicht. Aber ich konnte es nicht mehr mitansehen, dass ich so glücklich bin und sie so unglücklich. Taglich fahre ich zwölf Minuten mit dem herrlichsten Menschen der Welt in der Strassenbahn zusammen, und da geht es einfach nicht, dass im selben Haus der eine vor lauter Lebenslust den ganzen Tag singen und tanzen möchte, wahrend der andere mit einer versorgten, bekümmerten Miene herumlauft, dass man denkt, er werde unter seinen Lasten zusammenbrechen. Und da habe ich sie eben um Verzeihung gebeten, was von mir direkt grandios war; denn, wie gesagt, ich fiihle mich in keiner Weise schuldig. Natürlich sprach ich so mit ihr, wie sies verstehn kann. Ihr die Wahrheit zu sagen, ware Wahnsinn gewesen. So umarmte ich sie und versprach ihr, ich werde ihr nun nur, nur, nur noch Freude machen. Sie sah nicht so aus, als ob sie mir das glaubte, sondern sagte ein bisschen süsssauer: „Was willst du von mir? Geld? Ich habe keines." Ware ich nun die Johanna von früher gewesen, so ware ich ihr einfach davongelaufen. Aber ich bin ja bestrebt, ein andrer Mensch zu werden, und so verlor ich nicht gleich die Geduld mit ihr, sondern sagte, dass ich gar nichts von ihr wolle, ich wolle mich nur ordentlich und griindlich bessern und alles ganz umsonst, sie solle noch einmal richtig Freude an mir erleben. Ich kann ja diese Redensarten von „Freude machen" und so nicht ausstehen; aber mit meiner Mutter kann man leider nicht anders reden. Sie wurde nun ein bisschen freundlicher und sagte: „Ist eh schon alles gut. Zeige wenigstens guten Willen. Mehr verlangt kein Mensch von dir. Und merke dir eins: schön bist du nicht, und reich bist du nicht.Wenn du nicht wenigstens hochanstandig bleibst und dir dazu Bildung aneignest, wird dich in deinem ganzen Leben kein Mann anschaun. Mein seliger Yater hat immer gesagt: ein junges Madchen muss sein wie eine weisse Schürze — ein Fleck, und sie ist hin. Bei meinen seligen Eltern war ein vorbildliches Familienleben, und bei mir will ich das ein für allemal auch haben. Was sollte ich da noch anderes sagen als: „Ich verspreche dir alles" —? Man kann daran wirklich erkennen, wieviel Geduld ich mit meiner Mutter haben musste. Sowie von den seligen Eltern die Rede ist, nehme ich sonst immer Reissaus. Wie oft habe ich mir das mit der weissen Schürze schon anhören müssen! Wo kein junges Madchen mehr Schiirzen tragt! Und mit dem vorbildlichen Familienleben war es auch nicht so weit her; denn als an einem Dienstag einmal von den elf Brüdern zwei von Eisenstadt nach Wien ausrissen, merkte man das erst am Freitag. Bei diesem Gewimmel von Kindern fiel erst am Sabbathabend auf, das zwei Stiick fehlten. Wenn das ein vorbildliches Familienleben ist, dann bin ich genau so ein Vorbild mit allen meinen Fehlern von gestern. Dieses „schön bist du nicht, reich bist du nicht", ist ja auch so eine Art Wiegenlied meiner Mutter. Aber zum Glück habe ich immer andere Ansichten über das Leben gehabt als meine Eltern. Und ausserdem habe ich mich immer schön gefunden. Wirklich schön. Grosse dunkle Augen zu roten Haaren, das findet man nicht alle Tage. Und ganz besonders gefallt mir meine Nase. Sie ist klein und ein bisschen stumpf. In was „Er' sich wohl am meisten bei mir verliebt hat? Ich möchte schwören, es ist die Nase. Er findet mich schön. Das weiss ich. Und dass ich nicht reich bin — du lieber Gott, als ob solch ein auserwahlter Mensch wie er danach fragen würde, wo es um Höheres geht! Wenn ich vor ihn hintreten würde, um ihm zu eröffnen, dass ich ohne irdische Güter zu ihm komme, so würde er mich nur gross ansehen und nicht begreifen, wie ich zu ihm davon reden kann. O, ich kenne ihn und jeden Winkel seiner Seele." Der Absender des Blickes ohne Adresse lasst Johanna irgendwann einmal beim Einsteigen in die Trambahn den Vortritt. Phlegmatisch und gewohnheitsmassig lasst er Kindern meist den Yortritt. Aber er sieht nicht einmal hin, ob es ein kleiner Junge oder ein Madel ist, was da vor ihm aufspringt. „Seit heute früh bin ich eine Dame", wird diese zerstreute Geste in Johannas Tagebuch vermerkt, „beim Einsteigen in die Bahn blickte er sich nach mir um, machte mir eine kleine verstohlene Yerbeugung und trat zurück, um mich zuerst einsteigen zu lassen. Das ist noch nie im Leben jemandem eingefallen. Ich hatte fast geweint über so eine wirklich ritterliche Behandlung. Und jetzt bin ich eine Dame; denn er hat mich dazu gemacht." „Für jeden andern Menschen sind zwölf Minuten eben zwölf Minuten. Für mich sind sie ein ganzer Tag. Für jeden andern Menschen ist eine Trambahn eben eine Trambahn, die vom Schottenring kommt und zum Schwarzenbergplatz fahrt. Für mich ist sie mein Haus. Sie kommt von nirgends her, und sie fahrt auch nirgends hin. Sie ist ganz einfach mein Haus. Seines und meines. Er sitzt mir gegenüber und rührt sich nicht. Aber seine Augen fragen; „Was hast du getan, ehe wir uns begegnet sind?" Und ich greife mir an den Kopf, weil mir nicht einfallen will, was vorher war, ohne ihn. Er schaut eine Weile hinaus, als wolle er sehen, ob seine Haltestelle noch nicht komme. Ich aber weiss, dass dieser Bliek in meine Yergangenheit geht und sie prüft, bis ihm jeder Tag und jede Stunde bekannt ist. Und ich werde plützlich rot; denn da gibt es doch vieles, was ich ihm verbergen möchte, vieles, womit ich seiner unwert bin; aber man kann ihm nichts verbergen. Er kann meine gesamte Vergangenheit überblikken wie ein offenes Buch, und darüber möchte ich in den Erdboden versinken. Doch da kommt sein Bliek schon zu mir zurück in die Gegenwart. Mir ist, als wachse ich plötzlich unter seinen Augen, die ganz Verstellen sind und nur Liebe und Güte. Mir ist auch, als habe ich mit einemmal Blatter, die sich unter seinen Blieken ausbreiten, oder Fliigel, die sich in seiner Sonne regen und mich nach oben tragen. Ich kann das nicht richtig beschreiben. Ganz klar ist mir ja auch nur eins: ich bin der glücklichste Mensch von Wien. Denn in seinen Augen steht ganz deutlich: „Aber ich weiss ja, dass, ehe du mich trafst, gar nichts war. Auch bei mir. Ich habe alles vergessen, wie auch du alles vergessen musst." Ich möchte so gern wissen, ob er noch Eltern hat oder andere Menschen, die er liebt. Er muss diese Frage erraten haben; denn er halt die Hand vor den Mund und gahnt. Kann es eine deutlichere Antwort auf die Frage geben? Es ödet ihn alles an. Das war die Antwort. Nur ich bin da flir ihn und sonst gar nichts. Muss ich nicht der glücklichste Mensch von ganz Wien sein?" „Er steigt immer eine Haltestelle früher aus als ich. Heute hat er beim Aussteigen ein Heft liegen lassen. Er bemerkte es viel zu rasch, als dass es unabsichtlich gewesen sein könnte. Und er tat es ja auch nur, um noch einmal umzukehren und mich mit einem langen Bliek zu umfassen. Im Yorbeigehn streifte sein Mantel meme Schultasche. Ich spürte es durch das Leder und den vielen Stoff, den man so auf sich hat. Und ich begriff, was das heisst: Wunder wirken. Seit dieser Berührung glaube ich, dass es bestimmt Menschen gibt, die Kranke heilen und vielleicht sogar Tote wieder erwecken können. Zwar war ich nicht krank; aber wenn ich es gewesen ware, diese Beriihrung hatte mich gesund gemacht. So aber ging eine gewaltige Kraft auf mich über. Und dann kam ich mir auch so behütet vor und so gefeit gegen alles. Nie im Leben war ich Gott naher als heute in der Trambahn, als sein Mantel meine Schultasche streifte." So besessen ist das Kind von der Welt seiner Vorstellungen, dass es sich nicht von der Stelle zu rühren vermag, als eines Morgens der Geliebte ausbleibt. Sie verharrt unbeweglich, weiss selbst nicht wie lange. Aber er kommt nicht. Schliesslich findet eine Nachbarin Johanna und bringt sie, fiebergeschüttelt, nach Hause. Man steekt sie ins Bett, gibt ihr Tee und heisse Limonaden. Niemand weiss, was ihr eigentlich fehlt. Nur sie weiss es: Er! Ohne ihn ist sie halbiert, so sehr gehort sie zu ihm. Er fehlt ihr ganz organisch, und wenn er nicht da ist, fallt sie zusammen. Am nachsten Morgen ist sie wieder völlig hergestellt. Man steht vor einem Ratsel, besonders, da sie flehentlich bittet, man möge sie in die Schule gehn lassen, sie, die dem Unterricht sonst nicht oft genug fernbleiben möchte. Trotz ihrer ganz ratselhaften Verzweiflung erlaubt man ihr den Schulbesuch nicht, und erst am Nachmittag erreicht sie, dass ihr ein Gang zu Marianne gestattet wird. Sie geht nicht zu Marianne. In ihrem Kopf hat sich der Gedanke festgesetzt, dass auch der Freund sie bitter vermisst, den ganzen Tag um ihr Haus streift, getrieben von heisser Unruhe um sie. Und nun wird sie ihn finden! So lauft das vor Aufregung fiebernde Kind durch die Strassen der Leopoldstadt und sucht einen Mann, den es so gut wie gar nicht gibt. Zwar geht er irgendwo herum in. seinen soliden Stiefeln mit den riickwarts gebundenen lacherlichen Mascherln; seine Armel sind zu kurz, und sein Hosenboden hangt, ausgebeutelt von vielen Biirostunden in der ivanzlei des KxonprinzRudolph-Theaters; aber das alles hindert nicht, dass die unbandige Phantasie eines kleinen rothaarigen Wesens sich seiner bemachtigt hat. Der ewige Geliebte, den es noch nie gegeben hat, nie geben wird, hier geht er, wandert mit hangendem Hosenboden und grossen, einwarts gewandten Schritten allmorgendlich zur Haltestelle der Strassenbahn. Und er ahnt nicht, in welch überirdische Sphare seine belanglose Existenz versetzt worden ist. Denn Liebe ist schöpferisch wie das Auge Gottes, und was sie erschafft, ist nach seinem Ebenbild. Kein Künstler weiss, was er der gestaltenden Phantasie seines Publikums dankt. Ohne die Interpretation dieses Publikums ist das schönste Bildwerk eine Farbenanalyse, Musik ein physikalisches Gesetz, Dichtung Sammlung grammatikalischer Kausalitaten. Und der Mensch, was auch immer er im Leben leiste, ist doch nichts anderes als eine Angelegenheit seiner Hebamme, seines Backers und Schusters und endlich seines Totengrabers, wenn es in seinem Leben nicht den unsterblichen Moment gab, wo Liebe ihn sah mit dem schöpferischen Auge Gottes. Der Geliebte streift nicht um Johannas Haus, und sie begegnet ihm nicht. Aber schon am nachsten Tag trifft sie ihn wieder in der Trambahn, und am nachstfolgenden ebenfalls und von da ab alle Tage. Jeden Morgen ist sie zwölf Minuten lang auf der Höhe der Glückseligkeit. Sie führt lange Unterhaltungen mit ihm, fest überzeugt, dass er alles aufnimmt, was sie ihm zu sagen wünscht. Und die Antworten, die sie erhalt, sind immer voll tiefsten Yerstandnisses und voller Anteilnahme. Er kennt und weiss alles, ist die Vollkommenlieit selber. Nur hier, in diesen zwölf Trambahnminuten, wird einmal Wirklichkeit, wovon jedes Madchen traumt, was jede Frau immer noch erwartet und was sich nie begibt. Hier ist der Mann, der einzig wirkliche Mann der Welt: der Ertraumte. Er ist gut und geduldig, er ist grossziigig und taktvoll. Er kennt keinen Egoismus, keine kleinliche Eitelkeit, keine Rechthaberei — und was ein Wutausbruch ist, weiss er nicht einmal dem Namen nach. Er lügt nie, und er ist die Güte selbst. Jene einzigartige Güte, die aus grosser moralischer Kraft und Selbstsicherheit kommt. Kurz, er ist der einzige Mann, den es gibt. Und wenn auch kein Mann dieser Welt so ist, so haben wir hier doch die Norm vor uns. Wie jeder junge Mensch Gott sucht, so sucht jedes Madchen diesen Mann. Und hier ist er: Alois Spacil! Dass Johanna an dem standigen Umgang mit solch einer Persönlichkeit wachst, ist nur selbstverstandlich. Der Nichtvorhandene übt einen ungeheuern Einfluss auf sie aus. Zunachst ausserlich. In keiner der vielen Perioden ihres Lebens war sie so peinlich exakt und ordentlich. An sich selbst, an ihren Schularbeiten und Büchern. Die Schranke und Schubladen ihres Zimmers sehen so aus, als könne „Er jeden Augenblick auf den Gedanken kommen, sie zu inspizieren. Gegen die Menschen ihrer Umgebung ist sie höflich, bescheiden, liebenswürdig. Uber jede Sekunde wollte sie „Ihm Rechenschaft ablegen können. Niemanden durfte es geben, der Grund hatte, über sie einmal bei ilim Klage zu fiihren. Es war eine vollkommen gliickliche Zeit, und es ging ebensoviel Licht und Warme von dem kleinen Madchen aus, wie es empfing. Alois Spacil, der Neuerschaffene, der Gott, wandert eines Abends durch die Taborstrasse. Der Hosenboden hangt, die Schuhbander sind rückwarts zu lacherlichen Schleifchen gebunden. Ohne auszuholen, setzt er seine Schritte, den Fuss etwas einwarts gebogen, voreinander, und jeder Schritt wirkt, als wolle er ihm nicht einen, sondern zwei weitere zugleich folgen lassen in einem sehr diensteifrig, sehr dienstbeflissen stolpernden Gang. An seinem Gang erkennt man jene Betriebsamkeit zweiten Grades, die anbefohlene. Yor einem Lebensmittelgeschaft — Greislerei heisst es in Wien macht Alois Spacil halt und begibt sich ins Innere, um Pfefferminztee und Lilienmilchseife einzukaufen. Und hier entdeckt ihn das Kind wieder. Kennen wir das nicht alle, dieses gewisse Herzklopfen mit einem winzigen Stich in der Kehle, der schmerzt und doch wohltut? Und eine Sechzehntelsekunde zieht die Welt rot-blau-grün an einem vorbei, und man hat keine Beine unter sich, sondern etwas aus Teig oder bestenfalls Spiralen. Dies alles aber bekommt erst seinen richtigen Schick — in Johannas Jargon: seine Weihe, wenn auch ein Zitat bei der Hand ist. Ihr fiel Schillers Amalia ein, und mit ihr rief sie aus: „O ihr Sterne! ich hab ihn! Andachtig sagte sie es vor sich hin, und das mussen die Unsterblichen eben auch noch überleben, dass Politiker und Yerliebte sie unentwegt für ihre Zwecke missbrauchen. Es war 7 wundervoll, diesen Satz vor sich herzusagen. Sie sog die Silben förmlich in sich hinein. Und sie musste sich an das Schaufenster lehnen, weil die Beine nun zu den besagten dünnen Spiralen wurden, die nichts mehr trugen, am wenigsten soviel Seligkeit. Das einzige, was sie noch klar empfindet, ist dies: jetzt ist ihr grosser Augenblick gekommen, hier vor der Greislerei wird sie auf „Ihn warten und ware es bis zum jüngsten Tag. Sie spaht in den Laden. Er ist voller Menschen. Es kann, bis zum jüngsten Tag, unter Umstanden sehr lange dauern. Man sollte immerhin das Warten bis zu diesem Zeitpunkt nützlich anwenden und sich zurechtlegen, mit welchen Worten man vor „Ihn" hintreten wird. Aber sind Worte denn nötigP Ist zwischen ihnen nicht schon Morgen für Morgen in stummem Gedankenaustausch alles gesagt worden, was Menschen sich je zu sagen haben? So braucht sie ihm jetzt nur entgegenzugehn, braucht nur zu sagen: „Da bin ich endlich!" Wahrend dieser Uberlegungen entdeckt sie im Schaufenster ein Plakat; „Heurigenpackerln! Extramilde Salami. Frische gefüllte Paprika. Tiroler Wacholderspeck. Landgeselchtes! Soeben eingetroffen. Achtung! Heurigenpackerln! ' lm Laden vor den Augen des Geliebten hangt das selbe Schild. Er steht dicht davor. Unter Heurigem versteht man den diesjahrigen Wein. Zu jeder Jahreszeit fahren die Wiener hinaus in die Weindörfer, meist nach Grinzing, wo auf kleinen Weinbauerngiitern der diesjahrige Wein ausgeschenkt wird. Im Sommer sitzt man im Freien, im Winter in den niedern Bauernstuben, isst aus der Hand den mitgebrachten Schinken und Aufschnitt — Teller und Besteck gibt der Bauer seinen Gasten nicht — und Mm trinkt dazu den in der ganzen Welt bekannten heurigen Wein. Johanna lasst den Geliebten keinen Augenblick ausser acht. Gerade tritt oder stösst Alois Spacil, der Wirkliche, einen im Laden befindlichen Kaufer, entschuldigt sich und lachelt noch eine Weile vage in der Richtung des Angerempelten. Alois Spacil, der andere, der Gottahnliche, hat mit diesem Lacheln kundgetan, dass er den Abend in Grinzing zu verbringen gedenkt. Er steht noch immer vor dem Schild und studiert es eingehend, um danach sein Heurigenpackerl zusammenzustellen. Johannas Kombination ist lückenlos. Ohne sich eine Sekunde zu bedenken, ist sie fest entschlossen, den Abend mit ihm zu verbringen. Der Laden ist übervoll. Ehe der Geliebte eingekauft hat, ist sie zu Hause und auch wieder zurück, berechnet sie, und schon stürzt sie davon, um sich Geld zu besorgen. Die Mutter hat Kundschaft im Miedersalon. Johanna kann ihr nicht die blitzschnell erfundene Erklarung für ihre Abwesenheit geben. Aber schriftlich geht es besser, und es ist ganz plausibel, dass man wegen einer Mathematikarbeit noch zu einer Mitschülerin müsse. „Vielleicht wird es ein bisschen spat", schliesst der Zettel. Ebenso wie die Ausrede ergibt sichs von selbst, dass Johanna sich aus dem Nachtkastl des Yaters fünfundsiebzig Heller nimmt und aus dem Wascheschrank der Mutter eine Krone und fünfundzwanzig Heller. Sie hatte nicht das leiseste Bedenken und gar nicht das Gefühl, Unrecht zu tun. Die ganze Welt musste doch in solch einem Moment ihr zur Seite stehen. Welch einem bessern Zweck konnte das elterliche Geld dienen als ihrem Glück? Sie wird mit dem Geliebten zum Heurigen gehn. Zum Heurigen! Was das über das Milieu und den Wein hinaus für den Wiener bedeutet, ist eigentlich nur mit „alles" zu erfassen. Es ist seine Politik, und es ist seine Religion. Vier Fünftel seiner Volkslieder haben den Heurigen zum Gegenstand, den Duft der Weinberge, die Atmosphare der Bauernstuben und natürlich das Glück und die Liebe. Man braucht eigentlich nur das Heurigenpackerl mitzubringen — das Glück und die Liebe kommen beim Heurigen von selbst. Und solch eine Seligkeit steht Johanna heute, zum erstenmal in ihrem Leben, bevor. Wieviel mehr verspricht sie sicb davon, die so etwas nur vom Hörensagen kennt. Es war ein Wink des Schicksals, dass der Geliebte heute zum Heurigen ging. Das bedeutete Entscheidung über ihr ganzes Leben. Sie muss mit. Alles tanzt vor ihren Augen, so schnell rennt sie zurück zum Greislerladen, gehetzt von verzweifelter Angst, zu spat zu kommen, den Geliebten zu verfehlen. Als sie um die Ecke biegt, sieht sie ihn, schon ein Stück vom Laden entfernt, vor sich hergehn. In Wirklichkeit ist es natürlich ein ganz anderer. Ihre Angst, ihre Uberreiztheit formen im Abenddunkel den Erstbesten, der da auf den Kai einbiegt, zu den Konturen des Angebeteten um, wahrend der im Greislerladen noch immer geduldig auf seine Abfertigung wartet. Als der völlig Fremde in eine Trambahn, Richtung Schottentor einbiegt, gelingt es ihr noch gerade, den Anhangewagen zu erreichen. Aufatmend stellt sie fest, dass er, ihr den Rücken zukehrend, auf der hinteren Plattform steht und raucht. Nun ist nicht einmal mehr der Mann mit dem hangenden Hosenboden und den rückwarts zu Mascherln ge- bunderien Schuhbandern, sondern ein völlig anderer der feste Punkt ihrer Vorstellungswelt. Aber der Mann mit dem birnenförmigen Kopf ist ja nicht zerronnen; denn ihn gab es ja nie in ihrer Yorstellung. Was ist Wirklichkeit? Wirklichkeit ist Anlass! Gott sei Dank! Er hat sie noch nicht bemerkt, denkt Johanna. Er darf sie auch nicht bemerken. Erst draussen in Grinzing, in einer dieser stillen, dörflich romantischen Gassen, wird sie ihm, wie zufallig, in den Weg laufen vielleicht auch erst im Heurigenlokal und schon jetzt geniesst sie den freudigen Schrecken, den ihr unvermutetes Erscheinen auslösen wird, um sich jah in einen tollen Wirbel der Glückseligkeit zu verwandeln. Die Trambahn halt am Schottentor. Dort, vorm Hotel de France, stehn die Bahnen, die nach Grinzing fahren. Das weiss jedes Wienermadel, auch wenn es noch nie bei einem Heurigen war. Ein paar Sekunden nach dem Mann ist Johanna ausgestiegen und halt sich hinter einer Menschengruppe verborgen. Dabei hofft sie doch, er werde sie jetzt schon entdecken und sie auffordern, mit ihm nach Grinzing zu fahren. Sie wartet. Die beiden Türme der Votivkirche, ein feines dunkles Filigran am Abendhimmel, schauen mit ihren erleuchteten Uhrenaugen in das Gedrange um die Grinzinger Trambahnlinien. Und sie schicken die hallende Stimme des Abendlautens weit über den Platz. Johanna schliesst die Augen und atmet die kalte, sie unsagbar erregende Luft ein. Immer gegen Abend lautet die Votivkirche. Johanna hört es zum erstenmal bewusst. Sie lautet heute ja ihre Stunde, lautet ihr ganzes eigentliches Leben ein. Sie muss ihre Hande auf die Brust pressen, ihr ist, als tonen nicht mehr die Glocken, sondern ihr Herz, es lautet über Strassen und Platze, über ganz Wien. In dieser unmenschlichen Aufregung verliert sie die Spur des Geliebten. Aufgestört trippelt sie hin und her, sucht ihn, und es stehn ihr die Tranen in den Augen — da findet sie ihn wieder. Da ist er! Gerade schwingt er sich auf die vordere Plattform der Grinzinger Tram, und Johanna begibt sich aufatmend in das mit Heurigengasten überfüllte Wageninnere. Es ist natürlich langst wieder ein anderer; aber was spielt das noch für eine Rolle? Es ist irgend ein Mann, der nach Grinzing fahrt. Was hat das zu sagen? Ihre Augen sind ja schon nicht mehr von dieser Welt. Sie sieht, was sie will. Jetzt ist es auch stockfinster, die sparliche Beleuchtung des dunstigen Wagens fördert nur die Tauschung. Wenn er sich umwendet und sie bemerkt — was wird geschehen? Wird er sich zu ihr in den Wagen setzen? Nein, was jeder andere Mann tun würde, ist für ihren Geliebten nicht angangig. Nicht am Schottentor und nicht hier im überfiillten Strassenbahnwagen kann er ihr gegenübertreten. Er kann die ersten Worte mit ihr nicht unter den beobachtenden Blieken der Mitfahrenden wechseln. Aber — er könnte sich mit grossem selbstverstandlichem Schweigen neben sie setzen. Nichts ware natürlicher. Ihr und ihm ist die Trambahn ja Haus und Heimat, und die Menschen ringsum würden hin ter Wolken verschwinden, wenn „Er" seine Augen auf ihr ruhen lasst. Aber der Fremde da vorn wendet sich nicht um, obwohl Johanna es jede Sekunde erwartet, wünscht, fürchtet. Das Kind glüht und zittert hinter dem soldatisch straffen Rücken eines mittleren Bahnbeamten, der, auf die Dauer eines Abends, den Canevas abgibt für die üppig leuchtenden Gobelinfarben ihrer Phantasie. Als man in Grinzing angelangt ist, getraut Johanna sich kaum auszusteigen. Immer naher rückt nun der grosse Augenblick, da er sie an der Hand nehmen wird, um sie nie wieder loszulassen. Es liegt ganz an ihr, ob dieses grosse, entseheidende Erlebnis noch hinausgesckoben werden soll, sie hat es völlig in der Hand. Und auch der Geliebte ist hier frei von der Stadt und ihren Hemmungen — nun würde er endlich zu ihr sprechen, sie endlich wissen lassen, wie sehr er sie liebt. Trotzdem ist sie die letzte, die die Bahn verlasst, drückt sich an eine Hauserwand und wartet, bis er fast ausser Sicht ist. Dann folgt sie seinem Schatten. Er geht an den bekannten grossen Heurigenlokalen vorbei, weiter hinaus, wo die Hauser sparlicher am Weg stehn und nur noch ganz leise, vom Wind verweht, Schrammelmusik zu horen ist. Der Mann wendet sich bergauf. Auf einem schmalen Pfad, zwischen Weinbergen, stolpert das Kind ihm nach. Es ist eine stockdunkle, eisig kalte Nacht. In den Furchen liegt Schnee, da und dort sind gefrorene Wasserlachen. Der Abstand zwischen dem Mann und dem Kind vergrössert sich immer mehr. Sie hat furchtbare Angst, ihn schliesslich ganz zu verlieren, hat furchtbare Angst überhaupt. Sie achtet nicht auf den Weg, bricht manchmal durch die Eisdecke einer Pfiitze, und ihre Füsse werden nass. Kaum dass sie es bemerkt. Sie stolpert weiter und ist immer dicht am Hinfallen. Da sieht sie Licht. Der Mann halt vor einem kleinen Bauernhaus und verschwindet in der Toreinfahrt. Als Johanna keuchend oben anlangt, ist bereits alle Angst, alle Not von ihr abgefallen. Sie steht vor dem einstöckigen Haus eines Weinbauern. Erleuchtete Fenster im Erdgeschoss, mit Eisblumen überzogen und von rotkarrierten Gardinen gegen die Aussenwelt abgeschlossen. Uberm Tor hangt an langer Stange der Tannenbuschen, den der Bauer anbringt zum Zeichen, dass er heurigen Wein ausschenkt. „Ausg'steckt" nennens die Wiener. Uber dem Buschen schaukelt eine Stallaterne. Zitherklange und weinheiserer Gesang sind zu hören, und aus einem halboffenen Küchenfenster dringt das Geklapper von Glasern in einem Spülbottich. Johanna ist am Ziel. Dieses Tor, in dem der Geliebte verschwunden ist, führt zu ihrem Paradies. Der weinselige Gesang erklingt ihr wie ein Engelchor, das Geschirrklappern im Spülbottich verheisst bacchantische F estvorbereitungen. Im halbdunkeln Tor steht ein frierendes Kind, ganz allein, nicht unahnlich einem verlaufenen kleinen Hund; aber von all dem weiss es nichts. In diesem Haus und hinter diesen rotkarrierten Gardinen ist der ewige Geliebte. Gleich werden sie sich gegenüberstehn. Kann man soviel Glück tragen? Wird sie denn noch wissen, wie sie heisst? Oder wird sich ihr die Sprache verwirren? Kann man an Glück nicht sterben? Es dauert eine Weile, ehe sie wieder zu Atem kommt und ihr Gedankenwirbelsturm sich etwas beruhigt, und dann dauert es ebenso lange, ehe sie sich entschliesst, einzutreten. Zaghaft und völlig verschüchtert steht sie an der Tür einer verqualmten, niedern Bauernstube. An langen, ungedeckten 1 lolztischen auf Holzbanken sitzen die Menschen dicht beisammen. Weindunst und ein Geruch von Tabak und Knoblauchwurst erfiillt die Luft. Dicker Qualm lasst alle Umrisse hin und herwogen und zitternd verschwimmen. In der Mitte des Raumes hangt zwar eine Gaslampe, deren Beleuchtung aber nicht ausreicht. Darum stehen auf allen Tischen noch zahlreiche Windlichter. Neben dem Eingang zu einer zweiten Stube sitzt, an einem kleinen Tisch für sich, ein alter Mann mit einer Zither. Er tragt die landliche Tracht, Lederhosen und dicke weisse Stutzen in genagelten Schuhen — die nach ihrem ursprünglichen berühmten Herstellungsort, Goiseren, genau so heissen. Bei der Bezeichnung „Goisern" denkt kein Mensch mehr an den Ort im Salzkammergut, sondern an genagelte Bergstiefel. Auch die Barttracht des bauerlichen Zitherspielers ist eine Landessitte: Koteletten, Vollbart mit ausrasiertem Kinn, genau wie Kaiser t ranz Joseph. Gerade spielt er das Fiakerlied. Gusta\ 1 icks Fiakerlied ist in Wien ebenso popularwie das„Gott erhalte"— es rangiert sozusagen als Nationalhymne in kleiner Uniform. Natürlich singen alle es mit, und das Schnalzen zum Anfeuern der Pferde wird mit solch begeisterter Hingabe gebracht, wie der Deutsche sich inmitten grosser Bierseligkeit fragt: „Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin —" Der Bauer, seine Frau, ein Knecht und eine Magd bedienen die Gaste und setzen sich da und dort eine Weile dazu. Das Fiakerlied aber lasst sie alle Pflichten vergessen. Das summen und brummen und schnalzen Bauer, Knecht und Magd mit. Und auch in den Bewegungen der Schwerfalligeren löst dieser Rhythmus et- was von dem lockeren, charmanten Leichtsinn aus, der das Besondere dieses Yolkes ist. Das Kind beachtet in dem Trubel vorerst niemand. Es steht noch an der Tür, benommen und entzückt von dieser korporativen Lebensfreude. Der allgemeine Wonnetaumel erfasst auch sie — sie besonders; denn ihr ist ja hier eine Begegnung mit dem Geliebten beschieden. Sie sieht sich nach ihm um. In diesem Zimmer ist ei nicht. Yon hier gehts durch eine brcite Tür in einen zweiten Raum, sehr ahnlich dem ersten, nur noch mit Guirlanden geschmückt. Und dort sitzt in einem Winkel, von andern Menschen fast verdeckt, hintei Rauchschwaden, der Geliebte. Dass er in grösserer Heurigengesellschaft ist, kann sie nicht feststellen; denn er hat alle begrüsst, ehe Johanna eintrat, und sitzt nun, mit dem Rücken zur Tür, in stillem Genuss vor seinem Wein. Eine Weile beobachtet Johanna ihn, hinter einem Kleideretander verborgen, mit schwindelndem Entzücken; noch ahnt er ja nichts von ihrer Nahe. Wie er wohl aufspringen wiirde, wenn sie heimlich hinter ihn trate und sich bemerkbar machte! Natürlich tritt sie nicht hinter ihn. Nein. Sie muss sich seiner Wohlerzogenheit würdig erweisen. So nimmt sie im ersten Zimmer verstohlen und bescheiden an einem langen Tisch Platz, von wo sie dann und wann einen Bliek in die Richtung des Angebeteten schicken kann. Johanna wartet, dass jemand sie fragen würde, was sie trinken wolle. Aber es fragt sie niemand. Klein, vergessen, armselig sitzt sie unter lachenden, essenden, singenden Menschen; aber sie merkt es nicht. Sie hat noch keinen Tropfen getrunken; aber aus ihr selber steigt der Rausch. Wahrend sie so gottverlassen dasitzt, erlebt sie in hundert Yariationen den Augenblick, in dem der Geliebte sich umwenden — sie bemerken würde. Vielleicht würde sie in masslosem Glücksgefühl auf den Tisch springen und einen tollen Tanz zwischen Glasern und Karaffen aufführen oder aber er zöge sie still mit sich heraus, um sie draussen in die Arme zu schliessen. Vielleicht aber kame es dazu gar nicht, weil sie im ersten Aufruhr davonstürzen würde, hinaus in die hartgefrorenen Weinberge, und — natürlich — würde er ihr folgen Einstweilen ereignet sich aber gar nichts. Nur der Knecht, der den Bauersleuten beim Bewirten der Gaste hilft, tritt auf sie zu, vielmehr er marschiert zu den Klangen des Radetzkymarsches zu ihr hin, wahrend man in beiden Zimmern den Takt dazu schlagt, tritt, trommelt und klatscht. Und so im Vorbeimarschieren fragt der Knecht, zu wem Johanna gehore, und ob man ihr nichts zu trinken gebe. Sie antwortet nicht gleich. Zu sehr ist sie in ihre Traumereien versponnen. Was gehn sie denn andere Menschen anP Wem, ausser dem Geliebten, muss sie Rede und Antwort stehn? Der Knecht fragt sie ein zweitesmal. Sie antwortet mit fliegenden Augendeckeln, den Kopf in die Schultern eingezogen, sie warte hier auf ihre Eltern. Mit grossem Schwung setzt der Knecht ein Glas Heurigen vor sie hin mit der Bemerkung, sie solle es schnell trinken, eh die Eltern kommen. „Damit dass du weisst, was ein tulli Wein ist", sagt er dazu, „der ist besser als wie Muttermilch! Trink, dass du gross und stark wirst! Ich spendier ihm dir!" Scheu blinzelnd dankt Johanna; aber wahrend sie mit dem Burschen spricht, gleiten ihre Augen sehnsüehtig hinüber ins andere Zimmer. Ein paar Leute, die ihr die Aussicht versperren, stecken gerade die Köpfe zusammen, und sie kann einen Augenblick lang einen Schim mer des Helden ihrer Phantasie sehen. Sein Vor-sichhinbrüten, das in Wirklichkeit inniges Yergnügen ist an der milden Flachsfarbe des Weins, ergreift sie tief. Da sitzt er nun und denkt an mich, gehts ihr dureh den Kopf. Er hat sich hier hinaus in die Einsamkeit geflüchtet, nur um an sie zu denken. Unter wildfremden Menschen sitzt er und zieht deren Gesellschaft seinen Bekannten vor, die mit Fragen in ihn dringen könnten, wer oder was ihn so beschaftigte; denn natürlich muss es den Menschen seiner Umgebung schon aufgefallen sein, dass ihn nichts mehr interessiert und alles ringsum ihm gleichgültig geworden ist. Der Canevas ihrer Phantasie, der mittlere Bahnbeamte, der wieder ihrer Beobachtung entzogen wird, nimmt gerade mit dicken, nicht übermassig sauberen Fingern ein Stück fette Wurst aus dem Pergamentpapier seines Heurigenpackerls, verzehrt es mit andachtigem Genuss und spült es mit seinem Heurigen hinunter. Ehe wieder Menschen eine Mauer zwischen ihr und dem Mann bilden, war ihr im Zigarrennebel, der Bewegungen vor- und wegtauscht und Formen und Gesichter verschwimmen lasst, als habe der Geliebte ihr sein Gesicht zugedreht. Eine Sekunde lang hat sie unter den tausend Gefühlen, die sie passieren, auch das Gefühl grosser Fremdheit, spürt, dass sie hier gar nichts zu suchen hat, nichts weiter ist als ein verlaufener kleiner Hund. Aber das dauert zwei, drei Atemzüge lang, ist schon vorbei. Ihre Augen trinken sich wieder fest an dem eben abermals sichtbar werdenden Rücken des Bahnbeamten, ihr Herz an der Illusion. Nun nippt sie an ihrem Glas, und gleich noch einmal. Zu Hause kennt man kaum Wein, dann und wann einen süssen Malaga oder sonstigen Dessertwein. Johanna ist enttauscht. Sie hat einen grandiosen Genuss erwartet und nicht dieses sauerliche Getrank. Seine Wirkung verfehlt es trotzdem nicht. Ihr ist Trinken völlig ungewohnt, zudem hat sie so gut wie gar nichts gegessen, da genügen zwei Schluck. Die paar Tropfen sprühen ihr ins Blut, ganz leicht wird ihr, eine unsagbar klare Wachheit überkommt sie; aber all das ist ihren Traumereien zugewandt. Neuhinzukommende Menschen drangen sich in den kiemen Raum. Immer dunstiger wird es, immer lauter. Ein Italiener erscheint auf der Bildflache, tragt vor sich ein Brett, auf dem er die sogenannten Kanditen zum Verkauf anbietet. Diese Kanditen sind roh gedörrte Früchte, auf Holzstabchen gespiesst, Pflaumen, Aprikosen, Trauben und Nüsse, mit Zucker hart glasiert. Sie schmecken einigermassen barbarisch; aber der Wiener isst sie mit Begeisterung zum Heurigen. Man ruft den Italiener mit ,Katzlmacher' — es ist fast seine Anrede. Es ist zur Zeit des Dreibundes, der in österreich nie recht popular war. Der österreicher, weich wie sein Klima und deshalb keines rechten Hasses fahig, hat trotzdem alles, was er an Auflehnung in sich ansammeln kann, den Piefkes und den Katzlmachern reserviert, und für kein anderes Volk hat er Spitznamen erfunden. Katzlmacher geht eigentlich auf die fahrenden italienischen Handier zurück, die das nachbarliche österreich durchzogen. Sie schmückten die gute Stube des Kleinbürgers mit den Gipsbüsten aller Fürstlichkeiten, aber auch mit Seejungfrauen und Serpentintanzerinnen im reinsten Jugendstil. Der österreicher nannte diese Gipsschönheiten kurzweg die „Katzerln' und deren Yerfertiger „Katzlmacher". Die wenigsten österreicher kennen den Ursprung dieses Wortes. Wie sie sichs aber erklaren, das ist vielleicht der Schatten, den grosse Ereignisse vorauswerfen: sie verstelin darunter ein schöntuerisches Katzenbuckeln, dem man nicht trauen darf. Schon zu Zeiten, als noch der Dreibund in seiner vollen Blüte stand, fassten sie es so auf. Der „Katzlmacher" wurde seine Waren reissend los, und obwohl man ihn nicht mochte, gehörten doch seine Kanditen zum Heurigen. Da und dort wird er sogar „auf ein Glaserl" eingeladen; denn so ist der Wiener: nie lasst er sich durch seine Zu- oder Abneigungen bei seinen impulsiven Einfallen ins Handwerk pfuschen. Johanna kauft keine Kanditen. Sie bemerkt sie nicht einmal. Für sie hat der Katzlmacher keinen andern Sinn als den selben, den hier alle Kommenden und Gehenden für sie haben: wenn er sich durch die Menge der Gaste drangt, wird für einen Moment wieder die Aussicht frei ins Nebenzimmer, zu dem Geliebten. Johanna erhebt sich ein wenig von ihrem Sitz, und nun gewahrt ihr wirklich eine Menschenlichtung den ersehnten Anblick. Doch sie fallt vor Schreck auf ihren Stuhl zurück: der bauerliche Kellner steht bei ihrem Geliebten. Er zahlt bereits! Jetzt ist es soweit! Jetzt ist sie endlich am Ziel! Nur noch drei- oder viermal wird sie die gewöhnliche Luft einatmen, dann aber seine — Seine! — Nahe Er muss ja hier an ihr vorbei zur Tür. Kein Wort wird er sagen. Nein, er wird sie nur ansehen, still mit sich führen, um sie nie wieder loszulassen. Joharma hat, so dicht vorm Ziel, Angst, heisse Angst, irrsinnige Angst. Sie möchte auf und davon. Mit beiden Füssen stemmt sie sich gegen den Boden und halt sich mit beiden Handen am Tisch fest. Er muss ja jetzt kommen er muss — Als sie aber im Nebenzimmer Stühle rücken hört, stürzt sie, ohne hinüberzuschauen, besinnungslos davon. Draussen im halbdunkeln Torbogen wartet sie, stösst die qualmige Luft aus ihren Lungen und zieht die eisige Frische mit vor Kalte und Erregung aufeinanderschlagenden Zahnen ein. Da hört sie eine Tür zuklappen und feste, gleichmassige Schritte naher und naher kommen. Das kann nur „Er" sein! Und nun gewinnt etwas anderes Herrschaft über das Kind: ein paar Tropfen Alkohol. Schundliteratur und Liebesgedichte, geheimnisvoll schwülstige Buntdruckkarten, Gassenhauer, geflüsterte Dienstbotengeschichten und auch die ewige angeborene Sehnsucht im Weiblichen — das alles taucht auf, wie sie da über den Schnee schwebt, einen wirklichen oder eingebildeten Mannerschritt hinter sich, die dunkle, aufpeitschende Kalte um sich und die paar ungewohnten Tropfen in ihrem blassen, widerstandslosen Blut — das alles taucht auf, greift nach ihr, überschüttelt sie, wird Gesicht, wird Warme, wird Angst, wird Lust und schleudert ein Kind für eine lacherlich kurze, endlos lange Sekunde in das unklare Abenteuer des Reifseins. Dann schneidet der Eiswind vom Kahlenberg den Aufruhr ihres Blutes, mehr noch ihrer Nerven, mittendurch. Alles ist vorbei.Johanna ist allein. Sie geht in einer Art fliegender Nüchternheit, die wie eine Anasthesie ist, zur Trambahn zurück. Yorbei sind die Gesichte, aufgelöst schon wieder der beklemmende und beglückende Wacbtraum in den Armen einer breitschultrigen Mannersilhouette, mit der knarrenden Treppe eines Bauerngasthauses aus dem Marchen, mit der romantisch altertümlichen Bauernschlafstube aus Büchern, dem von Spinnrocken und Truhen umgebenen riesigen, weichen Bett, in dem sie unter dem von einer vergoldeten Madonna gehaltenen Betthimmel lag — der Mann über ihr. Kinderschritte trippeln durch Grinzing. Eisig durchblast der Wind das dünne Mantelchen, immer tiefer zieht sich der Kopf in die Pelzimitation zurück. Immer schneller geht sie. Dann steigt sie in die Nachttram. Wahrenddessen sitzt Alois Spacil in seinem möblierten Zimmer, knüpft die rückwarts gebundenen Schuhbander auf und vertauscht die Stiefel mit karrierten Kamelhaarpantoffeln. Dann wascht er sich gründlich, aber nicht allzugründlich mit der Lilienmilchseife und geht schliesslich daran, sich zur Nacht einen Pfefferminztee auf seinem Spirituskocher zu bereiten — ahnungslos und völlig ohnmachtig, wie Menschen immer sind, wenn andere sich ihrer in ihren Traumen bemachtigen. Abseits von ihm lebt ein ohne seine Schuld aufgestörtes Kind in einer Welt abenteuerlichster, spukhafter Projektionen. Und im Mittelpunkt dieser nicht sehr gesunden Welt wird er eines Tages sich selbst placiert sehen als Ritter und Held. Schon kommt ein Verhangnis auf den Unschuldigen zu, der an all dem vorbei I unbeirrbar seinen eigenen Weg des taglichen Einerleis gegangen ist; denn angefangen bei „Kaffee Hag schont Ihr Herz" bis zu Steckenpferds Lilienmilchseife hat er nicht den Schatten eines Gedankens auf das Kind fallen lassen. Und trotzdem schmiedeten die gespenstischen Illusionen dieses Kindes eine geheime Gefahr gegen seine Existenz. Der nachste 1 ag ist für Johanna ein Schultag wie immer. Sie steht auf, wascht sich. Rennt ein paarmal nackt durchs Zimmer, um sich zu erwarmen wie jeden Morgen. Warum aber ziehts den nackten Körper immer wieder vor den Spiegel, obwohl man nicht will und die Augen sich nur scheu und flackernd auf das Glas richten? Der Spiegel ist doch sonst auch da.... Aber sie ertragt heute den eigenen Anblick nicht. Weicht sie der getraumten Wahrheit aus oder der unwahren Wirklichkeit! Jetzt stellt sie sich trotzig ihrem Spiegelbild. Als ihr Bliek die dürftige Kindergestalt umfasst, sind plötzlich Worte da, steigen aus dem Glas: „Als Eva aber von der Frucht gegessen hatte...." Mit einem heftigen Griff reisst sie die Schranktür mit dem eingelassenen Spiegel auf, kehrt sie der Wand zu. Es nützt nichts. Nun zieht der offene Schrank ihre Blicke an, genau als ob der Spiegel da ware. Und sie hat ihre Nacktheit noch vor Augen, als sie langst angekleidet ist. Auch der Rhythmus der Worte blieb in der Lu ft hangen: „Als Eva aber von der Frucht gegessen hatte...." Es ist ein heller, sehr sonniger Morgen; aber in allen Winkeln lauert noch das Nachtgespenst, halt die Nerven in Aufruhr. 8 Johanna geht zur Haltestelle wie immer. „Als Eva aber von der Frucht gegessen hatte...."' Sie wehrt sich nicht mehr. Der Rhythmus fangt an, sie zu tragen, ist Stolz, ist Triumph. Das Leben hat für sie jetzt keine Geheimnisse mehr, sie kennt es. Was tut es, dass in Wirklichkeit nichts geschehen ist? Sie hat es erlebt. Mit ihm erlebt. Geblieben ist, was von einer ersten Berührung bleibt. Johanna ist dem Geliebten völlig verfallen. Wahrend sie mit jedem Gedanken und mit jedem Nerv bei dem Angebeteten ist, überwach, überempfindlich, wie man in unausgeschlafenem Zustand zu sein pflegt, kommt, den Hut in der Hand, ein Mann auf die Haltestelle zu. Zerstreut haftet ihr Bliek auf ihm, nur ihr Bliek — ihre Gedanken sind nicht von dieser Welt. Der Mann kommt naher. Immer noch haben ihre nach innen gewandten Augen seine Gestalt ohne Wahrnehmung erfasst und umwandert. Jetzt steht der Mann vor ihr, jetzt erst sieht sie: es ist „Er". Zum erstenmal klafft ihr bewusst der Unterschied zwischen dem Bild ihrer Phantasie und der etwas kümmerlichen Realitat eines Menschen. Einen Augenblick lang und vielleicht noch den andern Augenblick, da er, an ihr vorüber und natürlich ohne Bliek für sie, die vordere Plattform besteigt und durch den Wagen geht. Sie sieht von hinten seine steife Gestalt in den schlechtsitzenden, ziemlich abgetragenen Kleidern, schiefe Stiefelabsatze unter zu kurzen Hosenbeinen. Die ganze Erscheinung ist so weit entfernt von allem, was für Traume geschaffen ist. Auf Johannas Zunge liegt der bittre Nachgeschmack des Weins von gestern, ihr Körper ist unausgeruht, verkatert, eben tritt eine Wolke vor die Sonne des Morgens, ein Ruck von Nüchternheit streift, aber streift nur Johannas Seele. Das ist iu zwei Sekunden vorüber. In diesen zwei Sekunden taucht sie wie mit einem Seher bliek in die graue Wahrheit. Sollte ihr aufdammern, dass es keinen Geliebten gab? Dass dieser Birnenkopf da ein Unbeteiligter war, dessen stumpfer Bliek noch nie von ihr Notiz genommen hatte und übrigens für sie auch ohne den allergeringsten Wert gewesen ware? Es wollte ihr aufdammern. Aber das ware ja der Zusammenbruch gewesen, und die vehemente Selbsterhaltungskraft ihrer Natur, ihres Stammes schützt sie davor. Johanna ist nicht schön, und sie gehort auch nicht zu den Kreisen, in denen man auserwahlten Menschen begegnet. Sie ist ein armes Judenmadchen, hat nur das Eine, wodurch sie allen und allem überlegen ist, und aus dem sie sich ihr Leben machen kann — diese immense, von unterirdischen Kraften immer wieder gespeiste Phantasie. Eine Art Macht. Sie weiss das ganz genau, und sie fühlt diese Kraft auch. Das einzige, was sie sich an Leben schaffen kann, kommt ihr aus dieser Kraft. Darum ist ihr Todfeind die Realitat. Und wie die Realitat am Horizont auftaucht, wehrt sie sich ihres Lebens, nimmt die Realitat nicht wahr, will sie nicht wahrhaben, wischt sie im selben Augenblick aus dem Bewusstsein. Die Phantasie triumphiert. Sie steigt ein. Die Störung ist überwunden, sie sitzt dem Manne gegenüber, das Idol ist wieder Idol, das Leben geht weiter. Obwohl das Neue eingetreten ist, das ihr Leben ausfiillt, andert sich an dessen üusserem Ablauf nichts. Es sind ja Traum und Wirklichkeit so miteinander verbunden, dass es nirgends zu einer Störung kommen kann — vorerst. Eines greift so ins andere, eines speist das andere. Ihre ganze Welt ist herausgehoben aus der Luft der Leopoldstadt, Yater, Mutter, Bruder sind nur noch winzige Bestandteile dieser ewig glühenden Legierung von Wunsch und Wahrheit. Auch Josef Stadler ist nur noch Figurant. Stadler — sein Platz in ihrem Leben war ja auf der Seite, wo jetzt der Geliebte stand. Und darum ist Stadler ihr mehr entrückt als alle anderen. Das lag nicht nur an ihr. Mit Herrn Josef Stadler ist eine machtige Veranderung vorgegangen. Wie Johanna haben auch ihn höchst sonderbare Vorfalle abgetrieben aus dem Interessenbereich des Hauses Deutsch. Auch seiner hat sich das Schicksal auf eine ganz aussergewöhnliche Art neu bemachtigt. Herr Stadler namlich ist über Nacht berühmt geworden. Seine kleine, diirftige Lxistenz ist in einen überaus unnatürlichen Auftrieb gerissen worden, und er selbst kann diese Dinge noch nicht verstehn, die sich da ereignet haben. In der einen flachen Dimension des Intellekts ist sich Herr Stadler seiner Bedeutung immer bewusst gewesen. Er wusste, dass auf seinem blutarmen Körper ein Gehirn sass, das sich die Dinge unterjochte. Aber dass diese Bedeutung je in die gewöhnliche Wirklichkeit des Aussenlebens dringen könnte, das hat er immer nur theoretisch gedacht, in seine Vorstellung war es nicht eingedrungen. Allzuviel Weltkritik ist ein Ausgleich für allerhand Minderwertigkeitsgefühle, und die Minderwertigkeitsgefühle des Herrn Stadler verhinderten, dass er sich für einen ernstgenommenen Bestandteil der realen Welt hielt. Er hatte sein Buch geschrieben, weil er musste. Vielleicht hatte ikn ein dump fes geistiges Machtgefühl unbewusst bis an den Ehrgeiz herangetrieben, zur Notiz hatte er das nicht genommen. Und nun war es so weit. Nun sprach plötzlich ganz Wien von Josef Stadler, und nicht nur ganz Wien, der ganze Kontinent, die Welt. Das seltsame, dicke Buch mit dem unaussprechlich bedeutungsvollen Titel war erschienen und hatte eine massl°se Aufregung verbreitet. In nüchterner, unscheinbarer, wissenschaftlicher Sprache sagte es Ungeheuerlichkeiten. Es hatte zwei Ziele, zwei Objekte, zwei Gegner: am Elend der Welt, an der Yerrottung der Kultur, an der Schiefheit der Zivilisation waren zwei Dinge schuld, so sagte das Buch, der Jude und die Frau. Auf eine mystische und doch wieder diabolisch nüchterne Art brachte es diese beiden Begriffe miteinander in Yerbindung. lm Weltplan bedeutete der Jude dasselbe wie die Frau, etwas Negatives, ein unvermeidbares Ubel. Beide lagen auf der Schattenseite der Schop fung. Die Formeln des Buches waren genial. Alte Vorurteile erhielten einen neuen, höchst modernen, höchst blendenden Schliff. Die gleichgültige Tatsache, dass Herr Stadler seine Stammesgenossen nicht mehr ertrug und in der Ubergeistigung seiner schmalen Existenz kein Verhaltnis zu den Frauen gefunden hatte, wurde auf ungewöhnlich begabte Art ins Geistige und Allgemeine getragen. Es war nicht zu leugnen: das Buch erschütterte die denkende und bücherlesende Mitwelt. Die Zeitungen berichteten darüber wie über ein Elementarereignis. Die Revuen schweren Kalibers begannen Auseinandersetzungen. Der Name Stadlers wurde neben den Schopenhauers gestellt. Man suchte den Yerfasser auf, interviewte ihn, zog ihn aus dem Dunkel. Er war völlig widerstandslos, so sehr überrumpelte ihn das Verhangnis des Erfolges. Er ging in Gesellschaften, wo ihn das Licht blendete. Da der Verleger ihm Geld in nie vorhergesehenem Umfang sandte, kaufte er sich Abendanzüge und liess sich in Gesellschaften der sogenannten Welt schleppen. Sein Auftreten dort, seine Diskussion, seine Antworten waren schrill, unmassig, überheblich und zugleich schiichtern. Es gehorte zum guten Ton, ihn zu kennen, ihn an seinem Tisch zu haben. Berlin und München luden ihn zu Yortragen. Und selbst in London las er vor: ein peinlich scharfes, paradoxes und messianisches Manuskript, das jemand ins Englische übersetzt hatte. Es war wirklicher, unbestreitbarer Ruhm. Im Hause Deutsch reagierte man recht verschieden auf den unerhörten Aufstieg des Hauslehrers. Frau Deutsch begriff ihn zunachst gar nicht. Yon einem einzigen Buch machte man soviel Aufhebens? Dazu ein Buch, das, nach ihrer Meinung, kein Mensch verstehen könne. Lauter ungereimtes Zeug und stellenweise lauter Unanstandigkeiten. Mit „Unanstandigkeiten"' tat Frau Deutsch alles ab, was sich auf das Geschlechtsleben bezog. Und wahrend Stadler von Erfolg zu Erfolg schritt, fand sie nur, er sei ein Schandfleck der Judenheit, und es könne kein gutes Ende mit ihm nehmen. Sie bitte zu Gott, versicherte sie taglich, er möge verhiiten, dass je eines ihrer Kinder sie so ins Gerede bringe. Herr Deutsch tat sich zunachst einmal viel darauf zugute, dass er von den zur Wahl stehenden Hauslehrern sich für Herrn Stadler entschieden hatte. Frau Deutsch widersprach ihrem Manne nur selten. Manner vertrugen das nun einmal nicht. Sonst hatte sie anführen können, dass der eine Bewerber für den Hauslehrerposten von vornherein ausschied, da man wusste, er litt an epileptischen Anfallen, und der zweite war der Neffe eines Mannes, der einst die Ehre ausgeschlagen hatte, Herrn Deutschs Schwager zu werden. So kam eigentlich nur Herr Stadler in Frage. Immerhin genoss Herr Deutsch seinen Triumph, den „Bliek eines geeichten Menschenkenners" als eine seiner besondern Qualitaten in Anspruch nehmen zu können. „In Bezug auf Lrziehung habe ich jedenfalls meinen Kindern das Beste vom Besten angedeihen lassen", gab er überall seinem Selbstbewusstsein Ausdruck. Er sammelte jede Zeile, die über Stadler in der Zeitung erschien, er hasste Stadlers Widersacher glühend. er wusste über jeden Schritt in Stadlers öffentlichem Leben Bescheid, und er sonnte sich in dessen Ruhm, ganz besonders im Gefiihl, dass er immer gewusst habe, was in diesem Menschen stecke. Stadler ist von morgens bis abends Gesprachsstoff im Hause Deutsch. JNur von einem ist nie die Rede: dass man ihm geholfen hat, wo man konnte, dass man ihn nach Massgabe der eigenen bescheidenen Krafte unterstiitzt hat, wo es nur möglich war. Das übergeht man. Denn auch dem kleinsten Juden ist es eingeboren und mitgegeben , dem dankbar zu sein, dem man hat helfen dürfen. Man ist es in erster Linie, indem man schweigt. Die, die Stadler am besten kennen und die es am meisten angehen sollte, die nehmen seinen Ruhmeszug durch die Welt am gelassensten hin. Leo Deutsch hatte vom Yater die Tragheit und von der Mutter das Misstrauen all dem gegenüber, was ihm nicht einging. Er las, natürlich trotz ausdrücklichen Verbots, Josef Stad- Iers Buch von Anfang bis Ende in einem Zuge durch. Mit seinen fünfzehn Jahren begriff er so gut wie gar nichts, gab aber doch. sein Urteil dahingehend ab, dass in Bezug auf die Juden nichts und in Bezug auf die Frauen alles stimme. In der Schule allerdings war ihm regelrecht aller Schatten vorbehalten, den Stadlers Licht warf. Anfanglich fühlte er sich sehr wohl dabei, wenn man ihn nach Stadler fragte, und er gab bereitwillig Auskünfte, auch wenn er über das, was man wissen wollte, selber so genau gar nicht informiert war. Hierzu kam aber ein Umstand, den er bald satt hatte: immer wieder, wenn er in den einzelnen Fachern versagte — und er versagte oft — musste er sich vorhalten lassen, wie es denn möglich gewesen sei, sich bei einem solch hervorragenden Hauslehrer solch hervorragende Unwissenheit zu bewahren. Jede schlechte Leistung, die man sonst wohl übergangen hatte, wurde jetzt, unter besonderem Hinweis auf Stadler, vermerkt. Ihm kam vor, er sei ausersehen, von Stadlers Höhenflug die Kosten zu tragen. Johanna aber hatte an Anderes, Wichtigeres zu denken als an Stadler. Johanna war mit nicht mehr und nicht weniger beschaftigt als mit dem Glück. Sie liebte. Sie brauchte nicht mehr zum Leben. Auch die Schule, die Schule vor allem, stand in diesem Zeichen. Was Josef Stadler nie erstrebt und auch nie erreicht hatte, traf jetzt ein: Johanna war in diesen wenigen Wochen eine gute Schülerin geworden. Frau Deutsch, die ihren eigenen Bildungsverhaltnissen entsprechend der Tochter Fortschritte nicht beurteilen konnte, glaubte bei der ersten guten Note in deren Schulheften an ein Versehen der Lehrerin und bei einer zweiten an eine Mystifikation. All dies, im Zu- sammenhang mit Johannas mustergültigem Betragen, war ihr eher unbehaglich. Nur beim Yater fanden ihre besseren Leistungen Anklang, und er nahm sie mit der Feststellung zur Kenntnis, sie sei eben doch seine Tochter und ausserdem Stadlers Schülerin. f ür Johanna war, was man zu Hause von ihr sprach und dachte, nur Beiwerk. Sie war glücklich. Und die Wande waren ihr oft zu nah beisammen für ihr Glück, so dass es sie hinaustrieb. In dieser Zeit gehorte ihr ganz Wien. Sie rannte durch die Gassen, über den Ring, war verliebt in jeden Pflasterstein und schnappte nach den Schneeflocken wie ein übermütiger junger Hund. Einmal, als sie vorm Burgtor stand und sich überlegte, wieviel besser es ihr gehe als dem alten, einsamen Kaiser, entstand ein grosser Wirbel, die Wachen sprangen ins Gewehr, und der kaiserliche Wagen bog ins Tor ein. Obwohl der Platz und der Ring zuvor fast leer schienen, war sofort eine Menschenmenge zur Stelle, und Hochrufe grüssten den Monarchen. In voller Uniform sass er im halboffenen Wagen und dankte lachelnd nach allen Seiten. Johanna sah ihn zum erstenmal so aus der Nahe, und sonderbarerweise wirkte er da besonders weit weg, obwohl er doch so aussah wie viele in seinem Land. Manchmal vermutete man wirklich in dem erstbesten Waldhüter oder in einem Landbrieftrager den Kaisei eher als hier in dieser grossen Uniform. Er sah jedem seiner Untertanen, die seine Bart- und Haartracht trugen, ahnlicher als sich selbst. Nur seine runden und sehr blauen Augen, das sind die Kaiseraugen. Am seltsamsten ist sein Lacheln, das gar keines ist. In der Schide lernt man von diesem alten Herrn da lauter Daten und wieder Daten, und dazwischen vernimmt man von vielen unpersönlichen Tugenden wie Bescheidenheid Fleiss, Edelmut, Pflichttreue. Darunter kann man sich gar nichts vorstellen. Das passt doch höchstens auf Yerstorbene. Auf den alten Herrn da vor ihr passt es gar nicht. — Jetzt ist er vorbei gefahren, und Johanna kann noch seinen Rücken sehen. Es ist der Rücken eines kummervollen Mannes, dessen Sohn den Freitod eincm der machtigsten Throne Europas vorgezogen, dem man die Frau hinweggemordet hat. Und es sind die gebeugten Schultern eines, an dem auch sonst vielzuviel menschliches Schicksal vorübergezogen ist. Er hat noch des ersten Napoleon Frau gekannt, die davongelaufene Kaiserin Marie Louise, und den unglücklichen Roi de Rome. Dies alles hat sein abwesend freundlicher Metier-Bliek noch geschaut, und dies alles hat wohl seinen Rücken so hinaufgezogen. Der kaiserliche Wagen ist im Burgtor verschwunden. Man hört noch ein paar Kommandos aus dem Hof, und dann liegt die Burg wieder still da. Johanna wandert weiter, den Ring aufwarts. Am Maria-Theresiendenkmal halt sie nur einen Moment still. Sie mag die grosse Kaiserin nicht mehr, seit Josef Stadler ihr einmal gesagt hatte: „Einen Juden hat Maria-Theresia wohl in ihrem Leben nicht zu sehn bekommen. Wenn sie einen in Audienz empfangen musste, sass sie hinter einem Wandschirm —" Der alte Herr dagegen, der eben ins Burgtor eingebogen war, wünschte: ..Man soll mir meine Juden in Ruh lassen." Johanna machte einen grossen Schneeball und legte ihn rasch zu Füssen des Denkmals nieder: „Siehst du — das ist alles, was du von mir bekommst — da hast dus! Für den Wandschirm!" Dem Kaiser aber, nimmt sie sich vor, wird sie einmal Blumen bringen, wenn er erst tot ist, wie sie schon Napoleons Sohn Yeilchen in die Kapuzinergruft hinuntergetragen hat. In dem erhebenden Bewusstsein, dass auch sie Kaiser und Fürsten beschenken kann, wenn sie einmal in der Gruft der Kirche am Neuen Markt liegen, trabt sie vergnügt weiter. Ihr Ziel ist die Universiteit. Sie will nur an der einen Seite der Rampe hinaufgehen und an der andern Seite wieder hinunter; denn diese Rampe ist doch höchst wahrscheinlich viele Jahre der Geliebte hinaufgestiegen, um in dem der Wissenschaft geweihten Hause seinen Studiën nachzugehen. Als sie vor dem seltsam schmalen Eingangstor steht, das vielmehr eine Tür ist, schlüpft sie rasch ins Innere der Universitat. Sie möchte doch einmal an dem Ort sein, wo er viele Jahre seines Lebens in ernster Arbeit zugebracht hat. Es ist ganz unwichtig, dass Alois Spacil, der wirkliche, lediglich eine gediegene kaufmannische Fortbildungsschule besucht, aber niemals auch nur einen Fuss hierher gesetzt hat. Sie spürt ihn hier trotzdem. Yiele schneenasse Fusspuren führen durch die Halle, biegen nach rechts ab in den breiten Ehrengang. Nur flüchtig best Johanna die vielen berühmten Namen derer, die einmal hier gewirkt haben, Billroth ist darunter.... Johanna interessiert sich weitaus mehr für den vielen freien Platz zwischen den Biisten und den Reliefs an der Wand. Dort, gleich neben dem Aufgang zur Bibliothek, ist wohl der Platz, wo einmal ein grosses Standbild Aufstellung finden wird — das des Geliebten. Und wem immer dieser Platz an der Treppe einst zuerkannt werden wird, soviel steht schon heute fest: niemals wird eine Statue mit mehr Ehrfurcht betrachtet werden als diese leere Stelle von Johamias zukunftssiiclitigen Augen. Wieder ist ein Morgen, wieder wartet Johanna auf die Trambalin und auf das grosse Gliick. Und wie immer hatte Alois Spacil einen Moment spater nicht sagen können, ob das Kind, das vor ihm aufsprang, ein Bub oder ein Madel gewesen sei. Ebenso wenig bemerkte er, dass sich Johanna noch an der Stange festhielt, als er ebenfalls danach griff. Mit festem Druck und keineswegs sanft legte sich seine Hand über ihre Finger. Johanna taumelte. Sie schloss die Augen, als müssten ihr sonst Funken heraussprühen. Sie lasst ihm an der Tür den Yortritt und bleibt draussen auf der Plattform, um wieder zu Atem zu kommen. Als sie endlich zögernd das Wageninnere betritt, sitzt Alois Spacil über ein Notizbuch gebeugt und rechnet etwas zusammen. Für Johanna ist dies ganz offenkundig nur ein Notbehelf; denn auch in ihn musste ja der Aufruhr dieser Berührung wie ein Wirbel eingedrungen sein. Sie ist ihm dankbar, dass er sie nicht ansieht. Vielleicht ware sie unter seinem Bliek in Tranen ausgebrochen. In der Geschichtsstunde sitzt sie dann wie taumelig da. Frau Professor Ulrich tragt über die spanischen Erbfolgekriege vor. Ein paar eifrige Madchen schreiben mit, obwohl das keine Yorschrift ist. Auch Johanna öffnet ihr Heft; aber sie schreibt nicht. Mit unendlicher Andacht betrachtet sie ihre Hand, diese geheiligte Hand, die er berührt hat. Das Kind ist völlig verheert durch diese erste Spur Wirklichkeit innerhalb der Phantasie. Sie ist nicht mehr in der Schule. Sie ist nirgends. Sie hangt zwischen Himmel und Erde. Es ist der Moment, wo sie ihrem Golem etwas von ihrem bis zur Unertraglichkeit verdoppelten Leben einblasen muss. Und schon entsteht auf dem Löschblatt fast von selbst eine Zeichnung, aus der ein Gesicht herauswachst. „Sein" Gesicht, niemands Gesicht, jedes Mannes Gesicht. Das Gesicht von einem, der zum zweiten Mal zur Welt kommt, diesmal nicht von seiner Mutter, sondern von einer alles irdische Mass durchbrechenden Liebe. Es ist eine sehr begabte Zeichnung übrigens, eine ungeheuer lebendige, ahnliche Zeichnung, das war Zug um Zug „Er — die feine Kopfform, die schone, gerade Nase, die nachdenklichen Augen, das starke mannüche Kmn — Zug um Zug Er, wie er da mit werbender Innigkeit auf rotem Löschpapier lachelt — sehr ahnlich — nur mit Alois Spacil hat dies alles natürlich nicht das mindeste zu tun. Und wahrend ihn Johanna so vor sich hat, auf Löschpapier erschaffen nach keines Mannes Ebenbild, folgte der ersten Wirklichkeit ebenso von selbst die zweite. Sie muss ihm schreiben! Die Worte sind schon da. Fieberhaft, wie nach Diktat, reihen sie sich aneinander. Auf liniertem Heftpapier steht da ohne Anrede: „Ich bin noch durchdrungen von diesem vielsagenden Hiindedruck, der, mehr als Worte es können, von Ihren Gefühlen für mich redete...." Sie überlas es mit Genuss. Es war ihr erster Liebesbrief, und sie war in jedes Wort noch einmal extra verliebt, mehr, ein Berauschendes geht von dem Geschriebenen aus, Sprungkraft, Tatendrang. Sie nimmt eine neue Seite, schreibt alles in Reinschrift ab und setzt für „können" „vermogen" und für „redete" „sprach". Dann ging es wie- der wie nach einem geheimen Diktat weiter: „Wenn wir schweigen, reden wir beide das selbe. Sprechen kann man mit allen Menschen auf der Welt, schweigen nur mit dem, den man liebt. Vielleicht müssen wir uns deshalb alles schweigend sagen. Worte waren für unser Glück zu alltaglich. Oder wir müssten für uns neue erfinden, die noch kein sterbliches Wesen vor uns im Munde gehabt hat. Ich verstehe ganz Ihre scheinbare Zurückhaltung, und ich füge mich in alles, was Sie für richtig halten. Ich kenne nichts als Ihren Willen. Verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen hiermit so eigenmachtig schreibe. Es geschieht nur dieses eine einzige Mal, dass ich Ihr Schweigen breche. Denn ich musste Ihnen einmal sagen, dass ich alles verstehe, was Sie tun. Auch was Sie nicht tun, verstehe ich. Und sollte es noch Jahre dauern...." Hier brach sie ab, sann nach, strich „Jahre' aus und schrieb dafür: „Und sollte es auch noch zwei oder drei Jahre dauern." Auch das fiel ihrer eigenen Zensur zum Opfer, und es wurde „ein ganzes, volles Jahr" daraus. Das war auch schon lange genug. Sie ist mit sich und ihrem Brief, der natürlich noch auf allerschönstes Briefpapier übertragen werden soll, ausserst zufrieden. Da spürt sie die Nahe ihrer Nachbarin Marianne Koppel fast körperlich wie eine Berührung, spürt auch deren Augen auf ihrem Heft, und Johannas erste Reaktion ist, Marianne mit einem ordentlichen Rippenstoss zu verscheuchen. Die andere halt den Atem an, und ehe Johanna zu dem Stoss ausholen kann, empfindet sie die gespannte Neugier der Freundin. Diese Spannung der andern wird Johanna sofort zu einer Bereicherung ihres Er- lebmsses, und alles in ihr, was Phautasie so verwandt ist, Eitelkeit, Mitteilungssucht, Stolz auf die neue Reife, gewinnt die Oberhand. Die Scheu wird überschüttet von diesem Gefühl, verschüttet. Die Phantasie hat ein Publikum, und das setzt sie erneut in Nahrung. Es wird nach einem Spiegel gegriffen, der ein Bild wiedergeben soll, das nicht existiert. Ein Schemen muss einen Schatten werf en! Die eben abgetanen Assoziationen der Nacht in Grinzing wuchern wieder auf, es ist das Nachstliegende, sie greift danach. Und schon andert sich, andert der Zufall Bestimmung und Adressaten des Briefes. Sie fahrt mit schreiben fort: „Ich weiss, in jener Nacht in Grinzing haben wir kaum miteinander gesprochen. Nur ein einziges, unvergessliches Mal sagten Sie: ,Meine geliebte kleine Jane!" Wenn aber ich etwas sagen wollte, verschlossen Sie meinen Mund mit Küssen. Ich glaubte mich nicht mehr auf der Erde...." Und es wirkt, wie es wirken sollte. Marianne halt sich beide Hande vor den Mund, um den Laut fiebern- der Neugier zu unterdrücken. „Was?! Es hat dich einer geküsstP!" flüstert sie dann hinter vorgehaltener Hand. „Geküsst?" fragt Johanna überheblich und auch ironisch, als sei das wirklich das Wenigste, was sie von einem Mann verlangen könne, „geküsst?! P!" Und da es eben lautete, schnippte sie auch noch, geradezu erheitert durch die Vermutung, es habe ein Mann sie nur geküsst, nichts anderes als geküsst, mit den Fingern durch die Luft. Marianne entreisst ihr blitzschnell das Löschblatt mit der Zeichnung, schwingt es wie eine Fahne und stürzt damit hinaus. „Kommt einmal alle her!" schreit sie im Hof, „hiiiiier ist zu sehn der Mannnnnn, der aus Johanna eine Jane, aus einer bis dahin unbescholtenen Person eine leidenschaftliche Liebhaberin gemacht hat!" In Johanna glimmt Scham neben einem seltsamen Wohlbehagen. Plötzlich, von einer Minute zur andern, steht sie im Brennpunkt des Interesses. So etwas ist innerhalb des Schullebens genau so ein Ereignis wie in der Welt der Grossen die Yerleihung des Nobelpreises oder eine jah aufsteigende politische Karriere. Alle drangen sich herzu, das Bild zu betrachten. Marianne tuschelt und flüstert, berichtet von dem Brief und den von Johanna abgegebenen Kommentaren. Laute der Uberraschung und der Bewunderung sind zu hören, auch ein wenig Neid scheint mit im Spiele zu sein. Ein paar Madels aus den oberen Klassen gehen vorbei, stutzen, hören zu. Eine davon betrachtet die Löschblattzeichnung, Marianne erteilt eine halbe Aufklarung. Die Madchen lachen, ein wenig unglaubig zwar, debattieren dann aber doch ernsthaft, ob dieser Geliebte auf Löschpapier dem Pfeil oder dem Sonnenthal ahnlich sei, und gehen weiter. Die Mitschülerinnen dringen mit Fragen in Johanna. Madge Wolnitz will wissen, woher sie ihn kenne. „Vom Schulweg", gibt Johanna zögernd und noch ein wenig unsicher Auskunft. Marianne bezweifelt eine Bekanntschaft vom Schulweg und wendet ein, Johanna fahre doch immer mit der Tram zur Schule. „Seit ich ihn kenne, gehn wir immer zusammen zu Fuss. Er wartet doch schon immer vor meinem Haus", erfindet Johanna und weiss, dass sie jetzt lügt; aber sie lügt nicht anders und nicht mehr als jede Liebende, die den wirklichen Sachverhalt nicht preisgeben möchte und für zudringliche Fragen noch eine Yolksausgabe ihres Romans bereit halt. In Marianne meldet sich noch heftigeres Misstrauen, und sie rechnet Johanna nach: „Dann müsstest du ja gleich nach sieben Uhr von zu Hause fortgehen, um noch rechtzeitig in der Schule zu sein!" Johanna lasst sich nicht in die Enge treiben. Ihre Mittel sind so leicht nicht zu erschöpfen. „P!" macht sie wegwerfend, „wie du dir das vorstellst! Wir gehn ja auch nur zehn Minuten zu Fuss, und dann nimmt er einen Fiaker." „Ist es ein Student?" will man nun wissen. johanna fühlt sich ausgesprochen wohl. Sie geniesst mit einem leisen Taumel, wie sich aller Blicke auf ihr sammeln und sogar die beiden Madels aus der höhern Klasse wieder im Yorbeigehn hinüberhören zu ihr. Sie wachst in eine rechte Frechheit hinein: „Ein Student?! Warum nicht gar ein Gymnasiast? O nein! Ein Herr ist das, ein richtiger Herr." „Das sieht man ja auf den ersten Bliek!" gibt sich Gussy Sender sachverstandig. „ Jedenfalls hast du es da mit einem richtigen Kavalier zu tun , urteilt Trixie Falk, die gerade das Löschblatt in der Hand halt. Marianne aber möchte der Sache ganz auf den Grund gehn: „Ach so, im Fiaker fahrt ihr? Und da im Fiaker küsst er dich wohl immer?" Johanna wird zwar glühend rot; aber sie fühlt zu sehr schon den Zipfel Macht, den sie in der Hand halt: aller Augen hangen an ihr! „Nicht nur im Fiaker — 9 neinnnnnnn!" uiid sie singt viele N — „er küsst mich, wann er will und wo er will und sooft er will! Dass ihrs nur ganz genau wisst!" Sie schmettert es der Klasse entgegen und rennt, mit den Armen durch die Luft rudernd, davon. Die Madchen stehn noch ganz in ihrem Bann und starren ihr wortlos nach. Ist das wirklich Johanna, die man doch in der Klasse kaum beachtete? Im Anfang war ein Brief. Und er hatte nur einen Absender und keinen Adressaten. Dieser sonderbare Brief aber schuf sich seinen Empfanger selbst, einen zuerst, und dann viele, eine ganze Madchenklasse und zuguterletzt sogar eine ganze Schule. Dieser sonderbare Brief ging nie ab und war doch schon angekommen. Schon in der nachsten Pause ist die kleine Johanna Deutsch eine Sensation in der Bergmannschule. Glaubig-unglaubig erzahlen sichs die Oberklassen: „Die kleine Rote aus der Dritten.... die soll ein richtiges Verhaltnis haben!" Yon da an geniesst die Klasse Johannas Abenteuer wie einen Roman in Fortsetzungen. Jeder Tag bringt Neues, Unerhörtes, ob Johanna sich nun in mystisches Schweigen hüllt, halbe Andeutungen macht oder ganze Erlebnisse schildert. Oft schwindelt ihr selbst bei dein Ungeheuerlichen ihrer Berichte, wovon in ihren Nerven noch genau so wenig Resonanz ist wie bei ihren faszinierten Zuhörerinnen. Die Fragen, das Interesse der andern legten Johanna geradezu eine Verpflichtung auf, der sie sich nicht mehr entziehen konnte. Sie war für die Kameradinnen nicht mehr Johanna, sondern Jane, und Jane wurde von ihnen mit einem Nimbus umgeben, der sie reichlichst entschadigte für alle frühere Nichtbeachtung ihrer kleinen Person. Phanta- sie steigerte und beflügelte das überreizte Geschöpf und verscheuchte die Angst und Beklemmung nüchterner Momente, in denen sie sicli durchaus Rechenschaft darüber ablegte, dass sie furchtbar log. Die Mitschülerinnen gingen fast nur noch Johannas wegen in die Schule. Ihr Erlebnis war das Erlebnis der ganzen Klasse und hatte bei den verschiedensten Gemütern die verschiedensten Niederschlage. Stella Maurer war vielleicht die einzige, die das alles nicht gut hiess. Sie weiss, hort und sieht von diesen Dingen aus nachster Nahe mehr, als sie oft ertragt — ihre Mutter, vom Yater geschieden, lebt das freie Leben einer sehr verwöhnten, sehr gefeierten Künstlerin — Stella Maurer hatte nur Angst um Johanna und betete für sie immer gleich mit, sooft sie, besorgt um die Lebensführung der Mutter, in die Kirche ging. Trixie Falk reagierte anders. Sie hatte gerade ihre grosse Enttauschung hinter sich: Klimt hatte ihr zeichnerisches Können kategorisch in Abrede gestellt, und sie kam über diesen Fehlschlag durch Johannas Erlebnis schneller hinweg. Sie, die verschlossenste, zurückhaltendste des Podiums, entzündete sich am meisten an Johannas Erzahlungen und konnte nicht genug Einzelheiten erfahren. Zwar drang nichts von dem Yernommenen bis zu ihren Nerven vor. Bei Dreizehnjahrigen gehen diese Dinge andere Wege. Unter der Überschrift „Das rotleuchtende Haar ' begann sie einen Roman zu schreiben. Johannas Roman. Auf die erste Seite schrieb Trixie Falk, die Tochter des berühmten Bühnenschriftstellers: „Eines Tages wird man Josef Falk fragen: ,Sind Sie vielleicht der Yater von Beatrix Falk?" — Dies war der Sinn des ganzen Werkes, das immer mehr von dem „Rotleuchtenden Haar" abkam und immer tiefer hinein geriet in das Problem des unerhörten Unverstands aller Eltern. Das Werk sollte mit einem grandiosen und einzigartigen Selbstmord enden, natürlicli verschuldet durch besagten Unverstand. Leider gedieh es nicht über ein halbes Schulheft hinaus. Und nie hat man Josef Falk fragen können: „Sind Sie nicht vielleicht der Yater von....?" Gussy Sender zog auf ihre Art die Konsequenzen aus dem neuen Geist, der in die Klasse eingedrungen war. Sie entschloss sich von heute auf morgen ebenfalls zu ihrer ersten grossen Liebe. Ihre Wahl, wenn man es in Ermangelung auch des bescheidensten Nebenbuhlers noch so nennen konnte, fiel notgedrungen auf einen Schüler des Theresianums — der von Maria Theresia begründeten Militarschule, entsprechend den reichsdeutschen Kadettenschulen. Immerhin würde der junge Mann, der vorerst im Familienkreis noch „Burschi" hiess, einmal Offizier sein. Ein Soldatchen war er in seiner Theresianeruniform ja heute bereits, wenn auch nur ein „Fiesoler". Fiesolen nennt man in Wien Bohnen, und da im Theresianum fast nur Bohnen verfüttert werden, heisst man die Soldatenbuben Fiesoler. Gussys Abenteuer bestand darin, dass sie Burschi an seinen freien Sonntagen am Brahmsplatz erwartete. Dort strichen die beiden Kinder um den zugefrorenen kleinen Springbrunnen unter den winterkahlen Baumen herum, in dem herrlichen Bewusstsein, etwas Verbotenes zu tun. Burschi schimpfte über die Lehrer, erzahlte von Lausbubenstreichen, und wenn Gussy ihn auf die Liebe zu sprechen bringen wollte, versicherte er, Madels seien eigentlich Ganse, die nichts sonst im Kopf hatten als Liebesgedanken. Einmal, es war an einem lauen Winternachmittag, sassen die beiden Kin- der auf dem niedern Steingelander, das die Anlage umzieht. Und wieder kam die Rede auf Liebe, und diesmal ging Burschi in seiner jungenhaften Derbheit so weit, die in Wien beliebte Redensart zu zitieren: „Wovon traumt die Gans? Von Kukuruz!" Dies aber nahm Gussy übel, und bei der hierauf sich ergebenden Yersöhnung kam es endlich zu einem Kuss auf den Mund. Und da war sie ja also nun endlich, die berühmte Liebe! Zwar schmeckte der Kuss nach Odol, und Gussy wischte ihn sich sofort wieder ab; aber sie war hochzufrieden, dass sie nun erfahren hatte, wovon immer und überall, und in der Schule besonders, geredet und geflüstert wurde. Am nachsten Tag wollte sie sich in der Schule recht aktiv an dem durch Johanna so aktuellen Thema beteiligen und auch ihre Erfahrungen in die Debatte werfen. Johanna berichtete gerade, wie der Freund sie heute morgen gar nicht habe fortlassen wollen, wie er sie wieder und wieder geküsst habe. „Wie bist du zu beneiden!" rief Trixie Falk, „du Glückliche!" „Glücklich? fragte Johanna mit rauher und tiefer Stimme, „glücklich? Das ware doch nur irdisch. Ein Kuss aber ist etwas Uberirdisches!" Gussy fiel der Odolgeschmack ein. Sie hatte ihn fast noch auf den Lippen. Und darum schwieg sie. Ihr ganzes Leben lang würde sie, wenn sie an Liebe denkt, diesen Begriff mit einem leichten Geschmack von Mundspülwasser verbinden. Sie verstand nicht mehr und würde nie verstehen, wie man von dieser Sache soviel Aufhebens machen konnte. Sie traf sich auch weiterhin mit Burschi, dem Fiesoler; aber sie sprach nie von ihm. Gussy Sender hatte nichts zu erzahlen Der eine hört aus dem unscheinbarsten, alltagliehsten Gerausch eine Melodie — und der andere eben nicht. In einem gewissen Sinne traf die volkstümliche Behauptung zu, dass die Gans nur von Kukuruz traumen könne. Für seine Wünsche, Traume, Yorstellungen ist man verantwortlicher als für die Zufalligkeiten der Realitat. Sonderbarerweise war Friederike von Skriebitsch ganz im Bann dieses Neuen, mit dem sie da durch Johanna in Berührung kam. Ob Johanna sich in mystisches Schweigen hüllt oder halbe Andeutungen macht oder tolle Erlebnisse schildert — sie hangt immer mit brennenden Blieken an der Mitschülerin. Zwar zieht sie beim Zuhören schreckhaft die Unterlippe ein und beisst mit den Zalmen darauf; aber neben Schreck ist da auch noch recht wahrnehmbar Begierde in ihrem blassen Gesicht. In allem verschieden, sind sich Johanna und Friederike in einem Punkt gleich: beide können die dürre öde ihres hauslichen Lebens nicht ertragen. In Friederikes Elternhaus hat ein Kind nur Pflichten, muss gehorchen, hat in nichts eine Meinung zu haben, und die sparlichen Yergnügungen werden organisiert und geregelt bis zur Unkenntlichkeit ihres Zweckes. Als wirksamstes Erziehungsmittel gilt in dieser Kinderstube die Prügelstrafe. Auch Friederike ist eigentlich eine Besitzlose. Auch sie erwartet von der Liebe, die ihr hier in höchster Vollendung geschildert wird, alles. Auch sie wird einmal erwarten, dass die Liebe sie für eine freudlose Jugend schadlos halten müsse. Auch sie. Und was Johanna da ausbreitet und entwickelt, ist auch ihr Evangelium. Marianne ist durch Johannas Erlebnis in vielerlei Hin- sicht verwirrt und aufgestört. Da ist vor allem ihr heller Neid auf Johannas Erlebnis an sich und dann noeli einmal besonders in Bezug auf dessen Effekt in der Klasse. Besonders aber ist sie aus dem Gleichgewicht gebracht durch ihr stets waches Misstrauen der Freundin gegenüber. Ist alles erdichtet oder nur die Halfte? Irgend etwas stimmt da nicht. Soviel ist ihr klar. Davon abgesehen wird aber auch ihr Liebe ein Problem. Ein Problem, das sie sehr nachdenklich stimmt, mit dem sie sich viel beschaftigt. Einmal in einem Moment, da sie besonders aufgeschlossen, weich und anlehnungsbedürftig ist, fragt sie die Stiefmutter: „Warst du einmal richtig verliebt?" Frau Koppel reinigt gerade mit aller Hingabe, deren sie für die Instandhaltung toter Gegenstande fahig ist, ihren Mantelkragen mit Benzin. „Was soll das heissen? fragt sie unwirsch und tupft zart und behutsam auf den Kragen, „ich habe deinen Va ter geliebt und geheiratet." „Ach , sagt Marianne zutraulich, „ich meine doch etwas anderes. Eine Liebe Hals über Kopf!" „Was fallt dir ein?! Ich habe ausser deinem Yater keine Herrenbekanntschaften gehabt. So etwas kam in unserer Familie nicht vor!" Marianne beschaftigt das Problem aber zu sehr. „Wie war denn das —" bedrangt sie die Mutter, „hast du dich sofort in den Yater verliebt? Und warst du dir gleich klar über alles?" Marianne dachte sich unter „alles" gar nichts, und Frau Koppel dachte sich darunter sehr viel. Wie so oft, war hier nicht der Fragende indiskret, sondern der Antwortende: „Solche Dinge gehn dich überhaupt nichts au. Woher um Gottes Willen kommen dir solche Gedanken?" „Das beschaftigt uns eben in der Schule" — Marianne wird schon wieder bockig und fügt gehassig hinzu: „Ich dachte eben, man könne wenigstens.... darüber.... mit dir reden!" Der Ton traf Frau Koppel. Ihr fielen die doppelten Yerpflichtungen als Stiefmutter ein, sie steilte die Benzinflasche fort, und zum erstenmal sprach sie etwas warmer zu dem Kind: „ Jetzt hör einmal auf mich: du bist noch nicht in dem Alter, wo man über solche Sachen nachdenkt! Das erfahrst du alles noch früh genug!" „Aber man kann sich doch nicht vornehmen, über eine Sache einfach nicht mehr nachzudenken." Dieser Einwand schien Frau Koppel nicht ganz unberechtigt, und es fehlte ihr heute nicht an gutem Willen, auf die Stieftochter einzugehen; ihr dürftiges Gemüt hielt nur mit dem guten Willen nicht Schritt. „Steil dir unter Liebe ja keine Romane vor", warnte sie, „im Leben ist alles ganz anders. Deinen Yater kannte ich schon sehr lange. Er kaufte seit Jahren die selbe Kaffeesorte bei Meinl. Und eines Tages blieb er weg, weil er eine ebenso gute Sorte woanders um zwanzig Heller billiger bekam." „Das sieht Papa wirklich ahnlich", warf Marianne belustigt ein, „und weiter?" „Er sprach mich dann spater einmal auf der Strasse an und teilte mir mit, wie billig er jetzt Kaffee kaufe. Ich meinte, das werde ein rechter Schmarrn sein, und da lud er mich in ein Kaffeehaus ein, wo es seine billige Sorte gab." „Und da bist du einfach mit ihm Kaffee trinken ge- gangen?" Marianne runzelte die Stirn in Missbilligung über diesen profanen Hergang. „Wo denkst du hin? Ich sagte ihm, dass es solche Sachen bei mir nicht gebe, und ich lasse mich von Mannern nicht einladen." Marianne lachelte bereits mitleidig und ironisch. ., A i x' p in diesem Moment hat dein Vater mein volles Vertrauen gewonnen, weil er wusste, was sich gehort. Lr sagte namlich, von ihm aus könne ich die andere Verkauferin zu meinem Schutz mitnehmen." Hier schluckte Frau Koppel an etwas. Eine Erinnerung an die schone und junge Verkauferin in der Meinl-Filiale huschte an ihr vorüber; dann fuhr sie fort: „Natürlich wollte ich einem fremden Menschen nicht solche Unkosten machen. Und so nahm ich diese Einladung an." „Und dann , erkundigte sich Marianne mit grausamer Neugier, „und dann liebtest du ihn? Oder dachtest du, die Verkauferin könnte ihn dir wegnehmen?" Frau Koppel möchte nun am liebsten gegen Marianne losfahren wie immer; aber es gelingt ihr noch einmal, sich zu beherrschen. Sie wandelt ihren Unmut ins Erzieherische ab: diese Flitschen sollte ich eifersiichtig geweseo sein? Ein anstandiger Mann mit ernsten Absichten schaut so eine Person nicht einmal an. Nur meine Zurückhaltung und meine Bescheidenheit haben deinem Vater bewiesen, dass ich die rechte Frau für ihn bin. Das musst du dir überhaupt fürs Leben merken: wer kein Geld hat, muss anstandig bleiben. Verstehst du? Geld deckt vieles zu; aber unsereins hat nur seinen guten Ruf als Mitgift." Marianne sah die Mutter sonderbar wach au. Es gibt Momente, wo man langst Bekannte zum erstenmal sieht. Seit einem Jahr wohnte Marianne mit der Stiefmutter unter einem Dach; aber nicht ihre heftigen Ausbrüche, ihre Nörgeleien und unzufriedene Rastlosigkeit zeigten ihr die Mutter aus der Nahe, sondern diese lamentabel dürre Geschichte ihrer Heirat und alle darum herum geausserte Lebensweisheit. Marianne betrachtete die Mutter, wie man sich in Sitten und Gebrauche wilder Völkerstamme vertieft. Frau Koppel schien es, als hatten ihre Ausführungen einen gewissen Eindruck auf Marianne gemacht, was in ihr etwas wie Sympathie aufkommen liess. Sie ging zu einem Yertiko und entnahm ihm ein Buch, das sie der Tochter verehrte. „Knigge: Umgang mit Menschen", stand darauf. Marianne zog die Lippen ein, um nicht lachen zu müssen, wahrend Frau Koppel sie darauf aufmerksam machte, in diesem Buch finde sie Anweisungen, wie sie sich in allen Lebenslagen zu verhalten habe, unter besonderer Berücksichtigung all dessen, was sich für ein junges Madchen schicke und was nicht. „Das sind die Dinge, die dich interessieren sollten", sagte sie und bemerkte gar nicht, dass Marianne mit traumwandlerischer Sicherheit für alles, was sie „noch nicht" angehe, das Kapitel über die Brautzeit aufgeschlagen hatte. „Wie kommt ihr nur in der Schule auf solche Gesprache?" Marianne las in ihrem aufgeschlagenen Kapitel und sagte zerstreut: „Ach — eben so. Es interessiert sich da namlich ein Herr für Johanna." „Wie?! Was?! Ein Herr? Interessiert sich für Johan- o»» nar Das war wieder der Mutter hinlanglich bekannter Ton, scharf, verweisend. Marianne merkte sofort, ihr war da gegen ihren Willen etwas lierausgerutscht, was sie niemals hatte mitteilen dürfen. „Ach, es ist nur ein "V etter, und Johannas Eltern wissen es natürlich. Sie macht sich übrigens nicht das mindeste aus ihm." „Trifft sich Johanna etwa mit diesem Menschen?" fragte Frau Koppel. „Da kame der bei Johanna schön an", lügt Marianne die Freundin heraus, „wie würde Johanna etwas hinterm Rücken ihrer Eltern tun!" Dies schien Frau Koppel derart übertrieben, dass es ihr volles Misstrauen erregte. Sie war der Meinung, Johanna tue nur und ausschliesslich Dinge, von denen ihre Eltern nichts wissen dürften. Aber sie drang nicht weiter in Marianne, beschloss aber, besonders wachsam zu sein und sich auf diese oder jene Art Kenntnis davon zu verschaffen, worüber die Madchen sich unterhielten, wenn sie allein waren. Gewiss spraehen sie iiber lauter unanstandige Dinge. „Ich möchte doch gern einmal wissen, wovon die Eltern sich unterhalten, wenn sie allein sind", sagte auch Johanna, als Marianne ihr von diesem Gesprach mit „Fraulein Kutschera" Mitteilung machte. Die Freundinnen wünschten keinerlei Notiz davon zu nehmen, dass Mariannes Stiefmutter ja bereits seit Jahresfrist eine Frau Koppel war. Für sie blieb sie das Fraulein Kutschera. „Fraulein Kutschera redet jedenfalls nur vom Wasch tag. Du siehst doch: ich versuche einmal mit ihr von etwas Ernsthaftem zu sprechen, von Liebe namlich, und sie schenkt mir Knigges ,Umgang mit MenschenV' „Frülier einmal", sagte Johanna nachdenklich, „dachte ich immer, sie wissen etwas, was wir nicht wissen. Und ich hatte oft Angst, sie könnten sterben und vergessen, nns das mitzuteilen." Ein bisschen glaubte Johanna das auch heute noch. ,,'Umgang mit Menschen'!" Marianne legte geradezu grössenwahnsinnige Yerachtung in ihre Worte. Johanna übertraf sie noch: „Willst du vielleicht von Fraulein Kutschera verlangen, sie solle Homer im Urtext lesen? Aber ich möchte und möchte doch wissen, wovon sie reden, wenn sie uns hinausschicken!" Bei allem Spott und aller Geringschatzung unterlagen sie wie die meisten Kinder doch der Yorstellung, Erwachsensein sei mit der Gloriole und dem Mysterium einer Geheimlehre umgeben. Manche werden ihr ganzes Leben diese überspannte Erwartung nicht los, endlich in diese Mysterien eingeweiht zu werden. Nie entdecken sie, dass so viel nicht dahinter ist, sondern sie fühlen sich nicht erwachsen, unreif, weil doch das Eigentliche, das Wirkliche, das, wofür man auf die Welt gekommen ist, noch nicht da ist, noch kommen muss — das eben, was zur Sprache kam, wenn man von den Eltern hinausgeschickt wurde. Kinder, in der Erwartung, im Glauben an das „Eigentliche"' sind in sich vollkommen. In der Spannung auf das „Eigentliche" liegt alles. Im Wissen darum nichts. Erwachsen ist vielmehr: Yerkümmern. Was erwachst, ist lediglich der Geschlechtssinn. Auch ihn gibt es beim Kind, aber in höchster Vollendung, zwischen toller Uberschwenglichkeit und noch tollerem Kitsch, er nimmt den Sauerstoff für seine Flamme aus einem Wort, aus einem Bliek, aus sich selbst, ist befriedet mit nichts. Dies alles gibt es schon beim Kind, es ist ganz eingehüllt in den schöpferischen Reichtum und Uberfluss dessen, was beim Erwachsenen meist so bescheiden lokalisiert ist. Die beiden Freundinnen zerbrechen sich noch den Kopf um solcherart Erkenntnisse, die doch nur Verwirrung sind. Dann aber redet man wieder vonJohannas Geliebtem, der auch schon ein wenig Mariannes Geliebter ist und so etwas wie das Gelobte Land einer ganzen Madchenklasse. Auf dem Weg zur Haltestelle wirft Alois Spacil achtlos ein abgefahrenes Strassenbahnbillett fort. Johanna, die überall Zeichen und Wunder sieht, fallt darüber her und entdeckt auf der Rückseite eine ganz klein mit Bleistift an den Rand gekritzelte Zahl, vielstellig wie eine Telefonnummer. Selbst verstandlich war diese Nummer 7287 in keinerlei Beziehung zu ihr notiert worden. Daneben steht: „Samstag Nachmittag nach 5 Uhr." Bei Johanna fügt sich augenblicklich eine Kombination an die andere. Dies ist nichts anderes als „Seine" Telefonnummer, und die Zeitangabe ist für ihren Anruf bestimmt. Da ist überhaupt kein Zweifel möglich! Samstag, also heute nachmittag nach fünf Uhr, erwartet er ihren Anruf. Endlich! Sie zittert am ganzen Körper, wahrend sie den Zettel wieder und wieder liest und vor Erregung schon keinen einzigen Buchstaben mehr erkennen kann. Endlich! Sie wusste ja, dass etwas Derartiges sich eines Tages ereignen würde, dass er den entscheidenden Schritt tun würde, wenn ihm die Zeit gekommen schien. Und nun hielt sie es schwarz auf weiss auf der Hand, dass er heute nach fünf Uhr ihren Anruf erwarte. Johanna barg das abgefahreiie Trambahnbillett, diese Kostbarkeit, in ihrem silbernen Medaillon, das sie am Hals trug. Dass da noch eine Eintragung war — „Reparatur 88" — das übersah sie. Es gehorte ja nicht mehr zu ihren Kombinationen. Fast ware sie dieses Zettels wegen nicht zur Geburtstagsjause von Stefanie Hochberg gegangen. Zum Glück fiel ihr rechtzeitig ein, dass bei Hochbergs im Vorzimmer ein Telefon war. Es würde — es musste sich eine Gelegenheit ergeben, unbemerkt zu telefonieren. Und am Nachmittag fand sich dann auch diese Gelegenheit, als Stefanies Mutter sich zurückgezogen und den Kindern den vordern Teil der Wohnung überlassen hatte. Johanna schleicht sich ins Yorzimmer ans Telefon. Sie nennt die Nummer. Nach einigen Schwierigkeitei* kommt die Yerbindung. „Ja — jawohl — wir sind unterbrochen worden —" meldet sich eine tiefe mannliche Stimme. Seine Stimme! Hundertmal hat sie sie gehort, in der Luft sang sie, im Traum und einmal auch aus dem Wein. Und nun spricht sie zu ihr — in einem fremden, nüchternen Raum kommt aus diesem Kasten da an der Wand seine Stimme zu ihr! Sie presst den Hörer ans Herz und muss ein paarmal ansetzen, ehe sie reden kann, und auch dann noch ist der Ton rauh und schwankend vor Bewegung: „ Jawohl unterbrochen!" ruft sie überlaut in den Schalltrichter, wie alle tun, die des Telefonierens nngewohnt. sind. .Unterbrochen'! Natürlich! So und nicht anders musste er ein Gesprach mit ihr beginnen. Ist denn nicht nur Unterbrechung, was von einer Strassenbahnfahrt zur andern ist? Nichts zahlt ernstlich als diese zwölf Minuten vom Kai bis zum Schwarzenbergplatz. Unterbrechung ist alles, bestenfalls Vorbereitung auf die nachste Begegnung. „Jawohl, unterbrochen!" ruft sie jetzt noch einmal anklagend in den Apparat, „aber durch wessen Schuld bitte? Warum tun Sie denn nichts gegen diese Unterbrechungen? Gar nichts tun Sie! Seit vier Wochen sehn wir uns taglieh — und noch immer nichts! Wenn ich nicht wüsste, wie wir beide zusammengehören, ware ich langst schon verzwei feit oder gestorben. Sie denken sich ja jeden Tag etwas Neues aus, um mir Mut zu machen und mir immer wieder Ihre Liebe zu beweisen und meinen Glauben an Sie zu festigen. Nur darauf kommen Sie nicht, dass ich es trotzdem so nicht mehr lange ertrage " Wahrend des ganzen Gesprachs hat sie den Hörer ans Herz gedrückt, jetzt nimmt sie ihn an den Mund, küsst ihn, betrachtet ihn andachtig wie ein Heiligtum und nimmt ihn erst dann wieder ans Ohr. „Hallo! Hallo! Ich bin wieder hier —" und sie zieht das I, als wolle sie die Ewigkeit ihrer Gegenwart an- deuten. Leise hat sich die Tür vom Esszimmer geöffnet, in dem die Madels noch am Kaffeetisch sassen. Zuerst erscheint nur neugierig Mariannes Kopf im Spalt. Dann verschwindet sie wieder. Erregtes Geflüster im Zimmer, der Spalt verbreitert sich, und alle drangen sich zur Tür. Jane telefoniert mit ihm! Man hat ein Recht, das mitanzuhören! Jane und auch „Er" sind doch Gemeingut der Klasse. Von dem Getuschel und Gewisper springts wie Funken über auf Johanna. Sie sieht die Zuhörer. Sie ist berauscht, hundertfaltig gesteigert durch die Macht, die ihr die vielen Madels da über sich einraumen. In der Leitung knackt es. Man hat am andern Ende offenbar den Hörer aufgehangt, die merkwürdige falsche Yerbindung brüsk beendet. Merkt sie, dass die Leitung nun stromlos ist, merkt sie es nicht? Spricht sie nur noch für ihr Publikum, selig, sich ausbreiten, darbringen zu können, vom Wechselstrom der erregten Hörerschaft noch höher hinaufgeschleudert, stolz und eitel auf das Abenteuer ihrer Seele und die zweifellose ratselhafte Kraft, es andern zu übermitteln? Oder ist das Blut, das an ihrem Trommelfell vorüberstürmt, über den kleinen, fast unhörbaren Knack auf der andern Seite des Drahtes und über die Wellenleere im Hörer brausend hinübergeströmt, ist ihr entgangen, dass es jetzt ein Monolog ist, projizieren ihre allmachtigen Einbildungskrafte auch jetzt noch die Gestalt des Partners in den dunkeln, unerfüllten Raum hinter dem Apparat? Mit hingebender, demütiger Stimme redet sie in den Apparat, den Bliek weit über die Madels fortgleiten lassend, wie ein Schauspieler von der Bühne her ins Publikum — ins Leere — sieht: „Vielleicht war es für dich gar nicht sooo sehr viel wie für mich — für mich war es unendlich viel — für mich war es alles — — aber was kann dir schon an so einem kleinen Madel liegen, wo du so viele vornehme, richtige Damen kennst — —" und nun ist sie überwaltigt von ihrem tragischen Geschick, und Tranen laufen ihr übers Ge- sieht, echte Tranen, und sie kann vor Schluchzen kaum weiterreden. „Wie? Nein! Ich habe es nicht vergessen ich denke doch an nichts anderes mehr als an diese Nacht bei dir wahrend du " Plötzlich wechselt sie von schluchzender Weichheit in den flammenden Zorn der Verratenen hinüber, schlagt wild mit der Faust gegen die Wand, halt dann' wie beschwichtigt durch ein zartliches Wort, mitten in diesem Trommelwirbel inne und zieht schon wieder ein anderes Register — der Zorn löst sich in schmelzender Verklarung auf. „Wiiiiiiirklich? du sehnst dich nach mirP" haucht sie mit selig zurückgebogenem Kopf und erlebt in diesem Moment, allen spürbar, wie der Geliebte sich über sie beugt — presst eine Hand gegen die Schlafe und wendet ihr ekstatisch entrücktes Gesicht ihrem Publikum voll zu — es folgt ein kleiner, halblauter Schrei, als reisse sie jemand mit Gewalt in seine Arme. Johanna am Telefon leistet noch schwachen Widerstand, stemmt sich mit einer Hand gegen einen Tisch — feucht kleben ihr die Haare an den Schlafen — die Augen weiten sich unter einem andern, nahen, ganz nahen Bliek — dann schliesst sie sie — matt, widerstandslos zerfliesst ihr blasses Gesichtchen. Noch einmal öffnet sie die Augen und lasst einen langen Bliek voll tiefen Wissens um alles Geheimnis zwischen Mann und Frau über die wie hypnotisiert gebannten Madchen gleiten und schliesst wieder die Augen, als sie mit vor Erregung brüchiger Stimme sagt: „Ja — ich komme — heute abend komme ich " Und dann hangt sie den Hörer nicht einfach an den Haken, sondern halt sich, wahrend sie das besorgt, am Hörer fest, als sei 10 dies ein Stützpunkt im Tumult ihrer Gefühle. Die Madchen in der Tür sind — in jedem Nerv erregt — zu einem dicken Knaul zusammengedrangt. Wo war man? Wo katte einen diese rote Hexe diesmal hingefükrt? Theater? Yielleickt Tkeater, aber ganz ricktiges, ganz kolossales Tkeater; denn es reisst einem doek die Hande zusammen, man möckte klatscken — — und wiederum kann man sick nickt riikren, spiirt Jokannas Erleben in allen Gliedern als ein sckweres, süsses Unbekanntes. Madge Wolnitz stekt mit leucktenden Augen da, als liabe sie Angst, gleick werde der Vorkang über dieser Szene fallen. Trixie Falk nimmt jedes Wort auf wie eine Grammofonplatte, und dieses Telefongesprach bleibt einige Wochen der Mitwelt in Trixies grossem Roman erkalten. Gussy Sender atmet ratlos und verstört diese Luft ein, die in nickts an Odol erinnert, und Friederike Skriebitsck beisst sich auf die Unterlippe, wie es zu Duckmiiusern erzogene Kinder zwiscken eingeblauter Pruderie und echter Begekrlickkeit zu tun pf legen. Aber alle sind tief erschüttert über dieses Stück wakren Lebens, das da gespielt oder erlebt wurde, und manches der Madeken kat Tranen in den Augen. Aber Mariannes eigentiimlich heller, prüfender, durchschauender Bliek ist ohne Tranen, und in ihren Handen hat es nicht zu Beifallskundgebungen gezuckt. Mit Ironie und Aufmerksamkeit beobachtet sie Johanna. Sie kennt die Freundin, und sie missgönnt ilir ausserdem nock ikre Ausnahmestellung in der Klasse, ja in der ganzen Schule, obwohl sie selbst genügend dazu beigetragen hat. Allerdings gesehah dies keineswegs in der Absicht, Johanna sogar noch turmhoch über das Podium zu erheben, sondern sie wollte sie, ihr selber nicht ganz bewusst, uur ein wenig lacherlich machen. Nun litt sie sehr unter Johannas Nimbus. All diese Gefühle scharften ihr Misstrauen und rissen sie oft zu Sticheleien hin, die Johannas Ruhm nur vergrössern und ihr Schicksal erfüllen sollten. Sehr bald nach diesem denkwürdigen Telefongesprach geschah es, dass eines Tages in der Pause nach der ersten Stunde Marianne an Johanna herantrat und sie hagte: „Und wie lange, glaubst du, wird denn dein Roman noch dauern?" Johanna, ohne sich eine Sekunde zu bedenken, versichert: „Immer und ewig!" „So", macht Marianne, „wenn „Er" nicht eines Tages genug von dir hat und sich eine andere, eine richtige Dame sucht, dann kann auch noch sonst alles Mög- Üche passieren — zum Beispiel du bist doch erst dreizehn Jahre — ich glaube, da ist das alles verboten." „Erstens", entgegnete Johanna augenblicklich, „werde ich in ein paar Wochen vierzehn, und zweitens gehn wir nach Amerika." Da sich wahrend dieses Gesprachs wieder ein paar Zuhörerinnen gefunden hatten, fügt sich Amerika in ihre Argumentation ziemlich von selbst ein. „Amerika! Gerade Amerika! Das ist wohl das Zunachstliegende! Drunter machst dus nicht!" Johanna wird rabiat, wie meist Lügner zu werden pflegen, wenn man Zweifel in ihre Behauptungen setzt. Aber Marianne lasst sie nicht zu Wort kommen: „Mög- lich, dass „Er" geht. Er wirds vielleicht nötig haben! Aber dich lasst er garantiert hier sitzen! Lehr du mich die Manner kennen!" „Dass dich einer sitzen liesse, könnte ich ihm direkt nachfühlen", fahrt Johanna hoch und vergilt auf der Stelle Gehassigkeit mit Hass, „vorausgesetzt, es schaut dich überhaupt jemand an! Aber mein Freund nimmt mich mit!" „Natürlich! Und er hat dir auch bereits weiss Gott was als Liebespfand gegeben!" höhnt Marianne. In ihrer Erbitterung weiss Johanna kaum noch, wie weit sie sich vorwagt: „Das hat er auch getan! Ich habe das ganze Reisegeld als Pfand!" Und nach kurzem Uberlegen fügt sie hinzu: „Zweitausend Kronen!' Ein Damon gab es ihr ein. „Das möchte ich sehn!" reizt Marianne die Kleine und glaubt, nun kommt der Sturz; aber Johanna kehrt ihr den Rücken. In der Klasse drehen sich jetzt alle Gesprache um Amerika. Es war nichts Aussergewöhnliches, dass Frau Rosa Deutsch wieder einmal ihre Schlüssel nicht finden konnte. Selma, das Lehrmadchen, suchte den halben Nachmittag und fand sie dann plötzlich am Schlüsselbrett hangend neben dem Wandschirm, wo Selma doch vorgab, bereits nachgesehen zu haben. Natürlich wurde sie ausgezankt, und Frau Deutsch fragte, wo sie mit ihren Gedanken sei und ob sie bereits Manner im Kopf habe. Selma wusste, wie unrecht ihr geschah; aber sie konnte es nicht beweisen. Und auch Johanna wusste es, da sie es war, die das Schlüsselbund vom Brett genom- men hatte. Sie schloss damit den ^\'ascheschrank der Mutter auf, machte sich an einer ebenfalls versperrten eisernen Kassette zu schaffen, zu der ein messingner kleiner Schlüssel am Bund war. Und spater hingen dann die Schlüssel wieder an ihrem gewohnten Platz. Als die dritte und die vierte Klasse, die gemeinsam Gesangstunde hatten, den Gesangsaal verliessen, fiel Johanna, wie absichtslos, ein Heft zur Erde, und daraus lugten Geldscheine. Die Madels, die schon darüber wegstürmen wollten, stutzten, blieben stehn, erkannten unter den mannigfaltigsten Ausrufen der Überraschung, dass es sich um zwei Tausendkronenscheine handelte. Johanna tat bestürzt, betreten und nahm ihr Heft wieder hoch. „Das ist euer Reisegeld nach Amerika?" fragten ein paar Madel, Marianne an der Spitze, zugleich. „Ja , antwortete Johanna und wandte sich brüsk an Marianne, „das hat „Er mir namlich nur gegeben, weil „Er" mich dann besser sitzen lassen kann." „Na, viel Glück! sagte Marianne, „jedenfalls kommst du schneller nach Amerika, als du es auf der Landkarte findest." Es war ein bitterböser Glückwunsch, viel böser, als Marianne wirklich war; aber Neid frass und wurmte an ihr. Einige Mitschülerinnen verhandelten schon mit Johanna, ob man sie in Amerika nicht besuchen könne. Marianne stand abseits. Johanna lud grosszügigst ein: „Ihr könnt gern alle kommen! Wir haben drüben namlich eine Erbschaft, um die wir erst prozessieren mussen; aber wir kriegen die vielen Millionen bestimmt. Dann schieke ich euch allen das Reisegeld." Auf keiner Börse der Welt und bei der besten Konjunktur nicht hat Geld sich so rapid vermehrt wie in johannas Phantasie. In dem Zeitraum von zwei bis vier Uhr naelimittags waren aus zweitausend österreichischen Kronen Millionenwerte geworden, worauf dies bier nur eine kleine Anzahlung war. Die Geliebte eines Dollarmillionars in der Klasse zu haben, das verursachte die tollste Aufregung, die jemals in einer Miidchenschule war. Natürlich gab es einige Kinder, die Johanna nicht restlos glaubten. Aber was tat das! Gerade sie bewunderten die grossartige Komödie vielleicht am meisten. Marianne war in einem abscheulichen Zustand, hinund hergeschleudert zwischen Zweifel, der aus Misstrauen kam, und Missgunst, die sich am Zweifel berauschte. Vielleicht, grübelte sie, war es gar kein richtiges Geld, das Johanna im Heft hatte. Vielleicht hatte sie sichs auch nur geben lassen. Am nachsten Tag nahm sie Johanna noch einmal ins Yerhör, als diese sie wegen einer Geografiezeichnung aufsuchte: „Kannst du mir das Geld noch einmal zeigen?" „Die zweitausend Kronen?" fragte Johanna und wurde stutzig. Was hatte Marianne vor? Es war ihr nicht zu trauen. So sagte sie: „Ich könnte dirs zwar zeigen; aber ich habe es „Ihm" schon wieder gegeben. Ich zeige dir dann meine Schiffskarte, wenn „Er" sie mir gegeben hat." „Warst du wieder einmal mit ihm in Grinzing oder sonstwo im Hotel?" „Natürlich. Frag doch nicht so dumm!" Niarianne glaubte es — glaubte es nicht und war so klug wie zuvor. Aber dieses Gesprach hörte Frau Koppel. Und sie beschloss zu handeln. Die beiden Geldscheine hatte Johanna einstweilen unter dem festgenagelten Linoleum ihres Zimmers versteekt, sie wartete auf eine Gelegenheit, das Geld unbemerkt wieder in die Kassette legen zu können. F rau Koppel hatte beschlossen zu handeln und zwar auf das Nachdrückliehste. Hatte sie sich dies alles nur einen Tag lang überlegt, so ware sie auf das Zunachstliegende gekommen, Johannas Mutter aufzusuchen. Frau Deutsch würde festgestellt haben, dass diese zweitausend Kronen ihrer Kassette entnommen waren, würde sich sicher aller möglichen Flunkereien ihrer Tochter erinnert und die ganze Affare mit ein paar Ohrfeigen und einigen Wochen des Wehklagens über dieses verlogene Kind liquidiert haben. Auf diese Lösung kam Frau Koppel aber nicht. Sie besass unter ihren diirftigen Erinnerungen ein Poesiealbum aus ihrer Schulzeit. Darin stand als Motto, von der Hand einer Lehrerin eingetragen: „'Morgen, morgen, nur nicht heute', sagen alle faulen Leute." Die meisten Menschen vergessen alles aus ihrer Kindheit. Sonderbarerweise aber erhalt sich gerade der approbierteste Unsinn, der ihnen von Erziehern verzapft wird, in ihrem Gedachtnis frisch wie auf Eis. Auf \ iertelgebildete übt er, in Form von Verslein, sogar eine besondere Anziehungskraft aus. Sie glauben sich damit irgendwie teilhaftig am Gedankengut der „Gebildeten". Dieses „Morgen, morgen, nur nicht heute" spielte in Frau Koppels Leben die denkbar grösste Rolle. Das hatte sie von der Schule, ganz ohne Atempause, sofort in die Lehrstelle hineingetrieben, das hatte sie Freistunden und Erholungstage gekostet, weil ein Loeh im Strumpf oder ein auszubesserndes Waschestiick nicht auf dieses „Morgen" verschoben werden durfte. Der Poesiealbumvers hetzte sie, recht unwienerisch, durch ihr Leben und verlieh ihr die Gabe, urn sich herum Unbehagen auszustreuen. Nie war Musse zum Uberlegen, zu einem Buch, zu einem Scherz, zu einem Besinnen oder Geniessen. Dass sie damit die Heirat, die sie, wie andere Madel auch, am meisten wünschte, auf ein sehr fernes Morgen verschob, das hatte sie gar nicht begriffen. Und als sie verheiratet war, fuhr sie fort, diese ewig bewegte Bahnhofsstimmung um sich her zu verbreiten. Frau Koppel also gehorte keineswegs zu den faulen Leuten. Sie verschob nichts. Was sie vorhatte, tat sie, laut Poesiealbum, sofort. Und so machte sie sich heute nachmittag unverzüglich auf den Weg zu Frau Direktor Bergmann. Obwohl keine Sprechstunde war, wurde sie, da sie ein dringendes Anliegen vorgab, ins Wartezimmer gebeten. Frau Direktor Bergmann liess ihre Besucher fast immer fünf Minuten warten. Nicht aus Unhöflichkeit, sondern um sie ein wenig Kontakt gewinnen zu lassen mit der Atmosphare des Hauses. Freunden gegenüber ausserte sie oft, um bei den Kindern wirklich Erfolg zu haben, müsste sie mit ihren padagogischen Bemühungen bei deren Eltern anfangen können. Das war nicht gut möglich. Als geborene Padagogin liess sich Frau Direktor Bergmann aber auch die bescheidenen Möglichkeiten nicht entgehen, auf die Eltern ihrer Zöglinge einzuwirken. Und hierzu gehorte dieses vVarten. Füuf Minuten. Nicht mehr und nicht weniger. Die Eltern des Podiums bildeten natürlich eine Ausnahme. Sie kamen fast nie. Wenn etwas „zu richten" war, traf man sich, zufallig, an drittem Ort. Diese fünf Minuten taten im allgemeinen ihre Wirkung auf den Besucher. Empörung und Erregung legten sich vor diesen mit Bücherregalen bedeckten Wanden, und angesichts dieses Schreibtisches, reinster Maria-Theresien-Barock mit Intarsienarbeit und Bronzebeschlagen, war schon manche bereitgehaltene Abmeldung unterblieben. Der Raum war nicht sehr heil, und die schweren Vorhange und Portieren schienen familiare Intimitaten auszuschliessen. Das einzig Lichte in diesem Halbdunkel war eine ausgezeichnete Kopie des duftigen Bildes von Kaiserin Elisabeth. Das Original hangt im Audienzsaal der Hofburg. Blumen im Haar, Blumen am Kleid, das Gesicht in die ergreifende Heiterkeit aller getaucht, die früh sterben miissen. Neben Elisabeths Bild hing ein grosses, ein sehr grosses Barockkreuz; denn Frau Direktor Bergmann hat langst „das Entréebillett zur europaischen Kultur" genommen, wie es Heine nennt, oder „sich mit einer Art von Makel bespritzt", wie Goethe die Religionsanderung befindet. Dass auch ernsthafte und tiefe Überzeugung zu diesem Schritt veranlassen können, haben wohl beide gar nicht in Betracht gezogen, und Erau Direktor Bergmann lag das ebenfalls fern. Es war nicht ihre Schuld. Der wirklich Schuldige ist, wie so oft in Wien, der Föhn. Er lasst einen nicht aufrecht schreiten, seinetwegen kann man den Kopf nicht hochhalten. Er macht widerstandslos, und man greift nach dem nachstbesten Stützpunkt. Es ist der Katholi- zismus. Der österreichische getaufte Jude praktiziert ihn mit dem gleichen diskreten Unernst wie der österreichische Kal hol ik von Geburt. Die recbte Hand, die weltliche, weiss hier wirklich nie, was die linke, die geistliche, tut. Das ein wenig zu grosse Kreuz hob aber unbedingt das Reprasentative des Raums. Und man übersah es sogar über der Wirkung, zu der es beitrug. Als Herr Deutsch einmal hierher beschieden worden war natürlich nicht, um Komplimente über Johannas Fortschritte entgegenzunehmen — war sein Urteil über die Frau Direktor schon vor der persönlichen Bekanntschaft abgeschlossen. „Eine feine, eine gebildete Person , sagte er sich und wiegte in Bewunderung den Kopf vor der enormen Bibliothek. Nicht so Frau Koppel. Sie setzte sich nicht, sondern blieb steif mitten im Zimmer stehn und sah sich mit kritischer Neugier um. Der Fussboden war tadellos gehalten. Sieh mal an! Das sollte man gar nicht meinen von einer Schullehrerin, die nichts wie Biicher im Kopf hatte. Aber da wurde ihr Interesse von einer Motte abgelenkt. Mit geübter Hand fing Frau Koppel das Ungeziefer, das sich gerade auf der Tischdecke niedergelassen hatte. Bei dieser Gelegenheit bemerkte Frau Koppel, dass der Tisch wackelte. Aha! Sie hatte also doch nicht ganz unrecht gehabt. Motten in dieser Jahreszeit und ein wackliger Tisch! So stand es also in der Nahe um die vornehme Bildung, so sah es aus bei einer Frau Direktor! Da schau her! Als aber nach Ablauf der fünf Minuten Frau Direktor Bergmann eintrat — in einem dunkeln Wollkleid mit einem feinen Spitzenkragen und Spitzenmanschetten — da sagte Frau Koppel doch sofort „küss die Hand", sie spraeh es „xteand" aus, ganz, als amtierte sie noch hint er ihrer Kasse und hatte bessere Kundschaft vor sich. Und als sie dann der Frau des Hauses gegenüber sass, da imponierte sie ihr, trotz wackligem Tiscli und Motten in dieser Jalireszeit, bereits in dem Grade, dass sie bemüht war, zu zeigen, auch sie wisse, was sich gehore. So fiel sie nicht gleich mit der Tür ins Haus, sondern versuchte, eine Konversation in Gang zu bringen. Unwillkürlich bediente sie sich dabei der dritten Person wie einst in der Meinl-Filiale: „Schön haben es Frau Direktor hier!"' „Es freut midi, dass es Ihnen gefallt, gnadige Frau; denn es ist dies sozusagen mehr Ihr Zimmer als meins. Ich sehe die Eltern meiner Schülerinnen mit Yergnügen recht oft hier." Frau Koppel verstand nicht den diskreten Hinweis, zur Sache zu kommen, und sie verblüffte die Frau Direktor durch weitere Konversation: „Wirklich vornehm. Nur hübsch Staub zu wischen ist da. Ich sage immer: Bücher sind schön und gut; aber Staubfanger sind sie auch." „Gewiss", erwiderte die Frau Direktor und bog merklicher ab, „und ich habe es nicht einmal so gut wie Sie, gnadige Frau. Leider habe ich keine Tochter, die mir da an die Hand gehn könnte. Ich nehme an, Marianne ist Ihnen doch schon ein wenig eine Stütze im Haus." „Wo denken Frau Direktor hin!" rief Frau Koppel lebhaft, und sie fand, man könne wirklich recht vernünftig mit der Frau Direktor plaudern, „nicht einmal in den Ferien ist mir Marianne eine Hilfe. In den Ferien halte ich darauf, dass sie ihr Zimmer selbst macht und das Büfett im Esszimmer — aber was glauben Frau Direktor, wie lange sie dazu braucht?!" Frau Direktor Bergmann zog es nunmehr vor, gar nichts zu glauben, sondern unmissverstandlich auf den Zweck dieses Besuchs zuzugehen: „Das ist aber sehr bedauerlich, wenn Sie Anlass zu Klagen über Marianne haben. Ich stehe Ihnen da natürlich voll und ganz zur Verfügung. Kommt sie in einem Fach nicht mit oder worin sonst bestehen nach Ihren Beobachtungen Schwierigkeiten?" „Schwierigkeiten? Nein, da habe ich nicht zu klagen. Da bin ich schon hinterher, dass sie ihre Pflicht in der Schule erfüllt. Sie hat sich, seit ich da das Heft in der Hand habe, ganz gut entwickelt. Seien Frau Direktor unbesorgt, in meinem Hause halte ich auf Ordnung. Ich komme wegen einer andern Sache...." „Ich bin wirklich gespannt", versicherte die Frau Direktor und war vielmehr entsetzlich gelangweilt und angeödet. „Es handelt sich um Johanna Deutsch, deretwegen ich Frau Direktor leider bemühen muss...." Dieser weitschweifigen Einleitung folgte noch weitschweifiger ein Bericht dessen, was Frau Koppel teils von Marianne vernommen, teils an der Tür erlauscht und durch Fragen festgestellt hatte. Und sie schloss ihren Yortrag in dem nachdrücklichen Ton, den sie ihrem Gatten gegeniiber anwandte, wenn kein einziger Widerspruch mehr zu erfolgen hatte: „Und ich sage Frau Direktor, die Johanna, von der ich persönlich immer gefunden habe, sie ist nichts Gutes, hat einen Lebenswandel." Die Frau Direktor sah auf ihre schonen, vollen, gepflegten Hande nieder, um ein Lacheln zu verbergen und meinte: „Ich verstehe schon — ja — gewiss — Sie glauben, Johanna Deutsch habe keinen einwandfreien Lebenswandel." „Ein Lebenswandel ist ein Lebenswandel", argerte sich die Viertelgebildete über die, wie ihr schien, schulmeisterliche Zurechtweisung, „ein Verhaltnis hat sie, ein richtiges Yerhaltnis mit einem Sittlichkeitsverbrecher, wenn ich schon durchaus deutlich werden muss." „Aber ich habe ja schon begriffen", wehrte Frau Direktor Bergmann ab, und sie erhob ihre Hande bittend und beschwichtigend, „und seien Sie versichert, gnadige Frau, an all dein Madelgetuschel ist kein einziges wahres Wort." „SoP Na, es wird sich vielleicht doch erweisen lassen, ob Johanna sich mit dem Wiistling in Grinzinger Gasthausern und sonstigen Hotels herumgetrieben hat." „Wer soll denn der Geliebte sein?" „Das scheint nicht einmal Marianne zu wissen, der Johanna etwas von einem Vetter aufgebunden hat." „Da haben wirs!" sagte die Frau Direktor kopfschüttelnd, „glauben Sie doch einer in der Praxis stehenden Padagogin. Wir kennen uns da wirklich aus. Yon solchen Phantastereien leben die Madels — das lauft von Zeit zu Zeit immer wieder durch die Klassen. Und das Gescheiteste, was wir Erwachsenen da tun können, ist: gar nicht drauf achten!" „Frau Direktor wollen also auch nicht darauf achten, dass Johanna mit zweitausend Kronen herumlauft und von wem sie die hat?" Die Frau Direktor zeigte ihr professionelles Lacheln, versöhnlich und voller Milde: „Gerade dieses Geld macht alles noch unglaubwiirdi- ger. Natürlicli gibt es solche — solche anormalen Manner — aber wir wissen doch aus den Zeitungen, wie die vorgehn. Unauffallige Geschenke — ja; aber dass sie einer Dreizehnjahrigen Betrage in dieser Höhe geben, ist doch ausgeschlossen! Genau so gut könnten solche Menschen ihr Vergehn dann an die Anschlagsaulen hangen!" Der Arger in Frau Koppel vertiefte sich. Sie empfand geradezu als gesellschaftliche Nichtachtung, dass die Frau Direktor lachelte, wo sie, Frau Koppel, aufs ausserste empört war. „Ja, wollen Frau Direktor denn erst eingreifen, wenn es zu spat ist? Die Sache muss nach meiner Meinung streng untersucht werden! Ich als Stiefmutter habe eine doppelte Yerantwortung auf meinen Schultern, und ich kann und werde nicht dulden, dass Marianne mit solch einem verkommenen Geschöpf langer in eine Schule geht!" „Aber beruhigen Sie sich doch, gnadige Frau! Haben Sie doch ein wenig Yertrauen in meine jahrzehntelangen Erfahrungen!" „Ich kann mich nicht beruhigen!" Frau Koppel war aufgesprungen, „und wie soll ich Vertrauen haben, wenn Frau Direktor in Ruhe mitansehen wollen, dass da ein Madel systematisch eine ganze Schulklasse, und meine Stieftochter mit, total verdirbt!" „Also ich werde, obwohl ich eigentlich dagegen meine Bedenken habe, Sorge tragen, dass dieses blöde Geschwatz aufhört, und ich werde ausserdem — auch nur auf Ihren ausdrücklichen Wunsch hin, gnadige Frau — Johanna morgen zu mir bestellen. Des Ausgangs bin ich schon gewiss. Selbstredend werde ich Sie auf dem laufenden halten." Die Frau Direktor versicherte noch, wie ausserordentüch es sie gefreut habe, Mariannes Mutter kennen gelernt zu haben, und dann war Frau Koppel verabschiedet. Sie war durchaus nicht zufriedengestellt, ein Gefuhl, unter dem sich uneingestandene Enttauschung verbarg, weil ein so reichhaltiger Gesprachsstoff in keiner Weise erschöpft worden war. Wie sollte ihr auch möglich sein, Einsicht zu nehmen in sich selbst, zu begreifen, dass nicht nur Geldstücke in einer Registrierkasse bei Meinl streng von einander getrennt liegen — je nach ihrer Legierung und Pragung son- dern auch die Menschen? In all der Ordnung urn sie herum blieb Frau Koppels Kopf leider immer einigermassen unaufgeraumt. Nichts wurde zu Ende gedacht, alles von einem Winkel in den andern verschoben — gerade so wie heute. Als sie zu Hause anlangte, hatte der resultatlose Besuch sie bereits in eine heftige Erbitterung gegen die Frau Direktor hineingedrangt. Johanna wurde tatsachlich am nachsten Tag zu Frau Direktor Bergmann bestellt. Mit erhobenem Naschen und gar nicht kleinlaut stand sie da, mit einem treuherzig blinzelnden Bliek und in jener entwaffnenden Bescheidenheit, die sie trug wie eines von vielen Kleidern. Die Direktorin, eine wohlwollend gutmütige Natur und liberal aus Überzeugung, liess ihre Augen ernst, aber nicht einschüchternd, über Johanna wandern, wahrend sie sagte: „Ich kenne dich als ein zwar nicht sehr fleissiges, nicht sehr strebsames Madchen; aber jedenfalls sind mir noch nie Klagen über dein Betragen in und ausser der Schule zu Ohren gekommen." Johanna machte einen kleinen Knix, der zu der bescheidenen Haltung gut passte. „Ich habe mich in den letzten sechsundeinhalb Wochen auch in meinen Leistungen sehr gebessert", versicherte Johanna eifrig, und auch das wirkte einnehmend auf die Frau Direktor. Es fiel ihr schwer, einen Anfang zu finden. Yorsichtig begann sie: „Was liest du eigentlich für Bücher, Johanna?" „Romane lese ich überhaupt keine. Ich lese eigentlich nur und nur Gedichte. Und am liebsten Hölderlin." „So. Da kennst du wohl auch sein ganzes Leben?" „Nicht direkt —" Johanna dachte nach und überlegte, wohinaus dieses Gesprach wohl sollte, „ich weiss nur, dass er zuletzt verrückt war." „Weisst du, wer Diotima war?" Johanna war bekannt, dass Diotima Hölderlins Geliebte war; aber sie war der Ansicht, dies sei kein Thema für eine Direktorin. „Natürlich", erwiderte sie unbefangen, „so eine Art Muse, die doch jeder richtige Dichter haben muss." So kam man mit dem Kind nicht weiter. Am besten, man fragte nun direkt: „Wie kommst du eigentlich darauf, in der Klasse herumzuerzahlen, du habest einen einen Brautigam?" Johanna sah die Frau Direktor voll und, wie es schien, tief überrascht an: „Das habe ich niiiiiiie und keinem einzigen Menschen erzahlt." „Aber dann hast du vielleicht erzahlt, dass du mit einem Freund nach Amerika gehst?" Frau Direktor Bergmann liess Johanna nicht aus den Augen. Sie wurde glühend rot und schüttelte nur stumm den Kopf. „Wirklich nicht? fragte die Frau Direktor und beugte sich über den Tisch weg nach Johanna, blickte sie von unten herauf an, so, als wolle sie unter diesem Bliek ein Gestandnis reifen lassen. „Nein. Nicht ein Wort hab ich erzahlt", erwiderte Johanna verstört. Die Frau Direktor war beinah verlegen dem Kind gegenüber, so sehr schien es ihr von diesen ihm unbekannten Dingen überrumpelt. „Hast du nicht vielleicht doch all das gelesen und irgendwie unklar und in Yerbindung mit dir in der Klasse darüber geredet?" Wieder schüttelte Johanna wortlos den Kopf. "Wie erklarst du dir dann aber, dass man dich und Marianne hat darüber reden horen?" „Ich kann und kann mir das einfach nicht erklaren", sagte das Kind und sprach das ,kann' mit vielen ge- zogenen N. Die Frau Direktor beobachtete Johanna eingehend, wahrend sie das sagte, und kam zu der Auffassung, man brachte sie nur auf ungute Gedanken, wenn man wei ter forschte. „Du bleibst nun hier", bestimmte sie, „wahrend ich hinunter in die Klasse gehe. Es muss sich doch feststellen lassen, woher dieser Tratsch kommt." In Johannas Gesicht veranderte sich gar nichts. Ihre Augen waren gross, hilflos, frei von Falsch wie zuvor. Die Schulvorsteherin entschuldigte sich bei Frau Professor Ulrich, dass sie den Unterricht störe, und erkundigte sich leise, mit wem Johanna Deutsch besonders befreundet sei. Zögernd nannte Frau Professor Ul- rich Marianne Koppel und Mimi Zucker; ihr war bekannt, dass Johanna wirklich befreundet mit niemandem war. Die Direktorin nahm zuerst Marianne beiseite: „Johanna Deutsch hat dir gestern und auch schon friiher erzahlt, sie habe einen Brautigam?" „Nie!" kam unverzüglich Mariannes Antwort, „nicht ein Wort!" „Denke einmal nach", sprach Frau Direktor Bergmann und stiitzte einen Ellbogen in die Hand, wahrend die andere Hand eine mahnende Bewegung vollführte, „war da nicht ein Vetter?" Marianne begriff. Dieses Verhör hatte sie dem Fraulein Kutschera zu verdanken. Nur ihr. Zorn und Empörung gaben ihr nun eine unerhörte Sicherheit und den festen Willen, die Freundin aus der Patsche zu ziehen. „Ach der! An den hatte ich doch schon langst vergessen. Ja, der schwarmte einmal von weitem für Johanna." „So. Wie heisst er denn?" „Das ist schon so lange her, dass ich es nicht mehr weiss. Johanna konnte ihn auch nicht leiden. Da habe ich nicht weiter gefragt." Marianne durfte sich wieder setzen, und es wurde Mimi Zucker zum Katheder beordert; aber auch hier kam die Yorsteherin nicht um ein At om wei ter. Mimi Zucker wusste nichts. Mimi Zucker hatte angeblich nie ein Wort von all dem gehort. Da fiel Frau Direktor Bergmanns Bliek auf Friederike Skriebitsch. Mit eingezogenen Lippen sass sie da, und Frau Direktor Bergmann war plötzlich, als wisse gerade dieses Kind, so unglaublich ihr das schien, mehr. Sie rief Friederike auf, beschied sie aber nicht zu sich. Vor der ganzen Klasse fragte sie die Schülerin: „Friederike! Weisst du etwas darüber, dass Johanna Deutsch nach Amerika auswandern möchte — und zwar — und zwar nicht allein?" Zögernd, ganz ohne ihren sonstigen Elan, hatte Friederike sich erhoben. Sie wusste bereits, worum es ging — so etwas verbreitet sich in einer Schulklasse auf hunderterlei Art. Schon die ersten Schulkinder miissen unzahlige Yariationen der drahtlosen Telegrafie gekannt haben. I1 riederike also wusste Bescheid, und sie wusste auch, welche Antwort die Klasse von ihr erwartete. Ganz abgesehen davon, hatte sie sich zu Angeberei nie verstanden — gleichgültig, um wen es sich handelte. Es log sich nur nicht leicht für sie; aber ein ordentlicher Rippenstoss von Stefanie Hochberg beschleunigte ihre Antwort einigermassen: „Nein. Das ist mir völlig neu und unbekannt", deklamierte sie. Die Schulvorsteherin und die Klassenlehrerin mussten über sie sogar ein wenig lachen, und deshalb bemerkten beide nicht, wie die über der Klasse liegende Spannung sich langsam löste. Den Ausschlag gab übrigens Frau Professor Ulrichs Bescheid über Johannas Leistungen. Die Schülerin hatte wirklich einen tüchtigen Anlauf genommen und schien in der Hebung ihrer Gesamtleistung erstaunlich standzuhalten. „Ich dachte mirs gleich ', meinte die Frau Direktor. Damit war für sie die ganze Angelegenheit erledigt. Ihr blieb von all dem nur ein gewisses Mitgefühl für Marianne, deren Erziehung da wohl in recht ungeeigneten Handen lag. Johanna wurde in die Klasse geschickt, und Frau Koppel erhielt einen überaus höflichen Brief. Darin wurde ihr gedankt für das der Bergmannschen Anstalt erwiesene Interesse. Der Fall sei untersueht worden, und, wie die Frau Direktor bereits vermutete, hatten sich die ganzen Anschuldigungen als haltlos erwiesen. Die Schulleiterin dankte nochmals für das Yertrauen, mit dem Frau Koppel sich an sie gewandt habe, gab der Uberzeugung Ausdruck, es in dieser ganzen Angelegenheit gerechtfertigt zu haben. Frau Koppel schaumte über diesen Brief. Da wurde als „haltlos" abgetan, was sie mit ihren eigenen Ohren gehort hatte, wahrend man den Aussagen einiger verdorbener Kinder vollen Glauben schenkte. Sie wurde nicht einmal zu einer zweiten Riicksprache gebeten, sondern brieflich abgefertigt wie eine Untergebene. Aber so licss Frau Koppel nicht mit sich umgehen. An Johannas Yergehen dachte sie jetzt nur noch in zweiter Linie. Im Vordergrund stand ihr verletztes Selbstgefühl, stand diese neuerliche Zurechtweisung, die ihr die Schulmeisterin erteilt hatte. Dies war Frau Koppel zuviel. Sie würde anderweitig dafür Sorge tragen, dass Recht blieb, was Recht war, und dass die Gesetze geachtet würden. Abermals zuckte, wie eine Leuchtreklame, der Albumvers durch Frau Koppels Hirn, und sie begab sich sofort zur Polizei. Der Stein war im Rollen. Am andern Morgen erschien zu unwahrscheinlich früher Stunde ein Kriminalbeamter in der Wohnung der Familie Deutsch und verlangte Herrn Deutsch zu sprechen. Der lag um diese Zeit noch in tiefem Schlaf. I ruhaufsteherin im Hause war Frau Rosa, und so empfing sie den Beamten. Ihr Schreck war nicht gering, als der Mann sich auswies; denn wem fiele nicht irgend eine Gesetzesübertretung ein, wenn er sich in aller Frühe einem Kriminalbeamten gegenübersieht! Frau Deutsch hatte das Lehrmadchen Selma nicht in der Krankenkasse angemeldet. Grund genug für ein schlechtes Gewissen. ,,Bitte, ist Ihnen vielleicht Geld abhanden gekommen?" fragte der Mann sehr höflich. „Nein", erwiderte Frau Rosa und atmete auf, „nicht dass ich wüsste. Aber wieso denn? Worum handelt sichs denn?" „Ich habe keine Instruktion, darüber Auskunft zu geben , sagte der Beamte kurz, wurde aber sogleich wieder verbindlich: „Es fehlt Ihnen also kein Geld?" „Nein. Bei uns ist alles in Ordnung", versicherte sie mit grosser Erleichterung, und sie nahm sich vor, die Krankenkassenangelegenheit sofort zu regeln. Sie ist dem Beamten geradezu dankbar, dass er sie aus einem so harmlosen Grund aufgesucht hat, will ihm ihr Entgegenkommen zeigen und ihr Verstandnis für die Ausübung seiner Pflicht. Vielleicht möchte sie auch die Untadeligkeit ihres Hauses unter Beweis stellen oder vielleicht hat die Frage irgend etwas unter der Schwelle ihres Bewusstseins angerührt — jedenfalls bittet sie den Beamten, einen Moment zu warten. Der Sicherheit halber wolle sie doch nachsehen. Der Beamte wartete an der Tür, Frau Deutsch verschwand in ihrem Schlafzimmer. Völlig verstört kommt sie nach zwei Minuten zurück. Ihr Kinn hangt herunter, die Haare kleben ihr feucht an der Stirn. Sie kann' gar nicht reden. Es ist auch kaum nötig. Der Beamte ist sofort im Bilde. „Es fehlt Ihnen also doch Geld?" „Ja-" „Zweitausend Kronen?" Frau Deutsch sinkt auf einen Stuhl, sucht nach einer zusammenhangenden Erwiderung. „Woher wissen Sie denn das alles?" stöhnt sie endlich, „woher wissen Sie, dass es zweitausend Kronen sind? Was soll denn das alles heissen?" Der Beamte stellt nur mit Befriedigung fest, dass zweitausend Kronen fehlen. Ein Beamter macht immerhin nicht gern einen Weg umsonst. „Die werden Sie schon wieder bekommen", beruhigt er die Frau, „die werden noch nicht weit sein, Ihre zweitausend Kronen. Nun möchte ich vorerst einmal einige Familienmitglieder verhoren." „Wenn Sie sich einen Moment gedulden wollen, Herr Inspektor, mein Mann schlaft noch; aber er muss augenblicklich aufstehn! Julius!" Der Beamte halt sie, die aufgeregt ins Schlafzimmer stürzen will, zuriick und meint, es genüge vorerst, wenn sie die Kinder rufe. Leo ist schon in der Schule, auch Johanna muss sofort gehn, Frau Deutsch wünscht nicht, dass sie sich deswegen verspate. Der Beamte indessen dringt darauf, Johanna sofort zu sprechen. Er wird ins Wohnzimmer geführt, wo sie am Frühstückstisch sitzt. Durch die halbgeöffnete Tür hat sie gerade genug gehort, um sich auszukennen. Gestern das Yerhör in der Schule, heute die Suche nach den zweitausend Kronen — sie weiss, worum es geht. Wenn sie nur das Geld an seinen Platz zurücklegen könnte! Aber sie kann jetzt nicht wagen, es unter dem festgenagelten Lino- leumbelag ihres Zimmers hervorzuholen. Sie hatte es ja langst zurückgelegt, wenn Mariannes blodes Ausfragen sie nicht geradezu gezwungen haben würde, das Geld noch zu behalten. Zwischen Misstrauen und Trotz geht sie dem Mann entgegen, entschlossen, sich ihrer Haut zu wehren. Doch der Beamte fragt gar nichts, sondern in beinah gemütlichem Ton schlagt er vor, sie solle am besten auf einen Moment mit hinüber aufs Kommissariat kommen. Sie verschanzt sich hinter der Schule, sie könne nicht zu spat kommen. Es wird ihr aber versprochen, sie komme noch ganz rechtzeitig hin. Frau Deutsch flattert unterdessen wie eine beunruhigte Henne sinnlos hin und her, ruft nach ihrem Mann, der sich nicht rührt, beschwört trotzdem den Beamten, zu warten, bis ihr Gatte das Kind begleiten könne, und vernimmt kaum, dass der Beamte beschwichtigend sagt: „Aber lassen Sie doch Ihren Mann schlafen. Eh er aufwacht, ist das Madel schon in der Schule." In einem kleinen Raum, langer als breit, in seiner Wirkung wie ein Korridor, stand Johanna im Yerhör. In ihr war unterdessen alles zu Eigensinn und Trotz gediehen. Um sie herum waren Feinde, das Fraulein Kutschera, die Frau Direktor, dieser Mann da an seinem Tisch. Und sie alle wollten ihr den einzigen Besitz, ihr Erlebnis, entreissen, zerstören. Sie setzte sich zur Wehr. Mit der selben Echtheit, mit der sie, wies der Schulkomment verlangte, gestern vor der Direktorin alles abgestritten hatte, mit der selben Echtheit gab sie jetzt alles zu. Jawohl, sie hatte einen Geliebten. Jawohl, er hatte sie überredet, mit ihm nach Amerika zu fahren. Die Geschichte in GrinzingP Jawohl, und sie war, da man sich liebte, die selbstverstandlichste Sache der Welt. Die neue Situation, das sensationelle Gefühl, Mittelpunkt einer grossen Affare zu sein, über die sich der Beamte bereits Eintragungen und Notizen machte, das verlieh ihrer Einbildungskraft neue Schwingen. Ringsum waren Feinde. Ihr war gegeben, daraus etwas ganz anderes zu machen: Publikum. Schon gehorte dieser Beamte dazu. Und von hier aus ging es weiter! Fine ganze Stadt würde bald von ihr sprechen. Sie war eine Heldin, vielleicht eine Martyrerin. Sie log mit sinnloser Kraft, log Zusammenhange, bildhaft, überzeugend. Als der Beamte sie nach dem Namen des Geliebten fragte, lachte sie ihm ins Gesicht, um nach einer kleinen Pause mit einem Pathos zu antworten, das bei aller Uberspanntheit etwas überwaltigend Echtes hatte: „Diesen Namen wird mir kein Mensch entreissen. Nie werde ich diesen edlen Menschen an seine Feinde ausliefern. Nie!" Wider Willen lachelte der Beamte, als er entgegnete: „Deklamieren hast du wohl sehr gut in der Schule, aber Religion schwach!" Johanna zuckte die Achseln. Dies war der Schluss des heutigen Yerhörs. Der Kommissar sah sich gezwungen, die Sache gegen Unbekannt, niimlich den Mann, der eine Minderjahrige verführt und zu betrachtlichen Diebstahlen im Elternhause abgerichtet hatte, an die massgebende Stelle weiterzuleiten. Johanna schickte er in die Schule. Sie langte mit einer kleinen Verspatung an. Von dieser Stunde an begann die Suche nach dem unbekannten Yerbrecher. Eine Skandalgeschichte sondergleichen beschaftigte damit die öffentlichkeit. Die Schüleriii eines höheren Lehrinstituts als Hauptgestalt einer Sittlichkeits-Affare und Diebstahlsgeschichte. Die Zeitungen schwelgten. Schon an diesem Tage wurde Johanna mittags am Schulportal vorm Nachhausegehn von Zeitungsleuten m Empfang genommen. Johanna ging auf Stelzen! fand sich augenblicklich in dieser neuen und aufregenden Lage zurecht. Die ganze Welt drehte sich um sie! Mit immer wachsender epischer Begabung erzahlte sie ïhre Geschichte. Immer das Gleiche. Nie verwickelte sie sich in Widersprüche. Manche glaubten, manche misstrauten ihr. In jedem Fall barsten die Abendblatter von der auf regenden Neuigkeit. Das Unglück war eingezogen in das Haus Deutsch. Verstandnislos starrte Frau Deutsch ihre Toch ter an Sie begriff noch gar nichts. Kein Wort fiel vorerst. Sie war dumpf benommen. Manchmal setzte sie zu einer Frage an; aber es fehlte ihr der Ausdruck und vor allem der Mut, die Antwort zu hören. Verlegen ging r Deutsch dem Kind aus dem Wege. Niemand wagte eine Aussprache. Der Bruder hatte sich früher so wemg um sie gekümmert wie sie sich um ihn. Jetzt mied er sie. Unter seinen Kameraden war er zwar immer dafür eingetreten, eine Frau habe die gleichen Hechte wie ein Mann, und ein Madel könne also tun und lassen, was es wolle. An seine Schwester hatte er dabei weniger, eigentlich gar nicht gedacht. Es ist eben oft pemlich, die eigenen Ideen, ganz in der Nahe, verwirklicht zu sehn. Am dritten Tag teilte Frau Direktor Bergmann Johan- na schonend mit, sie habe einstweilen der Schule fernzubleiben, ein Urteil oder eine Kritik wolle die Frau Direktor mit dieser durch die Schulordnung gebotenen Massnahme keineswegs verbinden, sondern das Weitere abwarten. Johanna empfand nur noch, dass auch dies folgerichtig jetzt zu ihrem Roman gehore. Sie wurde nicht vom Unterricht dispensiert, sondern sie war der Schule entwachsen. Noch einmal genoss sie die etwas misstrauisch gewordene Bewunderung der Klassengenossinnen, dann ging sie, auf Umwegen, nach Hause. Sie war nicht einmal erregt. Zu dieser Stunde erschoss sich Herr Stadler. Johanna, eingesponnen in die eigenen Dinge, nahm den ganzen Vorgang zunachst nur wie durch eine Wand wahr. In dumpfen Tiefen hatte sie mehr von Stadler verstanden als viele andere. Auch in der Schule war, als er noch lebte, viel über ihn debattiert worden. Uberall gab es eine Für- und eine Widergruppe. Der Zwist um den Mann und sein Buch war bis in die Hauser und in die Familien gedrungen. Uberall stritt man um ihn. Frau Deutsch zum Beispiel hatte, freilich erfolglos, ihren Mann ersucht, diesen unheimlichen Hauslehrer, der die Frauen vernichten wollte und sicherlich eines Tages ihr und Johanna etwas antun würde, zu entlassen. Johanna hatte darüber gelacht. Sie hatte für Stadler einspringen können, sie begriff ihn gut; aber das alles ging sie jetzt nichts an. Denn sie liebte und fuhr jeden Tag zwölf Minuten mit dem herrlichsten Menschen der Welt in der Strassenbahn. Stadler selbst warf sich eine Zeitlang mitten in die Kampfe. Er schrieb öffentlich, griff seine Anfeinder au, behielt logisch immer und in seiner ganzen Allüre nie recht. Gewisse Blatter bezeichneten sein Buch als öffentlichen Skandal. Andrerseits trugen ihm Universitaten Lehrstühle und Ehrendoktorate an. Es war zuviel. Der Aufbau des Mannes hielt schliesslich nicht stand. Sein eigenes Format überstieg seine Krafte. Der Ruhm schlug ihm über dem Kopf zusammen. Er war, fast körperlich genommen, zu schwach für soviel Bedeutung. Es war einfach das, dass der Energievorrat dieses schmachtigen, neurasthenischen Menschen nicht ausreichte. Da es zu Hause in der elterlichen Wohnung keinen Raum gab, in dem man eine Minute allein sein konnte, ging er in sein Zimmer in der Deutsch'schen Wohnung, riegelte sich ein und schoss, ratselhaft wutig für einen so betrachtlichen Geist, den blanken, neugekauften Revolver vor einem kleinen Handspiegel zielgerecht ab. Er war sofort tot. Der Schuss hatte durch das Haus gedröhnt. Frau Deutsch stürzte herbei und brach in ein, an ihrer Abneigung gegen Stadler gemessen, unverhaltnismassig lautes und langes Kreischen aus. Herr Deutsch wai nicht zu Hause. Johanna kehrte erst heim, als die Leiche langst abtransportiert war. Wie ihr alles fremd geworden war, was nicht direkten Zusammenhang mit der Affare ihrer Liebe hatte, so blieb sie auch bei der Nachricht vom Tode Stadlers unberührt, apathisch. Erst als am nachsten Morgen einige Zeitungen, vornehmlich Skandalblatter, die Neuigkeit enthüllten, Stadler sei der Hauslehrer jenes Madchens gewesen, dessen Fall das Publikum beschaftigte, gewann sie ein Yerhaltnis zu dem Tode. Jene Zeitungen glaubten zu ahnen, Stadler habe sich Johannas wegen, namlich wegen des Bankrotts seiner Erziehung, erschossen, und diese Lacherlichkeit griff sie auf. Sie wusste, dass es Unsinn war. Aber es war zu verlockend, um ganz weggeworfen zu werden: ein Mann hatte sich ihr et wegen das Leben genommen! Es gab ihr eine Art Haltung. Und in der Not und den Erregungen, die jeden Tag wuchsen, griff sie danach. Die tagliche Beglückung einer gemeinsamen Trambahnfahrt mit dem Geliebten fiel fort. Zu niemandem konnte sie von ihm sprechen. Seine Existenz war auf die wenigen Verhöre auf dem Kommissariat besehriinkt. Nur dort existierte er noch. Aber die Fragen, die hier an sie ergingen, setzten dem Geliebten keine Lichter auf, sondern überzogen ihn mit Grau. Er lebte nicht mehr in Glanz und Sonne, er wurde selber zu Zwielicht. Sie wehrte sich noch wild, verzweifelt, dass man ihn ihr zerpflückte, fortstrich. Es half nicht. Sein Lebenslicht brannte herunter. Sie spürte nur mit völliger Klarheit das eine, dass durch all dies, Skandale, Zerstörung des hauslichen Lebens, Fraglichkeit ihrer weiteren Schulexistenz, die Festigkeit des Bodens, auf dem sie bisher mit soviel Widerspruch und Ekel gelebt hatte, aufgelockert wurde. Es war ein ganz dunkier Instinkt; aber war er nicht von allem Anfang an in dieser seltsamen Geschichte ihr Leitfaden gewesenP Die Affare mochte laufen, wohin sie wollte. Sie half aus der Enge in das Leben, sie riss eine Mauer ein. Schon sprach die Welt von ihr, sie nannte es die Welt. Ihr Sinn gebar in diesen Tagen den Geschmack für etwas Neues: für die Reklame. Die Erhebungen gegen Unbekannt kommen nicht voran. Ahnliche Personalbeschreibungen wie diese, ganz nebenber und wider Willen von Johanna eingeflochten, hatte es auf dcm Kommissariat der Hollandgasse noch nicht gegeben. „Hellenischer Wuchs" und eine „Stirn wie Goethe" und einen „auffallend edlen Gang" — das waren Signalements, mit denen man die Aktenstücke der Hollandgasse nicht verunstalten konnte. Johanna zu beobachten hatte keinen Sinn. Ihre Eltern bessen sie kaum vor die Tiir. Sie wurde miide, zermürbt, missmutiger mit jedem Tag. Zuerst war es die heisse Sehnsucht nach dem Geliebten, die sie noch aufrecht erhielt. Sie steilte sich vor, wie er sie wohl überall suche, wie er um sie litt — aber sonderbar, sein Bild liess sich nicht rufen wie sonst. Am ehesten fand sie es noch in dem Ratselraten der Zeitungen um seine Person, soweit ihr die Blatter zuganglich waren. Noch immer war der Skandal nicht auf seinem Höhepunkt. In Ermanglung irgendwelcher Anhaltspunkte, den Tater betreffend, befassten sich die Zeitungen mit Johanna, dem Haus ihrer Eltern, dem toten Hauslehrer. Jegliches Detail ihres Privatlebens, dessen man habhaft werden konnte, wurde einer sensationslüsternen Leserschaft in grosser Aufmachung vorgesetzt. Der Wiener ist der geborene Zeitungsleser. Bei dieser Skandalaffare kam er auf seine Kosten. In den obskuïen Blattern tauchten bereits Yermutungen auf, vag und nicht greifbar, dass es sich bei dem Verführer anschemend um eine hochgestellte Persönlichkeit handle, der Mittel und Wege zur Verfiigung stünden, die Findigkeit der Polizei abzustoppen. Diese Behauptung wiederholte sich desto hartnackiger, je resultatloser sich alle aufgenommenen Spuren erwiesen. In unter- gründiger, vieldeutiger und gleichwohl nicht rechtlich fassbarer Form wurde auf die verschiedensten Wiener Prominenten hingedeutet. Johannas Seele richtete sich daran auf. Doch es hielt nicht mehr vor. Das Ergötzen der Zeitungsleser aber wuchs von Tag zu Tag. Zwischen der stereotypen Berichterstattung — „verstocktes Schweigen", „schamlose Offenheit" und ahnlichen Gemeinplatzen — wurden die Wiener in den Genuss von Johannas kecken und furchtlosen Antworten gesetzt, die oft im Wortlaut folgten. In allen Kaffeehausern nannte man ihren Namen, die Frauen mit Entrüstung, die Manner mit offensichtlichem Yergnügen. Jemand aber fiel über jede Zeitungsnotiz in Sachen Johanna Deutsch her wie über eine Romanfortsetzung. Und das war Alois Spacil. Alois Spacil, in dem nicht ein Schimmer war von dem kleinen rothaarigen Fahrgast seiner Strassenbahn. Aber er las alle Zeitungsberichte, und ihm machte der kecke Schnabel dieser Dreizehnjahrigen ehrlichen Spass, ja, er imponierte ihm sogar. Solch ein Pflanzchen konnte nur in der Leopoldstadt gedeihen. Spacil versuchte, sich das Madel vorzustellen. Gewiss hatte sie glanzend schwarzes Haar und sehr grosse, runde, pechschwarze Augen, von lasterhaften Schatten umgeben. Lasterhaft blass war auch die slawisch runde Flache ihres Gesichtes. Ihre Figur mochte gross, derbknochig, füllig sein. Ja, solche Madeln hatten immer nur die andern und nie er, gestand er sich mit einem Seufzer ein. Allerdings — eine Minderjahrige — da sei Gott vor! Nicht einmal ansehn würde er eine Minderjahrige. Aber die Zeitungen — die Zeitungen las er doch. Und es genügte ihm durchaus nicht, einen einzigen Bericht zu lesen, sondern er orientierte sich über diesen Fall in allen Blatteru, die es in seinem Kaffeehaus gab. Oft unterhielt er sich auck eingehend mit dem Oberkellner Maxi über die wichtigsten Details. „Das,^ wenn man liest, braucht man keine Romane mehr", versicherte er dem Herrn Maxi. Dieser wiederum betrachtete die Sache von einem andern Standpunkt aus und meinte, wie man heutzutage gar nicht vorsichtig genug sein könne mit den Madeln. „Der Schuft, was sie verführt hat, braucht noch gar kem solcher Schuft zu sein. Wer weiss, was sie ihm vorgeschwatzt hat über ihr Alter!" Aber Spacil, der Erfolglose, sah in dem Schuft einen Kerl, der sein geborener Widersacher war und ihm bei allem im Leben zuvorkommen würde, und so liess er sich um keinen Preis wenigstens die Genugtuung rauben, dass der Schuft eben ein Schuft sei. Der Oberkellner Maxi deutete auf eine Zeitungsstelle und erhob seine Stimme zu jenem einheitlich falschen Pathos aller Elementarschüler, als er vorlas: ,,'Erschwerend fallt ins Gewicht, dass nicht Ahnungslosigkeit sie zum Opfer eines Schandbuben werden liess, sondern dass sie sich bei ihrer aussergewöhnlichen Intelligenz über alle ihre Schritte völlig im klaren gewesen sein muss. Da, lesen Herr von Spacil selbst. Im Kronenblatt stehts!" Und Alois Spacil, von Oberkellners Gnaden taxfrei in den Adelstand erhoben, las — las. Kinder ohne Schule sind wie Erwachsene ohne Zeitung, stehn abgehangt, auf einem toten Gleis. Johanna hangt zwischen Himmel und Erde; aber es ist em grauer Himmel und eine verregnete Erde. Keine Aussicht. Nirgends ein Lichtblick. Sie gekort nirgends hin. Was sollte sie mit sick anfangen? Der dumpfen Fassungslosigkeit, die Frau Deutsck zuerst wie eine Oknmackt umfangen katte, waren überlaute Ausbrüche, abscheulicke Szenen gefolgt. „Nimm mir deine Tockter aus den Augen", kiess es Herrn Deutsck gegenüber, „oder ich kenne mick nickt mekr!" Es waren auck kasserfüllte Ausfalle gegen Marianne an der Tagesordnung, die sicker von allem gewusst, wenn nickt sogar Jokanna angestiftet kabe. Und als Johanna keute eine sckwacke Verteidigung der Freundin gewagt hatte, heulte die Mutter geradezu hysterisch auf: „Schweig still, du Abschaum! Von wem sonst solltest du so etwas haben? Yon mir etwa?" johanna sah die Mutter an: der Knoten des stumpfrötlichen Blondhaares sass schief auf dem Kopf, eine sich lösende Hornspange hing der Mutter in den Nakken, das Gesicht war hochrot und schweissbedeckt, in den Augen war ein gehetzter, irrer Ausdruck, und am schlimmsten war der halboffene breite Mund. „Habe ich je im Leben Unanstandigkeiten im Kopf gehabt?" wiederholte die Mutter. Da legte Johanna beide Hande vors Gesicht. Hier nun schritt der Vater ein und führte Johanna aus dem Zimmer. Weder er noch die Mutter ahnten, dass Johannas Schultern nicht von Weinen, sondern von Lachen geschüttelt wurden. Die Mutter verstummte jah angesichts dieses ersten scheinbaren Anzeichens wirklicher Reue. Da der Verkehr mit Marianne völlig unterbunden war, und da auch Leo seiner Schwester weiterhin aus dem Weg ging, war ihr einziger Umgang noch Franzi, die Hausgehilfin, und das Lehrmadchen Selma. Selma Bahm sich ilirer halb aus Neugier, halb aus wirklichem Mitleid besonders an; aber Johanna mochte das dicke, ewig vergnügte Madchen nicht, und die gutmütigtaktlose Teilnahme reizte sie masslos. Selma, die nie eine Zeitung las, hatte ja auch nur eine ziemlieli vage Yorstellung von den Geschehnissen. Ilirer Meinung nach konnte es sich lediglich um Liebeskummer handeln. Es hatte halt einer die Johanna verf ührt und dann stehn lassen. Dass es im Leben noch andere Komplikationen für ein Madchen geben konnte, dafür fehlten ihr die Begriffe. Das gutartige Ding schickte sich an, Johanna zu trosten: „Lass ihn laufen! Wird nicht sein der, wird sein ein anderer!" Johanna knallte wortlos die Tür zu. Sie hatte wirklich eine schlechte Zeit, wusste kaum noch, wohin mit sich. Wenn sie über die Strasse bis zum Kommissariat ging — andere Wege waren ihr kaum gestattet — war ihr Gang unentschlossen, verworren wie sie selbst. Die Gliedmassen schienen vage in den Gelenken zu hangen, und wenn sie einen Schritt tat, setzte sie ihren Fuss so zögernd auf, als wolle sie ihn wieder zurückziehn. Eine ganz trostlos schlechte Zeit hatte sie. Wenn auch ein Geliebter nicht existiert hatte — und darüber wurde sie sich mit jedem dieser ungelebten Tage klarer — so waren doch einige Monate, die ihr eine Ewigkeit schienen, erfüllt gewesen von einer wahrhaft grossen Liebe. Und genau so glücklich, reich und aufregend diese Monate waren, so leer und armselig war, was nun folgte. Es ging ihr nicht anders als Erwachsenen, die ganz plötzlich einen geliebten Menschen, sei es an den 12 Tod, sei es an das Leben verloren haben, und deren ganze Existenz sich in Sinnlosigkeit aufzulösen scheint: woran soll man noch denken, auf wen warten, für wen jeden Morgen überhaupt aufstehn, wenn nicht für ihn? Es gibt kein Ziel mehr, die Tage haben keinen Namen, keine Stunde, kein Gesicht. Die Zeit verwest. Und jeder von Johannas Tagen sah so aus. Sie wusste es nicht, legte sich darüber nicht Rechenschaft ab. Sie nannte es Unglück und war überzeugt, die Welt habe sich gegen sie verschworen. Die Welt und das ganze Leben war etwas giftig Feindliches geworden. Ihre Eltern, in völliger Unkenntnis dessen, was eigentlich in Johanna vorgegangen war, machten ihr durch stumme und laute Vorwürfe das Dasein völlig unertraglich. Eine böse Gehassigkeit wuchs in diesen Tagen in dem Kind, dem niemand helfen konnte, die Dinge klarzustellen. Tiefen Hass hegt sie vor allem gegen die Mutter. Diese Mutter, die nie Kind gewesen, seit ihrem zehnten Lebensjahr an der Maschine sitzt, Mieder zuschneidet und steppt, um die Figuren ihrer Kunden der Mode entsprechend herzurichten. Darüber wird ihr eigener Körper formlos, sinkt zusammen. Was tut es? Sie hatte keine Kindheit, und sie war auch nie wirklich Frau; aber sie ist überzeugt, dass sie die beste Mutter der Welt ist, die sich für ihre Kinder plagt und für sie lebt. Das stimmt indessen nur zur Halfte. Denn Arbeit ist dieser Art von Menschen, die nie über ihr Schicksal nachdenken und sich einer Bestimmung nie bewusst werden, ein Element. Sie werden hineingeworfen wie ein Hund ins Wasser — und sie können ihre Tempi, die sie nie gesehen, nie gelernt haben. Sie schwimmen. Sie bleiben oben. Einen Genuss verspüren sie dabei nicht — sie haben keine sportliche Befriedigung, keine Freude an dem sie umgebenden Element — sie haben auch keinen Ehrgeiz. Andere können dies und jenes und schwimmen sie aber können niclits als schwimmen. In ihrer Jugend wussten sie niclits von jenem seligen Uberfluss, aus dem heraus Freude geboren wird und aus dem heraus Menschen Flügel wachsen. Dies alles ist ihnen fremd. Denn da war immer nur Arbeit. Arbeit tragt, sie tragt sogar mehr und weiter, als man ahnt. Und insofern ist es — auf einem Umweg — auch wiederum wahr, wenn Frau Deutsch glaubt, sie arbeite nur für ihre Kinder. Zwar ist es fraglich, ob Leo es jemals bis zu einem „Herr Doktor" bringen, und ob die für Johanna zusammengesparte Mitgift auch zu der ersehnten guten Partie führen wird. Wenn sich dieser kleine Gedankengang auch nur um Geld und Geldeswert dreht, so ist es doch so ganz anderes, was man seinen Kindern da zusammengespart hat — ganz anderes. Es gibt keine Traume am Geratter der Maschine, wenn sich die Nadel durch den Miederdamast durcharbeitet, es gibt nur eine fast undurchdringliche Schicht immer neuer Energie. Und darunter ist das Kuhdunkel des Nichtwissens um die Dinge dieser Erde, um Schmerz, Freude, Kummer und Glück — darunter ist das, was sich nie und nirgends hat begeben und wartet, bis daraus dieses bizarre, verlogene, phantastische Kind Johanna wird. Dieses Kind, das die Mutter nur von Angesicht kennt, dieses Kind, das, dammernd wie ein Embryo, annimmt, was es wachsen und gedeihen liisst, und darüber hinaus von der Mutter nichts weiss. Wer weiss etwas vom andern? Mütter von Kindern? Und Nichtwissen ist hier eine Gnade, ausgebreitet über die Illusion von der Stimme des Bluts. Johanna geht mit ihrem verwinkelten, unschlüssigen Gang durch die Strassen. Es ist einer der lauen, föhnigen Wintertage, wie sie in Wien haufig sind. Schmutziger Schneebrei liegt noch auf dem schlechten ungleichmassigen Pflaster und warmer Regen hangt schon in der Luft. Johanna geht planlos den Franz-Joseph-Kai entlang, der Marienbrücke zu. In der Mitte der Brücke steht eine Marienstatue, ihr zu Füssen liegen, selbst hier, mitten in der Stadt, immer Blumen. Johanna hat diese Statue gern, weil die Madonna das Kind in einer sehr rührenden, sehr menschlichen Angst an sich drückt. Und heute scheint der Schleier aus Bronze, der Faltenwurf des Gewands ganz wirklich, regenschwer und föhndurchblasen. An der Madonna macht Johanna halt und schaut hinuuter in den Donaukanal, der ebenso unfroh dahinzieht wie sie. Wenn es ein richtiger Strom ware, denkt sie, würde sie sich hineinstürzen, und alles ware aus und überstanden. Aber in einem Kanal kann man sich nicht das Leben nehmen — das keinesfalls. Da kann man höchstens hineinplumpsen und wird wie eine nasse Katze wieder herausgezogen. Nicht einmal das lohnte. Und so floss der Donaukanal weiter, ohne sie, aber lasch, unlustig wie sie, kein Bach, kein Strom, ohne Schwung und ohne Glanz, im Tempo aller Kanale. „Pfui!" sagte Johanna, das Schulkind ohne Schule, die Liebende ohne Geliebten, und spuckte ins Wasser. Der Föhn drückte, stach in den Schlafen, trommelte in den Ohren. Ganz nah waren der Kobenzl und der Kahlenberg wie immer an den 140 Föhntagen im Jahr. Die Sonne schien jetzt, aber sauerlich, altjiingferlich. Es war ein ausgesprochen widerlicher Tag, der ebenfalls nicht wusste, wohin mit sich. Schnee, Regen, Sonne — alles geriet ihm durcheinander. Von der Hollandgasse her kam ein Leierkasten auf Radern gefahren und spielte mit vielen zitternden, verstimmten und zwei fehlenden Tonen „An der schonen blauen DonauWerklmanner nennt man die Drehorgelkünstler in Wien, und sie sind ganz allgemein beliebt. Trotz der fehlenden und trotz der falschen Töne stieg die unvergangliche Süssigkeit des Strauss'schen Walzers in die Föhnluft. Sie stieg hinauf in die Sonne und schien sie zu etwas durchgreifenderen Massnahmen anzuhalten, und sie tauchte wieder nieder und verleitete den faden Kanal zu ein paar Schaumkrönchen. Falsch oder richtig — ein Wiener Walzer bleibt ein Wiener Walzer und schiesst ins Blut, ein siegreicher Gegenspieler des Föhns. Er strafft auch Johannas verwinkelten, unschlüssigen Gang, ihre Schritte bekommen tanzerische Spannung und Schwung. Ihr Kopf hebt sich. Und obwohl sie kein Ziel hat, sondern nur so dahintrödelt, geht sie jetzt irgend etwas entgegen. Dem Werklmann oder dem Wiener Walzer. Hinter ihr geht ein junger Offizier, knabenhaft leichtsinnig, die Mütze auf einem Ohr. Er summt die Melodie mit und gibt im Yorbeigehn dem Strassenmusikanten ein Geldstück, ohne hinzusehn, weder auf den Mann noch auf das Geldstück. Reinste Geste des Schenkens: er weiss nichts davon. Seine Augen wandern, zuerst zerstreut-gewohnheitsmassig, zu den sch la n ken Madelbeinen da vor ihm, die so etwas wie ein Zubehör Strauss'scher Walzer sind. Etwas bewusster nimmt er die feinen Fesseln wahr, und dann zeichnen seine Blicke schon ganz intensiv die schone Linie der Wade nach bis hinauf zur Kniekehle, die unter dem wippenden Kleinmadchenfaltenrock sichtbar wird. Dem Gang nach ein Racker, stellt er fest, und mit diesem Wort verbindet sich ihm sofort die angenehme Vorstellung von einem süffigen Wein, starkem Kaffee, guten Zigaretten — und einem billigen Parfum. Sonderbarerweise gehort das billige Parfum durchaus dazu, ist nicht wegzudenken, und es geht sogar ein ganz besonderer Reiz da von aus; denn ihm war der strenge Geruch eines nicht übermassig gepflegten Madchenkörpers beigegeben. Wenn man dreiundzwanzig Jahre alt ist und ein österreichischer Husar, so ist von allen Cocktails eben dieser der begehrteste. Manche nennen ihn auch, etwas weniger aufrichtig, „Liebe". Aber dieser junge Mann kennt Liebe nur aus Romanen, und sie ist auch ein Gesprachsthema in Damengesellschaft. Im Grunde genommen halt er sie für finstersten Aberglauben und schwört auf seinen Cocktail. Und eben jetzt erscheinen ihm die tanzerisch leichten Madelbeine wie die Ouvertüre zum Drahn. Er schreitet rascher aus, um sie einzuholen. Die Drehorgel ist weitergezogen, das Walzerlied klingt nur noch von fern. Aber der Rhythmus blieb, bei ihm, bei ihr. Als der junge Mann Johanna erreicht hat, pfeift er ganz leise durch die Zahne mit, und seine Augen blitzen sie in dreister und durchaus siegessicherer Werbung an. Zu seiner grossen Uberraschung sieht er jedoch in ein verschrecktes, blasses Gesichtchen mit roten Haaren. .Doch kein Racker', denkt er enttauscht. Da geschieht etwas Seltsames. Unter seinem Bliek erschliesst sich ihr Gesicht, ein verschmitzt-verlegenes Lacheln überzieht es mit Helligkeit. Er ist an ihr vorbeigegangen. Vielleicht doch ein Rakker? fragt er sich, wendet den Kopf ein klein wenig urn und erlebt die Uberraschung wie zuvor: er kann ein Lachen aus ihren Augen herausholen, kann damit ihr Gesicht beliebig beleuchten. Diesen Yorgang übersetzt er sich auf seine Art: „Die hat so was!" Er rauspert sich stark, beziehungnehmend. Johanna weiss nicht, dass dies ein Stichwort ist, und wenn sie es wüsste, würde sie ihre Rolle noch nicht erfasst haben. Denn sie, die mit einem imaginaren Partner bereits jede Situation in langen Dialogen bestanden hat, bekommt hier, der Wirklichkeit gegenüber, nicht einmal Luft zum Atmen. Und plötzlich reisst es sie herum, sie rennt zum Kai zuriick, quer über die Strasse in das erste beste Geschaft. Sie hat Angst. Verblüfft bleibt der kleine Leutnant stehn. Was soll das? Grösser als Johannas plötzliche Angst ist aber ihre Neugier. Folgt er ihr? Eh sie in dem Laden, einem Papiergeschaft, verschwindet, dreht sie sich blitzschnell um. Der Husar pfeift ein leises Sssst! durch die Zahne — es ist die gewohnte Aufforderung an seinen Gaul, in eine andere Karriere zu gehen — er kennt sich wieder aus. Rasch folgt er ihr in den Laden. Da gibt es nur eine Verkauferin und viele Kunden. Man muss warten, und das ist allen beiden, Johanna und dem jungen Mann, durchaus recht. Johanna kann sich überlegen, was sie hier kaufen wird. Aus Gewohnheit denkt sie zunachst an ein Schulheft. Zum Glück ruft sie sich noch rechtzeitig zur Ordnung. Von einem Schulheft darf hier und überhaupt nie wieder die Rede sein. In diesen ein, zwei Sekunden entlasst sie sich aus der Schule. Sie wendet sich einem Ansichtskartenstander zu. Mit rotglühendem Gesicht und noch röter glühenden Ohren dreht sie daran, ohne überhaupt hinzusehen, hört wieder auf, um in jahem Schrecken nach ihrem Haarknoten zu fassen, ob er sich nicht etwa auflöse. Blicke im Rücken verursachen ein unbehagliches Gefühl — man spürt sie, ohne ihnen zu begegnen, und man spürt sie als intensiv kritische Musterung seiner ausseren Person. Der Offizier tritt ebenfalls zu den Ansichtskarten. Johanna stiert auf scheussliche Buntdrucke von der Karlskirche, ohne wahrzunehmen, was sie da vor sich hat. Jetzt setzt ihre linke Hand den Kartenstander wieder in Bewegung, dreht und dreht. Da spürt sie einen Widerstand. Der Stander rührt sich nicht mehr vom Fleck. Sie wagt nicht aufzusehn. Der Leutnant misst das verwirrte rothaarige Geschöpf mit einem sehr freimütigen Lacheln, das die Absicht einer Annaherung nicht im mindesten verschleiert. Langsam, ohne Johanna aus den Augen zu lassen, setzt er den angehaltenen Kartenstander in umgekehrter Richtung wieder in Bewegung. Dabei weidet er sich geniesserisch an ihrer Ratlosigkeit — etwa als lese er im Hotel Sacher die Speisekarte. Der Stander streift Johannas noch immer ausgestreckte Hand, sie halt ihn gar nicht mehr. Sie ist erstarrt, spürt nicht Holz und Karton über ihre Haut gleiten — sie spürt durch Holz und Karton die andere Berührung. Spürt ihn. Und das mit einer Heftigkeit, die nur Schreck ist. Sie fahrt sich mit ihrer eiskalten Rechten über das brennende Gesicht. Ihm entgeht nichts. Er ist ganz Jagdeifer. Johanna sammelt sich mit Gewalt. Sie wendet sich ab und geht auf ein Regal mit Büchern zu. Ein Schild ist daran befestigt, mit der Aufschrift „Leihbibliothek". Dieses kleine Schild ist wieder so etwas wie Boden unter ihren Füssen. Sie atmet auf. Nun kann sie die ganze blamable Situation wenigstens noch retten, indem sie sich als hochgebildete Person erweist. Das muss ihm imponieren. Als die \erkauferin sie nach ihren Wünschen fragt, sagt sie mit ausserster Sicherheit: „Ich möchte in Ihrer Leihbibliothek abonnieren. Bitte geben Sie mir zunachst die Gesamtausgabe von Hölderlin." Sie hat wirklich eine ernstliche und grosse Yorliebe für Hölderlin, angeregt von seiner romantischen Neigung zu Diotima und festgehalten von seinen atherischen Versen, die sie mit der gleichen Beseligung vor sich hersagt, wie es andere unwiderstehlich in den Rhythmus eines Tanzes zwingt. Aber sie zeigte auch gern, dass sie mit Hölderlin auf du und du stand. Heute und hier bleibt der erwartete Eindruck aus. Völlig. ..Hölderlin'', mischt sich der junge Offizier wie selbstverstandlich in die Unterhaltung, „Hölderlin? Fesch! — Fraulein", er beugt sich verbindlich über den Ladentisch, schiebt die Mütze noch etwas weiter aus der Stirn es kann sich auch um die Andeutung eines militanschen Grusses handeln — „Fraulein, mir geben Sie bitte auch etwas — etwas gegen Reissen." „Bitte schön — gegen was?" Die Verkauferin neigt den Kopf vor. Sie glaubt, genau wie Johanna, sieh verhort zu haben. „ Ja, ja, schon recht. Gegen Reissen will ich etwas", beharrt er mit einer beinah glaubhaften Ungeduld, dehnt sich elastisch, greift sich mit einem kleinen Schmerzenslaut ins Kreuz und fahrt fort: „Schaun Sie, hier tut es weh und da tut es weh. Was lachen Sie denD, Fraulein? Das kommt vom Reiten, bitte schön." Die Verkauferin prustet laut heraus: „Aber Herr Leutnant!" Johanna lachelt mit ganz ernsten Augen. Sie bewundert seinen Ubermut mehr, als dass sie davon angesteckt würde. „Bitte schön'', spricht der junge Mann ernsthaft weiter, „es wird doch unter so vielen Büchern auch eins geben, wobei man ans Reissen vergisst und drüber einschlaft?" „Ganz gewiss, Herr Leutnant", versichert die Verkauferin und bittet, respektvoll in der dritten Person redend, nur um irgend einen kleinen Hinweis auf das, was man so im allgemeinen bevorzuge. „Ich meine halt so den Geschmack", erlautert sie umstandlich. „Geschmack —" wiederholt er tiefsinnig und sieht bedeutungsvoll zu Johanna hin, „also wenn man hier doch nur Bücher nach Geschmack bekommen kann, bitte schön, mein Fraulein —" hier wendet er sich direkt mit einer leichten Yerbeugung an Johanna, „dann überlass ich das Ihnen." „Sehr freundlich", sagt Johanna, die Partnerin vieler hochfliegender Dialoge, „sehr freundlich. Bitte. Gern. Nehmen Sie vielleicht am besten meinen Hölderlin." Und sie reicht den dicken Band mit einer eckigen Bewegung hin. „Aber Sie sind die Güte selbst", versichert er, ohne das Buch zu beachten, „aber wissen Sie, Hölderlin Hölderlin — das klingt mir zu preussisch." „Er war aber aus Schwaben , erklart Johanna eifrig. „ Jesus, was Sie alles wissen! Aber mir sind halt schon die Bayern zu preussisch. Und dann — bei Frauen und Büchern da bin ich nicht so ausgesprochen für das Mollerte. Da ist mir schlank schon lieber!" Nun, da er sein Ziel, ein Gesprach mit Johanna, erreicht hat, weiss er plötzlich ziemlich genau, was er will. Er verlangt einen Band Raimund, Gedichte, und lasst, wie selbstverstandlich, beide Bücher auf seinen Namen eintragen. Die Verkauferin begreift lachelnd und wundert sich nicht. Wahrend er zahlt, ist er schon in lebhafter Unterhaltung mit Johanna. „ Jetzt müssen Sie mir aber einmal erklaren, was Sie an dem Hölderlin eigentlich haben", sagt er und reisst vor ihr die Tür auf, fast pagenhaft anmutig, und sie, entzückt, aber auch benommen von einer so unerwarteten Allüre, vergisst völlig, dass sie ihr gilt, und ist bereit, ihm den Yortritt zu lassen. Auch diesen befremdlichen Moment überwindet er, legt leicht den Arm um ïhre Schulter, schwer zu sagen, ob er sie überhaupt berührt — es ist eher die Andeutung einer Geste, und Johanna geht zaghaft an ihm vorbei auf die Strasse. „Hölderlin", beginnt er wieder, „das ist doch der, der etwas mit einer verheirateten Frau gehabt hat stimmts?" Johanna nickt. Lr redet weiter und iiber ihre Befangenheit hinweg: „Es kann von mir aus einer der grösste Fallot sein; aber eheliche Treue ist eheliche Treue — da gibts cinmal nichts von so einem soll man nichts lesen. Was halten Sie von der ehelichen Treue, mein Fraulein?" ^ „Ich^' fragt Johanna, die sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte, „ich? Ich kann mir nicht richtig vorstellen, dass man Sonntag, Montag, Dienstag und alle anderen Tage auch immer den selben Menschen um sich haben kann —" „Ja, mein Fraulein, bei Ihnen ist das ja ganz etwas anderes. Da handelt es sich gewissermassen um eine Temperamentsfrage." „Temperamentsfrage?" Sie legt den Kopf zur Seite und hebt ein paarmal die Schultern, „nein. Nicht im mindesten. Nerven, denke ich, sind das." Zu ihrer grossen Uberraschung lacht er laut heraus: „Nerven! Gnadigste sind ja ausgesprochen geistreich. Fesch wiirden wir ausschaun in einem christlichen Staat, wenn wir in Bezug auf Weiber — pardon —" er sagte „pardohn" — „pardon, in Bezug auf Damen an unsere Nerven denken wollten. Nach vier Wochen hatte eins vom andern genug. Wissen Sie, Fraulein, ich habe mir schon oft gedacht, das einzige, was unsereins auf die Dauer anziehen kann, ist doch nur der Gaul." „Ach", sagt Johanna und „so". Eine andere Antwort fand sich nicht. Zwei Menschen begegneten sich, und schon das erste nur angefangene Gesprach führte sie aneinander vorbei. „Anwesende natürlich ausgeschlossen", spricht er unbekümmert weiter, „wie ich Sie so da auf der Brücke habe vor mir hergehn sehn, da hats mich gepackt — ich musste hinterher — ja — es ist halt komisch, wie man sich so begegnet." „Sehr komisch", versichert Johanna, der, so sehr sie sich bemüht, kein einziges der vielen Gesprache ein- fallen will, die sie mit dem getraumten Geliebten geführt hat. „Ich glaube, mit Ihnen kann man sich wirklich ganz ausgezeichnet unterhalten", meinte der junge Offizier, „aber es muss ja nicht hier auf der Strasse sein. Wo darf ich Gnadigste zu einer Tasse Kaffee einladen?" „Gnadigste' sagt in Wien der Brieftrager zur Greislerin — es ist eine Anrede ohne alle Bedeutung. Johanna hatte man, begreiflicherweise, noch nie so angesprochen. So hatte dieses Wort auf sie eine ungeheure Wirkung. Im Zusammenhang mit der an sie gerichteten Frage war die „Gnadigste" geradezu wie Verleihung eines Adelspradikats, Abglanz der kaiserlich und königlichen Husarenuniform. Darüber nahm sie nicht einmal die Augenfarbe ihres Tragers wahr. Die Uniform war alles, und durch sie war das kleine Madchen zu einer Gnadigsten erhoben worden. Einen Moment schloss sie die Augen. Um sich zu sammeln, zurechtzufinden oder um sich zurückzutraumen — wer vermochte das zu sagen? Diese Aufforderung ist ja schon an sie ergangen von den Lippen eines nicht existenten Geliebten. Vielleicht ist er jetzt wieder da, schiebt sich vor den Husarenoffizier; denn aus Johanna antwortet eine grosse und sehr verwöhnte Dame, die befiehlt: „Ins Sacher bitte!" Belustigtes Auf lachen antwortet ihr: „Nein, Fraulein, das grad wieder net!" Johanna reisst die Augen auf, ist ganz wach. Versteht. Versteht besser als alle Worte die abschatzenden Blikke, die über ihre aussere Erscheinung wandern und an -der zerzausten Pelzimitation haften bleiben. Nie wird Johanna den leicht nasalen Tonfall des einen Satzes „das grad wieder net" vergessen, in dem bei aller hei- tern Gutartigkeit doch eine Welt von Hochmut lag. Dieser eine Satz schlug einen winzigen blauen Fleck in Johannas Seele. Natürlich merkte er, dass sie betroffen war, und er redete darum auch gleich weiter in einer besonders leichten und liebenswürdigen Art. Er begriff, dass die Kleine in ihrer Nahmadchenromantik vom Café Sacher eine Vorstellung haben mochte wie von einem Marchenkönigreieh und dass ihre heisseste Sehnsucht wohl einem Besuch in diesen Gefilden der oberen Zehntausend galt. Aber abgesehen davon, dass es unmöglich war, mit solch einer Zufallsbekanntschaft ins Sacher zu gehen, zumal in Uniform, hatte er wirklich auch von sich aus nicht den Wunsch verspürt, sich mit diesem zwar eigenartigen, aber keineswegs reprasentablen Pupperl sehn zu lassen, ganz gleich wo. Das Wiener Pupperl entspricht der Pariser petite amie. In Deutschland gibt es nicht seinesgleichen. Wie die petite amie entstammt es kleinsten Kleinbürgerskreisen. Der Begriff des sex-appeal ist um diese Zeit noch nicht erfunden; aber das Pupperl gehort in diese Breitengrade, nur nicht so ausgesprochen, so sachlich drauflos. In Wien hat dieses Kapitel noch seine Romantik, und vor allem die Romantik der Praliminarien. Das Pupperl geht geril und viel in die Kirche und versichert jedem Mann, es sei „nicht für das". Aber es ist doch und sehr und in erster Linie „für das". Es erwehrt sich dessen nur, jedesmal wieder, eine angemessene Weile und halt enorm auf Respektabilitat. In seinen Erzahlungen lasst es ein ganzes Bataillon sittenstrenger Yerwandschaft aufmarschieren, und der erfahrene Freund weiss, er wird gut tun, daran zu glauben. Dieser erheuchelte moralische Hintergrund gereicht dem kleinen Fraulein in jeder Hinsicht zum Vorteil und kommt so wieder dem jeweiligen Freund zugute. Das Pupperl verachtet die Strassenmadchen gewaltig; denn bei ihm geht es um Liebe und nie um Geld. Jedes Mal. Ein Nachtmahl, ein Paar Handschuhe und zum Geburtstag eine Bluse — grössere Ansprüche werden an den Freund nicht gestellt, würden vielleicht nicht einmal angenommen werden. Denn man wünscht sich ein- für allemal von einer Schlampen der Kartnerstrasse oder aus Margarethen zu unterscheiden. Pekuniare Yorteile irgendwie in Beziehung mit Liebe zu bringen, das ware tief unter der eigenen Würde. Das Pupperl ist durch und durch sentimental, es weint geril bei der Liebe und auch nachher, wenn der Freund es verlassen hat und ein anderer noch nicht da ist. Seine erotischen Höhepunkte hat es. wenn es bei einem Sonntagsausflug für die Frau Gemahlin gehalten worden ist. Denn seine Sehnsucht ist die Ehe. In dieser Frage ist es allerdings gar nicht sentimental, sondern es sagt sich von Anfang an, dass es eben diesmal der Richtige noch nicht sei. Meist ist der Richtige aus dem eigenen Milieu. Nach den diversen Ausflügen in andere Regionen geben sich dann diese kleinen Wienerinnen als Ehefrauen mehr als die andern der von jeher ersehnten Respektabilitat hin. Solcherart waren, ausserhalb der Jours und Routs und Tees und Parties, die gewohnten Damenbekanntschaften Florian von Weickers'. Es gab übrigens auch noch den Racker. Der Racker aber war weniger „kommod", er machte einem manchmal nur die Hölle heiss und war imstand, auf gar nichts einzugehn. Ein wenig storend empfand Florian von Weickers be- reits, dass Johanna sich weder hier noch dort wirklich einrangieren liess; denn er war der naturgegebene Partner des Pupperls. Er verlangte von ihm nicht viel. Schone Beine und durchdrahte Nachte. Dafür war er ausgesprochen gutartig und ritterlich zu ihm, er sagte ihm nur liebenswürdige Dinge, manchmal aus keinem andern Grunde, als weil sie nicht wahr waren. Er suchte keine Fehler bei seiner jeweiligen Gefahrtin, er nahm sie kaum wahr; denn er wünschte niemanden zu erziehen, niemanden sich anzugleichen, und er wusste am ersten Tag, warum er sie am letzten verlassen würde: wegen eines andern Pupperls. Denn er betrog die kleine Freundin nicht. Nein. Er verliess sie nur. Das war einfacher. Man lebte schliesslich in einer aristokratischen Gesetzmassigkeit, und wenn man sich auch nicht sonderlich darum kümmerte, salopp war bis an die Grenzen des Möglichen, so war diese aristokratische Gesetzmassigkeit doch etwas, das man aus- und einatmete wie Luft. An der Peripherie dieser aristokratischen Welt stand das Pupperl — oder der Racker — hatte da seinen unerlasslichen Platz, aber in keinem Fall durfte sich daraus so etwas wie eine langere Bindung ergeben. Ware sich Florian von Weickers nicht schon am Postkartenstander darüber klar gewesen, dass Johanna sich einigermassen von seinen üblichen Damenbekanntschaften unterschied, so würde der Wunsch nach dem Sacher ihm das bewiesen haben. Seine kleinen Freundinnen traumten wohl von dem vornehmen Lokal, das hinter der Oper gelegen ist und dessen Besitzerin, Lina Sacher, die Erfinderin der weltberühmten Torte ist, sie traumten davon; aber sie verlangten nicht danach. Sie kannten sich aus. Es konnte vorkommen, dass der Rak- ker einem solche Dinge zumutete, um einen in Verlegenheit zu setzen. Das kleine Madchen da vor ihm aber geriet selber in Verlegenheit. Auch ihm, Florian von Weickers, war seine Weigerung, den Wunsch zu erfuilen, einigermassen peinlich. Er sagte nicht gern nein. Eigentlich war ihm schon leicht unbehaglich zumut, und es ware ihm sehr recht gewesen, das Madel auf gute Art wieder loszuwerden. Da ihm aber eine gute Art nicht einfiel, und da ihm wiederum schlechte Art völlig fremd war, ergab er sich mit Liebenswürdigkeit in sein Schicksal. „Schauen Sie — im Sacher sind so viele Leute", begründete er seine Weigerung, „da könnten wir uns doch ebenso gut mitten auf den Schwarzenbergplatz setzen, nicht wahr, und das möchte Ihnen auch nicht passen." „Nein , sagte Johanna in freundlicher Geistesabwesenheit, „wirklich nicht." Und der kleine blaue Fleck in ihrer Seele schmerzte. Kein Pupperl, keinen Racker hatte er da vor sich, schoss es Florian in plötzlicher Erkenntnis durch den Kopf, aber eine richtige Anfangerin. Das sollte ihm passieren! Da fliegt ein Lachen zu ihm auf, fremdartig und doch bekannt wie der Refrain eines Liedes. Aufmerksam betrachtet er sie von der Seite her, wahrend sie im Weitergehn erlautert: „Ich lache, weil Sie sich jetzt den Kopf zerbrechen, ob Sie in den Prater an einen Würstlstand gehn sollen oder in ein Automatenbuffet." Er kam sich ertappt vor. Ein unbequemer Fratz. Wohin sollte denn das führen, wenn man sich immer so geradheraus sagen würde, was man vom andern denkt und an ihm wahmimmt? '13 Florian ist verdriesslich; aber das hindert ihn nicht, in JohannasLachen einzustimmen. Selbst wenn sich seine Meinung von der des Gesprachspartners recht wesentlich unterscheidet, ist das noch lange kein Grund, etwa nicht mit grosser Uberzeugung einzustimmen. „Gescheit! Ich habe namlich wirklich ein Faible für Automatenbuffets. Wie Sie das auch gleich erraten haben! Aber wie könnte ich Sie da hinführen! Ich zerbreche mir wirklich den Kopf!" — er sagt „ich zerbrich" — „wo ich mit einer schonen jungen Dame hingehn könnte." Er halt einen Moment inne, weil er sich der Unwahrheit des sonst skrupellos angewandten Klischees hier voll bewusst wird. Unmutig zieht er die Unterlippe ein. Für die Kleine muss man sich direkt anstrengen. Da will nichts und gar nichts von den sonstigen Gepflogenheiten passen. Zum Glück sieht er da von weitem ein Kaffeehaus dritten Ranges, wo er sich einmal mit dem Kinderfraulein einer Kusine getroffen hat. Er weist mit der Hand dorthin, und über alle Zurücksetzung hinweg ist Johanna unendlich angezogen von der lockeren Grazie seiner Bewegung. „Sehn Sie, dort gehn wir jetzt hin. Ins Kaffee Muller. Es ist viel hübscher als der triviale Name. Und es muss auch ganz ein besonderes Lokal sein, das zu der Gnadigsten passt." Und wieder tat die „Gnadigste" Johanna unendlich wohl. Das erwarmte und war zugleich Kühlung für den blauen Fleck. Wie sehr er doch auf sie bedacht schien! „Das ist wirklich sehr freundlich", sprach sie, unsicher und gespreizt. Er zeigte wundervolle weisse Zahne, als er antwor- tete: „Aber ich bin ganz ein schabiger Egoist in dieser Angelegenheit, weil ich doch möchte, dass Sie mir öfter die Ehre erweisen." Um seinen Worten ein en gewissen Nachdruck zu geben, was notwendig ist, wenn man sich gar nichts dabei denkt, sprach er plötzlich hochdeutsch. Es wirkte auf Johanna, wie es wirken sollte. Das kleine, verachtete Müdchen mit dem schlechten Ruf stand plötzlich in heller Sonne. Ein Mann, ein Offizier nannte es eine Ehre, sich mit ihr zu treffen — ein veritabler Offizier. Sie blühte auf unter dieser Vorstellung. Besuche im Kaffeehaus waren bisher in ihrem Leben nicht gerade zahlreich. Dies an sich war ein Ereignis. Die Begleitung dieses jungen, eleganten und strahlend heitern Mannes aber war wie ein in Erfüllung gegangener Traum — nur so war es zu benennen. Man hatte etwas getraumt, wachte auf, wollte, diesmal ernstlich und exakt, Traum und Wirklichkeit auseinanderrechnen — und es ging nicht; denn da stand leibhaftig vor einem, was einem den Schlaf oft beunruhigt hatte. Mitten in der Trostlosigkeit ihres jetzigen Lebens war ihr da auf der Marienbrücke, wie vom Himmel gefallen, die Liebe begegnet. Diesmal in Fleisch und Blut. Es war atemberaubend, sinnverwirrend, es war nicht von dieser Welt. Nur für ihn, für ihn war es sehr von dieser Welt, ein kleines Abenteuer, dessen Dauer sich zwischen e'iner Stunde und einem Monat bewegen würde. Wie meist. Er hatte ihr aus dem Mantel geholfen, einem Mantel, der ihm vom ersten Bliek an als billige Konfektionsarbeit aus der Mariahilferstrasse kenntlich war. Trotzdem hing er ihn mit soviel Sorgfalt auf, als handle es sich um einen echten Breitschwanz, wahrend er seinen pelzgefütterten Militarmantel mit einer faszinierend leichtsinnigen Achtlosigkeit auf den Kleiderhaken warf. Armselig, fast nackt baumelte Johannas Mantelchen mit dem Pelzimitationskragen neben dem kostbaren Zobel. Sie spürte den gewaltigen Unterschied so körperlich, dass sich ihr der Atem in der Kehle zurückdrangte. Er überliess sie nicht lange sich selbst und solchen Gedanken. Mit pagenhaftem Ubereifer rückte er ihr einen Sessel zurecht — oder, um es wienerisch auszudrücken: einen Fauteuil. Denn in Wien bekommt alles und jedes einen Grad mehr, als ihm gebührt. Wer völlig ohne Titel ist, wird mit „Herr Doktor" angeredet, wer es indessen zum Doktordiplom gebracht hat, der wird zum „Herrn Dozenten", der Dozent zum Professor. Uniformierte werden vom Leutnant bis zum Hauptmann „Herr Baron" tituliert und rangaufwarts „Herr Graf". Dazwischen wird noch, fallweise, der einfache Adel verliehen, wenn der Doktor und der Baron einmal gar nicht am Platz scheinen. Nur bei der Benennung der Stockwerke ist man keineswegs so grosszügig, sondern hier kann man gar nicht tief genug in der Angabe gehen, und die Einteilung wird nach einer völlig unerfindlichen Logik vorgenommen. Kein Ortsfremder wird sie je erf assen; aber es kann ihm passieren, dass er im vierten Stock wohnt, und es ist immer noch der erste. In dieser Einteilung liegt ein guter Teil Wiener Charakteristik. Also benennt man einen gewöhnlichen Stuhl „Sessel", und ein richtiger Sessel wird in der ihm gemassen Form in den Adelsstand erhoben, indem man ihn ins Französische übersetzt, „Fauteuil" anredet und ,Fotöl' ausspricht. Johanna wurde zwischen erdrückender Befangenheit und überlebensgrossem Selbstgefühl hm und hergeschleudert. Es war ein fieberahnlicher Zustand, ohne Sicherheit, ohne den mindesten Halt. Yon dem abgeschabten roten Plüsch ihres Fauteuils, der ihr mit soviel Charme zugeschoben worden war, schienen geheime Krafte auf sie überzugehn — fast wie von Königspurpur auf seinen Trager. Florian verhandelte mit dem Oberkellner, der ihn natürlich mit „Herr Baron" titulierte. Florian hielt sich mit weinerlichem Entsetzen die Ohren zu und bat: „Sagen Sie mir ,Du, Yerehrtester, aber nicht Herr Baron!" Ls ist in Wien fast ausgeschlossen, dass jemand unterschatzt wird, und diesmal geschah es trotzdem; denn F lorian von Weickers war aus graflichem Haus. Der Kellner fand sich augenblicklich zurecht, murmelte eine Entschuldigung, die mit „gehorsamster Diener begann und mit „meine Yerehrung" schloss, und dazwischen kam noch einmal „Durchlaucht" vor. Florian winkte ihn ab wie einen Untergebenen, beugte sich zu Johanna hinüber, um sie nach ihren Wünschen zu befragen. In Johannas Hirn passierten alle Extravaganzen Revue, von denen sie gehort oder gelesen hatte; aber ausser Cherry Brandy fiel ihr nichts ein. Dass sie nicht wusste, was das ist, würde sie nicht gestort haben, behindert fühlte sie sich nur dadurch, dass ihr die korrekte Aussprache nicht gegenwartig war. Deshalb bestelite sie sich eine lichte Mélange, das ist ein Kaffee mit viel Milch. Für sie war das eine kleine Niederlage, unwürdig des Königspurpurs. Florian Weickers indessen gab die Bestellung weiter und fügte ganz gewohnheitsmassig hinzu: „Mit Schlag und einem Indianerkrapfen." Das war die traditionelle Jause seiner Freundinnen. Individuellen Geschmack gabs da nicht. Für sich bestelite er einen schwarzen Kaffee, Zigaretten und einen Sliwowitz. Johanna wunderte sich. Sie dachte, vornehme Leute tranken ganz andere Sachen als ihr Papa alltaglich im Kaffeehaus. Irgend etwas von einem Cocktail, schon am frühen Morgen, schwebte ihr vor. Sie wunderte sich ein zweites Mal, als Florian in dem Zigarettenkasten des Chasseurs nach den billigsten Zigaretten kramte, aber die Halfte des Preises als Trinkgeld gab. Ein drittes Mal staunte das kleine Judenmadchen über die Art, wie Florian von Weickers zahlte. Zwar zog er eine Brieftasche wie Johannas Vater auch; aber wahrend die des Yaters peinlich geordnet war, hatte diese hier trotz des fremdartig kostbaren Leders eine gewisse Familienahnlichkeit mit Johannas liederlich gepackter Schulmappe. Florian suchte eine Weile etwas, was sich aber nicht fand, gab schliesslich einen Schein, den er kaum anschaute, und auch was man ihm herausgab, würdigte er keines Blickes. Er liess vielmehr zerstreut die Münzen in die Tasche seiner Litewka gleiten. Diesmal war in ihrem Staunen auch etwas von Geringschatzung. Ging man so mit Geld um? Eine Krone waren hundert zusammengesparte Heller. Und wenn man sie nicht selbst zusammengespart hatte, so hatten es die Eltern für einen getan. Johanna kannte Besitz als abgeschlossenen Begriff nicht. Geld war etwas Zusammengespartes, war ihr nur bisher entgegengetreten wie entgangenes Leben, damit waren die verdrossenen und zerarbeiteten Züge der Mutter abgegolten worden. Und wenn die Mutter an den Wascheschrank ging und einem kleinen Holzkasten einen Schein entnahm, so geschah das nie ohne Seufzer und immer mit der Bemerkung, dass man sich „dafür" so schinde und plage, und weg gehe es „wie nichts". Wie nichts. Und hier wurde das Geld der Brieftasche achtlos entnommen und glitt wieder achtlos in die Rocktasche zurück — auch wie nichts. Johanna f ühlte sich weit weg von Florian von Weickers und, für eine winzige Sekunde, der Mutter sehr nahe. Florian geriet ein wenig in den Bann dieser abgewandten Augen und sagte: „Nun möchte ich aber doch gern wissen, was da in Ihrem Kopf vorgeht...." „Ich denke', sprach Johanna mit dem ganzen Zauber kindlicher Offenheit, den sie gerade dann ausströmte, wenn sie eben nicht offen war, „ich denke, dass Sie schrecklich viel Geld haben müssen." „Nein", sagte er, „nie genug", und bot ihr eine Zigarette an. Das Streichholz flammte auf und beleuchtete von unten her ihr Gesicht. Fein und nobel ist das Oval der Wangen, die Nase von glaszarter Linienführung, der Mund herb und kühl, besonders, wenn er sich, wie jetzt, mit eigenartig heruntergebogener Unterlippe zum Lachen öffnet. Die Augen sind von der grossen und tiefen Unschuld der Tiere. „Wer sind Sie eigentlich, kleines Fraulein?" fragte er zu seiner eigenen Überraschung; denn gerade das interessiert ihn bei seinen Damenbekanntschaften immer am wenigsten. Sie tischten ihm auch ungefragt ihren unerlasslichen Standard an Familienmitgliedern auf. Das kannte er selion: die sittenstrengen Eltern, den Vater mit der hübschen Beamtenpension, eine Tante mit enormen Reichtümern, eine zweite im Kloster und die kleine Schwester, die es einmal weiter, bis zur Lehrerin, bringen sollte. Dies war das feststehende Programm, halbwahr wie alles beim Pupperl. Seine Aufschneidereien waren genau so bescheiden wie es selbst. Wozu also fragte er? Was er wissen wollte, die Herkunft dieser adeligen Gesichtszüge, das würde dem Madel selber am wenigsten bekannt sein. „La recherche de la paternité est interdite —" das war wohl die hierher gehorende Erklarung. Johanna wich seiner Frage aus und eröffnete ihm uur, dass sie Jane heisse. Er lachte; denn er kannte auch bereits zwei Mary und eine Mabel, welch letztere ihren Namen nicht einmal richtig aussprechen konnte. „Jane", wiederholte er, „ein schoner Name. Da haben Sie am Ende gar eine englische Taufpatin?" Auch das hatte ihm schon eine seiner Freundinnen aufbinden wollen. „Da im Eek hangten übrigens auch drei kleine Englander, die Kinder dort — sehu Sie? Die sind von van Dyck gemalt, und das Maderl mit den vielen Locken ist die spatere Maria Stuart, wissen Sie, die, die man im Burgtheater immer noch hinrichtet —" „Ja", erwiderte Johanna, „ich weiss; aber das Maderl und ihre Brüder dort, das sind schon die Urenkel der Maria Stuart, weil sie namlich die Kinder Karls I. sind, und dessen Vater war ja schon Maria Stuarts Sohn, Jakob I." Johanna blieb sehr ernst bei dieser detaillierten Berichtigung, nur aus den Augenwinkeln flog ein La- cheln zu ihm liinüber, ein klein wenig abwartend; denn ihr war Bildung so ungewohnt wie Geld, und sie wünschte, dass man ihre Kenntnisse beachte. Die Erwartung erfüllte sieh indessen nicht. "Da schau her, was Sie schon wieder wissen!" sagte ihr Partner — es klang wie ein Tadel — und in wehleidig nasalem Ton fuhr er fort: „Das ist ja unlauterer \ ettbewerb mit Bildung — das müssen Sie mit einem alten Soldaten nicht machen. Unsereins ist schon zufrieden, wenn er weiss, auf wen man die letzten hundertjahr das „Gott erhalte" gesungen hat." Daim wiederholte er ein paarmal ihren Namen und fand, er passé ausgezeichnet zu ihr, sie habe tatsachlich etwas von einer kleinen Englanderin. Mitten im unterbrach er sieh und fragte, sichtlich misstrauisch und missvergnügt, ob sie vielleicht gar Studentin sei. Johanna schüttelte vernemend den Kopf und befahl ihm: „Weiterraten!" „Musik? Konservatorium?" Florian nahm das keineswegs an; aber seine Ritterlichkeit hielt den kleinen Freundinnen immer bereitwillig den Steigbügel für ihre nun einmal unerlasslichen Flunkereien. Wieder schüttelte sie den Kopf. „Ballettsehule?" Er betrachtete sie aufmerksam. Das war immerhin eher möglich bei diesem extravaganten Geschöpf. Ihr eigenartiges Lachen flatterte auf: „Nein. Auch nicht. Und auch keine Trapezkünstlerin und überhaupt nicht aus dem Zirkus." Er hörte gar nicht auf das, was sie sagte, er hörte, er genoss ihr Lachen. „Sie müssen doch etwas mit Musik zu tun haben!" rief er erfreut, und diesmal wars ihm ernst, „namlich Ihr Lachen — ganz komisch ist das — es ist wie ein italienisches Kinderlied...." er summte die erste auf- und dann absteigende Skala ihres Lachens nach und sang dann leise den Text dieses Kinderliedes: „....1'aprile non c'è piü...." Da hatte ers — da wars wieder — schon vorhin, als sie auf der Strasse lachte, hatte ihn das an seine erste Garnison, an Triest, erinnert. Die ganze südliche Atmosphare dieser Stadt stieg mit Johannas Lachen vor ihm auf — erstes Heimweh und erster toller Ubermut ungewohnter Freiheit. Und abends in der Dammerung sangen die Triestiner Madchen aus ihren offnen Fenstern in seine offenen Fenster diese süssen, melancholisch heitern Lieder. Und nur, wenn einmal seine Fenster geschlossen waren, fehlte eine Stimme im Chor. Florian von Weickers war jung, vierundzwanzig Jahre, und da hangt man noch nicht übermassig an Erinnerungen. Triest aber bedeutete für ihn alles, was so mit der ersten Liebe zusammenhangt. Liebe, wie er sie versteht, und mit vierundzwanzig Jahren versteht man sie entweder so, wie die Dichter von ihr singen und jammern, oder sie ist ganz einfach eine pure Wahrnehmung. Und Florian von Weickers, der musikgewohnte, tonempfindliche Wiener, liebte eben nicht mit ganzer Seele, wohl aber mit ganzem Ohr. Den ersten Taumel, den ersten wirklich vollkommenen Sturz ins Nichts, seine Art von Liebe, hatten ihm die melancholisch-herausfordernden Lieder und die anmutig bereitwilligen Ritardandostimmen der Triestiner Madchen geschenkt. Er erinnerte sich keiner einzigen Frau mehr; aber ihre Stimmen, ihr Lachen, ihr Lied wurden ihm von Zeit zu Zeit wieder lebendig. Auch jetzt war es plötzlich da. Johanna starrte ihn an. Er war nun nicht mehr uniformierte Vornehmheit, und er war auch kein Herr Baron oder Graf. Sein Gesicht war das eines sehr schonen, überaus anziehenden jungen Mannes, und Lacheln und Schwung des vollen, etwas madchenhaften Mundes fanden sich als Reflex in den heiter hochgezogenen Brauen. Lr denkt an eine Frau, durchfahrts Johanna, an eine grosse Liebe, an die sie ihn vielleicht erinnert. Diese Kombination liegt immer am nachsten, beschwingt und steigert jeden, der sie zusammenfügt, in dem widerspruchsvollen Drang einer möglichst starken, möglichst ahnlichen Angleichung an das Erinnerungsbild, um es dann bei der ersten besten Gelegenheit niederzureissen, auszulöschen durch die eigene Gegenwart. Jede Frau, jedes Madchen in Johannas Lage empfindet so und weiss nicht, dass es sich in einen Kampf gegen sich selbst einlasst; denn ihre Gegenwart ist ja schon im vorhinein in diese Erinnerung miteinbezogen. Gegen eine Frau könnte sie sich wehren. Zu den Frauen gehort sie, auf Gedeih und Yerderb, selbst. Johanna war von diesem Gesicht, unendlich anziehend im Abglanz galanter Abenteuer, auf eine seltsame Weise ergriffen. Etwas von der gleichen Stimmung überkam sie wie zu den Zeiten des ewigen Geliebten in der Strassenbahn. Ganz nah war ihr dadurch der Fremde, gehorte jetzt zweifach ihr. "Sie sind wohl sehr allein in Wien? fragte er; denn er wollte ein Gesprach in Gang bringen, er wollte ihre Stimme wieder horen, ihr Lachen. Allein. Ja, sie war allein, und wie sie mit dem ewigen Geliebten in der Tramway darüber stumme Gesprache geführt hatte, sprach sie davon nun laut zu dem jungen Offizier. Einfach, wahr, ohne alle Ubertreibung sagte sie in drei, vier Satzen, wo sie herkomme und aufgewachsen sei und wie einsam sie geblieben war inmitten einer Familie, in der doch für sie gesorgt wurde, in der ihr nie etwas Böses geschah. Alles war wieder wie in der Strassenbahn — da konnte, da musste man die Wahrheit sagen. Und es wurde nur die Schule und nur das Abenteuer mit Spacil, vorerst noch, verschwiegen; denn man konnte bei einer ersten Begegnung niemanden mit einer Flut von Gestandnissen überschütten. Es wurde aber auch kein imposanter Beruf erfunden, und es gab überhaupt keinerlei Zutat aus dem Reich der Phantasie. Florian hörte kaum zu. Er hörte nur hin. Yon dem, was die Madels so im allgemeinen erzahlten, war doch nur jedes zehnte Wort wahr. Wozu sollte er sich auf diesesRechenexempel erst einlassen! Und was Johanna ihm berichtete, klang noch unglaubwürdiger als sonst. Wahrscheinlich war sie das Kind einer ledigen Mutter, arbeitete irgendwo als Maniküre oder Verkauferin. Was ging ihn das an? Er hörte ja kaum zu, nur hin. Ihre Stimme tat so wohl. Und in ihrem Lachen, das seine lustigen Zwischenfragen hervorriefen, waren alle Madels von Triest. „Vor allem bin ich doch froh", sagte er, als sie mit ihren Mitteilungen fertig war, „dass man Sie nicht hat studieren lassen. Denn das ware ein Jammer, wenn ein schönes Madchen wie Sie über Biichern versauern sollte. Lernen, Fraulein —" wieder sprach er hochdeutsch, um der Leere seiner Worte Gewicht zu geben, „kaïm man nur vom Leben selbst, nicht von den Büchern." Bewundernd sah Johanna zu ihm auf. Sie hatte sich nicht getauscht, sie konnte ihm vertrauen. Dieser eine Satz bewies es ihr. Er war der reife und erfahrene Mann, an dem ihre kleine in Unordnung geratene Existenz sich wieder aufrichten würde. Für eine Yiertelsekunde griff er nach ihrer matt und kalt auf dem Tisch liegenden Hand und liess sie nach kurzem Druck wieder los: „Mit Ihnen plaudert sichs ganz einfach wunderbar, I raulein Jane — also dass man sich gleich beim erstenmal so gut versteht, das ist mir wirklich noch nie im Leben passiert. Aber ich hab Ihnen das angemerkt, wie ich Sie auf der Brücke getroffen habe —" Der flüchtige Handedruck erschreckte Johanna nur; aber von seinen Worten ging eine Flut von Warme auf sie über. Ihr Herz weitete sich. Was überall sonst nichts weiter ware als abgegriffene Redensart eines Routiniers, ist in Wien ganz etwas anderes. Es ist hier genau so wenig wahr wie überall sonst auch; aber es ist gewissermassen unaufrichtig mit aufrichtiger Herzlichkeit, und sogar von seiner Seele, seinem Gemüt legt der Wiener etwas hinein. Man ist im Dunstkreis der schonen blauen Donau in ganz hervorragender Weise gastfreundlich, und es gibt wohl auch so etwas wie eine Gastfreundschaft der Gesinnung: wenn man jemandem damit eine Freude machen kann, so ladt man ihn ganz ohne Skrupel zu Gedanken und Empfindungen zu Gast, die man gar nicht verspürt, und im Austausch dagegen lasst man sich Überzeugungen des andern auftischen, denen man liebenswürdig zuspricht, obwohl man sich ganz klar darüber ist, man begeht einen moralischen Diatfehler. Dies alles geschieht ohne Berechnung, man denkt sich nicht das mindeste dabei. Es ist das Spiel zwischen ja und nein. Zu keinem von beiden kann sich der Wiener so rasch entschliessen. Denn da sind hundertundvierzig Föhntage im Jahr. Aber der Föhn, dieser geschworene Feind von ja und nein, mengt beides mit launischer Hand zusammen, schüttelt es durcheinander, und es wird daraus: die Wiener Liebenswürdigkeit. Johanna ist glücklich. Sie hat etwas getraumt, wacht auf, und der Traum ist noch da, lebendig, Fleisch und Blut. Als sie sich, nach einer Yerabredung für den übernachsten Tag, von Florian getrennt hat und nach Hause geht, hat sie Flügel. Die Strasse ist ein siebenfarbiger Regenbogen, über Wolken gespannt. Sie bemerkt keinen einzigen Vorübergehenden. Einmal bleibt sie stehn, versucht, ihr Lachen zu singen — so wie vorhin er. Es gelingt nicht recht. Sie wird es wieder versuchen. Es ist jedenfalls ein ganz erhebendes Gefühl, den Refrain eines italienischen Kinderliedes in der Kehle zu haben an Stelle eines Lachens! Und weiter geht sie über ihren siebenfarbigen Regenbogen in die graumonotone Leopoldstadt. Jedoch abends, vorm Einschlafen, als sie sich alles, was Florian an Bedeutungsvollem und Tiefem zu ihr gesprochen hat, ins Gedachtnis rufen will, um ihm dort für ewige Zeiten seinen Platz zuzuweisen — da fand sich nichts. Kein Wort. Und als sie sich wenigstens an sein Gesicht anhalten möchte, an seine Bewegungen — da war da wiederum nichts. Da war da nur eine Uniform. In den ersten Halbschlaf hinein aber klingen plötzlich seme Worte: „Was halten Sie von der ehelichen Treue, Fraulein?" Und dann ist wieder nur weiter gar nichts als eine Uniform. Johanna war vor der verabredeten Zeit im Kaffeehaus Müller am Schottenring. Es war fünf Uhr, und der Februartag tauchte schon niclxt mehr so bereitwillig in Dammerung unter. Durch die gecrèmten und überdies auch schmutzigen Gardinen schaute noch mattblinzelnd Tageslicht. Die Beleuchtung des Cafés war von einer lieblosen Zweckmassigkeit. Keine einzige Birne mehr als durchaus erforderbch. Und doch ist gerade bei Licht das Mehrals-nötig eine Notwendigkeit. Johanna sass und wartete. Geduldig zuerst. Dann nervös und unsicher. War es denn richtig, dass sie viel zu gekommen war, anstatt sich erwarten zu lassen? Es war auch durchaus nicht schön hier — sie hatte es so ganz anders in der Erinnerung. Schabig und fleckig der rote Plusch, ganze Stellen abgewetzt, und auf dem weissen Marmortisch vor ihr waren noch Spuren eines früheren Gastes zurückgeblieben, kleine braune Kaffeelachen vermischten sich mit nassen Kreisen, wo Wasserglaser gestanden hatten. Dazwischen lagen Kuchenbrösel verstreut. Der Kellner, der Johannas Bestellung aufgenommen hatte, dachte nicht daran, den Tisch zu reinigen. Hingegen kratzte er sich etwa's auf dem Kopf, wahrend er mit auch sonst zur Schau getragener Nichtachtung statt der bestellten lichten Mélange einen schwarzen Kaffee brachte. Johanna ekelte sich vor dem Kellner, und schon des- tiof.li th tt* i halb protestierte sie mit keiner Silbe gegen den Irrtum. Gleich darauf wurde ihr verschreckter Bliek angezogen von einem dieken alteren Herrn, auf dessen Kopf Blondhaar üppig wucherte wie Sauerkraut, der, ganz allein an seinem Tisch, mit kurzen Unterbreehungen vor sich hin redete. Ab und zu führte er einen Zahnstocher zum Mund und sog daran wie an einer Zigarette. Uberm Buffet hing in Form eines Haussegens ein gerahmter Spruch in gotischer Schrift: „Sauf dich voll und friss dich dick — Nur sprich nicht von Politik!" Johanna betrachtete das alles mit wachsender Ernüchterung. Dies also war die Atmosphare, die zu ihr passte! Um dieses Lokal ausfindig zu machen, diesen Kellner und ein Buffetfraulein, das sich soeben, wie ein Elefant trompetend, die Nase putzte, um alles dies ausfindig zu machen, hatte sich ihr Kavalier den Kopf zerbrochen! Für ein Ringstrassenkaffeehaus war sie ihm eben nicht fein genug. Das Buffetfraulein rieb sich gründlich die Nase und nahm sofort wieder Speisen und Getranke entgegen. Jedesmal, wenn sie nach einem Stoss zusammengefalteter Papierservietten griff, befeuchtete sie ihren Zeigefinger in unschuldigster Ungeniertheit mit Spucke. Johanna fiel ein, wie sie in einem Backerladen einmal gegen den solcherart angefeuchteten Zeigefinger mit einem erschreckten „bitte nicht mit Spucke!" Verwahrung eingelegt hatte. Damals war sie ein ,schmutziges Judenmadel' genannt worden. Es ist dies nun einmal die unerfindliche Logik böser Yorurteile, und hier ware es Johanna wohl kaum anders gegangen. Sie wusste plötzlich gar nicht, wie sie hierhergeraten war, was sie hier wollte. Kein einziger Gedanke an I lorian von Weickers kam ihr. Sie dachte vielmehr an Zuhause. Und sie sehnte sich plötzlich nach den immer als widerlich empfundenen Geriichen von Bohnerwachs, Silberputzmittel und scharfer Kernseife. Am liebsten ware sie aufgestanden und nach Hause gegangen; aber damit war die Prozedur des Zahlens verbunden, und eher wollte sie hier immer und ewig auf niemanden warten, ehe sie noch einmal den sich kratzenden Kellner an ihren Tisch rief. Da ging die Tür auf, und Florian von Weickers tral ein. Sofort war der ganze Raum voll von ihm. War es die Uniform oder sein Lachen oder der Rhythmus seiner BewegungenP Das ist schwer zu sagen. Sein Erscheinen erzeugte jedenfalls einen Wirbel in dem kleinen und schlampigen Lokal, das in seiner Nachlassigkeit nichts Absonderliches darstellt. Es gibt solche Lokale in Wien in jeder Strasse ein paarmal. Der Wiener weiss, dass sie schlampert sind; aber er hangt an seiner Schlamperei, sie ist ein nicht unwesentliches Accessoir seiner berühmten Wiener Gemütlichkeit. Auf Florian von Weickers wirkte das gramliche und nervös verschüchterte Wesen, das da in eine Ecke gedrückt sass, reichlich ernüchternd. Das konnte ihn aber keineswegs hindern, so liebenswürdig zu sein, wie seine ganze Art nun einmal war. „Küss die Hande, meine Gnadigste!" rief er und tat es nicht. In Wien küsst man oft und gern und bei allen erdenklichen Anlassen die Hande — nur eben gerade da und gerade dann nicht, wenn man es sagt. Man wünscht eben immer jenen kleinen und pikanten Spielraum beizubehalten zwischen dem, was man tut, und dem, was man sagt. 14 „Küss die Hande! Aber ich bin ja ganz ausser mir, dass Sie schon auf mich warten — wirklich desperat — hoffentlich hat Sie das Warten nicht müd gemacht. Ausschaun tun Sie blendend." Das Wort „blendend" sang er fast, bei der ersten Silbe die Stimme hebend, bei der zweiten, sehr gezogenen, ging sie eine Terz hinunter. Er hatte sie begrüsst, mit einer charmanten und weichen und nicht zu tiefen Yerbeugung und nachdem er zuvor den rechten Handschuh abgestreift hatte. Nun wirft er wieder seinen Mantel mit jener aristokratischen Unachtsamkeit an einen Haken. Mit Mütze und Degen verfahrt er sorgsamer. Das Buffetfraulein schaltet zwei Birnen mehr ein. Fast ware es nicht mehr nötig gewesen; denn Florian hat so etwas wie Licht mitgebracht. Ist es die Uniform? Wahrscheinlich. Das Mysterium ihrer faszinierenden Anziehunskraft ist wohl zunachst begriindet auf der unfreiwilligen Komik der Zivilmannerkleidung. Überdieseneinwenig illegalen Erfolg hinaus ist sie aber noch so etwas wie letzter Abglanz ritterlicher Romantik oder Renaissance des Justaucorps höfischer Tracht. Sie modelliert den Körper heraus, anstatt ihn durch sackartige Gebilde des zeitgenössischen Mannerrocks scheinheilig zu verleugnen. Wahrend Florian jetzt Mütze und Degen aufhing, gab die wie eine Haut gearbeitete blaue Litewka minutiös das Spiel der Schulterblatter und aller Muskeln wieder, wie sie sich hoben, strafften und senkten. Johanna sah ihm zu, und im selben Mass, wie der Kellner und der Herr ihr gegenüber sie zuvor abgestossen hatten, genau im selben Ausmass zog dies alles sie an. Es war schön. Es gab der ganzen abgestandenen Atmosphare ringsum ein anderes Gesicht, einen Sinn. Der zerschlissene Plüsch wurde wieder zum Königspurpur, die trüben Birnen brannten festlich, der schmuddelige Kellner nahm Haltung an und wurde Lakai. Mit grosser Geschaftigkeit polierte er den Tisch blank, noch ehe Florian Platz genommen hatte, und von Kratzen auf dem Kopf war keine Rede mehr. Aucb der Sauerkrautköpfige am Tisch gegenüber, der vor sich hinbrabbelte — eine in Wien sonderbar haufige Form der Geistesabwesenheit — hörte damit auf, er steckte seinen Zahnstocher in die Westentasche und versah sich mit einer richtigen Zigarette. „Auf mein Wort! Sie sind ja heute viel schoner als vorgestern! Wie machen Sie das nur!" sprach Florian, wahrend er Johanna gegenüber Platz nahm. Dabei legte er den Kopf ein wenig in den Nacken und auch leicht zur Seite, als unterziehe er sie einer aufmerksamen Priifung. Johanna fühlte sich wie unter einem Scheinwerfer. Ihre Augenlider flackerten nervös, und doch gab ihr Gesichtchen unter diesem Bliek allmahlich her, was es nur konnte. Es fiillte sich auf eine seltsame Art mit Leben, und es kam auch Schelmerei und eine ganz feine Spur Yerlegenheit dazu, die jeden Augenblick in Keckheit umschlagen konnte. Als fahre sie sich übers Haar, strich sie sich die grüne Mütze vom Kopf, behielt sie zusammengeknüllt in der Hand. Sie wirkte jetzt wie ein Cherub. Zwei Sekunden schien sie sich eine Antwort zu überlegen, dann schoss ihre freimütige und völlig unvermittelte Erklarung heraus: „Ich finde Sie namlich auch reizend!" Er sah sie ungewiss an. Derartiges sagte sich doch nicht so — und hier — und überhaupt nicht, wenn noch ein Tisch zwischen einem war. Es hatte doch keinen rechten Sinn — so. Er war ausgesprochen verlegen. Aber ihr Gesicht gab her, was es konnte, sie lachte in sich hinein, keek und verlegen und doch sehr glücklich, dass heraus war, was sie unbedingt hatte sagen müssen. Ihr Lachen gurrte und gluckste und gab allem so etwas wie den richtigen Schick. Ihm stieg es zu Kopf wie Wein. Temperament hat sie halt, dachte er, sie fing wieder an, ihm ehrlich Spass zu machen. Die Kleine ging ran! Wer hatte das gedacht? Bei Pferden hatte er das sehr gern. Yon allen Gaulen, die er unter sich gehabt hatte, liebte er am meisten die Schimmelstute, die nur zuverlassig war, wenn man sich ihr überliess. Dann allerdings ging sie ran wie der Teufel. So etwas gabs auch bei Frauen. Er erinnerte sich da einer Ungarin — na Servus! Florian halt für seine spezielle "V orliebe auf einem speziellen Gebiet, was seinen Landsleuten ganz allgemein und unbewusst selbstverstandlich ist: dass namlich die Frau dem Mann Entscheidungen jeglicher Art und sogar vielerlei Handlungen durchaus mannlicher Konvenienz abnimmt. Nirgends als in österreich trifft man mehr Frauen am Volant, die den Mann ausfahren, und ebenso ist es kein ungewohnter Anblick, dass in Restaurants Frauen für den Gatten zahlen und auch alle Verhandlungen mit dem Kellner führen. Die Frau entschuldigt den Gefahrten mit seiner vielseitigen beruflichen Inanspruchnahme, manchmal auch mit Genialitat, der man diese Anstrengungen oder Banalitaten fernzuhalten habe. Als Florian Johannas spontane Ausserung also auf vielverheissende Weise missverstanden hatte, war er vom Verlauf dieser zweiten Begegnung höchst befriedigt. Er trank seinen Sliwowitz und erwog dabei, ob er Johanna nicht jetzt gleich mit nach Hause nehmen solle. Er zögerte nur, weil er nichts vorbereitet wusste. Seme kleinen Freundinnen nahmen Einladungen prinzipiell erst beim dritten Zusammensein an. Er wiederum war kein Wüstling und respektierte dieses Minimum an Prinzipien. Es kann einer sehr verführerisch sein und ist darum noch kein Verfiihrer; denn auch dazu gehort Initiative. Heute allerdings hatte er sich nur dem neuen Kurs und dem neuen Tempo anzupassen und ging frisch drauflos: „Was essen Gnadigste denn besonders gern zum Nachtmahl?" Johanna sass vor ihm mit geweiteten Augen, überhörte die Frage ganzlich und begann ihrerseits ein Gesp rach: „Heute Nacht habe ich getraumt, ich sei gestorben. Alle standen um mich herum und weinten. Am meisten weinte aber ich selber, weil ich namlich unser Rendezvous verpassen musste." „Eigentlich , sagte er und legte den Kopf wieder seitüch in den Nacken, „eigentlich hatte ich Ihnen ganz andere Traume zugetraut...." ,.Es geht ja auch noch weiter", versicherte Johanna eifrig, „plötzlich weinte ich nicht mehr; denn mir wurde ganz leicht, ich hatte ein Paar dunkelgrüne Flügel und ich flog. Ich sah mich zwar im Sarg liegen; aber ganz oben in der Luft gab es mich noch ein zweites Mal mit den grünen Flügeln, und ich flog über meinen Sarg fort, stieg immer höher und wusste, dass ich Sie da treffen würde, wo es am allerhöchsten ist. Es war ein wunderschöner Traum. „Und jetzt denken Sie, Sie haben von Auferstehung und ewiger Seligkeit getraumt, nicht wahr?" Johanna war zu verdutzt über diese Auslegung, als dass sie hatte antworten können, und Florian sprach schon weiter: „Aber da irren Sie sich, Fraulein Jane. Gar ein so frommer Traum war das nicht; aber darüber reden wir spater weiter, zu Hause, bei mir. „Wie bitte?" fragte sie mit schiichternem Staunen und glaubte, er mache Spass. „Ich hab halt gedacht", sagte Florian. „Sie würden mir die Ehre schenken, bei mir zu nachtmahlen." „Ich soll bei Ihnen nachtmahlen, wirklich?" rief sie noch mehr erfreut als überrascht und tippte mit dem Finger auf sich, um nur ja jeden Irrtum auszuschliessen. Florian sah sich erschrocken um, ob niemand dieses Gesprach mitanhörte; denn Johanna sprach keineswegs leise. Desto leiser fuhr er fort: „Ja, ich bitte ergebenst darum." Das ganze Lokal begann vor ihren Augen zu tanzen. Ihr schwindelte vor Gliick. mir die Ehre schenken ....ich bitte ganz ergebenst darum...." So sprach man mit ihr — so behandelte man sie — endlich, endlich hörte sie all die Hochachtung, von der sie immer nur getraumt hatte, endlich wurde sie mit dem Respekt und den guten Manieren umgeben, auf die sie glaubte, einen Anspruch zu haben! „O, vielen Dank! Ich möchte so schrecklich gem", strahlte sie ihn an. Dei grossen Liebhaberin aus dem getraumten Himmelbett in Grinzing kam auch nicht eine Sekunde lang die Idee, dass nun ein Flirt hinüber in die Liebschaft wechseln sollte. Florian tupfte sich nervös mit dem Taschentuch auf den Mund, vielleicht tat er es unbewusst, um ihr anzudeuten, sie möge leiser sprechen oder am besten ganz still sein. Er begriff gar nichts mehr. Anstatt „O Jesus! nein! oder „Ja, was denken Sie denn von mir?!" bekam er hier einfach „ich möchte so schrecklich gern" zur Antwort.... Johannas Gedanken waren in der kurzen Pause weitergewandert, und nun kamen ihr die Bedenken: „Aber leider kann ich das nicht. Meine Eltern warten doch mit dem Nachtmahl auf mich, und spater als sieben Uhr darf ich nie nach Hause kommen." Florian atmete etwas auf wie ein Schauspieler vorm Sou ffleurkasten, wenn er endlich richtig verstanden hat. Dies war ja der zur Genüge bekannte Einwand, war das liebgewohnte Ritardando. Die wohlerzogene Einfachheit, mit der es diesmal vorgebracht wurde, machte ihn nur noch unglaubwürdiger. „Das wird sich schon richten lassen", versicherte er, „ich bring Sie nachher im Fiaker nach Hause. Sie sind noch lang vor Torsperre zurück." Johanna sann nach. Was sollte sie wirklich zu Hause sagen, womit ihr Ausbleiben begriinden, das sogar nie über sechs Uhr hinaus gestattet war? „In allen Ehren, natiirlich , drangt Florian, und in seinen halbgeschlossenen Augen glimmt ein Funke, den die Ziindschnur seines Blickes weiterleitet. Er weiss es, lasst langsam den Funken zu ihr hinübersengen. Augen von der tiefen Unschuld aller Tiere nehmen den Bliek an und löschen sein kleines Feuer mit ihrer grossen und leidenscliaf tlichen Kühle aus. „Ja. Natürlich", sagt Johanna, „also das muss ich mir halt richten. Gut.... und vielen Dank. Ich nehme lhre freundliche Einladung an." Keine weitere Weigerung, kein Zögern. Florian wurde verlegen, mehr, er genierte sich fast für das Madel. Frauen wollen heucheln, ja, man musste ihnen bis zuletzt dazu jegliche Möglichkeit lassen. Es schickte sich einfach so. Es stand der nun einmal unerlassliche Schein einer gewissen Wohlanstandigkeit auf dem Spiel, eine erotische Note, nicht mehr, gewiss, aber eine, auf die man nicht gern verzichtet. Und alle diese Spielregeln liess der Fratz da völlig ausser acht. glaubte, das nicht nötig zu haben! Wer war sie denn, dass sie sich erlaubte, sich so über jegliche Schicklichkeit hinwegzusetzen, als existiere das gar nicht für sie! „Hier ist es namlich gar nicht hübsch heute, hier bin ich nicht sehr gern, und ich denke es mir bei Ihnen viel schoner...." Was sie sagte, war gerade durch seine natürliche Wahrhaftigkeit tief verdachtig, und Florian wurde immer unheimlicher zumut. Die Af f are war ihm bereits ausgesprochen peinlich. Es fiel ihm nichts anderes ein, als nach dem Kellner zu rufen. Das Wort „Ober zahlen" hat schon viele Gesprache abgeschnitten oder andere eingeleitet, Menschen zusammen- und Menschen auseinandergeführt. Florian machte gute Miene zu bösem Spiel und sagte: „Jetzt wird die Gnadigste so liebenswürdig sein und ein wenig die Hausfrau spielen —" Auch das ziindete nicht, diese vom Pupperl am mei- sten geschatzte Liebenswürdigkeit, als Hausfrau angesprochen zu werden. Johanna sah ihn nur neugierig und erwartungsvoll an. „Wir gehn jetzt miteinander einkaufen. Ich glaube, icli habe den Geschmack der Gnadigsten erraten.... etwas Pikantes.... Französischer Salat oder Mayonnaiseeier und ein Stück heuriges Gansl — und dann — als Mehlspeis recht etwas Süsses...." Jetzt musste er das vom Kuss sagen wie blöd wie fad — immer das selbe, immer wieder. Zudem klappte das Ganze bei dem Madel nicht. Er wurde wirklich nervös. Nie zuvor hatte eine kleine Affare so „agassant" begonnen. Da lachte sie leise, glucksend, und alles hatte wieder seinen richtigen Schick. Bei einem kleinen Delikatessenhandler in einer Seitenstrasse des Schottenrings kauften sie ein. Johanna machte sich wenig aus Essen. Heute war die Auswahl der Speisen aber eine Prestigefrage. Als ihr der Freund genau das gleiche vorschlug, was man zu Hause oft genug ass, gebratene Gans und Mayonnaisesalat, verdarb ihr das ebensosehr den Appetit, wie es ihre hohen Erwartungen enttauschte. Es handelte sich hier sozusagen um ein aristokratisches Nachtessen, und sie hatte sich unerhörteDelikatessen versprochen. Obwohl sie zu dem heurigen Gansl ihre Einwilligung gab, hafteten ihre Blicke begehrlich an der Marmorplatte, auf der es gerade das gab, was sie für ganz erlesene Dinge hielt. Da lagen Herrlichkeiten wie Schinken, Blutwurst, Speek, kurz lauter Sachen, von denen man zu Hause nicht einmal reden durfte. i „Essen Sie gern Sardellenringerln mit Oliven?" fragte i Florian gerade zuvorkommend. „Ja, bitte schön", antwortete sie, mit den Augen auf der Marmorplatte. Schliesslich verlor sie ihre Beherrsehung und platzte heraus: „Eigentlich möehte ich statt der Sardellenringe und der Gans lieber Blutwurst und Speek, und keine Butter, sondern riehtiges Schmalz. Schweineschmalz. Aber viel, bitte!" „Ganz wie Sie befehlen, Fraulein", sagte er und dachte, sie habe eigentlich einen Geschmack wie eine Erzherzogin; wenn es diesen armen Madeln einmal gelang, inkognito auszugehn, dann stürzten sie sich auch immer auf die ordinarsten Sachen. Er hatte es ein paarmal erlebt, wie sie mit den gleichen gierigen Augen wie jetzt Johanna das Aufschneiden der Wurst zu verfolgen pflegten. Wieder auf der Strasse, winkte Florian einen Fiaker heran und verlangte, nach der Churhausgasse gefahren zu werden. Das ist eine kleine Seitengasse, gleich rechts vom Stefansdom. Johanna war so erregt von der Tatsache einer Fiakerfahrt, dass sie glaubte, ihr Herz müsse lauter schlagen als die Pferdehufe. Sie war weit entfernt davon, die Falirt den Kai entlang zu geniessen, und sie bemerkte ebensowenig, wie sich Florian in den aussersten Winkel des Fiakers driickte, nur um nicht mit ihr gesehen zu werden — jetzt, in dieser belebten Gegend, in der belebtesten Yerkehrszeit. Johanna weiss kaum noch, wer sie ist.Wohltuend spürt sie das Rollen der Rader, atmet tief und selig den Geruch von Florians Mantel ein, ein Gemisch von Feil, Zigarettenrauch und englischem Lavendelwasser. In ihrem Kopf türmen sich Gedankengebilde von grandiosester tlberspanntheit. Sie weiss nicht mehr, ob der Wagen ein- oder vierspannig fahrt, und als Endziel der Fahrt schwebt ihr ein hellerleuchtetes Palais mit Marmortreppen und vielen Lakaien vor. Florian kann nichts Rechtes mit diesem ekstatisch entïückten Geschöpf anfangen. Trotzdem ist er für den besonderen Reiz, der von ihr ausgeht, nicht unempfanglich. Vor einem winzigen Konfitiirenladchen in der Churhausgasse halt der Fiaker. Es ist ein so alter und so renommierter Laden, dass er keinerlei Aufmachung nötig hat. Von diesem Vorrecht macht man hier auch in kaum denkbarem Ausmass Gebrauch. Wem das nicht passt, der soll fortbleiben. Man reisst sich um neue Kunden nicht, hat seinen ausgedehnten aristokratischen Kreis von jeher. „Eine kleine Uberraschung fiirs Nachtmahl. Ich bin gleich wieder da", erklart Florian, ehe er aussteigt. Johanna wartet im Wagen. Das kleine Ladchen ist tiefer gelegen als die Strasse, eine Stufe führt hinunter. Also beinah schon ein Kellergeschaft. An ein Kellergeschaft erinnert auch die feuchtkalte und etwas muffige Luft und die weinerüche Beleuchtung. Eine einzige trübe Gaslampe brennt unter ungeputztem Zylinder. Zu kaufen gibt es hier aber die ausgewahltesten Dinge. Ingwer und Feigen im eigenen Saft eingekocht, Orangenkonfitüre nach speziellem Rezept, eingelegte Mandarinen, exotische Honig- und Jamsorten. In grossen Glasern stehn da kandierte Früchte auf italienische Art, echter französischer Nougat aus Montélimar, russischer Halwa und ahnliches. Süssigkeiten auf Schüsseln, Tabletts, in Flaschen, in Glasern, in Kartons und Bonbonnièren. Das einzige, was in diesem Laden voller Süssigkeiten sauer ist, reinster, unverdünnter Essiggeist, das ist die Ladeninhaberin. Gekleidet wie eine nicht übermassig adrette Kastellanin, ein nie ganz reines Stehbörtchen am hochgeschlossenen grauen Kleid, empfangt und bedient sie ihre Kundschaft selbst. Jetzt aber, als Florian gerauschvoll eintritt, bekommt sogar ihr saures Gesicht so etwas wie eine Zuckerglasur. In diesem Laden geht Florian seit über zwanzig Jahren ein und aus, hier ist er bekannt seit dem Tag, da ihn die Mutter zum erstenmal die eine Stufe, die in den Laden führt, hinuntergehoben hat. Für allen Bedarf des elterlichen Haushaltes an Konfitüren ist dieses kleine Geschaft der ausschliessliche Lieferant. Florians Begrüssung ist entsprechend familiar: „Ja Servus, Frau Mira! Ja, was machen Sie denn?! Sie werden ja immer jünger! Kommt das nun von den vielen Zuckerln oder vom vielen Beten?" Halb argerlich, halb geschmeichelt, aber mit grosser Devotion in der dritten Person redend, wehrt Frau Mira ab. Florian nimmt sich aus einer Schale eine glasierte Marcne und fahrt fort: „Auf mein Wort, der Oberst Beisiegel — wissen Sie, der Dicke — er ist bei der Linie, aber sonst ganz ein fescher Mann — wollte mit mir wetten, Sie könnten höchstens vierunddreissig Jahre alt sein. Und wenn ich Sie so anschau, denk ich dreissig.... höchstens.... ehrlich gesagt —" In Wien beginnt man so gern seine Satze mit „auf mein Wort", und Ausdrücke wie „aufrichtig", „ehrIich gesagt", „offen gesprochen", fliegen da herum wie Balie auf einem Tennisplatz. Und sie sind in der Tat kaum mehr als ein Spiel, aber eines, das gerade nur Zeitvertreib sein soll, das kein Mensch ernst nimmt: die meisten Balie gehn ins Netz oder out. Nur ganz selten geschieht es, dass einer angenommen und mit wirklicher Sachlichkeit zurückgegeben wird. Der den aH 8eSeben kat, ist darüber meist masslos erstaunt, und man könnte fast sagen, dass er sich zum besten gehalten vorkommt: er wollte ja kein match, er wollte nur Freude machen urn jeden Preis, selbst um den der Wahrheit. Auch dies ist Gastfreundschaft und Gebefreudigkeit; aber es ist ein wenig wie in China, wo einem alles, was man bewundert, vom Besitzer als Geschenk angeboten wird. Wer solch ein Geschenk jedoch annehmen wollte, erschiene dem Chinesen als aussergewöhnlich unanstandiger Mensch. Dies gilt in österreich — und jenes gilt in China, beides hervorragend höfliche Völker.... Frau Mira glaubte Florian natürlich kein Wort, was indessen nicht hinderte, dass die ganze Art ihr wohltat und ihr zerknüllter, schmallippiger Mund deutet ein Lacheln an. Nach diesen einleitenden Worten bestellte Florian „das Ubliche Dabei machte er eine ganz kurze, ruckartige Kopfbewegung nach der Tür hin, blinzelte dazu unnachahmlich frech mit einem Auge, und auch ein Mund winkel hob sich frivol: „Fur ein neues Fraulein Braut. Rote Haare hat sie. was meinen Sie.... passt dazu ein Wachauer MarillenlikörP Oder beisst sich die Farbe? Die Madeln verstehn in der Regel gar nichts von Alkohol und schaun nur auf die Farbe. Gehn Sie, Frau Mira, Sie werden sich doch auskennen!" Frau Mira kannte sich nicht aus; aber die ZuckerI glasur ïhres Lachelns sprang beinah hörbar: „Wenn ich Herrn Grafen bitten dürfte, ich steh mit meinen Diensten jederzeit zur Yerfügung — ich bin bemüht, jeden Wunsch zu erfüllen; aber Herr Graf wissen, dass er mir mit solchen Sachen nicht kommen darf. Für mich ist das eine Sünde. Ein anstandiges Madel verführen und dann sitzen lassen!" Dabei wog sie Datteln ab und verwandte keinen ihrer seltsam kal ten Blicke von der Wage. „So anstandig ist sie wieder nicht", versicherte Florian mit dem Ton auf „so", und ass wieder eine Marone, „aber wenn das eine Sünde ist, so möchte ich wissen, wieviel Sie so im Jahr an Sündengeld einnehmen.' Frau Mira tat drei weitere Datteln auf die Wage, nahm eine zurück, um dafür eine kleinere zu wahlen, und sie bemerkte mit einer Stimme, die vor Harte fast splitterte: „Was mit meiner Ware geschieht, geht mich nichts an, Herr Graf! ' „Doch!" widersprach Florian kauend, „ich habe es lhnen ja eigens mitgeteilt. Wenn Sie mir also trotzdem etwas verkaufen, haben Sie Butter am Kopf genau wie ich. Beichten gehn müssen Sie es in jedem Fall.' Frau Mira rollte die Lippen ein und entgegnete nichts. Florian aber bemachtigte sich ihrer Dattelschaufel und warf auf das Yiertelkilo Datteln noch einen ganzen Haufen dazu: „Was glauben Sie, was Sie unserm Herrgott auf die Nerven gehn mit Ihrer Abwiegerei! Nur ja peinlich akkurat alles abgewogen, die Datteln und die Tugend!" Er nahm die Datteln samt Pergamentpapier von der Wage, knüllte alles unordentlich zusammen trotz Frau Miras Gezeter. Was für ein Gewicht sie denn jetzt anrechnen solle, jammerte sie, wahrend Florian sich gemütlich halb auf einen Ladentisch setzte — mit einem Fuss blieb er auf dem Boden — und weiter plauderte: „Ich möchte direkt eine Wette mit Ihnen eingehn, dass ich mit meinen Siinden noch eher in den Himmel komm als Sie mit Ihrer Versicherungspolice auf die ewige Seligkeit. Und wissen Sie, warumP Weil dem Herrgott vor soviel Tugend fad ist, direkt fad!" Frau Mira antwortete nicht mehr. Sie nahm „das Übliche vodi Regal: ein Glas Ingwer, Marillenlikör, halbsuss, Schokoladekaffeebohnen, die mit echten Bohnen gefullt waren, und sonstige Spezialitaten des Hauses Wie immer, hatte Florian keine Zeiteinteilung, und beim Einpacken wurde er plötzlich ungeduldig und batte es so eilig, dass er selber mithelfen wollte. Natürlich war er nur hinderlich. Ausserdem machte er Frau Mira ungerechterweise Vorwiirfe, er sei „ganz piekert" geworden und hielt ihr seine klebrigen Finger unter die Nase. Sie wies auf sein zerknülltes Dattelpackchen als Ursache, er habe es ja nicht ordentlich einpacken lassen. Florian hörte gar nicht hin, sondern hielt ihr wieder vor, hier im Laden sei eben alles piekert, Pralinés am Fussboden, Jam am Ladentisch und Honig an der Türklinke. „Halt ein süsses Platzerl, Ihr Laden! Und wissen Sie. was aber das Süsseste hier ist? Ich will Ihnen das schon seit zwanzig Jahren sagen: das sind Sie selber, Frau Mira! Servus!" Und draussen war er. Die Ladeninhaberin griff bereits ohne jegliche Emotion zu ihrem Kundenbuch, um unterm Konto der Grafin Weickers ein Achtelkilo Datteln und vier Maronen, fünf Heller das Stück, zu buchen. Der Fiaker hielt nicht vor einem alten Palais mit hellerleuchteten Fenstern, sondern vor einem im Dunkel liegenden Haus am Franziskanerplatz, das es allerdings in Bezug auf Alter wohl mit vielen Wiener Palais aufnehmen konnte. Durch ein grosses altes Tor ging es in einen Flur mit Steinwanden und Steinboden und dann eine breite Steintreppe hinauf. Florian ging voran. Zaghaft, die kleine kalte Hand an die Steinwand gestützt, trippelte Johanna hinterher. Eine Gasflamme erhellte dürftig das Treppenhaus. Es war alles ein bisschen fremd und durchaus nicht vornehm, sondern nur alt. Es roch auch ein wenig nach der Hausmeisterküche und keineswegs nach Lavendel und Weihrauch, wie sich Johanna die Luft vorgestellt hatte, die Aristokraten atmen. Trotzdem glitten diese Wahrnehmungen sofort wieder an ihr ab, und sie schritt auf Wolkenstufen dahin. Dort oben, das wusste sie, erwartete sie das ganz Grosse: der Mann, der da vor ihr die Treppe hinanschritt, der war das „Du'. Diesem Du begegnete man nur ein einziges Mal im Leben. Sie hatte es gefunden, ihr Leben hatte nun einen Sinn: überall hin und unbedenklich dem „Du" zu folgen. Was das Du über sie beschloss, war fast Gottes Wille. Nicht die Spur von Angst war in ihr, nicht die Spur einer Ahnung, dass es sich um ein erotisches Abenteuer handeln könne. In ihr war nichts als die grosse Bangigkeit, die einen vor der Yerwirklichung heissester Wünsche befallt. Florian lachte leise in sich hinein. Wie nett das Leben war! Man griff auf der Marienbrücke nur zu wie in einen Korb mit Obst und hatte, was man brauchte, was einem Freude machte für einen unausgefüllten Abend. Das Leben war ausgesprochen angenehm. „Schön ist es hier! flüsterte Johanna andachtig, als sie vor einem venetianischen Spiegel im Yorzimmer ihre Krimmermiitze vom Kopf strich, als streiche sie sich nur übers Haar, „hier gefallt es mir schrecklich gut!" „Das freut rnich aber ganz ausserordentlich", versicherte Florian, der sich wunderte, weil nicht bereits beim Mantelablegen die traditionelle Bekanntgabe erfolgte, langer als eine halbe Stunde könne sie in keinem Fall bleiben. Vom Yorzimmer ging es in einen Wohnraum. Florian schritt voran, um das Gas anzuzünden und gleich darauf einen machtigen Gaskamin. Johanna steht blass und fröstelnd da. Er versichert ihr, es werde gleich warm werden, und rückt ihr einen grossen Gobelinsessel an den Kamin. Sie drückt sich hinein, wahrend Florian die Pakete aus dem Vorzimmer holt, auspackt und einem Geschirrschrank alles entnimmt, was er zum Tischdecken braucht. Dabei flucht er auf den Burschen, der Ausgang hat und, nach Florians Meinung, ein heilloses Durcheinander zurückgelassen habe. In Wahrheit ist es Florian gelungen, besagtes Durcheinander, fast mit dem ersten Griff in den Schrank, selber anzurichten. Johanna sitzt tief vergraben in ihrem Sessel; aber ihre Augen wandern umher, sehen alles und verfolgen jede von Florians Bewegungen. Diese Gargonnière ist die typische Wohnung eines jungen Offiziers, der sich einen gewissen Luxus leisten kann. Eine Vitrine, eine Kredenz, eine bronzebeschlagene Kommode sind schone alte Möbel im Stil Maria Theresias. Seit Maria Theresias Zeiten aber hat man in Wien anscheinend aufgegeben, bürgerliche 15 Wohnungseinrichtungen als ein zu lösendes Problem anzusehen. Die Wiener Gemütlichkeit hört im eigenen Heim auf. Hier ist eine Yerbindung von zu viel und zu wenig, ein so weitschweifiger, schwerfalliger und liebloser Gesel) ra ack, wie man ihn nur noch in europaisch eingerichteten Wohnungen des Orients trifft. Ionische Saulen am Buffet und gewundene am Tisch, an den Stühlen, am Umbausofa, Perlmuttereinlagen am Schreibtisch, vergoldete aufgesetzte Rokokoschnitzereien an einem neuen Notenschrank im Biedermeiergeschmack. Florian, an den feudalen und kultivierten elterlichen Haushalt gewöhnt, hatte durch seinen Burschen einige Bilder, sein Klavier und noch einiges mehr von zu Hause entfiihren lassen. Nachdem er ein paar eigene Dinge um sich hatte, fand er sich mit dieser Umgebung ab. Johanna bemerkte einen alten Spieltisch mit Intarsien am Kamin, zwei pompöse Altwiener Porzellanleuchter auf der Kommode, und in der Vitrine blinkendes Silbergeschirr. Diese Einzelheiten erscheinen ihr als der Inbegriff von Vornehmheit und Luxus. „Schön ist es hier!" Es ist fast ein Seufzer. „Es ist mein aufrichtigster Wunsch, dass Sie sich hier wohl fühlen sollen", spricht Florian auf hochdeutsch und lasst sich mit unendlicher Anmut vor der weitgeöffneten Kredenz auf ein Knie nieder, stützt den Ellbogen auf den Oberschenkel und versenkt sein Kinn in die Hand. Johanna wagt nicht zu atmen bei diesem Anblick, denn so, genau so kniet Florian auch vor dem Kaiser in der Hofburg.... „Marandjosef!" murmelt der Knieende indessen vor sich hin, „wo hat nur dieses Mistvieh, dieser tepperte Grillhuber, den Teller hm.... ich weiss ganz genau, es war etwas da, wo man die Mehlspeise heraufgeben kann...." Da er aber den Kristallteller nicht findet, nimmt er kurzentschlossen die Spargelschüssel. Seltsamerweise ist für jemanden, der in höchster Kultur aufgewachsen ist, nur ein einziger kleiner Schritt zur Schlamperei, wenn er sich ohne Personal behelfen soll. „Ganz aufrichtig! Wie zu Hause sollen Sie sich fühlen , verleiht er der vorigen Gedankenlosigkeit einen noch gedankenloseren Nachdruck. Sie lacht: „Wie zu HauseP Ach, und ich dachte gerade, ich solle mich hier ein bisschen besser fühlen!" Er achtet nicht recht auf ihre Antwort, angestrengt damit beschaftigt, in einer Schublade Bestecke zusammenzusuchen. Dabei wird diesmal der Bursche mit „Trottel belegt, ein Trottel, der wohl gewohnt sei, Fisch mit dem Löffel zu essen, und von ihm, Florian, dasselbe erwarte. „Wohnen Ihre Eltern auch hier?" unterbricht Johanna diesen Monolog. „Wie bitte?!" Er wirft mit einem Ruck die mit viel Mühe herausgesuchten Bestecke in die Lade zurück und wendet sich brüsk seinem Gast zu: „meine Eltern — hier?!" Solch eine Frage stellt nur jemand, der völlig, aber auch völlig ahnungslos ist. Nervös vergrabt er seine Hande in den Hosentaschen: „Sagen Sie einmal, Fraulein Jane, haben Sie in Ihrem Leben schon einmal einen Freund gehabt?" Dies war keine Frage, dies war ein Verhör. Sie spürt es, und sie spürt auch, welche Antwort befürchtet wurde. Hier, das begreift sie, sind der Wahrheit ihre natürlichen Grenzen gezogen. Sie tastete sich zurecht. Dieser Mann suchte ihrer Meinung nach eine reife, erfahrene Kameradin, und alles konnte zerrinnen, wenn er erfuhr, dass sie das nicht war. „Einen?" fragte sie wegwerfend, „P! zwei habe ich gehabt, zwei Freunde, von denen der eine immer weniger wert war als der andere. Beide wollten mich heiraten; aber sie haben mich bitter enttauscht. Glauben Sie mir, ich kenne leider das Leben und habe meine schlechten Erfahrungen hinter mir.' Florians kleine Damen gaben immer nur einen Freund zu -— und auch den würden sie gern in Abrede stellen, wenn das möglich ware. Sonst aber deckten sich diesmal die üblichen Eröffnungen mit denen vonjane. Es klang plausibel — immer war der Yorganger ein richtiger Brautigam, den man heiraten wollte, der sich spater aber als Schuft erwies, als purer Yerführer und „alles" nicht wert gewesen war. Diesen Standardbeichten, zu fünfzig Prozent Wahrheit, liegt der rührende Glaube zugrunde, gerade die erlittenen Enttauschungen werden an die Ritterlichkeit des neuen Freundes appellieren, ihn bestimmen, seine Liebe und Aufmerksamkeit zu verdoppeln. Ach, sie öden ihn nur an. Uber nichts wird von den davon Betroffenen so viel und so gern geredet wie über unglückliche Liebe und über Krankheit. Und nichts wird so ungern angehört wie eben diese beiden Themen. Besiegte Menschen ertragt die Umwelt nicht. „So. Und wie alt sind Sie mit Ihren schlechten Erfahrungen eigentlich ganz und gar?" erkundigte er sich. Sie lachte in sich' hinein, und das stieg ihm wieder zu Kopf. „Ubermorgen werde ich achtzehn Jahre , sprach sie. „Wollen wir diesen Geburtstag miteinander feiern?" fragte er und kam langsam auf sie zu. In seinen Ohren sang ihr Lachen und sein Blut. „Ja!' rief sie, „schrecklich gern! Und Sie sind fuuuuurchtbar nett!" Als er auf ihren Bliek traf, hatte er das selbe Gefühl wie schon einmal auf der Jagd, als er ganz plötzlich einem Rehkalb gegenüber stand, das ihn aus grossen, ahnungslosen Augen ansehaute. Damals hatte er abgedrückt und getroffen. Es hatte ihm keine Freude gemacht. Er kehrte um und wandte sich wieder zur Anrichte, aber er kam sich ein ganz klein wenig lacherlich vor dabei. Wenn sich Florian bis jetzt immer noch nicht klar über Johannas Herkunft gewesen war, ihr Benehmen bei Tisch gab ihm den erforderlichen Aufschluss. Sie ass auf eine typisch kleinbürgerliche Art manierlich. Wenn sie das Besteck hielt, wurde der kleine Finger Kokett gespreizt, Messer und Gabel wurden nicht gehalten, sondern gepackt, recht fest, recht tief, aber nie vertauscht. Ihr Brötchen brach sie, wie sichs gehorte, °hne es mit dem Messer zu bearbeiten; aber die Ellbogen lagen nicht an, sondern plagten sich heftig, wenn etwas zerschnitten wurde. Johanna sprach indessen nicht mit vollem Mund, hatte keine fettigen Lippen beim Essen und keine unsauberen Mundwinkel, nicht die Spur des Schlürfens oder Schmatzens. Florian beobachtete Johanna lachelnd und wunderte sich. dass ihn das plötzlich interessiere; denn nichts lag ihm ferner, als Feststellungen über Sitten und Manieren seiner kleinen Freundinnen zu machen. Johanna ersparte ihm jegliches Nötigen, bediente sich unbefangen selbst wie jemand, der gewohnt ist, vor einem gedeckten Tisch zu sitzen. Sie ass für Florians Begriffe sogar zuviel, vertilgte mit kindlichem Vergnügen grosse Mengen von Broten, dick mit Schweineschmalz bestrichen und mit Blutwurst belegt. Dabei war sie von einer reizenden Natürlichkeit und ihr Wegen so im tiefsten wohlerzogen, dass ihn die schwer arbeitenden Ellbogen zu storen begannen wie etwas Stilwidriges. Als er aufstand, um kaltgestellten Syphon zu holen, mit dem Johanna ihren Wein spritzte, trat er hinter sie und legte ihre Ellbogen an: „Wollen wir Hofzeremoniell spielen, Jane, ja? Sehn Sie, so isst man bei Hofe." Es wirkte nicht ein bisschen beschamend, und ihr Triestiner Lachen schoss hoch wie eine Kaskade. Sie hob ihr Glas: „Ja! Hofzeremoniell! Ich trinke auf des Kaisers schönsten Offizier!" „Nachher " sagte er und nahm ihr das Glas fort, beugte sich zu ihr herunter. Kleine Kinderhande stemmten sich gegen seine Brust, tiefglückliche Augen strahlten ihn an: „Ich finde es sooooo schön bei Ihnen!" Sie appellierte, ohne es zu wissen, an seine Gesittung, an die Gesittung eines Wiener Aristokraten. Er nahm ihre Hande von seiner Brust und küsste beide zusammen und noch einmal jede einzeln. Dabei war er ausgesprochen gerührt über sein Verhalten und auch ein klein bisschen dankbar dafür, dass einmal etwas nicht den gewohnten und schon so ausgetretenen Gang nahm. Als er aber wieder an seinem Platz sass, empfand er doch die ganze Situation wieder als blöd. Schliesslich wollte man doch „zu etwas kommen", na- türlich; aber diese mondsüchtige kleine Person reizte und kühlte ab in ein und dem selben Moment. Wirklich blöd. Unvermittelt kam er auf Johannas Traum zu reden: „Also gar so ein frommer Traum war das nicht, Fraulein Jane —" er hielt den Kopf gesenkt und sah sie von unten herauf bedeutungsvoll an, „da sollten Sie den Freud fragen — wissen Sie, wer das ist?" Da sie nickte, redete er weiter: „Also ich hab ja noch nichts von ihm gelesen; aber ein sehr geistreicher Mensch soll das sein. Und der deutet alle Traume — ganz wissenschaftlich, versteht sich, anders als Sie sich das so vorstellen. Da würden Sie Augen machen, wenn der Freud Ihnen sagen möcht, was das für ein Traum war." „Ich weiss schon , sagte Johanna, die bei Josef Stadler öfter Werke von Freud gesehen und diesen oder jenen Satz aufgelesen hatte, „so mit überbewusst und unterbewusst und solches Zeug." „Davon weiss ich nichts; aber dieser Freud weist Ihnen nach, dass Ihr Traum gewissermassen im höchsten Grade na ja — halt ein erotischer Traum war. Bitte sehr, aber streng wissenschaftlich." Das Wort „erotisch löste keinerlei Gekicher aus, keine Yerlegenheit. Johanna zog nur auf eine altkluge Art die Stirn zusammen, und zwei kleine und sehr kindliche Steilfalten kamen mit Mühe und Not zustande. „Erotisch —" wiederholte sie sinnend, „warten Sie einE3&1 muss ich nachdenken. Das tat sie mit grosser Intensitat, um dann mit nüchternster Sachlichkeit festzustellen: „Nein. Also wirklich nicht. Es war kein erotischer Traum. Ich weiss es ganz genau." Ebenso unvermittelt, wie Florian dieses Gesprach begonnen hatte, brach er es ab und hob die Tafel auf. Er lachte in sich hinein und fand die ganze Situation nur noch masslos komisch. Mit dieser kleinen Mondsüchtigen war nicht einmal ein pikantes Gesprach möglich. Das Nebenzimmer war ein sogenanntes Kabinett, wie in Wien einfenstrige Raume heissen. Es wurde ebenfalls durch einen Gaskamin geheizt, eine ungesunde und sehr gebrauchliche Einrichtung. Für Zentralheizung und alle Arten des Fortschritts überhaupt ist man in Wien nur sehr schwer zuganglich. Der Balkan ist nahe, und schon in Wien ist man einer beschleunigten Gangart der Zivilisation abhold. Man kommt immer noch zurecht. Man hat Zeit. Man ist gemütlich auch in der Ungemütlichkeit. Florian bereitet auf einem Spirituskocher den türkischen Kaffee, Johanna fühlt sich so wohl und glücklich, als sei sie nicht zum erstenmal hier und als müsse sie nie wieder fort. Sie verschlingt Florians Bewegungen, die von einer hohen und selbstverstandlichen Schönheit sind, musikalisch fast, weich wie ein cantilene, so wie jetzt, wo er sich herunterbeugt, um zu sehen, ob der Docht ziehe, oder wie er nun den Kopf zur Seite neigt, um ihn mit einem eigensinnigen kleinen Ruck wieder zurückzuwerfen. Johanna verliert sich in die Betrachtung dieser Bewegungen wie ein anderer in eine Melodie, sie nimmt sie gierig mit den Augen auf, als waren es Farben. Und sie bleiben auf dem Grunde ihrer Seele und ihres Geistes haften. Florian lacht immer noch vor sich hin. Uber sich selbst mehr als über die „kleine Mondsiichtige", die er sich da aufgelesen hat. Für ihn bestand kaum noch ein Zweifel, dass sie ihre Erfahrungen „hinter sich ' hatte — was die Madeln so darunter verstanden. Und doch hielt ihn immer wieder etwas davon zurück, diesen Erfahrungexi eine weitere hinzuzufügen. In korrektester Haltung sass er ihr an dem niederen orientalischen Tisch gegenüber, schaute in den Kamin und begann eine Unterhaltung, ganz so, als sasse da eine junge Dame aus seinen Kreisen. Keine Sekunde lang stockte das Gesprach. Keine vielsagenden oder erwartungsvollen Pausen wurden eingeschoben, keine Fragen, die nicht zu beantworten waren, gestellt. Florian erzahlte von seiner Fiesolerzeit, und er erzahlte von der 1 riestiner Garnison. Er sprach von seiner Mutter, die einmal „eine der schönsten Frauen Wiens" gewesen sei. Das behaupten übrigens alle Söhne, selbst solche mit ausserordentlich kritischem Geschmack, von ihrer Mutter. Ob sie nun unansehnlich bis hasslich war, ob man mit ihr gut oder schlecht gestanden hat — für neunundneunzig von hundert Söhnen war die Mutter in ihrer Jugend „die Schönste im ganzen Land". Die Zauberstimme aus dem Zauberspiegel ist: der Sohn. Sie wird es nur nie horen. Ihr haben es nur andere Söhne von ihrer Mutter erzahlt Florian sprach mit den kleinen Freundinnen niemals von zu Hause und am allerwenigsten von der Mutter. Zwar war die Frau Mama den Abenteuern des Sohnes gegenüber von einer heitern Toleranz, und ihr Augenzudrücken hatte auch etwas von einem kameradschaftlichen Zwinkern. Florian jedoch schaltete sie in seiner Gargonnière — fallweise — einfach aus. Sie existierte nicht, wenn ein Pupperl da war. Johanna aber erzahlt er von der Mama. Dass sie eine gute I reundin der Fürstin Metternich sei und wie diese einen interessanten Freundeskreis habe. Allerlei amü- santé Anekdoten fallen ihm ein, er schildert Johanna bemerkenswerte und berühmte Menschen, die in sein Elternhaus kommen und zur Fürstin Metternich. Wer in Wien lebte oder nach Wien kam und Namen und Bedeutung hatte, wurde in diesen Kreis hineingezogen. Florian erzahlt bunt und lebendig, und Johanna hört mit grossen Augen und leichtgeöffnetem Mund zu. Ihr fiel gar nicht auf, dass dies ja keines der Gesprache war, wonach sie dürstete, sondern ein heiteres Geplatscher, Aneinanderreihen von Pointen, Anekdoten, Witzen. Ihr entging noch, dass dies ja das Kompromiss war zwischen ja und nein. Was sie so machtig anzog, war nur die andere Luft, die noble Allüre. Florian war jetzt aufgestanden und lehnte am Kamin in seiner ganzen absichtslosen Anmut. Das Licht der Gasflammen umriss einen Körper in der Linienfiihrung, wie die Gotik den heiligen Sebastian darstellt. Johanna gab sich fasziniert diesem Anblick hin. Und Florian wiederum reizte und beschwingte ihr Zuhören. Sie war eine geniale Zuhörerin. Wie sie da vor ihm sass, jede Miene gespannt, wie sie auf jede halbe Andeutung einging, all seine Gedankensprünge mitmachte, glich sie dem Echo einer übermütigen Alltagsstimme, das hundertfach verstarkt zurückgibt, was man ihm zuruft. Ein Lacheln, ein Heben der Augenbrauen, ein überraschtes Aufgehen des Mundes oder, im Gegenteil, ein schreckhaftes Einziehen der Lippen, ein winziges Heben, zustimmendes Neigen des Kopfes, dies alles rückte das untiefe Geplauder in eine andere Region, gab ihm höhere Bedeutung. Florian empfand als Niederschlag dieser Atmosphare eine gesteigerte Geltung seiner Person. Er war nicht eitel, weil er immer alles gehabt hatte, was die Eitelkeit dem Menschen ersetzen muss. Er war reich. Er hatte einen Namen. Er sah gut aus. Die Frauen hatten ihn gern, und er war jung zu allem Uberfluss. Auch unter den Kameraden war er und seine ganze amüsante Art beliebt, und er galt bei ihnen als jemand, der „auch geistige Interessen hat". Diese nun hatte er so recht eigentlich nicht. Aber gerade, was man nicht besitzt, weiss man zu schatzen. Nur so ist zu erklaren, dass Menschen mit viel Geist und Verstand oftmals doch nicht über genügend da von verfügen, um nicht zu erwarten, das ihr eigentlich Anziehendes ihr Ausseres sei, weitaus ihren Geistesgaben überlegen. Und Schönheit, die sich sonst wehren wiirde gegen jedes andere und hellere Licht, will sich selbst durch Geist überstrahlen. Am anspruchsvollsten sind die Reichen, die doch von ihrem Weg zu wirtschaftlichem Aufstieg her ihre eigenen und die Aspirationen der Umwelt griindlich kennen sollten; aber einmal oben angelangt, erwarten diese Armsten, dass man sich gerade ihnen einzig aus Sympathie nahere, um ihres hervorragenden Charakters willen. So wenig kennen die meisten Menschen ihren wahren Platz, dass sie sind wie jene Aristokraten, die ihren Adel ablegen, aber in ihrem neuen bürgerlichen Dasein peinlich darauf achten, dass man zur Kenntnis nehme, wer sie „eigentlich" sind. Und so machte es auch Florian eine Riesenfreude, dass ihm in Gesellschaft und bei den Kameraden ein gewisser Ruf nachging als von einem, der auch geistige Interessen hatte. Man belachte seine Aussprüche und Pointen und gab sie weiter. Aber auch in dieser Beziehung hatte er ganz die freigebige Art seiner Kaste. Er vergass seine Bonmots sofort wieder und war bereit, sie acht Tage spater als geistiges Eigentum eines andern zu belachen. Immerhin galt er für „geistreich". „Geistreich" ist ein Ausdruck, den man in Deutschland nicht im alltaglichen Sprachgebrauch findet. Er wird nur in jenen besonderen Fallen angewandt, wo tatsachlich von Geist die Rede ist. Beim österreicher ist das Wort gang und gabe. Was er wirklich damit ausdriicken will, ist nicht recht ersichtlich; denn „geistreich" ist man bei ihm bereits, wenn einem woanders erst einiger Verstand beigemessen wird. Geistreich ist man auch schon, wenn man einen guten Witz, einen treffenden Aphorismus hiibsch wiedergeben kann. Und für geistreich galt eben auch Florian unter seinen Kameraden infolge seiner Gabe, sich amüsant und pointiert auszudrücken. Man liebt das in diesen Kreisen; denn man möchte unterhalten und unterhalten sein, nicht aber zum Nachdenken gezwungen werden oder etwa dazu, einem Gedanken konsequent zu folgen und ihn zu Ende zu denken. Nein, das eben möchte man nicht. Worte sind ja so bequem, man braucht sich darunter nicht viel vorzustellen, und sie sind auch viel rascher bei der Hand als ein GedankeWo man Stellung zu nehmen hatte, steht ein Witz, ein Bonmot. Die Ausflucht zwischen ja und nein. Florian hatte einen lebhaften Verstand; aber Geist — Geist hatte er nun gerade nicht. Darum beglückte ihn doppelt, dass die gute Meinung der Kameraden ihn damit ausstattete, und es steigerte ihn und sein Unterhaltungstalent auf eine ihm selbst ganz neue Weise, dass es hier einen Zuhörer gab, der ihm geradezu eine Gloriole anmass. Johanna streicht sich über die Stirn. Ist das Wahr- heit? Sitzt sie da einem jungen Mann gegenüber, einem Oflizier, einem wirklichen Graf en, der bei der Fürstin Metternich ein- und ausgeht, auf Hofballen tanzt und den Kaiser auf der Jagd begleitet? Ist sie das noch, Johanna Deutsch, aus der Leopoldstadt? Wie kommt sie hierher? Und ist der junge Mann da am Kamin nicht vielleicht unter Glas, irgendeine kostbare 1 orzellanfigur aus einem Schlossmuseum? „Und übermorgen werden Sie ganze achtzehn Jahre, Jane?" fragt er jetzt, „das wird aber gefeiert! Da gehn wir drahn wie noch nie!" Er dehnt sich, reckt die Arme, die Hande sammeln sich langsam zu Fausten als griffen sie zu. Er geht zum Klavier, spielt einen Wiener Gassenhauer, weinselig, voller Humor, ohne Frechheit, ohne alle Scharfe. Sein schmaler Knabenkopf und jede Muskei unter der blauen Litewka, die eigentüch eine Haut ist, verwandein sich in Rhythmus. „\ erhatschte Absatz und in jedem Strumpf ein Loch Aber drahn — aber drahn — aber drahn gehn wir doch —" singt Florian den Refrain und markiert dabei die Haltlosigkeit eines Betrunkenen, lacht ihr zu und fragt in eine Pause hinein: „Ja, Jane?" Ihre Augen nehmen sein Lachen, ihn ganz und gar auf als ihr Eigentum. Ihr — ihr — ihr gehort er! „Was darf ich Ihnen denn zu Ihrem Geburtstag ver- ehren?" fragt er im Weiterspielen. Sie sinnt nach und sagt dann leise: „Ja. Ich weiss schon was. Es ist aber ein ganz grosser Geburtstags- wunsch." Da sie fast zugleich mit dieser Eröffnung die ewige Replik ihrer Mutter im Ohr hat, fügt sie rasch hinzu: „Es kostet übrigens nichts." Florian geht mit ein paar Laufen in den Radetzkymarsch über und scheint sich ungeheuer über Johannas Nachsatz zu amüsieren. „Ich bin zwar ewig pleite , sagt er, „aber ich bitte doch ebenso höflich wie dringend, dass Sie sich recht etwas Hübsches wünschen!" Johanna fahrt nervös zusammen bei dem Wort,pleite'. „Mein Wunsch kostet aber gar nichts", wiederholt sie. Er war mit dem Marsch zu Ende, drehte sich zweimal auf dem Klavierschemel um sich selbst und streckte dann die Hande nach Johanna aus: „Ich bin neugierig und ganz Ohr. Was fiir eine Bitte hast du, kleine Jane?" Er zieht die kaum Widerstrebende zu sich hin. „Wollen Sie mir nicht bitte, ,du' sagen? flüstert sie mit vor Innigkeit rauher Stimme. Er lasst sie los, hebt nur überrascht ihr Kinn: „Und das ist die grosse Bitte?" Nichts kann allerdings in Wien mehr überraschen, als dass man dem ,du' auch nur die winzigste Bedeutung beimisst. Das ,du' ist hier Kleingeld, und man gibt damit auf jegliche Miinze heraus, man wirft es nach, man weiss gar nicht, was man davon besitzt. Leute, die einander am liebsten überhaupt nicht anreden mochten, sagen sich ,du\ und oft weiss man den Namen des andern nicht mehr; aber man duzt sich trotzdem und immer noch. „Ich habe dir doch eben gerade ,du' gesagt", meint Florian kopfschüttelnd. Sie hat das gar nicht wahrgenommen, und es ist ja auch nicht das, worum sie bittet. „So meine ichs nicht , spricht sie wie aus dem Traum, „ich meine das richtige, das wirkliche ,du'. „Ah so!' wieder dreht er sich auf dem Klavierschemel herum und schnellt dann hoch, „ah so! Natiirlich! Mit Bruderschaft trinken und so! Wart, das werden wir gleich haben!" „Nein! nein! so meine ich es wirklich nicht!" fleht sie fast. Aber er ist schon im Nebenzimmer, füllt die Glaser, und hoch und scharf übertönt seine Kommandostimme ihren Protest: „Also jetzt geschieht einmal, was ich sag! Jetzt wird Bruderschaft getrunken! Da kommen Sie herein, mein Fraulein!" Sie gehorcht mit verstörtem Gesichtchen. Sie nimmt das Glas, verschrankt ihren rechten Arm in seinen rechten Arm, und halt ihm, kaum dass sie getrunken hat, mit ernsthafter Selbstverstandlichkeit ihren Mund hin. Diese stumme Feierlichkeit ener viert ihn; aber er findet sie auch höchst komisch. Sein Kuss trifft einen kuhlen Mund, ein wenig bezuckert von einer eben genossenen Backerei — genau wie bei seiner kleinen Schwester. Halb belustigt, halb verargert zieht Florian sich nach einer sehr flüchtigen, sehr brüderlichen Beruhrung dieser Lippen zurück. Dann nimmt er sie beim Kopf und sagt, ihre Feierlichkeit parodiërend: „Also ,du'!" Sofort ist sie wieder Glück und Seligkeit: „Du! Das ganz grosse, das ganz richtige du!" „Ich kenn nur eins, du Schnipf!" lacht er. „Natiirlich", sie atmet tief auf, „ich auch. Alles andere ist doch nur Geschwatz!" Was für ein sonderbares Wesen! Jetzt hatte er sie schon zwei Stunden da. Es war die Zeit, wo sonst gerade seme Damenbesuche, im Dunkeln, leise zu klagen anhoben, wie denn das so plötzlich habe geschehen kön- nen wo man sich nach der ersten schlechten Erfahrung doch fest vorgenommen habe, sich unter allen Umstanden „zu halten". Es war die Zeit, wo von Florian erwartet wurde, sich mit Überzeugung dahingehend zu aussern, dass man ja „nur einmal jung sei , und darauf folgte die Mitteilung der Partnerin, wenn sie nicht vor Torsperre zu Hause sei, schlage die Mutter sie tot. Es war auch die Zeit, um die sonst das ganze Frage- und Antwortspiel des „Liebst du mich?" schon immer in vollem Gange war. Und es war endlich auch die Zeit, zu der Florian bereits insgeheim seufzte, wariim zu diesen kleinen Annehmlichkeiten des Daseins nicht auch ein elektrischer Knopf gehore, auf den man nur zu driicken brauche — — und man war wieder allein! Uber solchen Erwagungen empfand Florian abermals eine leise Dankbarkeit dafür, dass seine kleine Mondsüchtige in diese ein bisschen monotonen Annehmlichkeiten andere Farben, andere Töne hineintrug; doch wie zuvor war diese Empfindung wieder durchsetzt von jener andern, argerlich blamablen, eine Schlappe erlitten zu haben. Er sprach sich selbst gut zu und war entschlossen, übermorgen das heute Versaumte nachzuholen. „Das war also der eine Wunsch", knüpfte er an das frühere Gesprach an, und ging mit ihr ins Kabinett zurück, „und jetzt möchte ich ernstlich wissen, was ich dir recht Schönes zu deinem achtzehnten Geburtstag verehren kann. Oder haltst du mich vielleicht für einen rechten Schnorrer, einen schabigenr"' Diesmal nahm Johanna den Jargonausdruck nicht hin, sondern sie verwies ihn gewohnheitsmassig, als habe sie ihren Bruder vor sich: „Schrecklich, dieses Gemauschel!" „Schrecklich?" Florian lachte, „wieso denn? Ich bin doch kein Jude. Ein Jude muss mauscheln — ich darf!" ïhm entging vor Vergnügen über seinen Witz ganz die Pause, die nun entstand. Er bemerkte auch nicht, dass Johanna grauweiss im Gesicht wurde; denn er hatte seinen Ausspruch und auch die Freude daran schon wieder vergessen, wahrend er sich jetzt mit dem Kamin beschaftigte, um die Gasflammchen zu regulieren. Gleich darauf bot er Johanna Obst an und sagte ihr, dass es zu ihren Hausfrauenpflichten gehore, ihm eine Birne zu schalen. Johanna sass starr da. Ein Hieb hatte sie getroffen. Apathisch nahm sie die gebotene Birne und bemerkte mit einer Festigkeit, die sie selbst wunderte: „Mein Vater ist Jude, und meine Mutter ist Jüdin, aber sie wollte fortfahren, beide mauschelten trotzdem nicht; doch Florian unterbrach sie. „Na und? fragte er, der langst an anderes dachte, erstaunt über diese, wie ihm schien, ganz unmotivierte Eröffnung, „und mein Papa ist papstlicher Kammerherr, und die Mama Sternkreuzehrendame — was hat das aber mit uns beiden zu tun?" „Nichts — ich dachte nur —" „Ubrigens, was glaubst du, wie froh ich bin, dass du Jüdin bist! Du könntest mir keine grössere Freude machen — bei euch ist das doch gar keine Affare — ich meine, wenigstens beichten müsst ihr nicht ich weiss das von einem Freund — und dessen Fraulein Braut, die sekiert ihn so, namlich wegen der Beichte —" Johanna begriff nicht mehr richtig. Sie fühlte sich fremd, fremd, allein. Man ertrug es nicht, dass so und 16 in dieser Weise das Wort Jude fiel, und auch die Anspielung auf die Beichte, eine Einrichtung, die ihr als etwas sehr Grossartiges erschien, stiess sie ab. Florian setzte sich auf ihre Sessellehne, streichelte ihr Haar. Das tat gut; aber es kam von weither. „Hab ich dich mit irgend etwas gekrankt, Jane? Schau, das wollte ich nicht. Ich habe nur einen so kecken Schnabel; aber sonst bin ich ganz ein netter Kerl. Du solist sehn, wie gut wir noch miteinander auskommen werden!" „Das glaube ich selbst auch", sprach sie und sah zu ihm auf. In seinem Bliek war aufrichtiges Bedauern und wirkliche Zartlichkeit. Es lag ihm durchaus nicht, Menschen etwas Yerletzendes zu sagen. Das mit der Beichte und dem Fraulein Braut hatte vielleicht wirklich unterbleiben können. Sie mochte sich denken, dass es sich dabei um ihre Vorgangerin handelte. Was wirklich sie verletzt hatte, darauf kam er gar nicht. In seinen Kreisen trifft man kaum Antisemitismus. Jude sein — das war eine Milieu- und Niveaufrage wie alles. Würde man diesen Kreisen aber ihre Witze über Juden und auch über ihre eigene Geistlichkeit untersagen, so entzöge man ihrem gesellschaftlichen Leben die amüsantesten Noten. Natiirlich kannte sich Johanna nicht aus. Zwar war sie imstand, sich wild gegen jüdische Art und jiidische Brauche zur Wehr zu setzen, nur lachen konnte sie darüber nicht. Davon abgesehen, war es ihr auch unverstandlich, wie Florian sich über Einrichtungen seines Bekenntnisses lustig machen konnte. Wo war der reife, ernste Mann, dessen hohe Gesinnung und sittliche Haltung ihr Stützpunkt sein sollten? Wowar das Du? Florians Hand ging immer noch durch Johannas Haare. Sie entzog sich ihr nicht, ergab sich aber auch nicht der Beriihrung als einer Liebkosung. Seine Hand begann sich zu spannen, zu straffen, bereit zuzugreifen. Seine Stimme war seltsam in die Höhe getrieben und °hne Resonanz, als er wiederholte: „Gut werden wir miteinander auskommen, was meinst du? Sehr gut?" „Sehr gut", nickte sie, und ihre Augen suchten in all der vielen Fremdheit, in dem vielen Alleinsein irgend etwas, irgend etwas, woran sie sich halten konnten. Sein Gesicht war es nicht. Nein. An seinem Gesicht regnete ihr Bliek herunter wie Wasser an einer Fensterscheibe. Es war nur Flache. Es war gar nicht. Da war kein Halt. Weiter wanderten ihre Augen ins Nebenzimmer. Neben dem Klavier war der Notenstander sichtbar. Notenblatter waren aufgeschlagen. Und dies war der Halt. Dies war das Yertraute, der Stützpunkt. Wohlbekannte Notenköpfe in wohlbekanntem Auf und Ab. Sie entzog sich Florians Hand. Nicht die Spur einer Zurückweisung lag darin, eher völlige Abwesenheit, auch etwas gemessen Wohlerzogenes, ganz besonders jetzt, wie sie sich in die Noten vertiefte und gleich darauf zu ihm hinüberrief: „O! die Beethoven-Romanzen! Können Sie sie?" Er biss an seiner Unterlippe und gab keine Antwort. Sie hammerte mit den Fausten aufs Klavier und rief: „Werden Sie mir bitte antworten? Ich habe Sie doch etwas gefragt!" Diesmal antwortete er, und seine Stimme schraubte sich bis zum Falsett hinauf: „Warum sagst du mir denn wieder ,Sie'?" „Warum?" fragte sie zurück und wunderte sich selbst. nm es dann mit „ein Yersehen" zu erklaren. Sie wollte es wieder gut machen: „Du! Du! Du! Also spielst du die Romanzen? Ja? Fein! Dann komm doch bitte, gleich her." „Sag einmal — du bist wohl nicht recht gescheit?" Florian war, was ihm nicht oft geschah, wütend. „Ach so — weils so spat ist? Ach bitte, lieber, lieber Florian, spiel doch nur ein paar Takte mit mir, ganz leise — hier nach meiner Solostelle, wo die Geige wieder einsetzt, du ahnst nicht, wie ich die F-Dur-Romanze liiiiiiiebe!" Dies war die volle Wahrheit; aber Johanna kam es nicht darauf an, auch die volle Wahrheit zu Dekorationszwecken zu missbrauchen. Sie hatte, sehr gegen ihren Willen, beide Romanzen mit ihrem Bruder einstudieren müssen, und sie waren, ebenfalls gegen ihren Willen, ihr Eigentum geworden. Und wie alle Neureichen war sie eine kleine Exhibitionistin, Besitz freute sie erst wirklich, wenn sie ihn vor andern ausbreiten konnte. Darüber hinaus aber waren ihr die Notenblatter in diesem Moment ein ganz echter, ganz wahr empfundener Halt. Florian blieb, wo er war, und rührte sich nicht. Er hielt übrigens ihren Vorschlag für Aufschneiderei. Als er dann sah, ihr wars Ernst, wehrte er sich entschieden gegen diese Zumutung. Sein Ton war scharf und abweisend infolge schlechter Laune. Er war nicht in der Stimmung, sich nun auch noch einem Kleinmadchengeklimper auszusetzen; aber sie beachtete seine Weigerung nicht, sah sich nach Streichhölzern um, entzündete die Klavierkerzen, steilte ihre Noten auf und schraubte den Klavierschemel holler. Mit einer Hand spielte sie das Geigensolo, um recht flüssig, recht sauber mit ihrer Partie einzusetzen. Dann brach sie ab und blickte auffordernd zu ihm hinüber. Sie war entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. Florian summte die ersten Takte für Geige und erhob sich nicht ganz so elastisch und sprungbereit wie sonst, aber schon angerührt von der fliessenden Eleganz seines Yorspiels. Wortlos nahm er Bogen und Kolophonium aus dem Kasten. Johanna gab ebenfalls schweigend das A an. Florian stimmte sein Instrument und nahm es unters Kiim. Ein Glück wenigstens, dass derBursche nicht zuHause ist, denkt er noch bei den ersten Takten. Er hatte sich ja geradezu vor ihm genieren müssen! Mit einem irgendwo aufgelesenen Madel zu musizieren! Doch er vergass bald das und auch alles andere; denn da war nur noch Beethoven. Florian ist wenig heilig; aber Musik ist es ohne alle Einschrankung, und den Namen Beethovens spricht er nicht vergeblich aus. Mit Musik aufgewachsen, spielt er mit grosser Kennerschaft. Er braucht die Noten kaum. Johanna hingegen hangt an ihrem Notenblatt, spielt technisch nicht immer ganz einwandfrei, aber mit ganzem Erfassen des Rhythmus'. Ihr pianissimo hat überraschend künstlerische Eigenart, weit überlegen ihrer Gesamtleistung. Florian kennt jeden Ton, zerdenkt jeden Takt bis ins Kleinste und spürt ihn darüber hinaus noch in jedem Nerv. Obwohl sein Spiel nicht das eines vollendeten Künstlers ist, gibt er in seiner leidenschaftlichen Nüchternheit doch ganz den wirklichen Beethoven: erhaben und selbstverstandlich. Sein Gesicht überzieht sich mit einer gesammelten Wachheit, seine Haltung ist fast unbewegt. Nur manchmal nimmt die Strömung des Rhythmus' seinen Oberkörper ein wenigmit; aberauch darin ist trotz aller Weichheit eine gewisse mannliche Logik, beinah etwas Mathematisches wie die Wiederkehr des Themas. Ganz anders Johanna. Auch sie liebt Beethoven; aber sie liebt ihn als die zweite Geige im Orchester ihrer Phantasie. Und die Begliickung dieser Stunde kommt ihr nicht aus der Musik, sondern von Florian. Aus der biegsamen Anmut seiner Bewegungen, aus dem kraftvollen und lockeren Spiel seiner Handgelenke, aus «inem Lacheln, mit dem er sich für einen zu frühen Einsatz entschuldigt. In diesem Gesicht, das doch nur von Beethoven weiss, glaubt sie, ihr Du, das grosse Du, das doch vielleicht eher ,Ich' heisst, wiederzufinden. Sie sieht ihn sich zugekehrt, ganz ihr gehorig, ihre zweite Geige zaubert ihr alles zurück, was sie gerade verloren meinte. Ihr Herz füllt sich mit Zartlichkeit. Grosse Feuerprobe für ein Gesicht, wie es Musik besteht. Johannas Gesicht war das einer Süchtigen, ganz erfüllt von ihren Wünschen, von sich selbst. Sie spürt sich, auf Kosten Beethovens, hundertfach leben. Der erste Satz ist zu Ende. „Du! ' flüstert sie, benommen von einem Überlegenen, das von dem Mann jetzt ausgeht, und das „Du" soll ihn von Beethoven fort und zu ihr herniederziehen, „Du!" „Momenterl bitte", entschuldigt er sich, vollkommen sachlich, stützt die Geige auf, um die G-Seite zu stimmen, und gibt ihr, ebenso sachlich, mit einer Kopfbewegung das Zeichen, dass er auch zur E-Dur-Romanze bereit sei. Und dann weiss er wieder nichts mehr von ihr, sondern nur noch von seiner Geigenpartie. Als sie zu Ende sind, atmet Johanna tief auf und kann die Hande kaum von den Tasten nehmen. Endlich sagt sie: „Ich glaube, das war der schönste Tag meines Lebens!" Sie ist noch weit weg, ganz bei ihrem Partner Florian, und muss sich mühsam zu ihren Worten durchtasten. Florian suchte nach dem Pausenzeichen, wo er gepatzt hatte, und zeichnete es rot an, wahrend er Johanna antwortete: „Gnadigste beschamen mich! Es ware doch an mir, das zu sagen." Johanna spürte die Ironie und sah ihn ungewiss an: „War es so schlecht?" „Aber Gnadigste sind eine vollendete Kiinstlerin! Erstklassig! Hervorragend!" „Warum machen Sie sich denn über mich lustig?" fragte sie, die wusste, dass ihr solches Lob nicht zukam. Florian fand, sie habe sich reichlich über ihn lustig gemacht, und argerte sich über den geradezu lacherlichen Abschluss eines Abends zu zweit. Da hatte er sich eine halbwegs talentierte kleine Klavierschülerin aufgelesen, und solche Madels machten einem immer Geschichten. Da kam man nie recht zu etwas. Agassant! Aber was man denkt, muss sich ja nicht durchaus mit dem decken, was man sagt: „Wie werde ich mir erlauben, mich über Gnadigste lustig zu machen! Glauben Sie, ich weiss es nicht zu würdigen, was für eine grosse Künstlerin ich da unter meinem bescheidenen Dach habe?" Johanna war traurig und niedergeschlagen: „Wollen Sie mit mir jetzt immer in der dritten Person reden?" Er fasste sie mit einer Hand an der Schulter, nahm mit der andern ihr Gesiclit hoch und sagte leise: „Das wird ganz von dir abhangen, Jane. Findest du denn, wir haben gar so viel Grund, einander „du" zu sagen? Hm?" „ Ja", erwiderte sie fest, „ich dachte es." „So. Na. — Also vielleicht iibermorgen. Ja? Darf ich mich auf übermorgen, auf deinen Geburtstag freuen?" „Und ob!" rief sie und hielt ihm ihren Mund hin. Es war kein Kuss, es war die zerstreute Zartlichkeit seiner kleinen Schwester, und wie diese riss Johanna sich mittendrin los, weil ihr Wichtigeres einfiel. Sie erblickte eine Uhr. „Um Gottes Willen! Ich muss sofort nach Hause, dass ich wenigstens noch vor Torsperre da bin!" „Vor Torsperre", wiederholte er resigniert und lachelte, als koste er noch das Finale der andern Duos, die im Mittelpunkt solcher Abende standen. Nur die Angst vor der Torsperre — das hatten jene Abende mit diesem hier gemein. „Ja. Unbedingt muss ich jetzt gehn; aber übermorgen um punkt sieben bin ich wieder da, und wir gehn drahn!" Na Servus! Sie bestimmte also nicht nur das Programm des heutigen Tête-a-tête, sondern auch die nachste Zusammenkunft samt Zeit und Ort. Na Servus! Aber mehr als eine Fortsetzung dieses absurden Abenteuers würde er jedenfalls nicht mehr mitmachen. „Es wird mir eine besondere Ehre sein, Gnadigste zu einem G'schnasfest auszuführen. Aber —" er hob den Finger, „da wirds nichts mit der Torsperre." Nach einigen nicht sehr ernst gemeinten, aber überaus höflichen Protesten gegen ihren frühzeitigen Aufbruch begleitete er sie ins Vorzimmer und half ihr beim Ankleiden, wobei er abermals sehr bedauerte, dass sie schon gehn müsse. Als er nach seinem Mantel griff, hielt sie ihn überrascht zurück. „Nein! Nur nicht! Du darfst mich keinesfalls nach Haus begleiten. Meine Mutter brachte mich urn, wenn mich jemand mit dir sehn wiirde." „Deine Mutter brachte dich um — mit einem zornigen Ruck hing er seinen Mantel wieder an, „nein, dann natürlich nicht — so schwer es mir auch fallt, dich allein gehn zu lassen bei der Nacht — wirklich, ich kann das kaum verantworten — aber wenn deine Mutter dich umbrachte...." Wenigstens zum Schluss redete und tat sie wie alle andern. Hielt sie ihn zum Narren? Wollte sie ihm — vorwerfen dass man der Mutter ja gar nichts zu verbergen habe? Machte sie sich lustig? „übermorgen um sieben bin ich wieder bei dir. Ich freue mich ja so unbeschreiblich!" Die erste Silbe des unbeschreiblich sang sie lange. „Gnadigste machen mich zum glücklichsten Menschen von ganz Wien!" Und er kiisste sie ein drittes Mal auf den Mund, der so kühl war und ohne Sinnenkraft. „Bitte, nicht .Gnadigste', nicht in der dritten Person mit mir reden — nie wieder dritte Person", bat sie unter seinem Kuss. „Ganz wie Gnadigste befehlen", lachte er und führte nun auch nacheinander ihre Hande an seine Lippen. Johanna wollte noch etwas sagen, vielleicht nur noch einmal ihre Bitte wiederholen; aber sie tat es nicht. Sie ging rasch. Er begab sich zurück ins Wohnzimmer. Er war konfus, nervös und verargert. Ein paarmal ging er im Zimmer auf und ab, griff dann zur Geige und versuchte nocb einmal die Stelle, wo er vorhin gepatzt hatte. Er verpatzte sie wieder. Ungeduldig begann er den Takt zu treten: „Eins, zwei, drei, vier.... eins, zwei, drei, vier...." Aber es klappte nicht. Er hörte auf. Lustlos liess er in der linken Hand die Geige herunterhangen, in der rechten den Bogen. Stand so sekundenlang. Schliesslich sagte er, ohne viel Ausdruck, aber tiefempfunden: „Ich bin ein Esel." Johanna lief zu Fuss nach Hause; denn sie hatte keine Verbindung mit der Trambahn. Sie trabte durch die nassen Strassen, wusste kaum noch, wo sie herkam, noch wohin sie wollte. Sie war sehr leer, betaubt. Ein exaltiertes kleines Madchen hatte sich in den Kopf gesetzt, das „Du" zu suchen — und es fand: die dritte Person. Für Madchen von dreizehn Jahren ware es natürlich ein ganz aussichtsloses Vorhaben, von Eltern die Erlaubnis zum Besuch eines G'schnasfestes oder überhaupt eines Balles zu erhalten. Aber wer hatte in seiner Kindheit nicht einmal irgendwann etwas ganz Waghalsiges unternommen, wovon die Eltern keine Ahnung hatten? Denn da gibt es von jeher den natürlichen Verbündeten aller Kinder: das Dienstmadchen. Seine Hilfe macht das Unmögliche möglich. In ihren Augen, und oft auch in denen der Kinder sind Verbote von vornherein und unbesehen Schikanen, eine Auffassung, die nicht immer unbegründet sein mag. In den seltensten Fallen wird noch darüber nachgedacht, Zuwiderhandlungen sind beinah ein verbrieftes Recht. Und hier war es Franzi, Madchen für alles im Hause Deutsch, das sich als Johannas Verbündete erwies Auch sie legte sich die Ereignisse der letzten Tage so aus, als habe einer die Johanna stehn lassen, und es war selbstverstandlich, dass man sich dann auf irgend einer Tanzerei einen neuen Freund suchte. Man ist nur einmal jung, und auch die Franzi war gerade dreizehn, als sie ihre erste Liebe hatte. Natürlich war es heute langst ein anderer; aber für Franzi waren Herzensangelegenheiten keine Tragödien. Die Hauptsache war, man hatte immer wen, sonst musste man den Sonntag und den einen freien Abend der Woche im katholischen Madchenheim verbringen, und das war schliesslich nicht heiter und nicht jedermanns Geschmack. Für Johanna war aber diesmal das katholische Madchenheim die Rettung. Gerade war Franzi für den Samstagabend eine Einladung zugegangen. Es handelte sich um einen Lichtbildervortrag über das Hospiz und die Arbeit der Mönche auf dem St. Bernhard. Daran anschliessend fand ein geselliges Beisammensein statt. Gaste waren willkommen. Diese Einladung wurde Frau Deutsch prasentiert. Zwar hatte sie einige Vorbehalte. Da war zunachst das katholische Milieu, in das Johanna kommen sollte. Frau Deutsch erinnerte sich der Toch ter einstiger Kirchenbesuche und fürchtete Wiederholungen. Auch waren ihr Intimiteiten mit dem Dienstmadchen nicht recht. Johanna würde nur zu bereitwillig die vielen Unmanieren Franzis annehmen: denn Franzi war in Frau Deutschs Augen ein. hoffnungsloser Fall. Wenig adrett, ungeschickt, schwerfallig, faul und dumm — dies war Frau Deutschs feststehendes Urteil über die Hausgenossin. Mindestens einmal am Tag klagte sie ihrem Mann, warum gerade sie „mit solch einem Trampel begabt" sei, und stets wurde ihr die Antwort: „Sei froh, sie ist wenigstens ehrlich. Asta Nielsen und die EbnerEschenbach werden zu dir nicht in Stellung kom- I" men! Wenn aber Frau Deutsch dieser Umgang mit dem Dienstmadchen nicht recht war, so gab das belehrende Thema des Yortrags im Madchenheim schliesslich den Ausschlag und auch die Erwagung, dass man Johanna wieder ein wenig Zerstreuung verschaffen müsse. Wenn Frau Deutsch an diesem Nachmittag nicht zu einer Kundin ins Haus bestellt gewesen ware, würde sie sich über Franzi, den Trampel, gewaltig gewundert haben. In der Küche wurde namlich eine regelrechte Tanzstunde abgehalten, und da war die Franzi viel mehr bei der Sache als bei der Arbeit. Yon Schwerfalligkeit und Unbrauchbarkeit konnte da nicht die Rede sein. Frau Deutsch würde Augen gemacht haben! Johanna hatte ihrer Komplizin in den Ohren gelegen, dass sie gar nicht richtig tanzen könne. Kaum war die Luft rein, als Franzi sich anschickte, diesem Mangel abzuhelfen. Das Wasser zum Geschirrspülen wurde zwar noch aufgesetzt; aber das war mehr eine Formalitat. Das Geschirr blieb stehn. Tanzstunde war schliesslich wichtiger. Einem Wiener Madel muss in Bezug auf Tanz nicht viel beigebracht werden: auch wenn sie keinen Walzer kann — sie hat ihn in sich. Franzi nahm die Röcke hoch und zeigte ein paarmal den Schritt. Johanna machte ihn nach, und es wollte nicht recht werden. Da fasste die Franzi ihre Schiilerin einfach um die Taille, sang laut und recht musikalisch einen Walzer aus der Lustigen Witwe, und los gings! Johanna wurde herumgewirbelt und wusste nicht wie. Ein wenig trat sie Franzi noch auf die Füsse; aber das gab sich bald, alles ging von selbst, und Johanna konnte einen Walzer tanzen, ehe sie noch begriff, wie sie es eigentlich machte. Gleich darauf kam eine Polka an die Reihe. Franzi schrie mit wahrer Hingabe alle Tanzmelodien, die ihr einfielen, hinaus, dass es durchs Haus gellte. Dazu wurde Polka getanzt, Walzer rechtsrum und linksrum, dazu kochte das Spülwasser auf dem Gas über und ein, und dazu war man so glücklich, wie man eben auch nur in Wien sein kann. Am liebsten hatten die beiden Madchen gar nicht mehr aufgehört. Walzer bleibt Walzer, auf Drehorgel, auf Geigen, schmelzend gesungen oder nur laut, mit und ohne Kavalier. Endlich warf sich Franzi mit viel Larm und nach Luft japsend auf einen Küchenstuhl. „Alsdann!" schnaufte sie, „alsdann! jetzt kannst aber einen tulli Walzer, kannst dich vor Erzherzögen und Hofraten damit sehn lassen!" Als Frau Deutsch bei ihrer Rückkehr die Küche in ganzlich unaufgeraumtem Zustand vorfand, erging sie sich in heftigen Vorwürfen gegen Franzis Faulheit und Unbrauchbarkeit und erkundigte sich, was sie denn inzwischen getan habe. Franzi entzog sich einer naheren Auskunft durch die unbestreitbare Feststellung: „Ich hab a nur zwei Hand und zwei Füss — logisch net?" Frau Deutsch verwies ihr „solche Kecklieiten" und haderte wieder einmal mit ihrem Sehicksal, warum gerade ihr solch ein Trampel zukam. Johanna und Franzi, die beiden Spiessgesellen, blinzelten sich zu. „Verhatschte Absatz und in jedem Strumpf ein Loch — aber drahn, aber drahn gehn wir doch!" sang Johanna schon in aller Herrgottsfriih an dem Tag, den sie zu ihrem Geburtstag ernannt hatte. „Du hasts wirklich nötig, solch ordinare Lieder zu singen", schalt die Mutter, „die verhatschten Absatz sind beinah das einzige, was dir noch fehlt, dass du ganz unten bist!" „P!" machte Johanna und summte leise zwischen dem Waschen ihre Melodie weiter, summte sie beim Kammen, beim Anziehen. Alle Bangigkeit der letzten Begegnung war verflogen. Sie freute, freute, freute sich. Auf Florian, auf ihren ersten Ball. Bis die Zeit herankam, gab es aber noch viele aufregende Heimlichkeiten mit Franzi. Das Dirndl war, ohne dass jemand etwas sehen durfte, aus den Sommersachen herausgesucht und gewaschen worden. Es war ein schwarzgrundiges, armelloses Kleid mit buntem Blumenmuster und dazugehöriger weisser Unterziehbluse. Die Schürze war aus grünem Taft, und auch aus ihr mussten noch einige Flecke herausgerieben werden. Da auch Franzi keineswegs in das katholische Madchenheim ging, sondern auf den Schusterball, wurden die letzten gemeinsamen Ballvorbereitungen in der Mansarde eines andern Dienstmadchens vorgenommen. Endlich war man so weit! Bis zum Schottentor gingen die beiden Bundesgenossen noch zusammen und verabredeten hastig, sich hier um Mitternacht zur gemeinsamen Heimkehr wieder zu treffen. Dann stoben sie nach verschiedenen Richtungen auseinander. Ausser Atem kam Johanna vor Florians Wohnungstür an, lehnte sich erschöpft gegen einen Pfosten und wagte eine ganze Weile nicht zu lauten. Sie betrachtete das Messingschild, strich mit dem Finger drüber hin und sprach dazu nur und immer wieder* Du du —" War es wirklich hier drinnen, das Du, ihr Du, hinter dieser schweren dunkeln Tür? Zaghaft lautete sie und schrak zusammen, als sofort, °hne dass sie Schritte wahrnahm, geöffnet wurde. Sie war auch nicht darauf gefasst, dass statt Florian sein Bursche vor ihr stand. Sie stotterte irgend etwas, worauf der Bursche nur korrekt erwiderte, der Herr Leutnant lasse bitten, und schon war er ihr beim Ablegen behilflich. Lhe sie noch einen einzigen zusammenhangenden Satz hervorgebracht hatte, schob der Diener unbewegten Gesichts die Portieren für sie auseinander, und sie stand im Wohnzimmer. Kaum war sie aber verschwunden, da verwandelte sich das undurchdringliche Lakaiengesicht in das eines neugierigen Bauernburschen. Johannas Mantel wurde skeptisch begutachtet; aber die Untersuchung fiel nicht zu ihren Gunsten aus. Im Gegenteil, der Bursche Peperl war ausserst unzufrieden, allerdings in erster Linie mit seinem Herrn Leutnant. Das Miidel da war doch keine Hur — wo hatte er denn die her? fragte sich Peperl mit Geringschatzung. Was für eine Sauwirtschaft wurde denn neuerdings hier eingeführt? Gerade heute ist ein Frauenzimmer über Nacht dageblieben, und am Abend kam schon wieder i eine andere? Und an wem ging das alles aus? Nur an ihm, Peperl Grillhuber aus St. Pölten, Offïziersbursche beim Grafen Florian von Weickers! Seit er bei seinem Leutnant Dienst tat, war es noch nicht vorgekommen, dass „Eine" hier übernachtet hatte, und er ahnte natürlich nicht, wie er sich in solch einem im Dienstreglement nicht vorgesehenen Fall zu verhalten hatte. Sollte er seinen Leutnant wecken wie alle Tage — sollte er nicht? Er konnte doch unmöglich das Teebrett mit dem Frühstück ins Schlafzimmer bringen als ware die Person Luft! Oder bekam am Ende das Mensch auch Frühstück? Da Peperl zu keinerlei Resultat kam, unternahm er gar nichts. Infolgedessen verschlief sein Herr, und infolgedessen gabs ein Donnerwetter mit Bomben und Granaten schon in aller Herrgottsfrüh. Einzig und allein wegen so einer Flitschen! Und abends sass schon wieder „Eine" drinnen — das heisst, die war nicht einmal eine Hur — was wollte sein Graf überhaupt mit diesem spindeldürren Krepierl ? Dies aber war sonnenklar: eine veritable Sauwirtschaft riss nun hier ein, und daran waren nur die Weiber schuld. „Mein Leutnant ist eine Seele von einem Menschen", pflegte der Offiziersbursche Peperl Grillhuber über Florian von Weickers zu urteilen, „und ich geh für ihn durchs Feuer!" Von dem, was sich Peperl aber in diesem Moment von seinem Herrn dachte, reprasentierte jedes Wort, wenn er es ausgesprochen haben würde, ein volles Jahr Festung. Yier Jahre insgesamt. Johanna ging unterdessen zaghaft durch das hellerleuchtete Esszimmer, und, da Florian nicht dort war, weiter in das gleichfalls erleuchtete Kabinett. Hier entdeckte sie Florian, schlafend auf einem Sessel ausgestreckt. Auf den Zehenspitzen kam sie naher und setzte sich ilirn leise gegenüber. Johanna verharrte regungslos und betrachtete mit wahrer Andacht sein schönes ruhendes Gesicht. Der Kopf lag an der Lehne und war selbst im Schlaf stolz und selbstbewusst erhoben. Trotzdem gab der zu einem Lacheln geöffnete, ein wenig zu volle Mund, gaben die dunkeln, sehr langen, sehr gebogenen Wimpern diesen Zügen etwas madchenhaft Weiches. Die Stirn wiederum, kantig, nicht übermassig hoch, hatte mehr Festigkeit. Mit einer kleinen Spitze fiel der Haaransatz in sie ein, adelig war der Schwung der feinen Brauen, adelig und leichtsinnig zugleich; aber es war hier jener besondere, durchaus mannliche Leichtsinn eingezeichnet, der sehr rasch und unvermittelt in Kühnheit umschlagen kann. Der Schlaf hatte auf seltsame Weise ein Gesicht aufgeschlossen und es auf seine Grundfarben zurückgefiihrt: Stolz, liebenswürdige Heiterkeit, Leichtsinn mit impulsivem Wagemut. Losgelöst von der Disziplin eigener Haltung und fremder Gegenwart, war das alles, was von diesen Zügen blieb. Johanna sah dies so genau nicht. Nur von ganz fern rührte ein Gedanke sie an, als ob hier vor ihr die Bilanz menschlichen Mittelmasses gezogen worden sei, ganz unzureichend gegenüber ihren ungestümen Forderungen. Ruhelos suchten ihre Augen das Gesicht ab, suchten unablassig nach etwas, was im Schlaf abhanden gekommen war. Florians Kopf glitt zur Seite, presste die Kehle, und er begann hörbar zu schnarchen. Darüber wachte er auf. Er war noch nicht ganz bei sich, schloss rasch wieder 17 die Augen und dehnte sich schlaftrunken. In kindlich verzogenem Ton sagte er: „Muss ich schon aufstehn?" „Ich weiss nicht", erwiderte Johanna und fügte rasch hinzu: „Nein!" „Komm her!" murmelte er, noch immer nicht ganz wach. Folgsam erhob sie sich und trat zu ihm hin. Er blinzelte sie müde an, rieb sich die Augen und riss sie dann weit auf. Erschrocken sprang er hoch, begriisste Johanna mit intensiver Herzlichkeit und schob ihr einen Sessel hin. „Jessas, Jane! Du bist schon da! Ja sowas! Und ich sitz daher und schlaf! Aber warum hast du mich denn nicht geweckt?! Na, und herzig schaust du aus, grad zum Verlieben. Aber warum hast mich wirklich nicht geweckt?" „Das darf man doch nicht", versicherte Johanna eifrig, „es ist eine grosse Simde, wenn man jemanden ohne Grund aus dem Schlaf weckt." „Geh! Wo steht das?" Johanna wusste zwar, dass dies eine jüdische Vorschrift sei; aber das mochte sie nicht sagen, und so unterschob sie diese ethische Forderung geschwind dem heiligen Augustinus. „Niemanden ohne Grund aus dem Schlaf wecken ', wiederholte Florian mit leichter Melancholie, „fesch, direkt fesch. Das gehort grad ins Militarreglement hinein. Marandjosef, bin ich müd! Steil dir vor, ich hab heut mitten in der Nacht herausgemusst, weil unversehens Inspektion war — und den ganzen Vormittag am Exerzierplatz, vier Stunden, am Nachmittag wieder Reitschule, und so fort...." Der Dienst war heute wirklich besonders anstrengend gewesen; aber Anlass der nachtlichen Ruhestörung war kein inspizierender Divisionar, sondern dieser Anlass hiess Agnes, stammte aus Budapest und hatte alle Vorzüge, die man so den Ungarinnen nachsagt. „....und dann bin ich halt eingeschlafen, wie ich so auf dich gewartet hab. Sag, hab ich geschnarcht?" „Ja, fürchterlich", antwortete Johanna; aber gleich fiel ihr ein, wie die Mutter dem Yater über diesen Punkt standig Vorhaltungen machte, und so wollte sie ihre Antwort abschwachen, indem sie hinzufügte: „Aber alle Manner schnarchen." Florian lachte belustigt über „alle Manner". Mit solch aufschlussreichen Mitteilungen platzten seine kleinen Freundinnen, die doch nie mehr als einen Vorganger zugaben, gelegentlich aus Yersehen heraus. Weit davon entfernt, solche Details übel zu nehmen, amüsierten sie ihn vielmehr. In Johannas Fall war damit die heutige Begegnung von Anfang an in eine ihm vertrautere Atmosphare gestellt ohne neuerliches Ratselraten. Und als Johanna jetzt vorschlug, man könne, mit Rücksicht auf Florians Müdigkeit, auch zu Hause bleiben, statt auf den Ball zu gehn, dachte er „aha!" und ein Lacheln vertiefte seine Mundwinkel in siegesbewusster Genugtuung. Laut allerdings sagte er, davon könne keine Rede sein, man werde in jedem Fall auf das G'schnasfest gehn, und er werde sich ganz rasch umziehen. Wie sie nur glauben könne, er werde ihr den Geburtstag verpatzen! Hier fiel ihm ein, dass er ihr noch gar nicht gratuliert hatte. Er beugte sich zu ihr hinüber und zog sie auf seine Knie einfach, weil er zu müde war, um aufzustehn, und seine Gliickwünsche endeten in einem vor Abspannung gerade nur angedeuteten Kuss. Johanna richtete sich in seinen Armen ein wie ein Vogel in einem Nest, blieb da ganz still, ganz regungslos. Sie hörte sein Herz schlagen und legte behutsam und unmerklich ihre Hand dorthin. Florian wunderte sicb, wie leicht sie war, und empfand dankbar, dass sie Zartlichkeiten weder antrug, noch zu erwarten schien. Sie aber war auf dem Höhepunkt ihres Glücks. Sie erwartete nichts mehr. „Ich gehe mich jetzt anziehen, wenn es dir recht ist', sprach er schliesslich sacht, da sie sich nicht riihrte. Sie sprang sofort auf. Auch Florian erhob sich und strich, es war fast eine Reflexbewegung, seine Bügelfalte zurecht. Er tat das leicht und ohne hinzusehn, und auch einem ganz unkundigen Auge musste auffallen, wieviel Gewohnheitsmassiges in dieser Reihenfolge der Bewegungen war. In diesem Moment legte irgend etwas die Hand auf ihn, beschlagnahmte ihn, entzog ihn ihr. Er gehorte dem, was vor ihr war und nach ihr kommen würde. Ihrer Empfindsamkeit teilte sich all dies nur als leise schmerzende Schwingung mit und verflog schon im nachsten Augenblick wieder. Ehe Florian ging, um sich für den Ball zu kostümieren, legte er Johanna eine gedrehte silberne Kette um den Hals, mit einem schön gearbeiteten Kreuz daran. In der Mitte des Kreuzes schimmerte ein Goldtopas in Farbe und Feuer alten Weins. Das war Florians Geburtstagsgeschenk für Johanna. Sie hielt das Kreuz an ihrem Hals in der festgeschlossenen Hand, als könne man ihrs wieder fortnehmen, und sie sah Florian mit weiten, vor Erregung feuchten Augen an. Kein Wort des Dankes brachte sie hervor. Wie sollte sie ihm denn auch ausdrücken, dass der eigentliche Sinn, die Delikatesse des Geschenkes, sie mehr ergriff als das Geschenk selbst! Florian gab ihr, dem Judenmadchen aus der Leopoldstadt, was ihm selber heilig war. Florian wunderte sich über ihre fiebrige Erregung, ihre lautlose Freude. Dass sie Jüdin war, interessierte ihn so wenig, dass er es bereits wieder vergessen hatte. Lind so kam es, dass an diesem Geschenk aber auch gar nichts am Platz war; denn als Johanna auf seine Aufforderung hin das Kreuz umdrehte, stand da eingraviert: „Janes 18. Geburtstag, 15. Februar 1913". riorian hatte, wie schon öfter, im Vorbeigehn gestern bei seinem Juwelier ein Kreuz mit Kette gekauft, und da er sonst immer nachtraglich sekiert wurde, ein Datum, einen Namen eingravieren zu lassen, hatte er diesmal beides gleich in Auftrag gegeben. Deshalb war an diesem Geschenk aber auch gar nichts am Platz, nicht der Name, weder Alter noch Datum und am wenigsten das christliche Symbol. Aber mit nichts sonst auf der Welt hatte er Johanna eine grössere Freude machen können. Sie musste eine ganze Weile warten, ehe sich Florian umgezogen hatte; aber sie merkte es nicht. Und wahrend im Nebenzimmer Florian fluchte und den Burschen hin und her hetzte, sass sie geduldig da und lachelte vor sich hin. Das Kreuz mit dem unzutreffenden Namen, den unzutreffenden Daten, hielt sie fest in der Hand. Endlich stand Florian in der Tür, um sie zu holen. Er trug einen langen dunkeln, pelzgefütterten Mantel, der zwar ohne militarische Abzeichen war, aber trotzdem von ausgesprochen militarischem Schnitt. Oft genug riss es Soldaten, denen er so auf der Strasse be- gegnete, zur militarischen Ehrenbezeugung zusammen, ehe sie noch die Zivilkopfbedeckung wahrgenommen hatten. In der Garderobe des Ballokales geschah Johanna etwas Seltsames. Als Florian abgelegt hatte und in Steirer Tracht vor ihr stand, wie es sich für ein G'schnasfest gehorte, da schloss Johanna sekundenlang die Augen, weil sie nicht begriff. Und als sie sie wieder öffnete, begriff sie noch weniger. Yor ihr stand ein junger Mann in Haferlschuhen, weissen Stutzen, in einer kurzen Lederhose, die die Knie und noch einen Teil des Oberschenkels freiliess. Unter der Joppe trug er ein tadelloses weisses Oberhemd und gestickte Hosentrager. So sah der junge Mann aus, der vor ihr stand; aber wo war Florian? Dieser da — das war er doch nicht! Zwar war über den weissen Socken, den nackten Knien, den Lederhosen, der tadellosen Hemdbrust mit den bunten Hosentragern immer noch sein schmaler, nobler Kopf; aber er war gewissermassen umschattet. Es fehlte die Uniform. Johannas Erzengel stand vor ihr in Steirertracht. Entzaubert. „Was schaust du denn so auf meine BeineP" fragte Florian und blickte an sich herunter, „ja, geit, wenns darauf allein ankam, könnt ich noch recht einen guten Operettentenor abgeben, ohne Wattewaden! Seine Beine waren allerdings von ganz unwahrscheinlich schönem und hohem Wuchs; aber nicht das war es, was Johannas Blicke nicht losliess, sondern diese teilweise Nacktheit und, mehr noch als diese, der zwar nicht übermassige, aber auch nicht zu übersehende Haarwuchs auf den Beinen. Johanna schluckte ein paarmal. Die Kehle war ihr sehr rauh, sehr trocken. Es war eben zuviel auf einmal. In einem Winkel ihrer Seele, der gegen die Wirklichkeit am meisten abgedichtet war, hatte sie sich ein Bildnis ihres Gottes gemacht, unfleischlich, hatte ihn aus einer Art atmenden und durchbluteten Marmors gestaltet, dies alles überschüttet vom magischen Glanz der Uniform. Die Wirklichkeit aber steckte in Lederhosen und hatte Haare auf den Beinen. Florian legte den Arm um Johanna und fiihrte sie in die Ballraume. Ihm blieb nicht Zeit, sich über ihr Verstummen zu wundern. Überall hatte er Bekannte, überall wurde er begrüsst, festgehalten. Johanna sammelte nur allmahlich ihre Gedanken und sich selbst. Es war ein Schock, von dem sie sich erholen musste. Dabei half ihr nun allerdings das Trachtengetriebe ringsherum. Lauter Buben in Lederhosen, lauter nackte Knie, oft noch behaarter, meist weitaus weniger gutgewachsen. Johanna liess sich, ein wenig verquollenen Gemüts noch, durch die Ballsale schieben; aber nach und nach begann sie, sich umzusehen. Jeder Saai bot ein anderes Bild. Im ersten waren die Wande mit einer Alpenlandschaft bemalt, und da war auch richtiges Felsgeröll aufgetürmt, mit Moos und Farnkrautern besteckt, und mit Sennhütten, zur Yerfiigung des Publikums. Von dem gemalten Dachstein herunter fiihrte eine Rutschbahn, zu der man mit einem Rolltrottoir hinauf kam. Der nachste Saai war ein Bauerndorf, ein weiterer ein Kirchweihplatz mit Schiessbuden, Karussell, Würstlstand, Schnellfotografen und Schaubuden. Dazwischen das grellbunte Durcheinander der Kostüme. Ganz alte, echte, handgewebte Bauerntrachten aus allen Teilen der Monarchie wurden vou den Damen selbstbewusst durch die Sale getragen, dicke Gold- und Silberketten waren als Versclinürungen an den samtenen und brokatenen Miedern oder man schloss sie mit gestanzten oder ziselierten Knöpfen aus edlem Metall. Daneben flatterten die schlichtesten Kattun- oder Barchentdirndln und hatten nicht minder teil an dem Juchzen, Schreien, Lachen und der ganzen Ballfreude ringsum. Florian winkte und rief immer noch Bekannten seine Grüsse zu, und es nahm fast kein Ende damit. „Servus, Sebaldus!" schrie er lachend zu einem Tiroler hin. Der sauste gerade auf der Rutschbahn herunter und hatte ein um Hilfe rufendes Dirndl auf dem Schoss. Yon dem Madel waren eigentlich nur die Beine und ein Paar ziemlich langer Stickereihosen zu sehen; denn Kleid und Unterrock f logen ihr bis über den Kopf. „Servus, Sixtus!" hiess es gleich darauf, und diesmal galt der Gruss einem langen Alpier, der eben die Arme um drei des Wegs kommende Madchen warf und dabei in kindlich eigensinnigem Ton schrie: „Alle haben!" Und weiter gings: „Grüss dich, Pius! Grüss dich, Benedikt!" Lauter heilige Namen in nicht ganz so heiliger Umgebung. Florian schien alle und jeden zu kennen. Von den Madeln gar nicht zu reden. Aber hier war immer er der Angerufene, der Begrüsste. Oft schien es, als sei er nicht so ganz im Bilde, auf wessen Wiedersehensfreude er da zu antworten habe; aber das brachte ihn keine Sekunde aus der Fassung. Er war so vollendet liebenswürdig und schien die Freude so aufrichtig zu teilen, dass ers am End wohl selbst glaubte. F lorian hatte in einem als Dorfschenke hergerichteten Saai einen Tisch bestellt. Hier gab es nur Schrammelmusik, und wenn sie pausierte, hörte mail aus dem grossen Saai das Ballorchester. Manchmal übertönte dieses auch die Schramnieln; aber das schien niemanden zu storen. Mit grosser Sorgfalt steilte F lorian ein Nachtessen zusammen. Nachdem er Johanna einigemale vergeblich um ihre Wünsche bef ragt hatte, wahlte er nach seinem Gutdunken. Infolgedessen wurde Johanna nachher ein Braten vorgesetzt, der für ihre Begriffe einen ekelerregenden Geruch hatte. Der Restaurateur war gewiss einer jener elenden Betrüger, von denen man öfter in den Zeitungen las, die ihren Gasten Pferde- oder gar Hundefleisch vorsetzten. Da aber Florian mit sichtlichem Appetit seinen Hasenbraten ass, wagte Johanna nichts zu sagen und würgte ihre Portion herunter. Insofern war ihr auch durehaus nicht feierlich zumut, als Florian sein Glas hob und sagte: „Auf ein recht schönes neues Jahr, Jane, Geburtstagskind! Und auf nachher.... ja, Jane?" Sie trank ebenfalls; aber sie überhörte seine eindringliche Frage und blinzelte ihn nur gequalt und nervös an, einzig bestrebt, mit ihrem vermeintlichen Hundesteak fertig zu werden. ..Feiern wir heute Geburtstag?" fragte er wieder und beugte sich mit einem eckigen kleinen Ruck zu ihr hinüber. Das war wieder er, der Erzengel, das war seine sorglos lockere Art der Bewegungen, und das war auch sein feiner schmaler Kopf mit den dunkeln Augen, die einen anschauten, als gabe es für sie sonst nichts auf der Welt. Sie nippte wieder an ihrem Wein, und wah- rend sie noch trank, tat sich ihr Gesicht in einem Lacheln auf, das nur in ihren Augen stand. Er fand das besonders reizvoll an ihr, es hatte so etwas ausgesprochen Seelenvolles, und Seele war bei einem Madel halt doch die starkste erotische Nuance. Er trank sein zweites Glas leer, die Müdigkeit zerstob, und er freute sich, dass diese kleine Mondsüchtige ihm da gegenübersass. Ohne auf Florian zu achten, kommt in diesem Moment ein kleiner mit Monokei versehener Jüngling auf Johanna zu. Erst als er schon vor ihr steht, sieht er naher zu Johannas Begleiter hin, scheint sie zu vergessen, und es gibt eine wortreiche Begrüssung zwischen Florian und dem Fremden. Der Herr mit dem Monokei sprach mit Falsettstimme, die sich in besonders lebhaften Momenten überschlug, und er wirkte auch sonst ein wenig komisch durch seine überlebhaften Bewegungen. Als Kopfbedeckung hatte er ein Tirolerhiitchen en miniature, das sass ihm auf einem Ohr und wurde von einem Gummi gehalten. Er lüftete es vor Florian nach Art der Clowns im Zirkus, indem er es hochnahm und wieder auf den Kopf zurückknallen liess. Johanna entnahm dem Gesprach, dass der Fremde eine „Mordsfreid" hatte, Florian wiederzusehn, dass er nicht in Wien in Garnison lag, sondern in „Linz an der Torte", wie er sich ausdrückte, und eigens zum G'schnasfest hereingekommen sei. Er müsse so friih wieder zum Dienst antreten, dass er noch mit einem Nachtzug zurückfahre — aber „man ist halt nur einmal jung!" „Ich bin schon die ganze Zeit hinter euch her", schliesst er mit einem Blinzeln zu Johanna hin, der er sich nun zuwendet. Leise und verstandnisinnig fragt Florian ihn: „Sag, Ferry, bist stier?" „Im Gegenteil! Aber ausgesprochen wohlhabend seit zwanzig Minuten. Ich hab schon deinen Vetter Yickerl drangekriegt. Nein, von dir borg ich mir heute nichts weiter aus als dein Fraulein Braut — du weisst ja —" „Ja so! Florian lacht durch die Nase und sieht zu ihr hin: „Jane, du erlaubst, dass ich dich mit meinem Kameraden Ferry bekannt mache — ich ahne so etwas, als wolle er dich für den nachsten Tanz entführen." „Sehr erfreut, nein, eigentlich schon mehr entziickt über deine reizende Bekanntschaft, mein Haserl. Du musst namlich wissen, ich bin geradezu fasziniert von deinem wundervollen Haare — meiner Seel, fasziniert.... das ist nicht zuviel gesagt." Auf solchen Kostümfesten duzen sich alle, Johanna weiss es und leidet doch unter dieser Anrede, die sie eigentlich und von Rechts wegen nur einem einzigen Menschen zugesteht. „So eine Farbe — so ein Feuer", sprach die Falsettstimme, und eine ganz f rem de Hand strich über Johannas Haar, „also das gibts in ganz Wien kein zweites Mal! Mein Fraulein, darf ich Sie um den nachsten Tanz bitten?" Sie bog störrisch den Kopf zurück und blickte hilfesuchend zu Florian. „Du bist zum Tanzen aufgefordert worden, Jane", sagte der aber nur. „Ich möchte aber nicht", versicherte sie stocksteif. Auf soviel Formlosigkeit bei Johanna war Florian nicht gefasst. Ihm reissts den Oberkörper zurück, wie ihm geschieht, wenn er jemanden schlecht im Sattel sitzen sieht. Den Freund schockierte die Abfuhr sehr viel weniger. „Geh, Haserl, das gibts nicht!" erklarte er. „Ich möclite aber den ersten Tanz mit mit mit dem —" Johanna kam nicht weiter; denn sie wusste sich keinen Rat, wie sie von Florian Dritten gegenüber reden sollte. Weder ,Herr Graf', noch ,Herr von Weickers' schien ihr angebracht, und einer Intimitat war sie vor Dritten nicht fahig. Nicht einmal seinen Vornamen brachte sie über die Lippen. So blieb der Satz unbeendet. Florian argerte sich. Er war seinen Freunden gern gefallig. Und dieser hier hatte nun einmal die allbekannte Schwache für rote Haare. Es war nur selbstverstandlich, dass er ihm Johanna für ein paar Tanze abtrat — und — spater vielleicht einmal für mehr. Was machte denn die kleine Mondsüchtige bei solch einer Selbstverstandlichkeit Manderln? „Geh, Jane, sei fesch!" sagte er, und er hatte dabei ein hartes Glitzern in den Augen. Ein Kamerad hatte ihn um etwas gebeten. Da spürt man trotz Kostüm plötzlich so etwas wie den steifen Kragen mit dem Stern dran am Hals. Ein Kamerad ist alles, und ein Madel ist nur eine vorübergehende Sache. Johanna schüttelte heftig mit dem Kopf, wandte sich diesmal aber höflich an Ferry: „Nachher — schrecklich gern; aber wir sind doch gerade erst gekommen. Dass der erste Tanz für Florian sein sollte, versuchte sie gar nicht mehr zu erwahnen. Florian hob bedauernd die Schultern: „Da kannst halt nix machen — ce que femme veut...." Florian war verstimmt; aber schlechte Laune hielt bei ihm nicht lange vor. Ferry empfahl sich nach einem kleinen Schwatz und nachdem er Johanna ausdriick- lich auf ihr Versprechen hingewiesen hatte. „Geh! sagte Florian, als Ferry fort war, „das war jetzt grantig von dir. Er ist namlich mein bester Freund." Diesmal widersprach Johanna eigensinnig: „Deshalb brauchst du mich ihm aber noch nicht herzuborgen wie einen Regenschirm!" Einen entschiedenen Ton ertrug Florian nicht. „Sei nicht böse, Jane! Ich wollt ihm halt eine Freude machen —'" begütigt er, „schau, er ist ein bissel heikel — bei ihm geht er kann — pardon, er liebt namlich nur rothaarige Frauen — du verstehst — bei andern bleibt er direkt kalt — aber das wirst du dir ja schon gedacht haben." „Und da soll er mich oder meine roten Haare auch lieben, möchtest du? fragte Johanna mit rauher Stimme. >»Was redest du da zusammen? Abkrageln würde ich ihn aber kaltblütig herunterschiessen, wenn er nur dran denken möcht , versicherte Florian mit soviel Empörung, wie hier am Platze war. „Ja!" Johanna war voll stolzer Genugtuung, „aber du musst auch begreifen, dass ich den ersten Tanz mit dir tanzen muss!" „Aber Putzi! Ich hatte halt den zweiten Tanz mit dir getanzt! lachte Florian, neigte sich über ihren Arm und küsste sie lange in die Ellbogenbeuge. Johanna gab es einen kleinen Stich, dass Florian so gar keine Begriffe hatte für die Feierlichkeit ein es ersten Tanzes. Darüber nahm sie die Zartlichkeit kaum wahr. „Florian!" brüsk schreckte sie ihn auf, „da spielen sie den Donauwalzer! Den historischen!" Und sie dachte dabei an die Marienbrücke, den Leierkasten und ihre erste Begegnung. Florian starrte sie an, etwas getrübten Blicks, ehe er gedehnt antwortete: „Historisch? ,Klassisch' willst du sagen! Aber gar so lang ist doch der Strauss noch nicht tot." Denn Florian dachte eben nicht an die Marienbrücke und an die erste Begegnung. Immerhin erhob er sich, schloss sein Jackett und verbeugte sich leicht vor Johanna. Da war es wieder, dieses Nur-Gewohnheitsmassige, eine Bewegung die andere auslösend. Anlass ist sie selbst, Johanna, und wird doch damit übergangen, ihre Gegenwart gestrichen. Als Florian an sie noch gar nicht dachte, wenn er an sie schon langst vergessen haben wird, dieses Nebenher im Bannkreis einer Frau, das Glattstreichen der Bügelfalten, das Schliessen des Jacketts vorm Tanz, das war und wird immer sein. Mit Johanna, ohne Johanna. Und dieses Gewohnheitsmassige ist es wohl in erster Linie, was Florian von jedem Erleben und aller wirklichen Gegenwart fernhalt und Johanna schon auslöscht, wahrend sie noch vor ihm steht. Kinder, mit ihrem ungedeckten Scheck auf das Absolute, das Ausschliessliche, spüren solche Momente wie einen spitzigen Eishagel über sich weggehn, ohne dass sie zu sagen wüssten, woher er kommt. Nur dass er da und da und dort trifft und schmerzt, das wissen sie mit Sicherheit anzugeben. Johanna war, als könnte sie den einen Schritt zu Florian hin nicht tun; denn zwischen ihrer ganz grossen Erlebnisschwere und seiner noch grosseren Leichtigkeit war ein Abgrund. Er ahnte nichts vom Tumult seiner kleinen Partner in, die er zum Tanzparkett führte. Dort standen sich Fraulein Zuviel und Herr Zuwenig sekundenlang gegenüber und waren sich ganz herzzerreissend fern; aber dann kam der Walzerrhythmus, tat sie über den Abgrund hinweg zusammen und trug sie mit sich fort. Und plötzlich verstanden sie sich. Florian hatte die Gabe, ihre Bewegungen in die seinen aufzunehmen, wie er nie einen ihrer Gedanken und nicht einmal eines ihrer Worte würde aufnehmen können. In der völligen Hingabe an den Tanz wurde er wieder zu jener Einheit von Traum und Wirklichkeit. Auf dem Parkett hatte er die überlegene, unfehlbare Sicherheit, die dem Bild entspricht, das die Liebe nun einmal jedem Mann aufzwingt. Ritter, Führer, Schirmherr — alles in einer Person und in höchster Vollendung. Auf dem Parkett findet sich das manchmal. Er hielt fremde Paare von Johanna ab wie Sorgen des Alltags. Kam es doch zu einem Anprall, so fing er ihn mit selbstverstandlicher Eleganz auf, als wolle er die Harten des Lebens an Johannas statt auf sich nehmen. Und dies alles ging mit einem gesammelten, ehrlichen Ernst vor sich, dem sich Florian sozusagen von Kopf bis Fuss ergab — auf dem Parkett. Hier war er auch nicht mehr der Leichtentzündbare. Wie jedem wirklichen und guten Tanzer war ihm Tanz ein sinnhaftes Yergnügen und kein sinnliches. Plötzlich verstanden sie sich. Johanna fühlte sich geborgen, behütet, zu Hause, und sie hatte es, einen Tanz lang, nirgends auf der Welt mehr sein können. Sie hob die Augen, und er lachelte zu ihr herunter. Dies war mehr als Vereinigung. Sein Charme, seine Liebenswürdigkeit waren verdopPelt» verdreifacht, streuten in Bündeln Walzertakte in die Luft, sprühten sie ihr ins Blut. Er war Orchester und Tanz, Geliebter und Gott. Und er wiederum war entzückt über ihr Mitschwingen, Mitgehen, über diese besondere und durchaus nicht haufige Gesittung beim Tanz. Und er nahm jede ihrer Bewegungen in die seinen auf wie eben ihr Lacheln. Und wie er nie einen ihrer Gedanken wiirde aufnehmen können und nicht einmal eins ihrer Worte. Nun verstanden sie sich. Auf die Dauer eines Walzers war zusammengedrangt, was zwei Menschen miteinander auszutauschen hatten. Es blieb ihnen aber nicht einmal soviel Zeit, die solcherart entstandene Harmonie von sich aus zu storen; denn kaum sassen sie wieder an ihrem Tisch und kaum hatte Florian die Glaser wieder gefüllt, als mit einem Höllenlarm, auf Kindertrompeten blasend, auf Pfeifen trillernd oder sonstwie juchzend, schreiend, singend, eine grössere Gesellschaft in die Dorfschenke eindrang. Sie bildete eine Kette und fegte rücksichtslos beiseite, was ihr im Weg war. Stühle wurden umgeworfen, Tischtücher heruntergerissen, und nur Florians hochmütig abweisendes Gesicht schützte seinen Tisch vor einer ahnlichen Anrempelung. „Reichsdeutsche — Berliner , sagte er mit Geringschatzung in Miene und Stimme. Schon halb an seinem Tisch vorbei, riss sich aus der Kette eine hochgewachsene Blondine los und stürzte mit dem Ruf „Mensch! Graf! hast du Töne?!" auf Florian zu, der sich bei dem Anruf sofort erhoben hatte. Wenn er dies nicht nur aus höflicher Gewohnheit, sondern auch in Abwehr getan hatte, so war es dazu schon zu spat. Die Dame fiel ihm bereits um den lïals und versetzte ihm einen schallenden Kuss und gleich noch einen hinterher. Ihre Gesellschaft, die auf sie wartete, klatschte Beifall und schrie „da capo!" Ein da capo schien jedoch nicht Florians Wünschen zu entsprechen, und wenn er, wie üblich, die Wieder- sehensfreude auch nur so aus dem Armel schüttelte sich selbst überzeugte er diesmal davon nicht: ,, Ja schau her! Die Rose-Marie! So eine tJberraschung! Aber das ist ja wunderbar!" Da sie Miene zu einer erneuten Umarmung machte, kam Florian ihr diesmal zuvor, indem er seine beiden Hande auf ihre Schulter legte und so seinen ablehnenden Intentionen eine vertrauliche Note gab. „Und noch immer das gleiche stürmische Temperament! sprach er dabei weiter, „die reinste Spanierin! Aber geh! Musst mich doch nicht so kompromittieren vor meinem Fraulein Braut!" Und er deutete auf Johanna. „Was heisst hier kompromittieren!" entrüstete sich die hübsche Blondine und blickte auf Johanna nieder wie auf einen Maikafer, „Frauleinchen, von mir können Sie höchstens was lernen. Soweit kenne ich schon die Wiener: die wollen doch alle für das selbe Geld vergewaltigt werden! Merken Sie sich das, Frauleinchen!" „Ja, danke , sagte Johanna höflich und lachelte dazu in bloder Verstandnislosigkeit. Ohne auf die Lachsalve zu achten, die ihre gute Lehre und Johannas Antwort bei ihrem Gefolge auslösten, griff das Fraulein Rose-Marie mit einem gewissen Schneid an Florian vorbei nach dessen Weinglas und leerte es, ohne abzusetzen. Mit anmutigster Selbstverstandlichkeit, ganz so, als sei er hier nur Gastgeber, 18 fiillte Florian das Glas sofort wieder und reichte es Rose-Marie, die es ohne Ziererei und forsch wie das erste leerte. Es ist ein sonderbarer Kontrast zwischen seiner untadeligen Gemessenheit und ihrer unbekümmerten Art, die keine Sekunde ihre Wirkung in Erwagung zieht. Ihr Gefolge ruft nach ihr. Ungeduldig winkt sie ab, man solle warten. Obwohl Florian noch immer steht und sie nicht aufgefordert hat, Platz zu nehmen. „Na, das hattest du dir auch in deinen kühnsten Traumen nicht vorgestellt, dass wir zwei beiden uns ausgerechnet in Wien wiedersehen, was?" plauderte Rose-Marie weiter und nahm dankend noch ein drittes Glas Wein an, „übrigens Wien habe ich mir ja ganz anders vorgestellt! Das soll 'ne Grosstadt sein?! Wenn du dreimal hinfallst, bist du schon wieder draussen. Mensch! Ihr seid ja hier ein halbes Jahrhundert zurück! Keine Untergrundbahn, keine Rohrpost! Keine Fahrstühle in den Hausern. Und in meiner Pangsion in der Alserstrasse gibts nur Gas. Gas! was bei uns doch nur noch 'ne Sache ist für Lebensmiide. Wien habe ich mir wahrhaftigen Gott ganz anders vorgestellt. Aber es gibt eben nur ein Berlin!" Florian verzog keine Miene, nur eine seiner Augenbrauen steht plötzlich etwas höher und etwas steiler als die andere, wahrend er liebenswürdig antwortet: „ Jedenfalls freue ich mich ganz ausserordentlich, dich in Wien im Jahre 1863 — nach Berliner Zeitrechnung — begrüssen zu dürfen." „Du und freuen! Nun tritt dir mal nicht aufn Schlips! wer hat mich denn in Berlin in den „Groben Gottlieb" Ecke Friedrichstrasse bestellt und nicht abgeholt?" „Ich war ganz ausser mir", versicherte Florian, die Betonung auf „mir , „steil dir vor, am nachsten Morgen war der Befehl zur Abreise da. Aber der mit dir verbrachte Abend wird mir unvergesslich sein. Du trugst so eine rote Samtrobe, stimmts?" „ Jawoll! Stimmt auffallend. Nur was an der ganzen Chose nicht stimmt, das bist du, mein Herr Graf von und zu! Du falscher Fuffziger! Konnte nicht einer von deinen Freunden mir absagen kommen? Hast du eine Ahnung, wie ich den ganzen Abend auf dich gelauert habe!" «Tja —" machte Florian und führte eine Schulterbewegung aus, die wie Abschütteln war, und er sprach leicht nasal, eine Welt von Hochmut im Ton, „natürüch hatte das einer tun können. Aber schau, uns fallt halt alles ein halbes Jahrhundert zu spat ein. So sind wir halt, wir falschen österreicher!" Florian, der nie gern Stellung nahm, nicht ja und nicht nein sagen konnte, Florian steilte sich. Er tat es auf seine Art; aber er steilte sich spürbar. Mit seinen Worten und mehr noch in seiner steifen und völlig ablehnenden Haltung. Als er sich erkundigte, wie lange Rose-Marie noch hier bleibe, erhielt er einen weitschweifigen Bescheid, sie sei jetzt ,Rayong-Chefin' und zum Einkauf in AVien, wo sie sich noch einige Zeit aufhalten werde. „Ich gebe dir meine Telefonnummer, Rose-Marie, ja? Du wirst mir doch das Vergniigen auf einen gemütlichen Plausch machen. Hast du einen Bleistift da?" Johanna, die wusste, dass Florian kein Telefon hatte, und die sich auch ohnedies hier in seinem Benehmen auskannte, reichte ihm ihren Füllfederhalter. Florian riss eine Ecke der Speisekarte ab, schrieb eine Nummer darauf und benützte mit grosser Nonchalance das Tischtuch als Löschblatt. Rose-Marie wollte ihn an dieser Schlamperei hindern, kam aber zu spat. Beinahe kummervoll besah sie sich das verklexte Tischtuch und bemerkte dazu: „Ich sags ja, bei euch liegt der Kamm auf der Butter! Florian wollte etwas sagen, schloss den Mund wieder, 11 m dann doch herauszuplatzen: „Und bei euch die Haare auf den Zahnen. „Gott sei Dank!" rief sie und zeigte beim Lachen sehr weisse, schone Zahne, „wer hat, hat! Nur kein Neid! Mit einem zauberhaft werbenden Bliek von unten herauf sagte Florian: „Also — Rose-Marie, kann ich mich drauf verlassen? Rufst du mich morgen in der Früh an?" „Grosses deutsches Bierehrenwort", versprach sie und verabschiedete sich. Schon bei ihrer Gesellschaft angelangt, winkte sie ihm mit dem Zettel noch einmal zu und rief: „Jemacht! Ich te'foniere!" Florian setzte sich wieder, führte ein Taschentuch über die Lippen und danach auch über die Stirn. „Entschuldige", sagte er zu Johanna und berief gleichzeitig mit einer seiner fast unmerklichen, hochmütigen Kopfbewegungen den Kellner an den Tisch. Ebenso wortlos deutete er auf das von Rose-Marie beniitzte Glas, das der Kellner mit einem „Sehr wohl, sofort, Durchlaucht", auswechselte; denn hier war Florian bekannt und wurde infolgedessen mit „Durchlaucht angeredet. „Was für eine Telefonnummer hast du denn da gegeben?" fragte Johanna verschmitzt und verstandnis- innig. Er machte ein Lausbubengesicht: „Na, die von meinem besten Freund gerade nicht!' \on einem Nachbartisch wurde ihm in diesem Moment etwas zugerufen, und da Florian es nicht verstand, erhob sich der Rufende, ein Herr mit einem Kneifer, und kam zu Florians Tisch hinüber. „Mein Freund Poldi, unser Regimentsarzt", steilte Florian ihn vor. „ Jesses, wo hast denn diese ordinare Person her?" fragte der Herr, den Florian gebeten hatte, Platz zu nehmen. „Ordinar? Geh! Die ist doch nicht einmal ordinar. Das sind doch Wilde, die Preussen! Aber zu was ist sie doch gut. Weisst, was ich gemacht hab?" „Na?" „Ich hab ihr die Telefonnummer vom Rudi gegeben und gesagt, sie soll morgen in der Früh anlauten. Du, wenn der so unvorbereitet und auf nüchternen Magen Reichsdeutsch hört, dazu das der holden Rose-Marie, nachher trifft ihn der Schlag. Also manchmal sind sie doch zu etwas gut, die Preussen." „Rose-Marie! Jesses, Rose-Marie!" der Regimentsarzt prustete los vor Lachen, „auf was herauf heisst diese Schlampen eigentlich Rose-Marie?" "Ja — du lachst!" Florian indessen blieb auch nicht ernst, „auf mein Wort, die haben dort alle solche Namen. Was bei uns eine Mizzi ist, höchstens, ist bei denen eine Angelika oder eine Yiktoria. Ich denke mir, die Namen suchen sie sich danach aus, wo mans Maul am weitesten aufreissen kann. Erinnerst du dich an meinen Vetter, den Bertl?" „Ja. Das ist doch der an unserer Gesandtschaft in Berlin?" „ Ja. Also der Bertl erzahlt aus Gaudee doch immer, er habe einmal am Alexanderplatz eine Frau nach ihrem Töchterl rufen hören: ,Aurora, du olie Dreck- liese, willste woll gleicli raus ausn Rinnstein?' Jubelndes Gelachter seiner beiden Zuhörer unterbrach ibn, er aber redete davon unberührt weiter: „Natürlicb ein Witz; aber der Bertl sagt, da ist was dran: alles hat einen grossartigen Namen oder wird dir in Reih und Glied oder sonst in einer Eins A Yerpackung dahergestellt — und dazu ,Rinnstein und ,Dreckliese'. — Ubrigens tust der Rose-Marie unreeht. Eine Schlampen ist sie keine." „Na geh! Wenn die nicht am Strich geht, wer dann?" Der Arzt wandte sich plötzlich und ein wenig befangen an Johanna: „Entschuldigen schon gütigst, Fraulein!" „Bitte", sprach Johanna und beteiligte sich jetzt, ein wenig altklug und gespreizt, an der Unterhaltung, „aber am Strich geht das Fraulein wirklich nicht. Sie ist eine Rayon-Chefin." „Geh!" widerspricht Florian, „das ist doch bloss wieder die grosse Goschen. In Berlin war sie sogar Filialleiterin, hat immer nur von „unser Betrieb" dahergeredet — als ob wir deshalb vor ihr Habt Acht! stehn müssten. Und kein wahres Wort dran! Yerkauferin ist sie in einem Warenhaus, sagt der Bertl. Ist doch ganz ein ordentlicher Beruf. Wozu denn so von sich blasen? Für uns? Na, wir wissen doch, Sternkreuzehrendamen sind halt nie keine parat, mit uns in Berlin drahn zu gehn!" „Alle Madeln schwindeln", warf hier der Arzt ein. „Aber natürlich!' gab Florian zu, „und wer von uns möcht denn schon von morgens bis abends die Wahrheit hören! Aber auf das ,Wie' kommts an. Ein Wiener Miidel schwindelt sozusagen zum Spass, und um Spass zu machen. Wenn aber so eine Rose-Marie sich aufpudelt, steekt schon eine Berechnung dahinter." Das Gesprach kam damit in Gegenden, in denen sich Johanna ausgesprochen unbehaglich fühlte. Mehr in- stinktiv als mit Absicht riss sie die Unterhaltung her- um, indem sie eine Frage einschaltete, die ihr ohnehin schon lange auf der Seele brannte; „Ist es wahr, dass die Deutschen zum Wiener Schnitzel als Sauce Himbeersaft nehmen?" Dies ist eine durch nichts begründete und den Wienern durch nichts auszuredende Legende. Florian hatte es natürlich nie gesehen, traute es den „Preissen" trotz- dem ohne weiteres zu. „Sie essen wirklich einfach alles, hiuter Zusammengekochtes und so dicke Saucen aus Mehl, und alles schmeckt nach Maggi." Nun war Florian in voller Fahrt und gab Berliner Erlebnisse zum besten. Mit besonderer Hochachtung sprach er übrigens von einigen militarischen Einrichtungen; aber er erinnerte sich auch einer Beobachtung aus einem Geschiitzpark, die ihm geradezu grotesk vorkam. Er wunderte sich, dass jede einzelne Speiche an den Radern der Geschütze Kreideziffern trug, und man hatte ihm erklart, das sei zur Kontrolle, um festzustellen, ob die Rader jeden Tag gedreht wiirden, damit alle Speichen immer gleichmassig belastet seien. Jede Speiche hatte an jedem Tag ihre ganz bestimmte Steilung, und so konnte der Yorgesetzte sich immer orientieren, ob die Vorschrift ordnungsgemass ausgeführt wurde. » Ja> Ordnung ist bei den Piefkes, dass muss man ihnen lassen , sagte der Arzt mit Bewunderung. „Ich weiss gar nicht, warum man sich bei den Preissen immer auf die Ordnung herausredet", brauste Florian mit einer bei ihm ganz ungewohnten Heftigkeit auf, „Ordnung! Wann die einmal Menschen fressen, machen sie es auch noch mit Ordnung, sag ich dir!' „Was regst dich auf, FloriP Ich kann sie ja auch nicht schmecken, und zu dieser Bundesbruderschaft sind wir gekommen wie die Jungfrau Maria zum Kind, so unschuldig! Aber was wahr ist, ist wahr! Ordnung ist bei den Preussen!" „Das ist es ja, schmecken kann sie kein Mensch; aber immer heissts ,die Ordnung'! Weisst du, wie ihr mir vorkommt, wenn ihr so von der preussischen Ordnung daherredet? Da ist einmal ein rechter Gauner gestorben, ein Menschenschinder, Erpresser, Lügner, Ehrabschneider, und das gottloseste Luder überhaupt. Aber ein christliches Begrabnis haben die Angehörigen doch haben wollen. Und da sitzen sie um den Pfarrer herum und sollen ihm für die Predigt die Tugenden des Toten aufzahlen. Aber beim besten Willen kommt niemandem was ein, und nur seine Frau sagt ganz zuletzt: ,Zwetschgenknödln hat er halt gern gegessen, Hochwürden'. Und siehst du, genau so ist es mit den Preussen. Die Ordnung — das sind ihre Zwetschgenknödln." „Kann schon sein , lachte der Arzt, „wenn du aber genau und in aller Kürze wissen möchtest, was ich von den Piefkes halt — entschuldigen schon, Fraulein — aber die können mich...." Und hier folgte in aller Ausführlichkeit das bekannte Zitat, „mit oder ohne Ordnung, ganz wies ihnen beliebt, können sie mich.... „Alsdann!" pflichtete Florian bei, „aber wichtiger als die ganzen Preussen ist mir der Slana aus meinem Zug. Sag, was kurierst denn an dem so lang herum? War schade um den, wenn ich ihn nicht mehr in meinen Zug bekame." „Slana? Wart einmal, das ist doch der mit der Blasengeschichte?" „Ja, sowas wars. Hör, was ist das eigentlich £ür eine kuriose SacheP" „Na, was du denkst, schon wieder nicht", sagte der Arzt, sich bereits verabschiedend, „eine einfache Yerkühlung. Aber den kriegen wir bald wieder hin, den Slana, wirst schon sehn. Den lassen wir dir dekatieren, der wird nie wieder gehn müssen — entschuldigen schon, Fraulein." Johanna hatte diesen Gesprachen mit wacher Aufmerksamkeit zugehört, wenn auch in der Hauptsache erfüllt von dem Gedanken: dass sie dabei sein durfte. Erwachsen unter Erwachsenen. Und bei mancher Redewendung hatte sie ein wenig den Verdacht, es handle sich hier vielleicht urn die Unterhaltungen, wahrend der Kinder aus dem Zimmer geschickt, oder die jah abgebrochen wurden, wenn sie unvermittelt eintraten. Hier indessen war sie dabei. Und sie zahlte, auch wenn sie sich kaum an der Unterhaltung beteiligte. Sie wurde auch durchaus als Dame behandelt, und man entschuldigte sich bei ihr, wenn eine Ausdrucksweise zu frei wurde. — Darüber hinaus hörte sie Neues, Interessantes, 1 hemen, die zu Hause nie beriihrt wurden, von deren Yorhandensein sie keine Ahnung hatte. Und schliesslich stand da ja im Mittelpunkt ihr Erzengel. Ihr kleines Herz machte jede Aufwallung Florians gewissenhaft mit. Er war wunderschön, wie er so in Eifer geriet. In seinen Augen war Feuer, der Mund straffte sich, der Schwung seiner leichtgebogenen Nase ging kühn über in die wagemutige Stirn. Ganz Erzengel. Nur manchmal, bei einigen Gesprachsdetails, war Un- ruhe und Unsicherheit in ihr: waren dies also die Themen der Erwaehsenen? Waren dies die welterschütternden Probleme, nach deren Kenntnis sie brannte, dürsteteP Deretwegen sie früher nachts aufwachte, bef allen von dem entsetzlichen Gedanken, die Eltern könnten sterben und vergessen, ihr dies alles mitzuteilen — dieses Grosse, Unbekannte, diesen Kern des Lebens, urn den sich ihre Unterhaltungen drehten, wenn „die Kinder" nicht dabei waren? War es nur dies: ob Rose-Marie auf den Strich ging oder nicht und dassman diesen Slana würde dekatieren lassen? War es dies? Aber da stand Florian, ganz Erzengel, vor ihr und zog sie mit all seinem Elan und diesmal ohne Yerbeugung hoch: „Komm Jane!" Er führte sie in den kleinen Saai, wo ein Streichorchester „Quand 1'amour meurt" spielte. Und wieder nahm Walzerrhythmus sie auf. In diesem Saai gab es eine Bar. Noch ehe der Tanz beendet war, schon beim letzten Takt, hob Florian Johanna auf einen der hohen Barstühle und bestelite zwei Champagnerflips. „Na, Gustl, lebst von deinem Kapital oder von deinen Zinsen?" erkundigte sich Florian bei dem Inhaber des Nachbarsitzes, der eine ganze Horde Madel freihielt. „Fangst du schon wieder an mit der blöden Geschichte!" antwortete Gustl ungeduldig. Leise erzahlte Florian, der Gustl habe eine Riesenerbschaft gemacht und lebe toll drauflos. „Wir verstehn ja alle nicht viel von Geld", versicherte Florian mit einem Seitenblick auf Gustl, „aber der da hat keinen blauen Dunst. Für ihn ist Geld sowas wie Spielmarken. Der lasst sich nicht einmal auf Zahlen ein, er kennt nur „viel, wenig, gar nichts '. Im Regiment erzahlt man sich, er könne nicht einmal Begriffe wie Kapital und Zinsen auseinanderhalten." Johanna hörte unglaubig zu und konnte darüber nicht lachen. Sie fand daran nichts komisch, sie begriff es nicht einmal. Geld war der Gegenwert für viele Unannehmlichkeiten im Leben, für Arbeit und Yerzichtleistungen aller Art. Geld war das vollkommene Gegenteil von Heiterkeit. Bei diesem Gesprach kam Johanna einfach nicht mit. Sie lenkte ab: „Vorhin warst du aber zornig. Dass du so sein kannst, habe ich gar nicht geglaubt." „Entschuldige vielmals. Diese ganze Unterhaltung muss dich hübsch angeödet haben. Dazu das taktlose Frauenzimmer." „Nicht schon wieder wütend werden. Sag, gibts auch Dinge, über die du weinen kannst?" Verwundert sah er sie an, dann flog eine reizende Verlegenheit über sein Gesicht, als er antwortete: „Eigentlich ja. In der Bohème, wenn die Mimi stirbt — da reagiere ich prompt. Oder wenn die Henny Porten so recht etwas Rührseliges spielt, so ein armes, heruntergekommenes Luder — also dann fehlt nicht viel, und ich heule." „Ach , sagte Johanna verwundert und noch einmal „ach! Nein. Da weine ich gar nicht. Da sehe ich nur zu. Aber schau einmal dort den Geiger im Orchester an!" „Aha! Der hats dir wohl angetan?" „O nein. Das nicht. Aber über den könnte ich weinen. enn ich mir so sein Gesicht ansehe, dann stelle ich mir vor, wie er als Bub Geige gelernt und was Grosses hat werden wollen. Und was ist er jetzt? Ein Tanzmusikant." "Aber Jane! Das muss es doch auch geben. Wonach n sollten wir sonst denn tanzen? Ich weiss gar nicht, was daran zu weinen ist!" Sie empfand das wie eine Zurechtweisung. „Ich meine nur", stotterte sie, „ich sehe das so deutlich vor mir, dass ich fast denke, ich ware das selber. Und da könnte ich halt weinen, hier, mitten auf dem Ball." Er neigte den Kopf zur Seite und schaute sie aus halbgeschlossenen Augen an: „Ideen hast du, kleine Mondsüchtige! Könntest du nicht vielleicht an etwas anderes denken, jetzt so neben mir? Da fallt dir nichts weiter ein, als zu weinen? Na, Gott sei Dank, jetzt lachst du ja schon wieder! ' Johanna begründete ihre Heiterkeit sogleich: „Ich denke mir gerade, wenn man dir so ein Musikantenleben im Theater oder im Kino vorspielen würde, da würdest du gewiss weinen — nur in Wirklichkeit, da denkst du nicht einmal drüber nach.' „Komisch", sagte Florian verwundert, „aber ich glaube wirklich, du hast recht." Natürlich kann sich eine Hölderlinverehrerin nicht mit Unterhaltungslektüre abgeben. Und so war Johanna auch nie ein Buch der Ebner-Eschenbach in die Hande gekommen. Sonst ware sie da einmal gelegentlich auf einen sehr aufschlussreichen Ausspruch gestossen: dass namlich manche glauben, sie haben ein gutes Herz, und dabei haben sie nur schlechte Nerven. Die Ebner-Eschenbach kannte ihre Landsleute. Florian war ein, zwei Sekunden höchst nachdenklich über Johannas Feststellung, dann glitt er von seinem Barschemel herunter, packte Johanna mit steifen Armen, hob sie hoch über ihren Barstuhl hinaus und rief: „Geh du Fratz! Ein Ballgeflüster ist das!" legte sie über seine Schulter wie ein Bündel und stürmte mit ihr davon. Erst mitten im Saai liess er sie auf den Boden nieder. Das Orchester spielte den Rosenkavalierwalzer. Und wenn man schon nicht über die selben Dinge lachen und weinen kann, so verbindet einen doch das grosse Geheimnis des Wiener Herzens, das da zu Zeiten in den Blutkreislauf Walzertakte verströmt — bis hinauf ins Hirn. Glücklicherweise bis hinauf ins Hirn. Denn kleine Madchen, die mit einem unverschamt hohen und im übrigen ungedeckten Wechsel auf das ganz grosse Du herumlaufen, werden sich mit einem Teilergebnis begnügen und manchmal schon mit einem Walzer in Ausgleich gehn müssen. Als sie wieder in ihre Bauernschenke zurückkamen, stand da auf einem Tisch mitten in der Schenke ein Dirndl und sang zu Schrammelmusik „O du lieber Augustin! Eine Horde Zuhörer umlagerte sie, immer mehr kamen dazu und verschmolzen sich zu einem einzigen Entzücken. Die Sangerin war kaum mittelgross, mollert und nicht ausgesprochen hübsch. Aber ihre frischen, natürlichen Farben, ihre flinken, kohlschwarzen und unsagbar vergnügten Augen, ihr glanzend schwarzes Haar unter dem grünen Tirolerhut gaben ihr einen über alle Hübschheit hinausreichenden Zauber. Sie trug eines der bescheidenen Dirndln, die echt waren, ohne kostbar oder elegant zu sein, echt durch Abnützung. Blaues, etwas verwaschenes Leinen, mit einer schonen handgestickten Borte um Rocksaum und Halsausschnitt. Sie sang mit schoner, voller Stimme, die aber die typischen Jodlerbrüche aufwies, den „Lieben Augustin", mit jubelnden Jodlereinlagen. „Fritzi! Fritzi! Ja, grüss dich, Fritzi!" schrie Florian erfreut mitten hinein in ihren Gesangsvortrag, und die Sangerin machte eine Pause, wo gar keine war, um Florian ein paar Kusshande zuzuwerfen. Und sang weiter, sang ihr „Göld is hin, alls is hin!" mit einer Verve, einem so strahlenden Ubermut, der sich sogar den Schrammeln mitteilte. Kaum war sie fertig, kamen von allen Seiten Zurufe: „Fritzi! Das Fiakerlied! Nein! 'Servus Du'! 'I hab amal a Rauscherl g'habt'." Die Bitten um das Fiakerlied waren in der Mehrzahl. „Aber gehts!" verhandel te Fritzi mit ihren Zuhörern. „Ich bin doch kein Mannsbild. Holt euch den Yiktor Heim für das Fiakerlied!" Es half ihr nichts, man beharrte im Chor auf dem Fiakerlied. Und als sie es endlich sang, war das allgemeine Verlangen danach durchaus begreiflich. Sie schob ihren Tirolerhut wie einen Fiakerzylinder in den Nacken, und auf eine reizend dezente Art übernahm sie die professionell-vulgaren Gesten ihrer Rolle. Und wenn sie, mit der Zunge schnalzend, den Gaul antrieb, ihre „rechte Pratzen" vorwies, und ihr ganzer Körper das Ruckeln des Fiakers mitmachte, dann hatte sie nicht nur den imaginaren Gaul am Zügel, sondern auch jeden einzelnen ihrer begeisterten Zuhörer am Bandel. Auf allen Gesichtern ringsum war Seligkeit, auf ihrem eigenen am meisten. Diesmal wartete sie die Beifallskundgebungen nicht ab, sondern sprang nach dem letzten Takt vom Tisch mitten unter ihr protestierendes Publikum. Allen neuen Forderungen nach einer Zugabe setzte sie jetzt nur ein vergnügtes „Nicht um die Burg! Aus is!" entgegen. Sie stand vor Florian, schüttelte ihm beide Han- de, und der zog sie aus dem Gewühl fort. Bei ihr und Johanna eingehangt, ging er zu seinem Tiscli. „Dies ist Fritzi, meme grosse platonische Liebe", machte er sie mit Johanna bekannt. Mit einem „ich bin so frei" hatte sie Platz genommen und fiel jetzt auf das Wort .platonisch' hin — Fremdworte waren in ihren Augen wohl gleichbedeutend mit Anzüglichkeiten — recht urwüchsig über Florian her: „Red nicht gleich wieder so unanstandig, du Mistfratz! Ich bin nicht deine Liebe und deine platonische schon gar nicht!" Johanna musste ein wenig lachen; aber Florian, vollendet höflich, blieb ernst. „Du hast ganz recht", sprach er, „immer zank mich aus. Ich weiss eh langst, dass du dir nichts aus mir machst. Du, aber das Blau steht dir! Sag, ist das ein neues Dirndl?" „Aber nein! Das trag ich doch schon an die vier Jahr. Das und das salzburgische G'wand. Meine Dirndln kriegen halt keine Jungen!" „Musst sie im Kleiderkasten naher beieinander hangen, Fritzi!" riet Florian. „Das war eine Idee!" freute sie sich, und beide amüsierten sich herrlich über den Witz. „Oder bist du dazu auch zu moralisch?" fragte Florian. Fritzi trank einen tiefen Schluck und meinte dann nachdenklich: „Ich weiss nicht — bei uns im Ort, wenn da eine ein lediges Kind hat, wirft man ihrs : nicht so oft vor wie ihr mir meine Moral. Dabei — gar i so seid ihr doch gar nicht. Ihr denkt halt, es gehort so dazu, zur Unterhaltung!" , „Fritzi! tu nicht, als ob du nicht wüsstest, wie ich dich I verehre!" „Geh, mit deiner Verehrung! Wenn ihr keine Spielkarten habt, dann muss ein Madel her — das ist die ganze Verehrung. Wer ein Madel wirklich ist, davon habt ihr nie eine Ahnung!" „Da schau her! Die Fritzi als unverstandene Frau!' „Ich eine unverstandene Frau! Fraulein , hier wandte sie sich an Johanna, „haben Sie schon einmal eine unverstandene Frau gesehn? „Nein", pflichtete Johanna ihr aus Solidaritat bei, „noch nie." „Also! Ich kenn überhaupt nur unverstandene Man- ner. Stimmts, Fraulein?" „Nur." „Yielleicht hast du es nicht so richtig angefangen, die Manner zu verstehn?" fragte Florian. „Ich bin ja kein Kirchenlicht, Graf. Und meine Mutter hat immer zu mir gesagt, ich hab nur einen Zettel im Kopf, drauf steht ,Hirn'. Aber um euch zu verstehn, dazu muss man halt noch dümmer sein. Aber deshalb sind wir doch gute Freunde!" Sie trank wieder mit grossem Genuss einen Schluck und sagte: „Ah, das ist gut!" „Nun red einmal ernsthaft, Fritzi. Ich meine wegen der Stimme. Hast du da denn gar keinen Ehrgeiz? „Gar keinen", versicherte sie unberührt. „Das versteh ich nicht. Und kein Mensch versteht es. Ich habe dir doch hundertmal gesagt, dass du zu meiner Tante Weickers in der Prinz-Eugenstrasse gehn solist." Fritzi schüttelte heftig den Kopf und brachte die dadurch in Unordnung geratenen Locken mit ein bisschen Spucke wieder in die richtige Lage. „Ich dank dir tausendmal, Graf; aber ich mag nicht. „Eine Schande ist das! Willst du denn dein ganzes Leben beim Zwieback in der Kartnerstrasse in der Damenhandschuhabteilung bleiben?" „Nein", sagte Fritzi gedehnt, „das grad wieder nicht." „Na, kommst du vielleicht doch noch zur Einsicht?" „O, ja." Fritzi zeigte beim Lachen zwei tiefe Grübchen, „also wenn du mir schon eine Protektion weisst, bitte schön, dann möchte ich gern von der Damenhandschuhabteilung auf die Herrensockenabteilung. Da mach ich am End noch eine grossartige Partie!" „Nix zu wollen mit dem Madel , sagte Florian resigniert. „Ist ja herzig von dir, dass du mich protegieren willst; aber geh, ich bleib schon lieber, was ich bin. Wenn du aber wirklich was für mich tun willst: heb mir ein Glaserl von dem Wein auf, nachher, ja?" Damit verabschiedete sie sich, dankte Florian noch- mals und gab Johanna kameradschaftlich die Hand. Johanna tat es ausgesprochen leid, dass Fritzi schon ging, und sie ausserte das auch zu Florian. „Ja, die Fritzi ist ein herziger Kerl!" sagte er, „man wird nur nicht recht klug aus ihr." „Warum nicht?" „Sie kommt auf fast alle Balie. Die Kameraden sind wie toll hinter ihr her; aber gekriegt hat sie noch keiner." Johanna war abgestossen von der Bezeichnung .gekriegt , und der Kopf drehte sich ihr ein wenig von manchem, was Fritzi gesprochen hatte. Spielkarten oder ein Madel her — was war das? Sie hob in Abwehr die Schultern: „Natürlich nicht! Erstens überhaupt nicht, zweitens, weil sie eine richtige, wirkliche Liebe haben wird, keinen Flirt." 19 „Aber keine Spur! Wenn sie in festen Handen ware —^ wozu kommt sie denn da her?" „Dann hat sie vielleicht eine unglückliche Liebe." „Da könnte sie sich doch jederzeit mit einem Kameraden trosten! Das halbe Regiment war ja parat." „Ich könnte mir auch vorstellen, dass sie so viele Menschen nur braucht, weil sie im Grunde genommen sehr allein ist." „Aber sie muss ja nicht allein sein. Verlangt ja kein Mensch von ihr. Nein, bei der Fritzi kennt sich niemand aus. Ich möchte nur wissen, wozu sie auf alle Balie geht." „Am Ende ist alles ganz einfach, und sie wird zum Singen engagiert." „Da kennst du die Fritzi schlecht. Sie singt, wann und wies ihr passt. Manchmal fünf Lieder und dann wochenlang gar nicht." „Oder sie tanzt halt gern." „Geh! Das glaubst du doch wohl selbst nicht, dass eine zum Tanzen herkommt!" „Wie bitte?" fragte Johanna, die glaubte, nicht recht hingehört zu haben, „du glaubst nicht, dass man zum Tanzen herkommt?" „ Jane! Hand aufs Herz! Darf ich mir nicht einbilden, dass du meinetwegen hier bist?" „ Ja — aber —" „Jetzt einmal kein Aber. Es waren genug Abers.' Er machte eine Pause, knallte in plötzlichem Ubermut sein Zigarettenetui auf den Tisch, beugte sich rasch zu ihr hinüber und fragte: „Wo schlafst du denn heute Nacht?" Prompt, ohne das mindeste Zögern und nur mit einem kleinen Staunen kam ihre Antwort: „Zu Hause. Warum?" Aber schon in der nachsten Sekunde wurde sie glühend rot. Und nun begriff Florian. Auch in solche Gesprache hinein sprühen Walzertakte, obwohl sie kaum jemand wahrnimmt. Immerhin erfassen sie den Augenblick, treiben ihn vor sich her und davon. Florians Mundwinkel zuckten in Spott; aber er erhob sich, in seiner üblichen Gelassenheit, knöpfte seine Joppe zu und machte Johanna die gewohnte leichte Verbeugung. Ehe er aber den Arm um sie legte, bog er ihr den Kopf zurück, sah sie zwei Sekunden an und meinte dann mit Ironie oder auch mit Selbstironie: „Und dabei sagt die Fritzi, es gibt keine unverstandenen Frauen." So führte jedes Gesprach sie auseinander, und jeder Tanz sollte sie wieder zusammentun. Allmachtig ist aber auch ein Wiener Walzer nicht, und bis in die Unendlichkeit kann er nicht zusammenführen, was Gott getrennt hat. Schon diesmal versagte der bewahrte Kuppler. Da war kein Takt mehr. Die Beine liefen deshalb unter einem weg, wie sie wollten. Denn da war auch kein Hirn mehr, das fiir den Takt hatte einspringen können. Der Kopf war eine grosse, taube, hohle Sache. Irgend etwas war gekommen und hatte alle Wiener Walzer in sich hineingeschluckt. Sie waren nicht mehr. Nur ganz fiir sich allein schrie manchmal ein Horn in den Saai: „....dass jemand zum Tanzen herkommt?!" Oder ein Fagott larmte: „Nicht anrühren lasst sie sich!" „Ein Madel her!" dröhnte die Pauke. Und dann schrie, quiekte, lachte alles zusammen: „Heute Nacht?" Danach tanzte sich nicht gut. Das ist keine Woge, der man sich anvertrauen kann, die einen tragt. Das zieht einen hinunter. Es tanzte sich wirklich nicht gut danach. Johanna merkte kaum, dass Florians Kamerad mit dem kleinen Tirolerhütchen plötzlich da war und sie fiir den nachsten Tanz übernahm. Florian überliess sie ihm jetzt nicht gern und nicht sofort. Er empfand, sonderbar genug, so etwas wie Verantwortungsgefühl für sie, obwohl ihm das im selben Moment, in dem er sichs bewusst wurde, von höchster Lacherlichkeit erschien. Es war aber da, dieses sonderbare Gefühl. Johanna widersprach diesmal mit keiner Silbe. Sie dankte höflich für die Aufforderung und folgte ihrem neuen Tanzer. Johanna war, streng genommen, nicht keusch; denn ihre Gedanken und ihre Empfindungen kannten alles. Was sie da und dort aufgeschnappt und halb verstanden hatte, daraus hatte sie sich ihre eigene Komposition gemacht. Eine höchst feierliche mit Orgelgebraus und pathetischen Engelstimmen, die Lisztlieder sangen: „....Wie einst Petrarca Laura erschien zur Nacht..." So ungefahr hatte das, was sie unter Liebe sich vorstellte, vor sich zu gehn. Sie war nicht keusch, und sie war wiederum mehr als das. Sie war überspannt im wahrsten Sinne des Wortes. Liebe war für sie Ekstase, aber eine Ekstase im Dauerzustand. Und schliesslich verwechselte sie Liebe auch noch ein wenig mit der heiligen Kommunion. Statt dessen aber griff jemand über den Tisch nach ihr und fragte: „Wo schlafst du heute Nacht?" Diese fünf Worte waren ein Weltuntergang. Johanna machte ihrem neuen Tanzer keine Freude. Sie tanzte schlecht, trat ihm auf die Füsse und beantwortete seine F ragen gar nicht oder ausserst zerstreut. Er fand sie so fad, wie er das bei einer Rothaarigen noch nie erlebt und auch gar nicht für möglich gehalten hatte. Nichts ging von ihr aus, und so setzte er sie nach diesem einen Tanz trotz der faszinierenden Haarfarbe an ihrem Platz ab. Als Florian sie seinem Freund Ferry überlassen hatte, schaute er den beiden eine Weile nach. Es verstimmte ihn, dass Ferry die Kleine viel zu fest umfasste, und er bemerkte auch noch, wie Johanna sich seinem Arm entzog; aber sie tat es ohne Entrüstung, ohne Nachdruck, es war, als ob ein Automat einen Griff ausschalte. Ferry hatte jetzt das Gesicht dicht am Haar seiner Tanzerin, die Augen halb geschlossen. Es war nicht Eifersucht, was bei diesem Anblick wie Un behagen und Zorn in Florian hochstieg. Er kannte keine Eifersucht; denn er liebte nicht. Er empfand den Freund nur als undelikat und verübelte ihm, dass er nicht merkte, er hatte ein „anstandiges Madel" vor sich. Denn als das rangierten Madchen wie Johanna und Fritzi. Im Gegensatz zu den kleinen Freundinnen, die einem durch den Umstand, dass sie keine anstandigen Madel waren, die amüsante Zasur abgaben zwischen Dienst und gesellschaftlichem Leben. Florian argerte sich also wirklich über Ferry, und am liebsten hatte er die Kleine zurückgeholt; aber da waren beide seinen Blieken schon entschwunden. Nur der Arger war noch da und wandte sich nun gegen Johanna. Eine blode Urschel! Was fiel ihr eigentlich ein? Rannte ihm auf die Bude.... um Beethoven zu spielen! Ein wahres Glück noch, dass man Beethoven gespielt hatte, Teufel nochmal! Wenn man da ernstlich an diese veritable kleine Unschuld geraten ware! Man hatte nichts wie Unannehmlichkeiten gehabt. Noch nachtraglich überkam ihn ein Mordschrecken bei der Vorstellung, dass um ein Haar einmal er der Verführer, der Falott, der Lump gewesen ware, den spater ein Madel aus seinen Erinnerungen als „den Ersten" hatte auskramen können. Was sollte er jetzt aber mit ihr machen? Zunachst würde er sie um zwölf herum in einen bezahlten Fiaker setzen und nach Hause fahren lassen. Seine Begleitung würde wohl wieder abgelehnt werden. Natürlich dachte er nicht daran, das Fest schon zu verlassen. Und spater? Nun, er würde sie noch ein paarmal in ein Kino einladen und ins Café. Das war immer so das bequemste Abklingen. Eigentlich schade. Sie war doch auf eine besondere Art anziehend und unterhaltend, die kleine Mondsüchtige. Ob er sie nicht vielleicht doch von Zeit zu Zeit wiedersehen sollte? Aber diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Was war nur in ihn gefahren? Er hatte doch sonst nicht solche Anwandlungen. Ordnung musste sein in Madelgeschichten! Entweder oder. Und hier war halt ein Oder. Trotzdem schade. Sie war wirklich eine amüsante Gesellschaft und sie tanzte ausgezeichnet und dezent. Die Trennung von ihr tat ihm ernstlich leid. Wie sonderbar auch, dass er zu ihr eigentlich hochanstandig und nett war! Sogar betrogen hatte er sie, eine Unbequemlichkeit, die er sich sonst keineswegs auferlegte; denn mit Doppelbesetzungen riskierte man nur Durcheinander. Man konnte bei den Vornamen ausrutschen, aus dem Schlaf sprechen; Haamadeln konnten einen verraten, kurz, hundert derartige Tücken erforderten hundert Vorsichtsmassnahmen, und die Gemütlichkeit war hin. Nur sich nicht Tranen und Yorwürfen und Szenen aussetzen. Darum eben betrog man die kleinen Freundinnen nie, sondern man verliess sie. Und Johanna nun hatte er betrogen, und er war geradezu gerührt darüber, fand, er habe sich ausserordentlich gut gegen sie benommen. Er hatte sie schliesslich nicht drangen, sondern abwarten wollen, bis alles sich von selbst ergeben hiitte. Richtig nett war er zu ihr. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Und Ordnung musste eben sein. Davon ging er nicht ab. Nicht im Dienst und nicht in Weibersachen. Und eine Anfangerin und er dazu als erste Liebe — um Gottes Willen! Das ware höchste Schlamperei. Keine ruhige Minute hatte er mehr, wenn das bei dem Madel in die sogenannte grosse Liebe ausartete! Trotzdem war nicht wegzuleugnen, dass er diesen Verlauf der Dinge bedauerte. Vielleicht war ihm, ohne dass ers wusste, etwas von ihrer herben Lieblichkeit aufgegangen. Er hatte es nur beiseite geschoben, nicht wahr haben wollen. Sein Ziel war eben nicht dies, sondern ein anderes. Das nun ein Uberséhenes, Nichtbeachtetes auf einmal sehr im Yordergrund stand, das verwirrte ihn nur, und er starrte es misstrauisch an als neu und ungewohnt. Und da es ihn störte und da er damit nicht zurecht kam, ging er zur Bar. Ein drink hat schon viele Fragen gelost oder hinuntergespült. An der Bar lebte der Gustl auch wieder von Zinsen und Kapital, ein ganzes Geschwader Madel um ihn herum. Ehe Florian sichs versah, hatte sich seiner eine kleine Rotblondine bemachtigt. Seine höfliche Reserviertheit wurde als Zustimmung aufgefasst, und sie nahm neben ihm auf einem Barstuhl Platz. Er liess sichs gefallen, ein wenig bestochen von ihrem rötlichen Haar. Zwar achtete er im allgemeinen gar nicht auf Haar- oder Augenfarbe und auf Ausseres überhaupt. Wenn ein Madel nett aussah und „so was Gewisses" hatte, das genügte. Jetzt aber ging von diesen roten Haaren ein seltsamer Reiz aus. Wahrend er in dieses metallisch glanzende Geflimmer sah, empfand er so etwas wie Abschiedsschmerz und Sehnsucht nach Johanna, die noch da war, zwei Sale von ihm entfernt tanzte. In spatestens zehn Tagen würde er sie verlassen haben, und das bedrückte ihn genau so wie schicksalhaft Unabwendbares. Er strich diesem rotblonden neuen Ballflirt mit zartlicher Melancholie über das Haar und summte dazu „1'aprile non c'è piü....", das Triestiner Kinderlied und Johannas Lachen. Und er gab sich ganz diesem Gefühl hin: Erinnerung an eine noch Gegenwartige, künftig Verlassene. Florian liess sich von dem Dirndl zur Schiessbude ziehen, wo sie ihm, in Unkenntnis dessen, dass er ein aktiver Husar war, einen Kuss versprach, wenn er mit drei Schuss ins Schwarze trafe. Sie erteilte ihm den ausgesetzten Preis aber schon nach dem ersten Volltreffer. Es war ein ausgiebiger Preis. Yon der Schiessbude raste sie mit Florian mitten hinein in die Tritsch-Tratsch-Polka. Sie tanzte gut wie alle Wienerinnen; aber ihr Tempo war etwas zu hitzig. Für sie war der Tanz nur und nichts anderes als eine erotische Funktion. Florian war keineswegs wahlerisch, wenn es darum ging, eine Gelegenheit und das dazugehörige Madel beim Schopf zu fassen, nur beim Tanz war er ganz bei der Sache und empfand jede Anniiherung nur storend. Ohne dass er sich darüber Rechenschaft ablegte, glitten seine Augen über die Tanzenden hinweg und suchten Johanna. Er fand sie nicht, und auch an seinem Tisch sass sie schon nicht mehr, als er sich gleich nach der Polka dort umschaute. Seine Tanzerin entfiihrte ihn wieder zur Bar und weiter in eine der Almhütten. Diese junge Dame war nichts weniger als mondsüchtig. Sie wusste durchaus, was sie wollte, und auf sie traf Florians Behauptung, zum Tanzen komme kein Madel her, vollkommen zu. Sie tanzte zwar gern und auch weil es dazugehörte; aber in der Hauptsache war sie des Tanzens wegen nicht hier. „Man ist doch nur einmal jung", sagte sie, sich in leichter Verlegenheit entschuldigend, als sie vor Florian auf dem Tisch in der Almhütte sass und ihr Haar und ihre Bluse wieder in Ordnung brachte, „so bald bin ich nicht wieder dreiundzwanzig Jahr!" Florian war kein Spielverderber. Und Spiel war dies alles ja nur, und gegen seine Regeln verstiess, wer ihm auch nur eine Spur Ernst beimass. Etwas spiiter wurde ihm die junge Dame durch seinen Freund Ferry, auf seiner ewigen Jagd nach Rothaarigen, wieder abgenommen. Florian fragte ihn nach Johanna, Ferry machte ein betretenes Gesicht und erging sich in einer I1 lut anerkennender Worte über sie. „Du, also hörst, da kann man dir direkt nur gratulieren zu dem Madel! Also wirklich ein feines Madel, ich möchte sogar sagen, ein gebildetes Madel. Also ganz ehrlich gesprochen. Und obendrein ist sie noch an- standig — gewissermassen hochanstandig.... hm...., Dritten gegenüber.... also einen Geschmack hast du Hier fasste sich Ferry unter Florians ironischen Blikken an den zu engen Uniformkragen, der gar nicht da war. Dass da irgendetwas irgendwie zu eng wurde, daran war das Fiasko mit Johanna schuld. Ferry war natürlich überzeugt, dass dies an der Fadheit des Madchens gelegen habe; aber wer von den Kameraden würde ihm das glauben! Er galt ohnedies für einen, der „kein Glück bei Frauen" hat. Also war es am besten, man überging die Sache diplomatisch. Sonst machte so etwas die Runde durch alle Regimenter. Ehe man sichs versah, war man eine lacherliche Figur, und man war doch schliesslich Soldat und schon von Berufs wegen verpflichtet, auch auf diesem Felde zu siegen. Florian begriff sofort. Das kannte man. Wenn einer in diesem kiinstlich respektvollen Ton, eine Oktave zu hoch, das Lob von der Anstandigkeit und Bildung sang, wo es um ganz anderes ging! Das kannte man! Da hatte die Geschichte eben nicht geklappt. Die Legende aber, dass man jedes Madel haben könne, man brauchte nur wirklich zu wollen, die musste natürlich aufrecht erhalten werden. Lachend legte Florian einen Arm um Ferry und einen um die kleine Rotblondine, sie solcherart einander zuführend. Dann geriet er in einen Schwarm Kameraden, der ihn mit zum Karussell zog. Im Sturm und in voller Fahrt eroberte man sich dort alle Platze. Autos und Fiaker wurden auf die umstandlichste Art bestiegen, möglichst übers Yerdeck, man sass rittlings auf den Holzpferdchen oder auf Lohengrinschwanen, auf Krokodilen, man war die Perle in einer sich wiegen- den Muschel. Florian machte sichs in einer Kinderwiege bequem. Dazu spielte die Karussellorgel „Es gibt nur a Kaiserstadt, es gibt uur a Wien!" Im Chor sangens die jungen Offiziere mit, und sie waren nur noch ein einziger brausender tlbermut. Johanna hatte nicht sagen können, ob sie sehr lange oder nur ein paar Minuten auf Florian gewartet hatte. Jedenfalls stand sie plötzlich ebenso apathisch auf, wie sie an ihrem Platz gesessen hatte, und liess sich ziellos durch die Sale treiben. In dem tollen und überaus lauten Durcheinander des dichtbesetzten Karussells entdeckte sie Florian wieder. Aus seiner Kinderwiege heraus versuchte er gerade, mit vorgehaltenen Handen den Larm überschreiend, sich mit einem Dirndl zu unterhalten. Das sass auf dem Yerdeck eines Fiakers, liess den Insassen seine Beine unbekiimmert um die Nase baumeln und ass aus einer Tüte Aschantinüsse, als gebe es keinen diesem Tun angemesseneren Platz. Und die Schalen der Nüsse warf sie, ganz als müsse das so sein und ungeachtet des lachenden Protests, auf die Fahrgaste des Fiakers. Johanna sah dies alles und sah es wiederum nicht. Auch das ganz aussergewöhnlich tiefe Decolleté des Madchens streifte sie nur mit halb abwesenden Blikken. Aber es ging wie ein Ruck durch sie, als das Dirndl nun ganz dicht an ihr vorbeifuhr: zwischen den Wölbungen der Brust schmückte besagtes Decolleté ein silbernes Kreuz. Und in der Mitte des Kreuzes flimmerte ein Goldtopas. In furchtbarem Schrecken griff Johanna an ihren Hals — aber das kleine Kreuz, ihr Geburtstagsgeschenk, war da. Und doch hatte sie sich nicht getauscht — die Fremde trug das gleiche kleine Kreuz an der gleichen gedrehten Kette. Als das Madchen wieder an Johanna vorbeifuhr, blieb keine Zeit, auf das Kreuz zu achten; denn nun stand Florian unten in dem Fiaker, hielt das Dirndl an den Beinen gefasst und schlug sie im Takt der Musik wie zwei Klöppel gegeneinander. Das Dirndl nahm davon kaum Notiz, ass weiterhin Aschantinüsse, bewarf und bespuckte auch Florian mit den Schalen. Und die Drehung des Karussells führte sie schon wieder vorbei. Jetzt glitt der Fiaker mit den beiden abermals an Johanna vorüber. Gerade schwang sich Florian mit einem einzigen eleganten Klimmzug hinauf auf das Verdeck zu dem Madel, und dann waren sie wieder Johannas Blieken entzogen. Das Weitere spielte sich in der Halbdrehung auf der anderen Seite ab — Johanna bekam die beiden erst zu sehen, wie Florian, halb über das Madel geworfen, um einen Kuss kampfte. Und wieder waren sie vorbei, und abermals fuhren sie an dem erstarrten kleinen Madchen vorüber. Florian lag über dem Dirndl, Mund auf Mund. Sie wehrte sich nicht mehr. Aschantinüsse tropften vom Verdeck des Fiakers, hüpften vom Karussell, vor Johannas Füsse. Unter dem Tanzsaal musste ein Eiskeller sein. Giftige Kalte stieg auf, kroch an Johanna hoch, frass sich durch sie hindurch bis an die Stelle, wo noch heute Abend heisse Zartlichkeit quoll, und die Stelle wurde von jenem Gift überzogen, schlimmer als Eis. Ein kleines, von Zartlichkeit überströmendes Herz schloss sich fest ab. Es war für nichts mehr durchlassig, nicht für Walzermelodien, nicht für Liebe, aber auch nicht für Schmerz. Es spürte nichts. Nichts tat weh. Da war nur diese fressende, dumpf taube Kalte. Johanna sah ihr grosses Du noch ein letztes Mal an, wandte sich um und ging. In diesem Moment griff etwas nach dem Herzen, drückte es zusammen, wie man eine Handvoll Schnee zu Eis pressen kann. Genau so war es. Ein paar Tropfen losten sich von dem Klumpen da in ihrer Brust, fielen ins Leere. Ihr Du ging verloren. Johannas erster Ball war zu Ende. Und hier trennten sich auch die Wege von Fraulein Zuviel und Herrn Zuwenig. Noch einmal werden sie sich wiedersehen; aber das ist mehr als zwei Ehitzend Jahre spater. Beide haben ihre Heimat verloren, die von wilden Horden mit ewiger Sonnenfinsternis überzogen wurde.Wien mit seiner lichten Heiterkeit, seinem Schwung, seiner Musik, das alles lag im Sterben, wahrend abgehackte Militarmarsche an die Stelle des Wiener Walzers getreten waren. Johanna wusste nicht mehr, dass sie je eine Johanna war, und auch wenn sie zu sich selbst sprach, nannte sie sich nur Jane. Ihr war langst die ganze Welt Heimat geworden, Florian machte, ein Mann gegen die I ünfzig, die ersten Gehversuche, weit fort von österreich, in einem andern Erdteil. Florian gehorte zu denjenigen, denen man in einer dieser besonders geschmacklosen, besonders ordinaren Rundfunkreden angeraten hatte, ihr Land, ihre Heimat zu verlassen, da sie sonst der Strick erwarte. In dieser Rundfunkrede anempfahl man ihm und seinen Standesgenossen, deren Yorfahren für Grosse und Ehre des Landes gekampft und in den Fürstengrüften ihres Landes ihren Platz hatten, sich unter der Schlagermelodie „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein" aus dem Staube zu machen. Als Florian und Johanna sich wieder begegneten, nach fünfundzwanzig Jahren, machte Florian seine ersten Sportreportagen für eine englisclie Zeitung, und Janes wegen richtete man in den Stadten, wohin ilir Berui sie führte, einen verdoppelten Postdienst ein — so zahlreich waren die Briefe und Kabel und Anrufe, die dem kleinen Judenmadchen aus der Wiener Leopoldstadt galten. Florian verband mit ihrem Namen keinerlei Erinnerung. Und er traf sie auch nur zufallig im österreichischen Adelsklub inNewyork, wo man die grosse Landsmannin feierte. Er betrachtete sie mit flüchtiger Neugier, die nicht ausreichte, sich vorstellen zu lassen. Sie aber erkannte ihn sofort. Denn auf dem Grunde ihrer tausendjahrigen, ewig jungen Judenaugen haftete jedes Bild. Nichts ging verloren. Bei der ersten Gelegenheit trat sie zu ihm: „Ja Servus! Grüss Sie Gott, Graf Weickers!" Er wunderte sich über die Begrüssung und über den burschikosen Ton noch einmal besonders. Aber da war immer noch seine charmante und durchaus glaubhafte Liebenswürdigkeit, und über ihre Hand beugte sich der fast Fünfzigjahrige noch immer mit dieser spontanen, pagenhaften Anmut, die so ausschliesslich, so persönlich wirkt. Wahrend keine Miene verriet, dass er ganzlich ahnungslos war, woher sie ihn kannte. Mit jener aufrichtig herzlichen Unaufrichtigkeit versicherte er ihr, wie ganz ausser sich er sei über die unverhoffte Freude dieses Wiedersehens.Jane aber tauschte man nicht. Sie kannte ihre Landsleute, und sie kannte auch diesen Tonfall. Sie unterschied - bei anderen — immer sehr genau zwischen wahr, halbwahr, unwahr. Sie wusste sehr genau, dass für den österreicker, wo immer er sich befand, verbindend der warme Golfstrom floss von ja zu nein. Und so lachte sie jetzt ihr glucksendes Lachen und sang fast: „Schwiiiiiiindel! Keine Ahnung haben Sie, woher wir uns kennen!" Er hört das Lachen und er schliesst rasch die Augen, um es besser in sich aufnehmen zu können. Da war es ja wieder, das Triestiner Kinderlied! Es sprüht ihm ins Blut, und eine Yiertelsekunde ist der kleine Sportreporter wieder zwanzig Jahre, spürt den goldenen Stern am Kragen und die enganliegende Haut der Leutnantsbluse. Und um ihn lachen alle Triestiner Madchen im Chor. „....1'aprile non c e piü...." „Triest", sagt er leise. Johanna, die nun wirklich Jane ist, begreift sofort. In grosser Güte nickt sie. Es ist ja ihre Aufgabe, die Welt schoner und glücklicher zu machen. Darum allein ist sie ja jeden Tag und jede Stunde ein andere. Und darum ist sie jetzt, für ihn, ein kleines Madchen aus riest. Aus der lückenlosen Kartothek ihres Gedachtnisses holt sie die Erzahlungen von seiner ersten Garnison hervor. „Denken Sie noch manchmal an die Kirche am Berg und ihr unregelmassiges, unmotiviertes Gebimmel? Ja? Ich habe das alles niiiiiiie vergessen. Und Sie auch nicht. Servus, Florian, griiss Sie Gott!" Noch einmal ist sie das Fraulein Zuviel und schenkt, schenkt, gibt mit vollen Handen, sie, die ja nicht mehr schenken kann, weil alle von ihr fordern, noch ehe sie dazu kommt, die Hande zu öffnen. Noch einmal ist sie das Fraulein Zuviel, ohne Mass, °hne Grenzen, macht aus sich eine kleine Fabrikarbei- MÊÊl terin oder ein Dienstmadel, um herbeizuzaubern, was nicht ist: einen Stem am Hals, silberne Achselstücke und einen Schuss Wiener Walzer in altes Wiener Blut. Vielleicht war sie nie wienerischer als in diesem Moment, da sie vorgibt, aus Triest zu sein. Wahr unwahr, von der Moralso hart geschieden, von dem, was einst W ien war, in singender Anmut vereinigt. Noch aber spielt sich Johannas Leben in Niederungen ab, in die kein einziger Lichtstrahl hinzufinden scheint. Irgend etwas hatte sie auf eine knappe Woche — fünf Tage waren es, alles in allem — aus diesem dump fen Schacht herausgezogen in strahlende Helligkeit, in Freude, Glück. Nun liess dieses unfassbare, dieses tierisch grausame Etwas sie wieder fallen. Und sie sank, tiefer als zuvor. Armer und hoffnungsloser als je. Noch immer traten die Zeitungen ihren Fall breit. Ihren Fall, der gar keiner mehr war, da ihm der einzige Boden, den er je hatte, Johannas Vorstellungskraft, entzogen worden war. Ohne dass sie sich noch dafür interessierte, arbeitete der Apparat der Behörde und der öffentlichkeit weiter. Fieberhaft wurde die Razzia nach dem Tater fortgesetzt. Man hatte Johanna schon seit acht Tagen nicht mehr aufs Kommissariat bestellt. Es schien sinnlos. Ihrem anfanglich theatrahschen Auftreten war ein Stadium grösster Apathie gefolgt, und zuletzt tat sie, als sei jede Silbe, zu der sie sich herbeiliess, eine Gnade. Auf diese Weise kam man nicht weiter. Deshalb hatte man eines Tages Frau Deutsch angewiesen, Johanna unter einem Vorwand vonHause zu entfernen, damit man eine Durchsuchung ihres Zimmers vornehmen könne. F ast beim ersten Griff in die erste Schublade entdeckte man ein Emaillemedaillon, in dem ein mit zweimaligem Umsteigen abgefahrenes Trambahnbillett aufbewahrt wurde. An einer Ecke war es beschadigt, und auf der Rückseite war die Eintragung „Reparatur 88" vermerkt. Es befand sich auch noch eine an den Rand gekritzelte Telefonnummer, 7287, und schliesslich der Vermerk „Samstag Nachmittag nach fünf Uhr" auf dem Billett. Man knüpfte grosse Erwartungen an diesen Fund, die sich in der Folge nicht erfiillen sollten. Die Telefonnummer war die eines Arztes, der schon vor zwei Jahren seine Praxis und den Telefonanschluss aufgegeben hatte. Der Herr war in keinerlei Zusammenhang mit dem Fahrschein oder dem, der ihn beschrieben hatte, zu bringen. Der Umstand, dass es sich um einen Frauenarzt und Geburtshelfer handelte, war Anlass, bei gewissen obskuren Heilgehilfen und Pflegerinnen Recherchen vorzunehmen. Sie führten zu keinem Resultat. Immerhin übergab man die wenigen Anhaltspunkte, die Entdeckung des beschriebenen Fahrscheines, der Presse. Johanna nachtwandelt indessen, einzig Überlebende eines Weltunterganges, über die Triimmer einer grossen Liebe. Darunter liegt Florian begraben, darunter liegt ihr grosses Du. Hierhin und dorthin führen sie ihre verwinkelten und unschlüssigen Schritte. Dass sie weint, merkt sie erst, als eine al te Dame sie im Vorübergehn anhalt und fragt, was ihr fehle. Als seien Diebe hinter ihr her, rennt Johanna davon. Zweimal ist sie so schon die Wipplingerstrasse auf und 20 ab gelaufen, ohne zu wissen, wohin mit sich. Dann biegt sie über den Platz Am Hof ein, wendet sich zur Schottenkirche. Hier weinen viele. Hier fallen Tranen nicht weiter auf. Da sass sie wieder vor ihrem Heiligen, der ihr fremd geworden war, ein gemaltes Bild. Und doch nicht. Er war geblieben, der er war, den sie aus ihm gemacht hatte. Sein asketisches Gesicht füllte sich unter ihren Blieken mit Leben, das ihm von ihr zugeströmt war, und er sprach zu ihr mit ihren Worten: „Ich bin nicht so beschrankt wie die Menschen, ich frage dich nicht, woher du kommst, es ist mir einerlei, und ich freue mich, dass du wieder einmal hier bist." Johanna schloss die Augen, sie legte müde den Kopf auf ein Puit; sie hatte immer noch das Heiligenbild vor sich. Aber das Gesicht des Ewigen Geliebten, sein unverganglicher Schimmer, zogen darüber hinweg, und der Heilige und der Ertraumte wuchsen ineinander, wurden eins. Durch das Hirn des Kindes, das einem Nervenfieber nahe ist, streicht wie erste Linderung und Lösung all der unbegreiflichen Qual eine Ahnung: nur so wird sie existieren können, nur zwischen Geschöpfen, denen ihr kleiner, schwachlicher Körper von seinem überschüssigen Leben gibt, zwischen Wesen, die aus der Überfülle ihrer Phantasie die Kraft zu einem eigenen Dasein in höchster Vollendung ziehen. Nur so. Denn nur das ist ihr grosses Du: was aus ihr selber kommt. In dieser Minute zerstiebt die Erinnerung an Florian wie Wasserdampf in Frostluft, ist eine Sekunde lang noch ein wenig Nebelatem über den Trümmern ihrer untergegangenen Welt. Dann verf liegt er, Florian, Graf Weickers, k. und k. Husarenoffizier. Es hat ihn nie gegeben. Neu erstanden ist aus dem Traum Florian — die Wirklichkeit, Johannas Wirklichkeit: der Ewige Geliebte in der Strassenbahn. Ihn gibt es. Johanna spürt ihn ja in jedem Nerv, ihr Herz blüht auf, es drangt sie zu ihm. Sie vermag nichts ohne ihn, ist halbiert, fiihlt sich ganz organisch mitten durchgeschnitten. Und wieder ist sie auf dem Höhepunkt der Ekstase, für sie der Höhepunkt des Glücks. Das mit zweimaligem Umsteigen abgefahrene Trambahnbillet hat noch einmal eine gewisse Gültigkeit erlangt. Kaum ein der Nachwelt hinterlassener Goethebrief kann auf seine kalligraphischen Eigenheiten hin einer liebevolleren Prüfung unterzogen werden wie jener Fahrschein mit seinen Eintragungen. Daneben entnahm man ihm genau, wann, wo, wie er gelocht worden, zu welchen Strecken er berechtigt hatte, inwiefern dieser Berechtigung entsprochen worden war. Über diese Einzelheiten konnte man sich bereits am folgenden Tag in samtlichen Wiener Zeitungen genauestens informieren. „ Jetzt haben wir den Schuft!" begrüsste deshalb auch der Oberkellner Maxi aus dem Café Excelsior seinen Stammgast Alois Spacil und fuchtelte mit dem Kronenblatt durch das Lokal, „jetzt kriegen wir ihn dran! So ein Schweinkerl! Da fehlt ja nicht einmal viel bis zum Lustmörder!" Alois Spacil, des Ewigen Geliebten Stellvertreter auf Erden, hörte schon nicht mehr hin, sondern fiel über seine neueste Romanfortsetzung her. Er las, dass man des Verführers noch nicht habhaft geworden sei, sondern bei einer Durchsuchung eine Telefonnummer bei dem Madel gefunden hatte. Die Telefonnummer allerdings ergab gar nichts. Es war die eines langst nicht mehr praktizierenden Frauenarztes. Frauenarzt? Am Ende war das der gleiche, mit dem ihn sein Freund Heini, der Hilfsregisseur, vor ein paar Tagen hatte hereinlegen wollen. Er hatte Heini nach einem Halsarzt gefragt und von ihm die Adresse eines Frauenarztes erhalten, der allerdings nicht mehr amtierte. Wenigstens war so Spacil, der sich gedankenlos in die Sprechstunde begeben hatte, eine Blamage erspart geblieben. Als Heini mit einer weiteren Empfehlung herausrückte, diesmal mit einem bekannteren Namen, kam Spacil ihm auf den Schwindel. Der Name des Arztes war in dem Zeitungsbericht übrigens nicht genannt. Na, die Kleine würde wohl mehr Grund gehabt haben, einen Frauenarzt aufzusuchen, als er, Alois Spacil. Er schmunzelte beim Lesen vor sich hin und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. „Auf der Rückseite des Zettels befindet sich der Vermerk „Samstag Nachmittag nach 5 Uhr' und „Reparatur 88". Da dieser Eintragung nicht zu entnehmen ïst, ob es sich um eine Uhren-, Fahrrad-, Brillen- oder sonstige Reparatur handelt, sieht sich der Fahndungsdienst einem ausserordentlich schwierigen Problem gegenüber. Zweckmassige Angaben, die zur Ausforschung dienen können, sind erbeten an die Polizeidirektion, Zimmer 14." Spacil las und las wieder, und noch ehe er ganz begriffen hatte, dass hier das Schicksal zu einem hinterhaltigen, tückischen Schlag gegen ihn ausholte, hatte er ein abscheulich trockenes Gefühl im Munde, und die Kopfhaut spannte sich, vom Wirbel ausgehend, als wolle sie platzen. Der nicht mehr amtierende Frauenarzt! Und nun auch die Reparatur 88! Diese Reparatur hatte ja ebenfalls mit ihm, Spacil, zu tuil! Unter dieser Nummer war ihm ein Reparaturscliein seiner Besohlanstalt ausgestellt worden. Den Schein hatte er verlegt, sich aber sogleich die Nummer notiert. 88 war sein Geburtsjahr, deshalb erinnerte er sich der Zahl. Yorsichtshalber, und weil der Schuhmacher ihn nicht kannte, schrieb er sich noch die Zeit auf, zu der er seine Stiefel übergeben hatte. Dies alles betraf ja ihn! Der Frauenarzt, die Reparatur 88, die Eintragung „nach fünf Uhr".... wild tanzten diese Einzelheiten durch Spacils Hirn. Traumte er? Nein. Die Zeitung war wirklich vorhanden, knisterte in seiner Hand, farbte die priifenden Finger mit Drukkerschwarze. Was er sah und was er las, war unleugbar eine perfide Wirklichkeit. Und.... trug er nicht heute zum erstenmal die neu besohlten Schuhe, auf denen unterm Rist in Kreideschrift die Reparaturnummer aufgeschrieben war? Da Alois Spacil körperlich ungewandt war, musste er aufstehn, um nachzusehn. Unter komischen Yerrenkungen, bei denen er beinah das Gleichgewicht verlor und hinzufallen drohte, überzeugte er sich, dass die heimtückische Zahl noch vorhanden war. Da, in der Höhlung zwischen Sohle und Absatz, stand es deutlich: 88. „Lüge! Verleumdung!" knirschte er und fegte in bebender Wut samtliche Zeitungen vom Tisch. Der Piccolo hob sie dienstbeflissen sofort auf. Spacil riss ihm das erste beste Blatt mit der fetten Uberschrift „Eine Spur des Verführers" wieder aus der Hand. „Herr Maxi, borgen Sie mir das Blatt!" rief er dem Oberkellner entgegen, der ihm soeben auf einem Ta- ■n blett zum Kaffee — nach Wiener Sitte — zwei Glas Wasser nachservierte. „Schon recht. Wir haben eh zwei Exemplare davon, seit die Sache mit dein Früchterl lauft. Aber was sagen Sie jetzt dazu? Den Schuft bringen wir jetzt dran!" Doch Herr Spacil liess sich heute auf keine weitere Debatte ein. „Ich muss fort! Ich zahl morgen!" achzte er und hatte bei aller Aufregung doch soviel Geistesgegenwart, vorsichtig, fast nur mit den Zehenspitzen aufzutreten, damit die Nummer 88 nicht verwischt würde. „Ist Ihnen schlecht, Herr von Spacil? Haben Sies wieder mit Ihren Frostbeulen? Ja warum nehmen Sie denn nicht endlich einmal die „Fussperlen" aus der Hietzinger Apotheke „Zum Auge Gottes?" Muss denn ein so fescher, junger Mann so daherhatschen?!" Aber der fesche junge Mann hinkte ohne Antwort davon. „In welcher Angelegenheit kommen Sie?" fragte der Kommissar in Zimmer 14 den schwitzenden Menschen, der in einem Zustand höchster Erregung zu ihm hereingestürzt kam. Die Antwort verzögerte sich, weil der Befragte kaum zu Atem kam. „In meiner eigenen", entrang sichs ihm endlich, „in meiner höchstpersönlichen —" „Aber worum handelt es sich?" erkundigte sich der Beamte, auf den der Mann den Eindruck eines verwirrten und nicht ganz zurechnungsfahigen Menschen machte. „Worum es sich handelt?" hier kippte Alois Spacils ohnedies resonanzlose Falsettstimme ganz um, und Kt krachzend und heiser schrie er heraus: „Um Lüge handelt es sich! Um Verleumdung! Um eine ganze Kette von Justizirrtümern handelt es sich!" „Wollen Sie sich bitte ein bisschen deutlicher ausdriicken?" forderte der Beamte höflich auf. Da hob der junge Mann einen Fuss. Der Kommissar fuhr zurück und griff unwillkürlich nach der Klingel. Hatte er es mit einem Geistesgestörten zu tun? „Hier haben Sie es deutlich schwarz auf weiss. Können Sie es sehen?" So hoch es ihm möglich war, hob Alois Spacil das Bein. „Hier, Reparatur 88!" Als wolle er aufspringen, spreizte der Beamte die Arme auf dem Tisch, beugte sich weit vor, und auch seine Stirn ist nun feucht vor Berufseifer. „Aha, aha! Da ist also die ,Reparatur 88'," sagte er leise und behielt sein Gegenüber im Auge. „Ja, ich bin es!" schrie Alois Spacil nun hinaus, griff in die Tasche, zog das Zeitungsblatt hervor, warf es auf den Tisch, „die Reparatur bin ich, aber das da, das bin ich nicht!" Und bei jedem Wort hieb er auf das Blatt. „Ruhig! Ruhig! Sie, Herr, wir sind hier doch nicht im Prater!" begütigte der Kommissar, der etwas von der Berechtigung des Zornausbruches spürte. „Also der Reihe nach: Ihre Personalien, wenn ich bitten darf...." Sie wurden gegeben. Alois Spacil, geboren 1888 in Wiener Neustadt bei Wien als Sohn des Oberpostoffizials Leopold Salvator Spacil; katholischer Konfession, unverehelicht, von Beruf Direktionssekretar des Kronprinz-Rudolph-Theaters. „So", sagte der Beamte und löschte das Geschriebene ab, „und bitte, seit wann sind Sie mit dem Madchen bekannt?" „Aber wer sagt denn, dass ich sie überhaupt kenn!? Spacils Kopf lief dunkelrot an vor Wut, „nie gesehen hab ich sie!" Der Beamte wollte etwas erwidern, was diese Behauptung in Zweifel steilte, unterliess es aber. Dieser vor Wut zitternde Mann war vielleicht nicht voll zurechnungsfahig; aber ein Komödiant war er nicht. Soweit kannte sich sein erfahrener Kriminalistenblick schon aus. Er machte sich eine Eintragung in die Akten und fragte dann erst weiter: „Sie geben aber doch wohl durch Ihr Erscheinen zu, dass es sich urn Ihren Zettel und um Ihre Eintragungen darauf handelt?" „Ohne weiteres. Darum bin ich tatsachlich hier.' „Aus welchem Anlass haben Sie sich die Adresse eines Frauenarztes notiert?" erkundigte sich der Beamte, immer noch in verbindlichstem Ton. „Aus gar keinem. Ich hatte geschwollene Mandein — das heisst es handel te sich um einen Witz...." Alois Spacil verhedderte sich, weil sich an solch einem ungewohnten Ort die harmlosesten Wahrheiten un- wahrscheinlich anhören. Der Beamte kniff ein ganz klein wenig die Augen ein und meinte: „Sie müssen zugeben, dass das nicht sehr wahrschein- lich klingt — der Frauenarzt — Ihre geschwollenen Mandein Ich weiss nicht recht, wo da der Witz sein soll." „Es war aber doch ein Witz", gab Spacil mit soviel tödlichem Ernst von sich, dass seine Miene an sich die Yersion eines Witzes Lügen strafte, „ein Freund hat mich gepflanzt." „Wir haben jetzt schliesslich und endlich keinen ersten April; aber diese Angelegenheit wird sich vielleicht spater feststellen lassen. Wie erklaren Sie sich übrigens, dass Johanna Deutsch in den Besitz des Zettels gekommen ist?" „Verloren hab ich ihn halt!" „So. Es ist natürlich sonderbar, dass sich Johanna Deutsch über ein verlorenes Trambahnbillett hermacht wie über eine Kostbarkeit. — Eine weitere Frage: haben Sie daim einen andern Arzt aufgesucht, als Sie gemerkt haben, man hat Sie zum besten gehabt?" „N-nein!" stotterte Spacil und hatte das Gefühl, eine Schlinge werde ihm um den Hals gelegt, „nein, es ging mir inzwischen wieder besser." Eine beklemmende Pause folgte, in der man nur die Feder ihre diffamierenden Eintragungen machen hörte. Noch im Schreiben und nur kurz seitlich aufblikkend fragte der Beamte wie nebenher: „Auf dem Zettel war noch eine zweite Telefonnummer vermerkt, die aber abgerissen worden ist. Auf dieser Nummer konnte Sie das Madchen anrufen. Es ist jedenfalls erwiesen, dass sie mit Ihnen telefoniert hat." „Ich wiederhole", sprach Spacil laut und jede Silbe betonend, „dass ich das Madchen nicht kenne, nie gesehn, nie gesprochen habe, weder am Telefon, noch von Angesicht zu Angesicht." Der Beamte schrieb immer noch und sagte in eintönig uninteressiertem Ton: „Ich muss Sie natürlich mit Johanna Deutsch konfrontieren ', schrieb seinen Satz zu Ende, legte die Feder weg und griff zum Telefon. Er gab kurz Auftrag, Johanna Deutsch holen zu lassen. „Auf das Früchterl bin ich neugierig", sagte Alois Spacil und war doch nur noch wütend. Was für ein tückischer Zufall oder was für eine wahnsinnige Infamie hatte ihn da in diese Affare hinein- geritten! Aber das Ganze konnte sich ja höchstens um Minuten handeln — gleich würde ihm das Madel gegenüberstehn und aussagen, dass er ihr völlig fremd war. O nein, er war keineswegs mehr neugierig auf diese Person. Keineswegs. Das war ihm vergangen. In nervöser Spannung sass er in einem Winkel und dachte an nichts anderes als an seine Unsehuld, die zu beweisen er hergekommen war. Spacil katte nicht sagen können, ob so Stunden oder nur Minuten vergingen. Dass einige Zeit verstrich, merkte er nur an dem Grad, in dem seine Nervositat bis zur Unertraglichkeit stieg. Er beginnt, in seinen Taschen zu kramen, und sucht dort gar nichts. Stier und geistesabwesend betrachtet er, was er findet, ein Bleistiftendchen oder eine Geldmünze, steekt es wieder ein und bringt ein Stück Bindfaden zum Yorschein, an dem er nun herumknotet und herumbastelt. Unterdessen fallt ihm der Ausspruch eines Franzosen ein: wenn man ihn beschuldigen würde, den Eiffelturm gestohlen zu haben, so brachte er sich zunachst einmal durch die Flucht in Sicherheit. Und was hatte er, Alois Spacil, getan? Justament das Gegenteil davon! Warum um alles in der Welt war er hergekommen? Hatte er das nötig gehabt? Sein Kragen wurde ihm zu eng und auch sein Jackett. Er springt auf, knöpft an seinem Jackett, vergisst, dass er es hatte öffnen wollen, und setzt sich wieder, um sofort abermals aufzustehn. Die Sache mit dem Eiffelturm ist ihm in alle Glieder gefahren. Der Beamte arbeitete an einem Aktenstück und behielt den Mann dabei scharf im Auge. Immer wenn er hochsprang, teilte sich diese Bewegung dem Kommissar als kaum wahrnehmbarer Ruck in den Schultern mit: wenn er etwa gehn wollte — das kam gar nicht mehr in Betracht. Einen guten, einen soliden Eindruck machte der da auf seinem Stuhl nicht. Nun, man musste abwarten, bis das Madel, die Deutsch, kam. Aber mehr und mehr kam dem Kommissar dieser Mensch vor wie einer von denen, deren Leben bisher vielleicht gerade noch die Mitte gehalten hatte zwischen Gefangnis und Irrenanstalt. Jetzt putzte sich Spacil mit Trompetenton die Nase in ein graublaues Taschentuch und wischte sich dann den schwitzenden Hals und die feuchten Haare. Er tat es völlig geistesabwesend, und es war so nicht seine Gewohnheit. „Schweinerei, aber das hat man ja oft bei Geistesgestörten", dachte der Kommissar. Er steilte das eher erfreut fest, wie sich ein Arzt an dem Nachweis einer Metastasenbildung freut, wenn sie seine Diagnose bestatigt. Recht haben ist eben für die meisten Menschen von absolut primarer Bedeutung. Alois Spacil sass nun sehr apathisch da und rührte sich nicht. Uber den Regungslosen fiel gerade die Erinnerung an all das her, was er je über Justizirrtümer gehort und gelesen hatte. „Das dauert ja endlos lang!" stöhnte er, „wohnt die Person denn weit von hier?" Der Beamte sortierte ein Aktenstück, heftete erst zwei Blatter mit einer Klammer zusammen und antwortete dann: „Sie müsste eigentlich schon hier sein!" In diesem Moment trat mit neugierigem Misstrauen, aber keineswegs unsicher, Johanna ein. Wie eine kleine Katze auf der Lauer setzte sie die Füsse zögernd im Kreuzschritt auf. Zwischen Trotz, Angst und Selbstbewusstsein lachelte sie dem Beamten, der das Verhör leitete, zu, und wenn er auch nicht zurücklachelte, so ging doch sein Gesicht in eine freundliche Breite wider Willen. Spacil sass, von Johanna nicht bemerkt, in seinem Winkel. Auch er beachtete Johanna zuerst gar nicht, es kam ihm nicht in den Sinn, dass dieses Kind etwas mit jener Affare zu tun haben konnte. Und als der Beamte sie mit vollem Namen ansprach, glaubte er immer noch nicht, was er sah: ein kleines, schmachtiges Kind — und das — das sollte Johanna Deutsch sein?! „Treten Sie naher, Fraulein Johanna", forderte der Beamte sie auf, „so, hierher...." Gerade wollte er sie bitten, sich doch den Herrn dort in der Ecke anzusehen, ob sie ihn kenne, da wandte sie sich schon von selbst Spacil zu; denn Spacil hatte laut herausgelacht, ein schrilles, unnatürliches Lachen, das mit Heiterkeit so wenig zu tun hatte wie dieses Madel mit der Heldin seines Zeitungsromans. Wie.... dieses dünne, unansehnliche Ding, dieses Krepierl, war Johanna Deutsch?! Johannas kleines Gesicht hatte alle Farbe verloren. Es wurde gelblichfahl bis in die Lippen. Sie hatte keinen Bliek mehr für den Kommissar, sie schien nichts mehr von sich und der Welt zu wissen. Ihre Augen hingen an Alois Spacil. Ein paarmal fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, strich die Mütze vom Kopf, als sei sie zu schwer. Sie murmel te einen unverstandlichen Laut, der „Du' heissen oder ein Kosename sein konnte, es war nicht zu unterscheiden. „Kennen Sie den Herrn?" fragte der Beamte und beobachtete beide scharf. Ihre Blicke tranken sich an dem verzerrten Gesicht Spacils fest. Langsam nickte sie und sagte mit rauher Stimme: „Ja." Spacil stürzte nach vorn, schlug mehrmals auf den Tisch und brüllte Johanna an: „Wie kannst du niedertrachtiger Fratz das behaupten?!" Sie begriff nicht, hauchte ein „wie bitte?" und hatte nur das unklare Gefühl, der Fussboden steige senkreclit in die Höhe. Sie klammerte sich am Tisch fest. Was war denn? Da vor ihr stand doch Er. Endlich war er gekommen, sie aus aller Not zu befreien, zu erretten. Und in dieses Glück, diese Seligkeit hinein schrie eine sich überschlagende Falsettstimme: „Wie kannst du niedertrachtiger Fratz das behaupten?" Dazu trommelte jemand dröhnend auf den Tisch. Sie schloss sekundenlang die Augen. Florian, der Heilige Thaddaus, der Ewige Geliebte, zu einem strahlend schonen Gesicht vereint, zogen an ihr vorbei, und als sie die Augen wieder öffnete, stand vor ihr die Daumierfigur mit dem Birnenkopf, den bebenden Zügen — stand vor ihr unbarmherzig und unerbittlich die banale Realitat. „Lügner! Lügner! Verrater!" schrie sie ihn an, und sie meinte damit nicht ihn, ihn am wenigsten, sondern ein Unfassbares, Bösartiges, das sich ihrer bemachtigt hatte, Herr über sie wurde: sie wiitete gegen ihren Todfeind, die Wirklichkeit. „Also, Sie geben an, dass Sie den Herrn kennen?" griff die niichterne Stimme des Kommissars in diesen Aufruhr des Kindes ein. „ Ja", wiederholte sie kalt und betrachtete den Tobenden jetzt ganz wach und mit wachsender Geringschatzung. In ihren Augen war er wirklich so etwas wie ein Betrüger, einer, der nicht hielt, was sie sich von ihm versprochen hatte. „Aber ich hab das Madel nie im Leben auch nur gesehen!" keuchte Spacil und zerknüllte seine mitgebrachte Zeitung vor Wut. Mit einer Handbewegung hiess ihn der Beamte schweigen und fragte weiter: „Wo haben Sie den Herrn kennen gelernt?" „In der Strassenbahnlinie J —" kam rasch ihre Ant- wort. „Benützen Sie die Strassenbahnlinie J?" verhörte der Kommissar nun Herrn Spacil. „Ja.... jeden Morgen aber ich geb Ihnen mein Ehren- wort...." „Das genügt!" unterbrach der Kommissar, „Sie geben also zu, dass Sie jeden Morgen den J-Wagen benützen. Seit wann fahren Sie diese Strecke, und um welche Zeit steigen Sie morgens immer ein?" „Seit vier Monaten nehme ich jeden Morgen um 7 Uhr 45 den J-Wagen." „Genau zur selben Zeit steigt nachgewiesenermassen auch Johanna Deutsch in den J-Wagen, um zur Schule zu fahren. Und Sie behaupten trotzdem, Sie haben Johanna Deutsch nie im Leben gesehen?" „Herr Kommissar!" es sah aus, als wolle Spacil sich auf ihn stürzen, „ich behaupte es nicht — sondern es ist so. Ich habe diese Person noch nie zuvor auch nur bemerkt!" Der Beamte notierte das und meinte achselzuckend: „Sie können schliesslich nicht verlangen, dass wir Ihnen das so ohne weiteres glauben!" „Sie haben mich hier nicht als Lügner herzustellen, hören Sie?!" kreischte nun Spacil, packte einen Stuhl, der beim Tisch stand, hob ihn hoch und steilte ihn krachend wieder zu Boden, „was ich sag, ist die reine Wahrheit!" „Entweder Sie benehmen sich hier anstandig", warnte der Kommissar, „oder ich muss Sie abführen lassen." „Abführen — mich?" und Spacil sank, obwohl er stehn blieb, in sich zusammen, als packe ihn das Wort allein schon wie eine Faust im Nacken. Der Beamte betrachteteihnnachdenklich: dieser Mann benahm sich wirklich unbeschreiblich verdachtig, so verdachtig, wie sich eigentlich nur Unschuldige benehmen. „Also der Herr will Sie gar nicht kennen", wandte er sich an Johanna, in einem Ton, dem alle ihm verfügbare Sanftmut beigegeben war und auch etwas Wohlwollen, „was haben Sie uns dazu zu sagen?" Mit belegter, heiserer Stimme antwortete sie: „Alles, was Sie schon wissen, Herr Oberkommissar. Ich habe den Herrn in der Strassenbahn kennen gelernt. Er hat mich lange Zeit beobachtet und sich spater mit mir verabredet." Johanna wusste nun, dass sie nicht die Wahrheit sprach. Aber es gab keinen andern Ausweg mehr für sie. Sie verteidigte Schritt für Schritt ihren letzten Besitz: das Andenken an etwas Grosses, Wunderbares. Dass Spacil damit nichts mehr zu tun hatte, erfüllte sie nur mit tiefer Yerachtung für ihn. Er hatte versagt. Er war nicht, der ihm bestimmt gewesen, zu sein. Ihm opferte sie in gar keinem Fall die Erinnerung an das Grosse. Spacil griff sich mit beiden Handen an den Kopf: „Und demnach soll ich mit dir in Grinzing....?" 5» Ja. Ja. Ja , sprach Johanna und bekraftigte jedes „ja" mit ihrem kleinen, kurzen Kopfknicken, „und demnach waren Sie mit mir in einem Gasthof in Grinzing über Nacht." „Ja.... bist du denn wahnsinnig?!" brachte Spacil mit versagender Stimme hervor, „Herr Inspektor, ich bitte um einen Lokalaugenschein. Das Gasthaus möchte ich sehn, wo ich mit dem Madel da abgestiegen bin —" und in gehassiger Ironie wandte er sich zu Johanna: „du hast natürlich den Namen vergessen! Wie solist du ihn dir auch gemerkt haben, wo es das Gasthaus gar nicht gibt!" „Nein, ich weiss den Namen nicht", erwiderte sie leise und sah den Kommissar hilfeflehend an, „auf sowas.... achtet man.... doch da nicht...." Mit offenstehendem Mund betrachtete Spacil diese Lügnerin. Es gab keine andere Erklarung als die, dass diese Person irrsinnig war. „Herr Inspektor", zum erstenmal redete er einigermassen ruhig, „ersparen wir uns alles Weitere und gehn wir zum nachsten Irrenarzt — auf meine Verantwortung, bitte schön, und auf meine Rechnung!' „Wie feige Sie sind! Pfui!" sagte Johanna in stiller Yerachtung. „Auf den Steinhof kommst du, wo du hingehörst", verhiess er ihr giftig. „Erbarmlich feige", wiederholte sie mit noch grösserer Ruhe, „übrigens können Sie mir jetzt wieder „Sie" sagen." Damit wollte Johanna eine Trennung anzeigen, die sich innerlich in dieser Stunde restlos vollzogen hatte. Denn Alois Spacil loste sich mit jeder Geste, mit jedem Wort, mit der ganzen Art, wie er ging und stand und aussah, immer mehr von dem Dasein los, das er in Johannas Phantasie geführt hatte. Die Maske, aus Wunsch und Traum gemacht und ihm übergestülpt, war geschmolzen. Ein belangloses Gesicht, eine unscheinbare Existenz zeigten sich darunter in ihrer ganzen Armseligkeit. Johanna empfindet hier genau, wie auch Menschen von minderer Einbildungskraft empfinden: wenn die Wirklichkeit sich nicht dazu hergeben will, sich ein Ideal anmessen zu lassen, wie ein Paar Schuhe, so wird Anklage wider sie erhoben, und ihr Sündenregister umfasst die ganze Skala von „Enttauschung" bis hinauf zu „Yerrat'. Und auch Johanna ist eine von der Realitat Hintergangene, Betrogene. Mit hasserfüllter Yerachtung sieht sie auf Alois Spacil. Dieser Mensch war nicht einmal gestreift worden von dem Erhabenen, mit dem sie ihn umgeben hatte — er war zu einer Gottheit gemacht worden und war so tief unten geblieben, wie sie ihn jetzt vor sich sah. Sie hatte ihn geliebt mit aller Innigkeit, die es jemals in der Welt gab, und er war darüber hinweg in seinen schabigen Alltag geschriften. Dieser Elende zog nicht vor, hier unter Johannas Augen lieber in Staub und Asche zu zerfallen — oder zu sterben wenigstens — als sich so zu erniedrigen, sich so vor ihr zu zeigen, wie er war. Er hatte nicht einmal genügend Anstand, ihr diesen blamabeln Anblick eines Entthronten zu ersparen! Dieser Mensch war das Erbarmlichste auf der ganzen Erdenwelt! „Sie können mir jetzt und alle Zeit wieder „Sie" sagen , wiederholte sie noch einmal eisig. „Herr Kommissar", jede Silbe kostete den wutbebenden Spacil gewaltige Anstrengung, „ich gebe zu Protokoll, dass es in keinem Fall als Intimitat aufzufassen 21 ist, wenn ich der Person hier „du" sagte. Ich habe sie vor dieser Stuiide weder geduzt noch gesiezt." Wie ordinar er nur redete! Johanna machte eine iustinktive Bewegung, um sich die Ohren zuzuhalten. Sie konnte es nicht mehr aushalten, wie er sich immer noch mehr herabwürdigte. Wie Schamlosigkeit kam ihr sein Beginnen vor, einem ganz grossen, wundervollen Erlebnis so etwas Idiotisches und Plattes wie seine Berichtigungen, die lacherliche Wahrheit, nichts als die stupide Wahrheit gegenüberzustellen! Schon für diese Schandung allein verdiente er eine hohe Strafe! „Schauen Sie mich nicht so an!" heulte Spacil jetzt geradezu los, „Herr Kommissar, sehen Sie denn nicht, dass wir es hier mit einer pathologischen Lügnerin zu tun haben? Die Person ist doch geisteskrank!" „Das können Sie und ich nicht beurteilen", erwiderte der Beamte, griff unauffallig unter die Tischplatte, wo ein Klingelknopf befestigt ist. Ebenso unauffallig öffnete sich die Tür vom Nebenzimmer, ein Wachmann trat ein und nahm an der Ausgangstür zum Korridor Aufstellung. „Es tut mir leid", sagte der Kommissar geschaftsmassig und ohne von seinem Schriftstück aufzusehn, „aber Sie mussen nun hier zu unserer Yerfügung bleiben. Ob Sie heute Nacht nach Hause gehn können, weiss ich nicht." Alles Blut wich aus Spacils Gesicht und schoss ihm sofort wieder hoch, bis in die Stirn, bis in die Ohren. Und die Augen traten ihm vor Entsetzen aus dem Kopf. Der Unterkiefer klaffte ihm herunter, seine Mundwinkel wurden feucht. Aus seiner Kehle kam kein Laut. Wie ein Automat kam von der Tür her der Wachmann auf ihn zu und fragte in diskretem, gedampftem Ton: „Haben Sie Rasierklingen, Taschenspiegel, Messer, Uhr bei sich? Das müssen Sie jetzt abliefern...." Spacils Haltung war immer alles andere eher als forsch; aber jetzt schien er in seinen Kleidern zu hangen und seine Kleider wie Lumpen an ihm. Der ganze Mann war ein Bündel, und sogar der Kommissar sah geflissentlich an ihm vorbei, entweder weil Spacil ihm leid tat oder weil er fürchtete, angesichts soviel Tragikomik nicht ernst bleiben zu können. „Verhaftet....", sagte Spacil; aber er musste ein paarmal ansetzen, ehe er das Wort herausbrachte, „verhaftet.... als ein unbescholtener.... ein nie vorbestrafter Mensch.... einfach verhaftet...." „Keineswegs", widersprach der Kommissar, „von Verhaftung war hier nicht die Rede. Sie sind nur angehalten. Und nun beeilen Sie sich bitte!" Aber Spacil begriff nichts mehr, auch nicht, dass man ihn zur Eile aufforderte, sondern er sackte auf seinem Stuhl zusammen. Als der Wachmann zusprang, in der Annahme, Spacil falie um, missverstand der Fassungslose diese Bewegung. Es kam wieder Leben in ihn. Wie eine Natter fuhr er hoch und schrie: „Rühren Sie mich nicht an! Keiner rührt mich an! Ich gehe von selbst.... jawohl.... ich gehe.... aber ich habe Gönner und.... und Protektion...." Spacil wusste kaum noch, was er sagte, „und dabei.... dabei bin ich.... unaufgefordert und von selbst.... hergekommen! Yon selbst! Wo Sie.... ihn.... mich.... wo Sie den Yerbrecher seit zwei Wochen vergeblich suchen!" „ Ja — warum Sie vorgezogen haben, selbst herzukommen, kann ich nicht übersehen", meinte der Beamte. „Sie können es nicht übersehen...." murmelte Spacil wie von Sinnen und ganz einfaltig vor sich hin, um dann wieder loszubrechen: „Aber Sie werden es noch zu spüren bekommen, dass Sie sich an einem Unschuldigen vergehen!" Nun verlor auch der Kommissar einiges von seiner Geduld; „Lassen Sie Ihre Drohungen und folgen Sie endlich dem Beamten! Hier geschieht nichts Gesetzwidriges." „Das ist aber gesetzwidrig! Das ist Yerhöhnung eines Rechtsstaates!" schreit Spacil. „Ich will das eben nicht gehort haben, Herr! ' ruft ihm der Kommissar zu, „aber hüten Sie sich mit Ihren Ausserungen, dass wir nicht gezwungen sind, Sie ganz anders anzufassen!' „Anders anfassen?" brüllte Spacil mit hoher, heiserer Stimme, „schlagen wollen Sie mich? Sind wir hier in Wien oder.... oder.... sind wir im finstersten Mittelalter.... schlagen wollen Sie mich — foltern — aber ich gestehe nichts! Nichts! Gar nichts! Kein Wort werden Sie aus mir herausbekommen!' Sowohl der Kommissar als auch der Wachmann waren nun fest überzeugt, einen Tobsüchtigen vor sich zu haben. Spacil hat auch tatsachlich einen derartigen Wutanfall, der von echter Tobsucht kaum zu unterscheiden ist. „Ich gehe — ja — aber vorher schlage ich hier noch alles zusammen kreischte er, „kein Sessel bleibt ganz...." Er packt einen Stuhl, geht mit schlotternden Knien damit auf die Fenster los, unendlich jammerlich in seinem Tatendrang, in den ihn etwas hineingeschleudert hat, was mit seinem Willen in keinerlei Verbindung mehr steht. Aus dem Nebenzimmer trcten zwei Polizisten zur Verstarkung ein. Als sie auf einen Wink des Kommissars zu dem Rasenden hiniiber gehen, entfallt diesem der hocherliobene Stuhl, geht polternd auf den Boden nieder, und Spacil selbst knickt so zusammen, dass er wirklich gefallen ware, hatten ihn die Wachleute nicht rechts und links gestützt. Er war nur noch ein Bundel, das aber, als es an Johanna vorbeigeführt wurde, ganz plötzlich in eine übermassig steife, unnatiirliche Haltung hineinschoss und mit ebenso unnatürlicher Stimme verkündete: „Ich gebe eidesstattlich zu Protokoll: mein Fraulein, ich kenne Sie nicht!" Johanna wurde einen Moment lang heiss und kalt. Aber nur einen kurzen Moment. Dann zuckte sie die Schultern, schüttelte den jahen Schauder ab. Sie war bisher dem ganzen Vor gang mit keinen andern Gefühlen als mit wacher, gespannter Neugier gefolgt, fast mit Genugtuung. Dieser Mann verdiente die höchste Strafe; denn er hatte sie mit der Wirklichkeit hintergangen. Auge und Ohr des Kommissars schienen vielerlei auf einmal auffassen zu können. Nichts von dem, was Johanna und Spacil sprachen, wie sie sich benahmen, entging ihm. Bei Johanna war ihm schon beim ersten Verhör auf gefallen, dass sie so manches nicht tat, was die kleinen Sünderinnen hier für gewöhnlich aufführten. Keine Tranen. Keine Reue. Nicht einmal Scham. Zuerst war ihm das befremdlich erschienen; jetzt aber kannte er sich schon genügend in ihr aus, um zu wissen: so war sie nun. Auch jetzt, als Spacil abgeführt wurde, kam kein Ausbruch.DieSpureinesSchreckens, vielleicht mehr Staunen, fand sich wohl in ihrem Gesicht, aber keineswegs das sonst im Moment der Ver- haftung übliche spontane Nachstürzenwollen, das selbst Frauen fortriss, die vom Mann hatten Verrat und Misshandlung erdulden müssen. Nichts davon bei Johanna. Dagegen platzte sie mit der verblüffenden Frage heraus: „Haben Sie je schon so einen elenden Feigling gesehen, Herr Kommissar? Nie im Leben schau ich den wieder an!" Erst in diesen paar Minuten hörte das geübte Ohr des Beamten etwas heraus, was dem ganzen Fall ein anderes Geprage gab. Wenn dieser Spacil der Liebhaber war, dann hatte er sich schabig im höchsten Grade gegen das Madel benommen. Ein derartiges Verhalten war dem Beamten nichts neues. Das kam bei Liebschaften, die in irgend einem Stadium durch ein Polizeikommissariat führten, öfter vor. Daran und an alle Arten absurden Verhaltens der verratenen und sitzengelassenen Madels war man hier gewöhnt. Hier endete oft, was als Liebe begonnen hatte, in tierischem Hass und Rachedurst. Hier war schon alles Mögliche in dieser Richtung geschehen. Nur das eine nicht, dass ein vierzehnjahriges Ding mit solcher Ruhe hinnahm, wie der Liebste abgeführt wurde, all dem mit theatralischer Verachtung zuschaute, um sich lediglich hoheitsvoll und indigniert darüber zu unterhalten. Diese Gefasstheit brachte kein Madel auf, am wenigsten, wenn es sich um den Ersten handelte. Schweigen, Starre, irgend etwas Gestottertes war zu erwarten, aber nicht dieses flüssige Geplauder. Das gab es in diesem Fall gar nicht. Das war unecht. Das Schweigen des Kommissars beunruhigte Johanna nicht im mindesten. Es kam ihr ganz natürlich vor, dass er ihr zusah, zuhörte. Hier war sie immerhin noch lieber als zu Hause. In der Hoffnung, er werde ihr widersprechen, fragte sie ihn zögernd von der Tür her: „Ich kann nun wohl wieder gehn?" „Gleich. Aber kommen Sie doch noch einmal her." Johanna gehorchte, bereitwillig. „Setzen Sie sich!" Das war allerdings ein knapper, kurzer Beamtenton, der Johanna nicht angenehm war. Sie fasste den Stuhl darum auch nur an, kippte ihn hin und her und steilte ihn mit einem Ruck wieder hin: „Lieber nicht!" Dabei sah sie den Beamten unvermittelt voll an, „ich möchte jetzt doch lieber nach Hause gehn." „Wir müssen uns aber noch eine Weile unterhalten, Fraulein Johanna. Ich muss Ihnen namlich sagen, dass ich Ihnen seit fünf Minuten kein einziges Wort mehr glaube." „Mir?! Ach!" Sie war durchaus nicht beleidigt, nicht einmal beunruhigt; sie schien lediglich erstaunt, sah den Mann mit grossen, völlig schuldlosen Augen an. „Ja. Ihnen. Sie kennen namlich den Herrn da —" er schaute unmerklich in die Akten nach dem Namen, „den Herrn Spacil wirklich nicht, Sie kennen ihn nur vom Sehen." „Darauf sind Sie wohl gekommen, weil er sich hier so grossartig benommen hat?" Sie fuhr, wahrend sie redete, mit ihrem Finger um das Tintenfass herum und betrachtete interessiert und vorwurfsvoll die Staubschicht auf ihrem Zeigefinger. „Nein, sondern weil Sie sich so grossartig benommen haben, nicht geweint, nicht einmal geschwiegen, als der Geliebte abgeführt worden war." „Er ist ja nun nicht mehr mein Geliebter." „Möglich; aber so im Nu und so heldenhaft geht so etwas nicht vor sich. Höchstens auf dem Theater. Hier bei uns kommt so etwas nicht vor." „Dann aber eben bei mir. Leider habe ich erst hier erkannt, dass der Mann meine Liebe nicht wert ist. Nun nicht mehr." „Alles Kino, Fraulein Johanna, aber keine Spur von Liebe. Liebe ist ganz etwas anderes. An dieser Sache ist kein einziges wahres Wort. Und ich rate Ihnen in Ihrem eigensten Interesse, die Wahrheit zu sagen." „Die wissen Sie ja schon", entgegnete sie, bereits ein wenig ungeduldig, „ich habe mich ja nicht dazu gedrangt, sie Ihnen zu erzahlen. Und etwas anderes kann ich Ihnen leider nicht sagen." „Gut", sagte der Kommissar und schraubte das Tintenfass energisch zu, „da Sie dabei bleiben, Herr Spacil war Ihr Geliebter, und da er es bestreitet, müssen wir die Entscheidung dem Arzt überlassen." „Dem Arzt? Welchem Arzt?" Zum erstenmal war Johannas Fassung erschüttert. „Ein Arzt, der uns Klarheit verschaf ft, ob Sie tatsachlich einen Geliebten hatten", sagte der Kommissar, und er hatte die Hand schon am Telefon, „am besten ists, ich veranlasse Ihre Untersuchung sofort." „Nein!" Johanna wich zurück, „nein! Dazu werde ich nie meine Einwilligung geben!" „Das wird Ihnen gar nichts nützen. Wenn wir die Untersuchung bestimmen, findet sie statt. Warum wehren Sie sich denn dagegen?" „Weil.... weil mir das doch entsetzlich peinlich ware —" stotterte Johanna. „Na, na, na, wenn Ihnen das Gasthaus in Grinzing nicht peinlich war, verstehe ich eigentlich nicht, was das jetzt mit Gêne zu tun haben soll. Ein Arzt ist schliesslich ein Arzt. Also —" hier schaltete er eine kleine abwartende Pause ein, „am besten, wir haben das so sehnell wie möglich hinter uns." Noch immer war seine Hand am Telefon. „Nein! Bitte nicht!" Sie trat jetzt ganz nahe an den Tisch heran und schaute doch an dem Beamten vorbei, „bitte! rufen Sie nicht an!" „Gut", erwiderte er mit freundlicher Geduld, „was wollen Sie mir denn vorher noch sagen?" „Ich?" tat sie überrascht, und schon war auch wieder der schuldlose Bliek da, „gar nichts." „Friiulein Johanna! Jetzt hören Sie einmal gut zu! Wissen Sie denn, was dem Mann, dem Spacil, bevorsteht, wenn Sie bei Ihrer Aussage bleiben? Sie sind die einzige Zeugin. Ich persönlich glaube Ihnen kein Wort mehr; aber wenn man sich bei einer Verhandlung auf Ihre Aussage stiitzt, kriegt der Mann ein bis zwei Jahre Gefangnis. Wissen Sie, was das heisst? Damit ist einer zugrundegerichtet!" Johanna wir ft einen merkwürdig unsicheren Bliek zur Tür, hinter der Spacil verschwunden ist. Ihr Gesicht wirkt sehr fahl und spitz. Sie macht keinen Versuch mehr, zu widersprechen. Das eine Wort „zugrundegerichtet' hat sie gepackt. Es ist ein büses, ein unerbittliches Wort. „Soll ich Ihnen einmal sagen, wie ich mir Ihre ganze Geschichte da vorstelle", beginnt der Kommissar wieder, „also zunachst war da nur ein bisschen Geschwatz und Wichtigtuerei bei den Schulkameradinnen — eine hat da immer mehr Verehrer als die andere, na, und Sie wollten halt die andern ausstechen. Das Ubrige kam dann von ganz allein hinterher. Stimmts?" Johanna schwieg, drehte aus ihrem Taschentuch eine Wurst, glattete es wieder und machte daraus eine Maus — als ware sie in der Schule. „Hinter dem Herrn Spac.il, den ich da eben habe abführen lassen, hinter dem waren Sie extra noch so ein bissel her...." Eine heftige Abwehrgeste Johannas veranlasste ihn zu einer dezenteren Version: „Geschwarmt haben Sie halt für ihn...." Hier aber begehrte Johanna auf und widersprach mit grosser Betonung: „Nein! Ich habe ihn geliebt! Obwohl es mir jetzt völlig unverstandlich ist." „Also schön — natürlich. Geliebt haben Sie ihn. Aber er selber, der Herr Spacil, hat doch keine Ahnung davon gehabt. Nicht wahr?" Johanna schaute zu Boden, dann blinzelte sie zu dem Kommissar hin, riss ihre Taschentuchmaus an den Ohren, sah wieder zu dem Kommissar, diesmal schon mit einem kleinen, halbdreisten Lacheln, und als er abermals fragte: „Stimmts?" gluckste sie ihr eigenartiges Lachen in sich hinein und sagte leise: „Ja." Der Beamte atmete auf. Er war auf hartnackigeren Widerstand gefasst gewesen. Auch dieses plötzliche Umfallen war eigenartig, war ohne Reue, fast noch selbstbewusst. „Sagen Sie einmal, haben Sie sich denn nicht einen Augenblick überlegt, dass Sie mit solch einem Schwindel Ihrer Familie und sich selbst den guten Ruf abgraben — eine ganze Schule ins Gerede bringen und einen unbescholtenen Mann ins Unglück stürzen?" „Nein. Wirklich nicht. Ich hatte gar keine Zeit, das zu überlegen", versuchte sie eine Erklarung, „Sie müssen das doch verstehen: auch wenn alles nicht wahr ist.... passiert ist es doch. Ich habe den Mann wirklich ge- liebt. Ich musste ihn lieben. Sonst ware ich zu Hause und in der Schule erstickt. Und als dieser Mann dann in mein Leben trat, war alles mit einemmal ganz anders. Ich weiss ja, dass es nicht wahr ist — aber erlebt habe ich es doch —" Der Kommissar liess diesen Erguss ratlos, manchmal auch mit Unbehagen über sich ergehn. Er konnte damit nichts Rechtes anfangen. „Gestandnisproblem" und „seelisches Erlebnis der Tat" — darüber wurden den Kommissaren manchmal Yortrage gehalten, die zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus gingen. Das waren Theorien, ein richtiger Kriminalist hatte das im Griff und brauchte keine Theorien. Erfahrung war alles, und einzig sie hatte ihn heute so rasch zum Ziel geführt. „Die Hauptsache für alle Beteiligten ist ja nun wohl, dass, wenn Sie es schon erlebt haben, der Herr Spacil es eben nicht erlebt hat", meinte er befriedigt, lautete wieder und befahl, Herrn Spacil hereinzuführen. johanna zuckte ein wenig zusammen, sah aber mit erhobenem Kopf zur Tür. In ihrem farblosen kleinen Gesicht arbeitete es heftig. Die Augendeckel flogen. Spacil trat ein und schritt an Johanna vorüber, als sei sie nicht vorhanden. „Herr Spacil", sprach der Kommissar, „die ganze Sache hat sich aufgeklart. Fraulein Johanna will sich bei Ihnen entschuldigen." „ Ja", sagte Johanna leise und stand da wie ein braves kleines Schulmadchen vor der Frau Direktor, ihre grossen, klugen Augen glitten vom einen zum andern. „Also — also es hat sich meine gesamte Unschuld herausgestellt?" keuchte Spacil. „Ihre gesamte Unschuld", bestatigte der Kommissar, und er hatte beim Anblick dieser Figur Spacil gegen ein Lachen anzukampfen, „Fraulein Johanna liat uns da ein bisschen Kino vorgemacht. Wenn Sie aber wieder einmal nicht wissen, wohin mit sich, Fraulein Johanna, gehn Sie lieber gleich zum Burgtheater als zu uns." „Theater nennen Sie das!" rief Spacil grimmig, „schönes Theater! Alle Madeln, die ich je gekannt habe, haben mir zusammen nicht soviel zu schaffen gemacht und so mitgespielt wie diese da, die ich nie zuvor gesehn habe!" Nach Erledigung einiger Formalitaten waren die beiden entlassen. Mit hangendem Kopf ging Johanna neben Spacil die Treppe hinunter. Sie fand aber doch Zeit, ihn von der Seite her auf den Grad seines Zornes hin zu kontrollieren. In ihm wogte noch die Aufregung, und vor der Tür blieb er stehn und sog die frische Luft und mit ihr die wiedererlangte Freiheit ein. Ganz instinktiv blieb Johanna neben ihm stehen. Gerade wollte er sie anherrschen, sie solle sich nun schleunigst zum Teufel scheren, als er sie zum erstenmal bewusst und wirklich anschaute. Was für ein sonderbares Geschöpf zwischen schön und hasslich stand da vor ihm! „Ich möchte mich wirklich vielmals bei Ihnen entschuldigen", redete es nun mit einer sonderbaren Stimme zu ihm, einer Stimme wie das ganze Wesen: spröd und weich, rauh und doch singend. „Es war so etwas wie eine fixe Idee von mir.' Viel mehr als von dem, was sie sagte, wurde er festgehalten von der Art, wie sie es sagte, von ihrer Stimme, ihrem Ausdruck. „Ich glaube eher, dass der Kommissar recht hat: du hast etwas von einer Schauspielerin!" Er steilte es mit -svirklicher Uberraschung fest. Johanna hob den Kopf wie ein Zirkuspferd, das den Einsatz seines Musikstückes hört. .,Das sagen mir alle", sprudelt es aus ihr heraus. „Und du?" Spacil betrachtet sie sehr aufmerksam, „findest du es auch?" Sie nickt aufgeregt und wortlos. „Hör einmal! Wenn du mir versprichst, mich nie wieder im Leben zu lieben, aber nie wieder — verstehst du?! — wenn du mir das versprichst, kann ich einmal sehn, ob du dich nicht zu etwas anderem eignest — zum Theater namlich." „Nie wieder!" sie redet rasch, iiberstürzt, wie im Fieber, „nie wieder! Ich will Sie in meinem ganzen Leben nicht mehr anschauen. Ich schwöre es. Aber bringen Sie mich zum Theater!" Es war ein heisses Flehen in ihrer Stimme, eine wilde Begierde in ihrem Gesicht, und ihr Haar schien Flammen zu werf en. Was für eine verrückte kleine Person! „Was ich tun kann, will ich versuchen. Es wird nur davon abhangen, was du kannst! Komm einmal Freitag zwischen zwölf und ein Uhr ins Kronprinz-Rudolph-Theater und frage nach mir." Lange sprach Johanna gar nichts, sah ihn nur mit den ernsten, schuldlosen und doch ein wenig verlogenen Augen an. Da reichte er ihr die Hand. Leise, wie im Trancezustand, sagte sie statt einer Yerabschiedung: „Zwischen zwölf und eins." Die Skandalaffare Johanna Deutsch verschwand von der ersten Seite aller Zeitungen, verschwand aus den Zeitungen überhaupt und wechselte hinüber in die Witzblatter. Alois Spacil wurde hier stilgerecht als Amphitryon gewandet, und es wurde ihm nur ein nicht stilgerechter, dafür aber unmissverstandlich hochgebürsteter Schnurrbart beigegeben. Johanna wurde die „Geliebte des Radetzkymarsches" genannt, und dann wurde diese Angelegenheit auch in den Witzblattern von anderem überholt. Eine Weile erschienen noch Aufsatze von namhaften Psychiatern über den „Fall Deutsch", und es kam auch ihretwegen noch zu einem vielbesprochenen Auftritt zwischen zwei Redakteuren. Jeder von ihnen wollte es „gleich gesagt haben, sie missgönnten sich diesen kaum noch feststellbaren Ruhm, beschimpften sich und boten sich Ohrfeigen an. Das war erneut Unterhaltungsstoff für die Wiener, obwohl die beiden Gegner schon wieder im Café Parsifal eintrachtig beisammen sassen in Erwartung spaterer Streitigkeiten; denn nirgends auf der Welt wird das Gebot „liebet eure Feinde" mehr beherzigt als in Wien. Wen sonst sollte man, besonders im Wiener Zeitungsmilieu, lieben, wenn nicht seine Feinde? Da doch jeder Freund ein gewesener Feind odër mindestens ein künftiger ist? Sehr bald nachdem sich die Angelegenheit aufgeklart hatte, beschied Frau Direktor Bergmann Herrn Deutsch zu sich, erklarte sich bereit, Johanna wieder zum Schulunterricht zuzulassen unter der Bedingung, dass man dem Madchen zu Hause keinerlei Szenen und Yorhaltungen mache, sondern die endgültige Beilegung des Falies ihr, Frau Direktor Bergmann, überlasse. Johanna fuhr also wieder zur Schule. Da sass sie wieder in der Trambahn unter dem Schild „Kaffee Hag" wm schont Ihr Herz", ganz, als habe sich inzwischen nicht das mindeste ereignet. Nur Herr Spacil war nicht mehr unter den Fahrgasten. Herr Spacil hatte, für alle Falie, vorgezogen, sich ein Fahrrad zu kaufen. Es wird noch eine gute Weile dauern, bis er das Radfahren erlernt hat. Bis dahin benutzt er eine andere Strassenbahnlinie, um sein Büro zu erreichen. Johanna fehlt er nicht, obwohl sie unausgesetzt an ihn denkt. Aber ihre Phantasie hat ihm langst schon wieder einen andern Platz, eine andere Rolle in ihrem Leben zugewiesen. Yon ihrem Geliebten hatte er sich in eine sehr hohe und einflussreiche Persönlichkeit verwandelt, deren Bestimmung war, dem Wiener Theaterleben zur höchsten Blüte zu verhelfen. Natürlich durch sie, Johanna Deutsch. Einige Traume waren in Asche zerfallen. Ein neuer erstand. Klein und flackernd züngelten seine ersten Flammen und warmten doch bereits ein frierendes Kind. Als sie aber die Schule betrat, fegte das Wirkliche in seiner ganzen Nüchternheit über sie weg, sie zitterte und schloss die Augen. War das noch ihre Schule? In der sie einmal regiert hatte, ausgestattet mit unerhörter Macht über die Gemüter der Mitschülerinnen? Sie betrat ihr Reich wieder als eine abgesetzte Herrscherin, und das war über die Massen bitter. Fest schloss sie die Augen und zwang vor die Wirklichkeit das Bild eines mit Klubmöbeln ausgestatteten Büros, wo sie sich beim Schein einer gelbseidenen Lampe Spacil gegenüber sieht. Nicht der Spacil, der mit ihr getobt und gebrüllt, nicht der subalterne Klotz, über den sie sich langst hinweggesetzt hat, sondern Spacil, der umfrisierte, der feinsinnige, einflussreiche Wegbereiter. Sein Bild hatte sie auch wieder vor sich wie einen Schutz, als die Frau Direktor vor der Klasse stand und eine ihrer peinlichen Ansprachen hielt. Dass „eine unter euch" dem Angesicht der Scliule die Makellosigkeit genommen, den bis dahin unantastbaren Namen der Anstalt durch alle Zeitungen gezerrt habe, so dass die ganze Welt auf sie, die Frau Direktor, mit Fingern weise. Hier schöpfte sie tief Atem und blickte mit anklagender Eindringlichkeit die Madchen an. Auch ein Nichteingeweihter würde bemerkt haben, dass nur Johanna gemeint sein konnte — so vielsagend und bedeutungsvoll mieden die Augen der Direktorin das Madchen. Nur Johanna selbst, tief versunken in ihre Welt, bemerkte es kaum. Was da teilnahmslos in der zweiten Bank vor der Frau Direktor sass, das war nicht viel mehr als Johannas aussere Hülle. Sie selbst war nicht Johanna, sie war Jane, der künftige Stern am Wiener Theater, und sie sprach gerade Spacil, der hochstehenden Persönlichkeit, die Jungfrau von Orleans vor. „Verdorbenheit der Phantasie!' rief die Frau Direktor, „Gedankensünde.... grossrednerische Wichtigtuerei.... alles das hat hier die Hand im Spiele gehabt. Glücklicherweise ist nichts geschehen, was noch schlimmer, was nie wieder gutzumachen ware. Ich hatte nicht die Hoffnung aufgegeben, dass es sich nur um Aufschneiderei handeln müsse. Es ware ja auch fast ausgeschlossen, dass eine aus unserer Mitte so tief sinken sollte. Was aber bestehn bleibt, ist die abscheuliche Lüge, die Gedankensünde. Und daran seid ihr alle mitschuldig. Ihr habt es euch mitangehört. Keine von euch hatte soviel Vertrauen zu mir oder zu eurer Klassenlehrerin, uns um Rat zu bitten. Womit haben wir das an euch verdient? Will nicht jeder einzelne eurer Lelirer sich über den Lehrplan hinaus mit allen jenen Fragen beschaftigen, die euch bewegen? Taglich werben wir um euer Yertrauen, alles tun wir, um euch wirklich nahe, wirklich Freund zu sein — und das ist nun der Erfolg!" „Ich weiss ein ander Schwert, durch das ich siegen werde", deklamierte Jane, die kiinftige Bühnengrösse, unterdessen vor Spacil, hinter dem plötzlich Leonhard Pfeil auftauchte. „Die Schuldige wird sich mit ausserster Disziplin, mit ausserstem Fleiss in den Rahmen der Schule fügen. Wir wollen ihr jede Gelegenheit geben, gutzumachen." Zum erstenmal wahrend ihrer Ansprache blickte Frau Direktor Bergmann Johanna voll an, und sie erschrak über diesen Ausdruck im Gesicht des Madchens — betaubt und überwach. Dieses Kind, das spürte nun auch sie, war gar nicht vorhanden. Das flog irgendwo herum zwischen Himmel und Erde. Aber in dem Klassenzimmer war sie nicht. Dieses Kind war nicht zu fassen. Die Direktorin rief sie darum auch nicht auf, wie sie vorgehabt hatte. Die Direktorin kam nun sehr rasch, viel rascher, als es urspriinglich ihre Absicht war, zu Ende. Nach der nochmaligen Bitte um Yertrauen, die, ohne Überzeugung vorgebracht, keinerlei Echo bei den Kindern hatte, verliess sie die Klasse. Johanna merkte es gar nicht; denn hinter Alois Spacil, dem Wegbereiter, war Leonhard Pfeil hervorgetreten, kam jetzt auf sie zu.... Unschlüssig drehte Marianne den Zettel um und um, den ihr Johanna heute zu Beginn der Stunde zugesteckt hatte. Er enthielt eine Yerabredung für die 22 grosse Pause. Marianne wusste nicht recht, ob sie gehen sollte oder nicht. In der Klasse mied man Johanna. Nicht so sehr darum, weil man ihren Skandal als solchen empfunden hat, sondern zunachst wohl, weil sie jetzt allen fremd erscheint, irgendwie herausgewachsen. Insgeheim bewundert man sie, sie hat doch in der Zeitung gestanden, und überall spricht man von ihr; aber ein wenig anrüchig erscheint sie ihren Mitschiilerinnen doch. Auch den Lehrern ist sie unangenehm; denn Lehrer haben an sich schon eine gewisse Abneigung gegen Kinder, von denen man spricht. Nur keine Aussergewöhnlichen, nur keine Wunderkinder, und schon eine Schlittschuhlauferin, um die sich Zuschauer scharen, ist ihnen nicht lieb. Solche Schüler durchbrechen immer in irgend einer Form die gottgewollte Ordnung einer Lehranstalt. Eine Schüler in aber, deren Name durch die Zeitungen gegangen war, mit der sich die Behörden beschaftigt hatten, ware ihnen tief unangenehm gewesen, auch wenn es sich um einen viel harmloseren Fall gehandelt haben würde. Der grösste Teil des Lehrpersonals begriff die Frau Direktor nicht, die diesem Kind die Pforten der Schule wieder öffnete. Und da im Verhalten der Lehrer ein gewisses Sichfernhalten zum Ausdruck kam, teilte sich dies der Atmosphare der Klasse mit. Obwohl man doch sonst instinktiv das Gegenteil davon tat, was die Lehrer guthiessen. Diesmal aber folgte man ihnen, weil man gar nicht wusste, wie man über dieses Ereignis hinweg zur Tagesordnung schreiten sollte. Dann kam das Stadium, wo man sich des eigenen Verhaltens genierte und nun erst recht nicht den Weg zu Johanna fand, ob- wohl man es doch ursprünglich gewollt hatte. Aus Bequemlichkeit und Denktragheit ging man aber einem ehrlichen Entschluss aus dem Weg und fand sich bald damit ab, dass es sich immerhin um einen Skandal gehandelt habe und man sich mit Johanna nicht gut sehen lassen könne. Wohl kam einem manchmal zu Bewusstsein, wie feig und schabig dieses Yerhalten war, und gerade das waren die Momente, wo man zur eignen Rechtfertigung wiederum bereit war, sich auf Johannas Yerkommenheit herauszureden. Dieser Strömung konnte sich Marianne natürlich nicht entziehen. Auch sie ging scheu um Johanna herum. Immerhin schürte der Zettel mit der Yerabredung für die grosse Pause ihre Neugier gewaltig. Und so begab sie sich, wenn auch zögernd und unsicher, zu der verabredeten Stelle. Atemlos kam Johanna angerannt: „Du, Marianne! ich bin morgen Mittag ins Kronprinz-Rudolph-Theater bestellt zum Yorsprechen!" In Abwehr verschrankte Marianne die Arme auf dem Rücken und meinte spöttisch: „Warum nicht gar in die Burg?" „Ich sage dir doch", entgegnete Johanna eindringlich, „ins Kronprinz-Rudolph-Theater!" „Hast du noch nicht genug gelogen!" fuhr Marianne los, „und musst du dir ausgerechnet mich aussuchen, um wieder jemandem einen neuen Baren aufzubin- den?" „Ich habe iiüüüüüberhaupt nicht gelogen!" sagte Johanna, keineswegs erregt, und eine riesengrosseTrauer über soviel Verstandnislosigkeit stand in ihren Augen, aber nur eine Sekunde, und schon loderten und lachten sie wieder, „und ich lüge auch jetzt nicht! Wenn dus nicht glaubst, so komm doch einfach mit!" „Ins Kronprinz-Rudolph-Theater?" Marianne lachte, „da geh du nur allein hin und lass dich rauswerfen!" „Rauswerfen! P!" machte Johanna, „ich sage dir doch, ich bin ausdrücklich bestellt. Man wartet da doch schon, dass ich komme." Marianne glaubte noch immer nicht und zeigte keine Lust, erneut auf Johannas Schwindeleien hereinzufallen. „Vielleicht nehmen sie dich dann auch gleich fürs Theater", spielte Johanna ihren letzten Trumpf aus, „steil dir vor, wie das Fraulein Kutschera sich argern würde, wenn du zum Theater gehst." Sie hatte sich nicht verrechnet. Das zog. „Gut", sagte Marianne, „ich will dir ein einziges Mal noch Glauben schenken. Wenn du aber wieder so ordinar lügst, gehe ich schnurstracks zur Frau Direktor und melde es. Dann kommst du namlich nach Steinhof, sagt das Fraulein Kutschera." „Zum Theater komme ich und nicht auf den Steinhof!" rief Johanna und bekraftigte mehrmals durch ihr kleines kurzes Kopfnicken ihre Worte. Schon eine ganze Weile lungerten Johanna und Marianne vorm Kronprinz-Rudolph-Theater herum. Am Bühneneingang stand der Bühnenportier. Auf seinem Gesicht war soviel professionelle Argerbereitschaft angestaut, dass keines der Kinder sich so rasch an ihn heranwagte. Vorerst hatten sie auch eine Unmenge zu sehn. Ein Wagen war vorgefahren, in den Kulissen und Dekorationsstücke eingeladen wurden. Wahrscheinlich wurden sie an ein anderes Theater ausgeliehen oder man lieferte eine Leihgabe zurück. Da wurde ein gemalter Springbrunnen transportiert und dort ein ebenfalls gemalter Falirstuhl. Gleicli hinterher kam ein Arbeiter, der sich mit einem sehr naturgetreuen Galgen abschleppte. War es Zufall oder ein schlechter Witz — das Messingschild aus Pappe mit der Inschrift „Aufzug" baumelte oben am Galgen. Johlen und Gelachter bei den Bühnenarbeitern, als sie es bemerkten. Der Galgen machte ihnen einen Riesenspass, und es dauerte eine Weile, ehe sie weiter arbeiteten, weiter f luchten und weiter schimpften. Fluchen und Schimpfen gehorte hier wohl dazu wie das In-die-Hande-Spucken. So interessant das Zuschauen auch für die Madchen war — deswegen waren sie schliesslich nicht hergekommen. Energisch geht Marianne auf den Bühnenportier zu; aber noch ehe sie ihn nach Herrn Spacil fragen kann, herrscht er sie übellaunig an: „Der Herr Rebner ist für euch nicht zu sprechen! Wie oft soll ich das denn noch sagen? Wartet nach der Vorstellung am Bühnentürl — da könnt ihr Autogrammer haben soviel ihr wollt!" „Jö! der Rebner ist hier!" ruft Johanna erfreut. „Das geht dich gar nichts an, ob er hier ist oder nicht", raunzt der Portier weiter, „jetzt gibts keine Autogrammer." Marianne angelt nach ihrem Hut, der in der Aufregung etwas verrutscht, und sagt in sehr bestimmtem Ton zu dem Bühnenportier: „Lassen Sie doch die Leute hübsch ausreden! Kein Mensch hat was vom Herrn Rebner und Autogrammen gesagt! Zum Herrn Spacil wollen wir!" Der Mann wurde noch argerlicher, weil hier nicht einmal ein Grund für seinen Arger vorlag. Er brabbelte etwas vor sich hin, was nicht zu verstehen war, und fügte dem nur noch. deutlich und missmutig hinzu: „Er ist nicht da, der Herr Spacil!" Johanna schwieg verschüchtert; aber Marianne trat auf. „Wie soll der Herr Spacil denn nicht da sein, wenn er uns herbestellt hat?" „Wenn ich sage, er ist nicht da, dann ist er nicht da, der Herr Spacil!" pfiff der Portier nun die Madchen an, und wer weiss, wie alles gekommen ware, wenn nicht in diesem Moment ein junges Madchen eingegriffen hatte. Sie stand neben dem Bühneneingang, um ein paar Züge aus einer Zigarette zu tun, und erklarte sich bereit, Johanna und Marianne zu Herrn Spacil in die Kantine mitzunehmen. Es war gut, dass sie eine Führerin hatten; denn in diesem Gewirr von Treppen und Gangen und Türen hatten sie sich nur schwer zurechtgefunden. Johanna hing sich schutzsuchend bei Marianne ein. Was für ein Glück, dass sie die Freundin mitgenommen hatte. Uberall, wo sich im wirklichen, im praktischen Leben Hindernisse auftaten, war Johanna ihnen nicht gewachsen. Sie stehen in der Kantine. Das junge Madchen zeigt ihnen, wo Herr Spacil sitzt; aber die beiden achten gar nicht mehr darauf. Sie halten sich fest an den Handen, trauen sich keinen Schritt vorwarts durch dieses gespenstische Getümmel, dieses tolle Durcheinander, das sich vor ihren Augen abspielt. Unter alltaglich gekleideten Menschen aus allen Schichten, wie sie im Theater arbeiten, sitzen hier römisch gewandete Gestalten herum. Die strenge Toga der Frauen, meist weiss und, in der Nahe gesehen, recht angeschmuddelt, neben dem kriegerischen Pallasch der römischen Sol- daten. Helme blinken, weiss-rosa-blau-rot-braun geistern gespenstisch darunter die Gesichter. Schauspieler in Maske! Schauspieler im Kostüm! Das war wie ein Angsttraum, und wenn einem einer der Geschminkten nahe kam, wich man zurück und fürchtete die Berührung. Es war eine ganz törichte Angst, deren man aber kaum Herr werden konnte. Ein kalter Lufthauch schien von diesen Gestalten auszugehen, als kamen sie aus einer andern Welt. Sicher kannten die Madchen jeden der hier anwesenden Römer; denn es gab in ganz Wien keinen Schauspieler, den die Bergmannschiilerinnen nicht schon gesehen hatten und sei es nur auf der Strasse. Unter den vielfarbigen Schichten von Schminke und Nasenwachs erkannte man aber vorerst niemanden. „Du! Das ist doch nicht der Rebner — dort — der jetzt auf uns zukommt?" flüsterte nach einer Weile ungewiss Marianne. „Nein! Unmöglich!" Und Johanna griff vor Schreck fest nach der Freundin. Beide Madchen starrten ihn wie hypnotisiert an. Je naher der hochgewachsene Mann in der Toga kam, desto weniger war aus seinem Gesicht klug zu werden; denn es war kaum noch ein Gesicht, sondern vielmehr eine in viele Nüancen zwischen braun und rot aufgeteilte Flache. „Vielleicht doch?" fragte Johanna, als der Römer vorbeigegangen war. Marianne zuckte die Schultern: „Wie soll man sich da auskennen, wenn einer im Gesicht aussieht wie ein Affe rückwarts?!" Johanna versetzte der Freundin einen Rippenstoss. Solche Bemerkungen passten ihr hier nicht. Für sie war hier alles aus Gold und Silber, und sie wiinschte sich Stielangen wie eine Fliege, damit ihr ja nichts entgehe. Allinahlich losten sich aus dem Larmbrei, der den ganzen Raum erfüllte, Broeken einzelner Gerausche. Klappern von Geschirr am Büfett, Bestellungen des Kellners, Rufe der Kantinengaste. Und irgendwo fliegt Gelachter auf, um von einer pathetischen Basstimme sofort wieder erdrückt zu werden. „Hat sie als Klarchen nicht dagesessen wie eine gotische NockenP!" ruft eine Frauenstimme schrill über den Larm weg. „No! Was!" ist eine zweite, böhmelnde, vernehmbar, „ist sie vielleicht zum Klarchen anders gekommen als zu ihrem Kind?!" „Durch den Direktor, meine Damen, durch den Direktor! ' mischt sich der pathetische Bass wieder ein, und schon taucht das ganze Gesprach wieder in Larm unter. „Kren hab ich bestellt! Kren! Nicht Senf!" ist sekundenlang eine andere Stimme an der Oberflache und findet ein Echo am Büfett: „Kren — nicht Senf!" „Ob das wohl schon die richtigen Kostiime für den Julius Casar sind?" fragt Marianne die Freundin. Johanna, die kaum hinhört, nickt nur. „So fleckig und dreckig treten die auf?" forscht Marianne weiter. „Fleckig und dreckig?! Du traumst wohl?!" Johanna beachtet diese Details gar nicht. Sie sieht, spürt ein Anderes, ein Ganzes, Gewaltiges. „Zwei Gold! Ein Schock!" wird am Büfett eine Bestellung aufgegeben. Dann summen die vielen Menschen wieder fast einstimmig wie eine Maschine, und einer Maschine, dem wuchtenden, stamp fenden Atmen ihres Motors, ist ja die hysterische Spannung wahrend einer Generalprobe vergleichbar. Trotz Gelachter und Witzwort und Klatsch führt man hier, zwischen zwei Auftritten der Generalprobe, nur ein Leben aus zweiter Hand. Man ist gar nicht wirklich in der Kantine. In Wirklichkeit lebt und atmet und zappelt man bereits in den Fangarmen der Publikumstimmung. Der Zuschauerraum ist von Besuchern der Generalprobe überfüllt. Manche kommen wahrend der Pause in die Kantine, um ihnen befreundete Schauspieler zu einer guten Leistung zu beglückwünschen oder um ihnen zulieb den tausenderlei Riten des Aberglaubens obzuliegen, die vor Premieren gang und gabe sind. Die beiden Kinder sind für niemanden vorhanden. Sie sind es auch kaum für Herrn Spacil, den Johanna jetzt in einem Winkel entdeckt, und zu dem sie, Marianne an der Hand haltend, hinsteuert. „Grüss Gott!" sagt sie keek, überlaut, und es fliegen noch einmal die verworrenen Traume an ihr vorüber, die Ausgangspunkt dieser Bekanntschaft gewesen sind. Herr Spacil sitzt, unberührt von dem Betrieb ringsum, an einem langen Tisch und übertragt etwas von einem dicken Heft in ein anderes dickes Heft. Ihm gegenüber sitzt ein kleiner, rundlicher Herr in Zivilkleidung in Gesellschaft von einigen Schauspielern. Es wird eifrig debattiert. Alois Spacil achtet nicht einmal darauf. Bei Johannas Gruss blickt er zerstreut auf, erkennt sie nicht gleich, und als er dann doch begreift, wer da vor ihm stehe, sagt er zwei- oder auch dreimal unsicher und betroffen: „Ah so — ja — ah so —' Es dauert eine kleine Weile, ehe er daran denkt, sie zu begrüssen, und von Marianne nimmt er überhaupt keine Notiz. Johannas Anwesenheit allein war ihm schon unbehaglich genug. Spacil war von einer genierten Fahrigkeit, wie er sie so vor sich sah, und er wusste absolut nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Er argerte sich, dass er sie herbestellt hatte, und er argerte sich noch mehr, dass sie der Aufforderung prompt gefolgt war. Marianne stand da, ohne sich zu rühren, und glotzte nur Spacil an. Das — das war Johannas Romanheld? Dieses farblose Stückchen Alltag, ein Haufchen Asche inmitten dieser bunten Welt — den da hatte sich Johanna als Modell ausgesucht, um ihn zu ihrem Geliebten und künftigen Amerikafahrer zurechtzulügen? „Und wer sind Sie?" sprach Spacil jetzt über Marianne hinweg, alles eher als entgegenkommend. Marianne konnte gar nicht antworten, so empört war sie über Johannas Schwindel, der ihr ganz beispiellos unverschamt erschien angesichts dieses Niemands da vor ihr. Johanna antwortete für sie: „Das ist meine beste Freundin." Am Tisch spielte sich jetzt aber eine solche Larmszene ab, dass, was sie sagte, nicht zu hören war. Der Schauspieler, den man für den Rebner gehalten hatte, kam vorbei, von seinen Kollegen mit lauten Zurufen begrüsst. Er blieb eine Weile stehn, wurde mit Lobeshymnen überschüttet und verstand sicher kaum die Halfte; denn überstürzt und hysterisch redeten vier, fünf Menschen durcheinander. Dann wird von einer Sopherl festgestellt, sie sei „die feschste Portia von ganz Wien." „Kann sein!" sagt der Schauspieler, dessen Stimme ihn nun wirklich als den Rebner ausweist, „kann sein; aber eine verf lucht feuchte Aussprache bat sie!" Irgend jemand nimmt für Sopberl-Portia Partei, und Rebner fahrt fort: „Na, dann lassen Sie sich einmal einen Satz wie ,Sechs oder sieben, die ihr Antlitz selbst....' ins Gesicht spucken!" Weiter kommt er nicbt; denn eine edle Römerin flattert auf ihn zu, legt ibre braungeschminkten Arme, an denen im Theaterdienst erblindeter Messingschmuck klappert, um Rebners Schulter und fragt: „No? Wie war ich?" „Fescb", sagt Herr Rebner, ohne sich eine Sekunde lang zu besinnen, „die feschstePortia von ganz Wien — aber — sag einmal: könntest net für ,sechs oder sieben' ,acht oder neun' sagen? Schau — es merkts eh kein Mensch!" „Man versteht hier sein eigenes Wort nicht", steilte nun Herr Spacil fest, obwohl er eigentlich kaum nennenswerte Yersuche gemacht hatte, um sich Gehör zu verschaffen. Er redete das wohl aus purer Ratlosigkeit daher. Schliesslich fiel ihm doch ein, den Madchen wenigstens Platz anzubieten. „Wollen Sie auch zurn Theater?" erkundigte er sich bei Marianne, die immer noch viel zu verstört war über diesen unscheinbaren Menschen, als dass ihr eine Antwort eingefallen ware. Johanna kam ihr auch schon zuvor: „Ja. Beide wollen wir zum Theater. Brennend gern. Seit wir denken können, ist es unser heissester Wunsch!" „Na, mal sehen", entgegnete Herr Spacil und meinte damit eigentlich mehr, wie er sich dieses lastigen Besuchs möglichst rasch wieder entledigen könne. „Ich finde es hier herrlich!" sagte Johanna und sog diese erregende Luft ein, die nach Würsteln und Kaffee roch und nach in Körperwarme scli meizender Schminke, Fett, Puder, nach abgestandenem Bier, und in der doch jener einzigartige, strenge Theatergeruch von trockenem Staub und Naphtalin vorherrschte, wie er wenig getragenen Kleidern entströmt. „Ich finde es hier herrlich!" Nachdem Johanna dies festgestellt hatte, wurde Spacil noch unbehaglicher zumut. Das Madel würde sich nicht so schnell von hier fortrühren. Er hatte nicht im mindesten darüber nachgedacht, in welcher Weise er Johanna bchilflich sein könne. Viele Möglichkeiten hatte er nicht; denn er war nur ein recht bescheidener Beamter bei der Theateradministration, völlig ohne Einfluss. Sein Yorschlag, ihn im Theater aufzusuchen, war ihm wirklich ohne Uberlegung gekommen, vielleicht eine Eingebung von irgendwoher, vielleicht auch nur, um der ganzen Affare auf dem Kommissariat einen gütlichen Abschluss zu geben. Und dieses Madel war dann keek genug, sofort auf der Bildflache zu erscheinen! Sie würde auch nicht wieder wegzubringen sein, ohne dass er sein Yersprechen wahr machte. Ihre Hartnackigkeit hatte er ja bereits kennen gelernt. Was tun? Zerstreut und nervös glitten seine Augen über Marianne, wurden eine Sekunde lang festgehalten von der Rundung ihrer Brust unter dem etwas zu engen Schulkleid. Auch das Gesicht war anziehend und weiblich reif. „Soso, also Sie wollen auch zum Theater! Da schau her!" stapfte er wieder um ein Gesprach herum. Mariannes Interesse an dem Mann konnte kaum noch auf einen tieferen Grad heruntergehn. Sie nickte nur, ohne ihn eines Bliekes zu würdigen, und schaute weiter in dieses bunte Gedrange um sie herum. Spacil bemerkte ihren vollen, halboffenen Mund, und sie wirkte, wie sie da in schnuppernder Neugier vor ihm sass, sogar auf ihn, den Schwerfalligen, sehr und besonders anziehend. Und da fiel ihm ein, was zu tun sei! Der Ausweg war gefunden. Er stand auf, um den Raum zu übersehen. Offensichtlich suchte er jemand Bestimmten, schien ihn schon entdeckt zu haben; denn er rief und gestikulierte zu einem jungen Mann hinüber, der gerade die Kantine verlassen wollte. „Heini! Hör zu! Heini!" Ein untersetzter, besonders breitschultriger junger Mann, eine Mappe unterm Arm, an einem Apfel kauend, wandte sich um — das war Heini, war der Ausweg. Jetzt sah er den Rufenden und kam mit wuchtenden, weit hinausgeschleuderten Schritten, die in seltsamem Gegensatz standen zu der kaum mittelgrossen Statur, auf Spacil zu. Kurz vorm Ziel hatte er noch einen Anprall zu bestehen mit einem in eine rote Toga Gewandeten. „O! Herr Carsten!" grüsst der Untersetzte, „mein Kompliment, Herr Carsten! Meine Yerehrung! Sie waren ja unerhört! Diese Steigerung bei „doch Brutus sagt...." also direkt einzig dastehend!" „Das hat Pfeil schon einmal vor Ihnen festgestellt, mein Lieber", erwidert gönnerhaft der Römer, „als ich ihm meine Auffassung dieser Szene auseinandersetzte, da hat er mir tausendmal gedankt für meine wertvolle Anregung!" Und der Römer warf sich den Zipfel seiner Toga über die Schulter und schritt, klassisch und erhaben, davon. „Elender Patzer!" hörte man Herrn Rebner sich aussern, und das göttliche Blau seiner Augen bekam dabei das edle Feuer, das ihm in allen Madchenschulen den Ruf des leidensehaftlichsten Mannes von Wien eingetragen hatte, „sag, ist ihm das Everl davon, weil er zuviel von ihr gewollt hat oder zu wenig?" „Beides, mein Schatz, beides!" antwortete ihm die fescheste Portia von ganz Wien, und sie lachte zuerst über ihren Witz. Heini, der Ausweg, hatte mit zwei seiner gewaltigen Schritte unterdessen Spacil erreicht und begrüsste ihn: „Na, du toller Steiger! Kaum bist du mit einem blauen Auge davongekommen, und schon sitzt du wieder mit zwei Brauten da!" „Aber das ist sie doch", sagte Spacil, auf seine trockene Art lachelnd, irgendwie befriedigt darüber, dass auch seine Person wenigstens einmal in die Nahe der Bezeichnung „toller Steiger" rückte. Ohne eine Sekunde im Zweifel zu sein, wandte sich Herr Heini an Marianne: „Also Sie sind diese Wiener Berühmtheit? Da schau her!" „Nein! Bitte schön — das bin ich! ' brachte Johanna zwar geniert, aber auch stolz und sogar ein wenig trotzig hervor, für den Fall, dass man ihr die Berühmtheit vielleicht streitig machen wolle. „Also Sie —" sprach Herr Heini, überflog eine halbe Sekunde lang erstaunt Johannas mageres Figürchen, um sich sofort wieder Marianne zuzuwenden. Und Marianne, die zum erstenmal so etwas wie einen huldigenden Bliek auffing, quittierte mit einem offenen und erfreuten Lacheln. Herr Heini zog sich einen Stuhl heran, setzte sich rittlings darauf, die Arme breit über die Lehne gelegt. Und er fixierte Marianne recht ungeniert, um dabei über Johanna weg zu reden: „Also Sie..." wobei er nicht im geringsten verbarg, wie uninteressant sie ihm war. „Und jetzt will ich zum Theater", sprach Johanna, kindlich verlegen und hilflos gegen diese unfreundliche Manier. „Ich glaube", mischte Spacil sich ins Gesprach, „in der Kleinen steekt eine Schauspielerin." „Das kann man so nicht sagen —" entgegnete Herr Heini, „und wie stehts mit Ihnen, Fraulein?" Dies galt Marianne, und sie antwortete sofort: „Ich eigne mich ebenfalls für die Bühne!" „Wir werden einmal sehen, was sich machen lasst", verhiess Herr Heini wie zuvor Spacil, und sein Bliek schweifte wieder flüchtig über Johanna, um sofort zu Marianne zurückzukehren: „Natürlich müsst ihr beide zu mir kommen, um mir vorzusprechen", setzte er hinzu und lispelte plötzlich. Die Zunge wurde ihm ein wenig schwer, wies bei manchen Menschen der Fall ist, wenn ihnen der Genuss einer begehrten Speise be- vorsteht. „Gern. Ja. Bitte, wann sollen wir kommen?" fragte Johanna mit Augen, die jetzt wie glühende kleine Kohlen waren. „Heute Nachmittag um halb fünf, Oppolzergasse sechs bei Luchs", sagte Herr Heini und hat nichts anderes vor sich als Mariannes reifes, volles Gesicht. Johannas Augenlider begannen zu flackern vor Aufregung. So rasch also ging es, so schnell kam man zu einem Engagement. Denn vom Yorsprechen zum Theater, das war dann nur noch ein Schritt, und mit diesein einen Schritt nahm man ganz Wien, die ganze Welt in Besitz! „Um halb fünf — ja — danke schön. Wir sind ganz pünktlich!" stotterte sie. „Halt! So geht das nicht! Sie" — Herr Heini deutete mit dem Kopf zu Marianne hin, „Sie kommen heute, und Sie" — die selbe Kopfbewegung, nur kürzer, zu Johanna, „Sie kommen übermorgen." „Ja", erwiderte Johanna, „bitte sehr". Sie war mit allem einverstanden, sie dachte an nichts mehr als an ihr Engagement. „Bist du nicht gescheit?!" herrschte Marianne sie an, die eher begriff, dass hier etwas nicht stimme, und sie sagte laut und deutlich zu Herrn Heini: „Sie sind wirklich sehr freundlich; aber wir können Sie nur gemeinsam aufsuchen. Sonst richten wir uns ganz nach Ihnen. Heute, morgen, übermorgen." Johanna beachtete kaum, was gesprochen wurde. Ihr war jede Vereinbarung recht. Gierig sog sie diese strenge und absonderliche Luft ein, diesen Dunst von Gulaschsuppe, Naphtalin, Fett, Schminke, Bier. Was auch beschlossen würde, sie war mit allem einverstanden — wenn sie nur wieder hierher kommen, hier bleiben durfte in dieser Luft, in diesem bunten, lauten, in diesem himmlischen Durcheinander. Sie fühlte sich unendlich wohl und leicht und frei und empfand den Larm ringsum als Ruhe und Frieden. Sie kannte nun schon so viele Arten von Glück, das nur so hiess und keines gab. Das wirkliche, das einzige Glück, das lag hier in der Luft, und sie fühlte sich daran angeschlossen wie an elektrischen Strom. Sie hatte das Gefühl, wenn jemand sie jetzt anrühre, werde sie knistern und Funken sprühen. So geladen war sie mit diesem ganz neuen Glück. Und wusste doch nicht einmal genau die wirkliche Ursache. Sie glaubte, es sei das mit Gewissheit zu erwartende Engagement. Das aber war die tiefste Ursache nicht. Das Kind eines heimatlosen, herumirrenden Yolkes hatte den ersten Fuss in die wirkliche Heimat gesetzt, die, in dieser oder jener Form, so vielen ihresgleichen zur Heimat wird: die Kunst. „Mach keinen Blödsinn!" griff Spacil in Heinis Unterhaltung ein, „du kannst die Madeln gleich hier vorsprechen lassen!" Spacil war zufrieden, sich mit solch einer Lösung aus der Affare gezogen und Wort gehalten zu haben. Dass dieses Yorsprechen so ernst nicht zu nehmen war, ging ihn schliesslich nichts mehr an; Herr Heini Kment war nur ein gelegentlicher Hilfsregisseur dritten Grades, ein Unterlauferl, wie man in Wien zu sagen pflegt. „Du kannst in Hofmanns Zimmer gehen, da seid ihr ungestört." „Ausgerechnet in Hofmanns Zimmer!" widersprach das Unterlauferl, und hatte um einiges Schwung und Elan weniger, „der Hofmann hat doch heute keine Regie...." „Hast du schon erlebt, dass Hofmann, selbst wenn er nicht Regie hat, sich nur fünf Minuten von der Generalprobe trennen kann?" erkundigte sich Spacil, der es wirklich an der Zeit fand, die Madel loszuwerden. „Stimmt!" Herr Heini reckte sich wieder voller Selbstbewusstsein in den Hüften und fand von seinem voriibergehend kleinlauten Ton in den aufgeblasenen seiner gönnerhaften Rolle zurück. „Na denn los!" Ein schrilles Klingelzeichen zerriss seine weiteren Worte. Auf die Gaste der Kantine wirkte das Lauten wie eine Handvoll Futter auf die Insassen eines Hühnerstalls. Alles flatterte auf, rannte gegeneinander, 23 hierhin, dorthin, vor, zuriick, niemand schien zu wissen, was er zu tun, wohin er sich zu begeben habe. Herr Rebner setzte gerade noch seinen Namen unter einen vom Kantinenwirt vorgelegten Zettel: Zeugnis einer nichtbeglichenen Konsumation. Dem Kantinenwirt waren zahllose solcher von Rebner signierten Zettel untergekommen, viel mehr, als in ganz Wien je nach Rebners Autogrammen Nachfrage sein würde. „Herr Lukaschek! Wo ist HerrLukaschek?"schrieüber das larmende Getümmel hinweg ein grosser, dünner, übernervöserHerr, „Lukaschek! Teufel! Wo steekt dieser ausg'schwabte Donaufetzen, dieser ölendige nur?!" „Hier!" sagte gemütlich ein kleines Mannchen und kam binter einer Zeitung vor, die ibn fast verdeckte. „Hier! HierF affte der nervöseHerr, offensichtlichder Inspizient, nach, „stecken Sie Ihre Nas'n in die Glatze vom Menner.... wir fangen gleich an, und der Menner hat Schaum vorm Mund,weil dieGlatz'n nicht da ist!" „Wenns weiter nichts ist —" und das Mannchen zog eine Glatze unterm Arm vor, „bitte schön — die Glatz'n vom Herrn von Casar war parat!" „Das soll eine Glatz'n sein?!" wütend entriss der Inspizient dem Mannchen das Requisit und schrie heiser und kurzatmig: „Schön schaut die aus — grade wie — wie —" er suchte nach einem Yergleich, der noch ordinarer sein sollte als der schon zu oft angewandte, und da ihm keiner einfiel, schloss er mit überkippender Stimme: „Wie Ihr bloder Schadel schaut das aus!" Aber der Theaterfriseur wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, und in Anbetracht seiner üppigen Haarmahne war dieser Yergleich auch bei weitera nicht so krankend, wie er sein sollte. Johanna hörte mit geschlossenen Augen das Klingelzeichen, nicht anders, als ware es die Fanfare des jiingsten Gerichtes. Bedeutet es nicht wirklich so etwas wie Auferstehung von den Fragwürdigkeiten bürgerlicher Existenz? Würstchen mit oder ohne Kren — die feuchte Aussprache der Portia — die Glatze des Julius Casar — wie banal auch scheinen mochte, was hier geredet wurde — es war nicht banal; denn für Johanna spielte sich dies alles ja auf heiligem Boden ab, und am liebsten hatte die kleine Süchtige die Schuhe ausgezogen. Yielleicht scharfte gerade ihre Exaltiertheit ihre Sinne für das unerschöpfliche Wunder dieser Atmosphare: dass wirklich solch einem Klingelzeichen die Macht gegeben ist, Menschen weit über ihr eigenes Niveau hinauszuheben, ihnen den Platz zuzuweisen, wo sie, mit dem unverganglichen Glanz shakespearescher, goethescher Idee überschüttet, zu Testamentsvollstreckern der Unsterblichen werden. Und die kleine Süchtige fühlte sich, sie wusste nicht wie, hier miteinbezogen, mit fortgetragen. Herr Heini, das Unterlauferl, hatte sich erhoben, sein forsches „na denn los!" wiederholt, fügte dem aber noch hinzu: „Wenn Hofmann aber doch in sein Büro kommt?! Das klang sehr viel weniger forsch, beinah so, als rede ein Schuljunge, der Angst vorm Lehrer hat. Als Spacil ihn aber ein zweites Mal beruhigte, zog er die Madchen von ihren Stühlen hoch: „Schnell, kommt mit, ihr zwei Feiglinge. Ihr seid imstand, euch auch vor mir zu fürchten, wenn ihr zu zweit seid!" Damit dirigierte er sie dem Ausgang zu. Marianne geriet nun doch in einige Verlegenheit. Vorsprechen? Jetzt gleich? Das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte gedacht, dass man zunachst einmal gut ge- fallen müsse, dann wiirde sich der Rebner oder sonst ein bekannter Schauspieler für einen interessieren, mit dem Rollenstudium beginnen, und dann half er einem weiter, Karriere zu machen. Aber vorsprechen? Jetzt gleich? Johanna hingegen fand alles in Ordnung. Jetzt kam das Engagement. Herr Kment führte die Madchen ein paar Treppen hoch, dann wieder einen Halbstock kinunter, über einen langen Gang, an zwei Feuerwehrleuten vorbei und durch das Zimmer des Theaterarztes. Endlich befand man sich im Büro des Regisseurs Hofmann, der bei der Probe war. Herrn Heini Kment, dem gelegentlichen Hilfsregisseur, brauchte man nur einen wenn auch abgeniitzten Ledersessel hinter einem Schreibtisch zuzuweisen, und er wuchs in Haltung und Linie einer ersten Kraft seines Faches hinein. Soleh ein Schreibtisch, auch wenn es nicht der eigene ist, erhöht automatisch, schaf ft Distanz zur Umwelt. „Also, was habt ihr studiert? fragte er und griff nach einem silbernen Papiermesser wie nach einem Szepter. Dass er die Madchen von diesem Platz aus duzte, war ihm selbstverstandlich. „Eine Menge", sprudelte Johanna hervor, obwohl die F rage an Marianne gerichtet war, „die Minna oder die Franziska oder das Klarchen und vor allem die Jungfrau von Orleans." Herr Heini schob die Stirn in Falten, senkte den Kopf, blickte von unten herauf Marianne bedeutungsvoll an und kam sich wunderbar vor, wahrend er, jedes Wort modulierend, sprach: „Schön. Sehr schön. Fang du mit der Jungfrau an!" „Nein!" schrie Johanna auf wie schon einmal in der Klasse, als man nicht sie, sondern eine andere dazu ausersehen hatte, die Jungfrau zu sprechen. „Na was! Bestimmst du hier?" fragte von seiner Höhe herunter Herr Heini. „Die Jungfrau gehort mir! brachte Johanna nur hervor, und ihre Züge wurden scharf und spitz vor Frregung. Sie fiel ungemein ab gegen Marianne, die, rosigen Gesichts und voller Gemütsruhe, vorgetreten war. „Also, wie eine Diva sich rauspert und wie sie spuckt, das kannst du ja schon", spottete Herr Heini, „du kannst ja nachher auch noch etwas aus der Jungfrau sagen.... ist ja eh egal!" Diese letzte Bemerkung rutschte ihm so heraus, unwillkürliche Andeutung, wie ohne alle Kompetenz er hier im Theater war. Marianne fand, dass sie machtiges Glück hatte: sie konnte nur den Monolog auswendig, wie ihn fast jede in der Klasse konnte. Man hatte ihn vor der Schulfeier so oft gehort, dass er sich ihr, genau wie den übrigen Madeln, einpragte. So sprach sie den Monolog. War es Zufall, Absicht, Faszination einer Erinnerung, war es pure Nachafferei? Oder war es das eigene Blut, aus dem diese Töne stiegen, diese schwingende, rauhe und doch unendlich süsse Stimme — Johannas Töne, Johannas Stimme? Das war Johannas Gesang der Konsonanten, da waren die zerdehnten und die in eigenwilliger Betonung hervorgestossenen Silben. Und ihre Stimme formt auch ihr Ausseres urn, wie sich bei manchen Menschen der Gesichtsausdruck andert, wenn sie eine andere Sprache sprechen. Der Ausdruck ihres Gesichts, seines Spiels — es war von Johannas Zügen kaum zu unterscheiden. Obwohl Herr Heini mehr sich selbst zusah und zu- hörte, wie er da den allgewaltigen Regisseur spielte, war doch irgend etwas im Yortrag Mariannes, das ihn zu Aufmerksamkeit zwang. Die Stimme, das Eigenwillige in Sprache und Rhythmus wirkten ganz ausserordentlich und ganz gegen seine vorgefasste Absicht anziehend auf ihn. Dann wieder empfand er die Stimme an manchen Stellen briichig, heiser, und den Auftritt der Madchen samt seiner eigenen Mitwirkung recht lacherlich, bis er, wider Willen, abermals von einem Ton, einer Schwingung festgehalten wurde. Johanna hielt die Fauste vor den Mund gepresst und biss hinein, dass es blutete. In ihren Augen brannten Tranen, die sie nicht weinen konnte. Sie legte ihr Gesicht an die Wand, weil sie sonst geschrien hatte. Was hier geschah, war Pliinderung. Sie wurde hier bis aufs letzte ausgeraubt. Wie Marianne jetzt die Pause machte nach „ Johanna geht —" das war doch Diebstahl; denn es war ihre Pause, in der sie sich immer neu bewusst wurde, was das nun folgende „und nimmer ' auf sich hatte, dass es eine Yorschau war des frühen Tods. Und dieses zartlich gesungene „Lammmmmmmer', das kein Ende nehmen wollte, weil der Bliek derweil die Tiere umfasste, das gehorte auch ihr, ihr, der richtigen Jungfrau von Orleans! Marianne aber raffte es an sich, als sei es in ihr geworden. Johanna krallte die Nagel in die Tapete vor Schmerz. Was die Freundin da tat, war schlimmer als Diebstahl. Es war Menschenraub. Marianne hatte geendet. Herr Heini sass mit aufgestützten Armen und aufgestütztem Kopf, betrachtete sie und sagte: „Nett, sehr nett, sehr apart. Also wirklich apart. Aber da ist vorerst Schule nötig." Dabei überlegte er, ob er des Madels wegen nicht wirklich mit dem Rebner sprechen sollte, denn sie schien ihxn begabt. Der Rebner allerdings war mit Launen gespiekt wie ein Nadelkissen. Es war möglich, dass er ihm in grösster Liebenswürdigkeit alles versprach, das Madel trotzdem nicht vorliess und behauptete, er kenne gar keinen Herrn Kment. Noch wahrscheinlicher war, dass es zum Yorsprechen nie, zu einem Verhaltnis aber sofort kam. Gerade das passte Herrn Heini Kment im Augenblick wiederum nicht; denn Marianne gefiel ihm, gefiel ihm so, dass ihm das wichtiger war als die Möglichkeit ihrer Schulung. Als er dies erwogen hatte, sagte er mit einem abschliessenden „Na!" — so grossartig hingelegt, als verbürge dies Wort ein Engagement mit Höchstgage — „na, wir wollen sehn! — und nun du!" Dabei sah er Johanna an. Das blasse, in sich versponnene Kind war ihm unsympathisch. Johanna blieb stehn, wo sie stand, warf eine Haarstrahne aus dem Gesicht und begann, ohne sich eine Sekunde zu besinnen, mit dem gleichen Monolog. Was war das? Herr Heini horchte auf. Dieser kleine Frosch machte ja haargenau die andere nach. „Halt! halt!" rief er ungeduldig, aber er musste trotzdem au en lachen, „wollt ihr euch hier als siamesische Zwillinge produzieren?" Johanna Deutsch aber konnte man nicht unterbrechen; denn es gab keine Johanna Deutsch mehr. Irgend etwas hatte sie an die Hand genommen und zu sich heraufgezogen, in sich aufgenommen. Und das übermachtige Leben des schmalen Kinderkörpers floss hinüber in ein anderes, stattete dies andere mit all der eigenen Kraft und Glut und Liebe aus. Die Tür wurde aufgerissen, zwei Herrn in eifrigem Gesprach standen in der öffnung, verstummten verdutzt, bis der eine, rundlich, bebrillt, von tlberraschung in helle Wut geriet und losdonnerte: „Ja also so eine Unverschamtheit...." Der andere, sehr schlank, mittelgross, legt dem Erregten die Hand auf die Schulter, beschwichtigend, ihn zurückhaltend, und seine graublauen Augen, die eben noch müde schienen und von einer sachlichen Traurigkeit, beleben sich, werden ganz heil, scharf; denn was er da sieht, was da vor ihm steht mit ekstatisch zurückgebogenem Kopf, ohne von seinem Eintritt, von dem Larm Notiz zu nehmen, das ist die wahre, die echte Jungfrau von Orleans, ein scheues, halbwildes Bauernmadchen. Auf dem Grunde seiner Augen schimmern noch die Visionen, die da steht, ist wirklich das Werkzeug heiliger Stimmen, ist Jeanne d'Arc, eine herbsüsse und überaus kindlich echte Jungfrau von Orleans. „Du Echo, holde Stimme dieses Tals —" Nach Echo macht sie eine Pause, streicht sich eine Haarstrahne vom Ohr, um des Echos Antwort aufnehmen zu können, und bei „zerstreuet euch, ihr Lammer, auf der Heiden — ' beugt sie sich nieder, schiebt die Tiere von sich fort, streichelt sie, halt eines zuriick, und alles dies ist von überwaltigender Schlichtheit, lost arienhaftes Yersmass auf zur Sprache einfacher Menschen. Der schlanke, mittelgrosse Herr ist Leonhard Pfeil. Er riihrt sich nicht. Als Heini Kment, hochrot im Gesicht, aufgesprungen war, irgend etwas stottern wollte, hatte das Pfeil mit einer freundlich ablehnenden Kopfbewegung, die gleichzeitig zu Johanna hinwies, quittiert. Johanna Deutsch wird spater nicht sagen können, ob sie Pfeil eintreten gesehn, ob sie ihn überhaupt bemerkt hat. Sicher ist, dass sie weiter Jeanne d'Arc lebt, atmet, jubelt bis zum Schluss, in den hinein man wirklich das Wirbeln der Feldmusik zu horen glaubt: „Das Schlachtross steigt, und die Trompeten klingen! ' Und jetzt, als sie geendet hat wendet sie nur still das Gesicht gegen Leonhard Pfeil. Ihre Augen hangen an ihm, seine nehmen den Bliek an, halten ihn. Er macht ein oder zwei Schritte auf sie zu, hebt, nur andeutend, ein wenig den Arm und spricht, leise, nüchtern, ohne alle Betonung: „Von wannen kommt dir diese Wissenschaft? —" „Ich sah dich, wo dich niemand sah als Gott —" antwortet ihm das Madchen aus Lothringen. Rauh ist ihr „Ich" und bis in die Unendlichkeit gedehnt, aber „niemand" ist Gesang und zugleich kindliches Verwundern, dass ihr solches möglich war. Pfeil gibt, monoton, mit halber Stimme, das nachste Stichwort: „So zweifl ich nicht mehr, dass dich Gott begeistert —" Und Jeanne d'Arc antwortet mit dem Bericht iiber die Vision von des Königs drei Gebeten. Ihr Gesichtchen ist in hohen Ernst getaucht und doch ohne Pathos wie ihre Worte. Immer bleibt in ihren Mienen, ihrer Gebarde, eine Spur kindlichen Staunens über das Wunder, das sich in ihr, dem Bauernmadchen, vollzieht. Alle, die dabei sind, der Regisseur, das Unterlauferl und die Freundin Marianne, alle spüren, dass hier ein Spiel ineinanderklingt, wie es unter tausend Schauspielern vielleicht zwei erleben. Trotz Pfeils monotonen Markierens, trotz Johannas unbandiger Lust, alles, was sie hat, was sie kann, hinüberströmen zu lassen in das Hirtenmadchen, trotz dieses scheinbaren Gegensatzes ist dieser Moment Vereinigung, zwischen einem Kind, das in dieser Minute mit dem Leben beginnt, und einem Mann, der in abgezahlten Monaten damit fertig sein wird. Pfeil hat nie den Dauphin gespielt, für den er hier Johannas Stichworte spricht. Es ist nicht wichtig. In diesem Moment ist er Lear und sie Cordelia, er ist Egmont und sie Klarchen, und sie sind darüber hinaus Verkörperung all dessen, was es an Grosse, an Schönheit, an Liebe, Schmerz und Erbarmen je in der Welt gegeben hat. Auch der letzte Wiener Zeitungsverkaufer hat sich schon in Leonhard Pfeil dargestellt gesp ürt — und weint und lacht nicht aus diesem zerbrechlich schmalen Geschöpf etwas, in dem sich jede Frau wiederfinden wird? „Soll ich dein dritt'Gebet dir jetzt nochnennen?" fragt sie, den Kopf demütig und abwartend zur Seite geneigt und doch mit einem Schimmer sinnenkluger Keckheit in den Augen, die ausdrückt, dass sie weiss, in welchem Mass sie den Dauphin schon gewonnen hat. „Genug, ich glaube dir", erwidert Pfeil lachelnd, aber er sagt es schon in seiner gewohnten, recht wienerischen Umgangssprache, schaut diese merkwiirdige Jungfrau einen langen Moment an und einen zweiten über sie hinweg. Dann wendet er sich an seinen Begleiter, den Regisseur Hof mann, packt ihn am Arm: „Haben Sies so schon von einer gehort?" und mit einem Bliek, der den, mit dem er redet, verlasst und nach innen geht, fahrt er fort: „Ich noch nicht...." Niemand antwortet ihm. Sekundenlang ist Schweigen. „Ich noch nicht", wiederholt Pfeil, diesmal lauter, und über sein Gesicht fliegt die ganze Farbenskala seiner Art Heiterkeit, die Humor ist und Güte, Ironie mit einem Spritzer liebenswürdiger Bosheit und einem Schuss Melancholie, „meiner Seel.... die Medelsky mocht Augen maclien!" Johanna schüttelt ein paar wild in die Stirn hangende Haarstrahnen ab, ist ganz wach. „Meiner Seel.... die Medelsky...." hort sie und nickt dazu mit ihren ruckartig-kindlichen Kopfbewegungen. Ja, das musste Pfeil jetzt sagen. Sie erwartete es von ihm seit jener Schulfeier, wo sie es schon einmal gehort hatte. „Schwindel!" hatten es die andern genannt, sie, Johanna, hatte schon damals gewusst, es war mehr als Wahrheit: es war ihr Recht. Sie hatte einen Anspruch darauf. „Meiner Seel.... die Medelsky...." das war das andere Stichwort, das ihr Pfeil nun gab, geben musste; denn es bedeutete den Einsatz für das wirkliche Leben. „Ja, wer sind Sie denn, Sie ganz sonderbare kleine Person?" Leonhard Pfeil steht vor ihr und betrachtet sie ernsthaft. „Jane heisse ich'', antwortet sie rasch, und um das Fortlassen des Familiennamens zu decken, wiederholt sie diesen sich selbst zuerkannten Namen mit beinah trotzigem Nachdruck: „Jane!" Leonhard Pfeils voltairisch breit er Mund gab die Spur eines sehr verstandnisvollen Lachelns her; „Also Jane. Mit diesem Namen muss man eigentlich zum Theater gehn. Und vielleicht auch mit dem, was da steekt...." Ohne sie zu berühren, deutete er auf ihre Kehle, ihre Stirn. Sie senkte ein wenig den Kopf wie unter einem Segen. „Wir könnten darüber ein bisserl plauschen", sprach er weiter, „ich geh zu Fuss nach Haus. Wollen Sie mich ein Stückerl begleiten? Ja? Das war direkt herzig!" Dies alles war in bescheidenstem Ton, wirklich wie eine Anfrage gehalten, ganz als bedürfe ein solcher Yorschlag Leonhard Pfeils einer Antwort wie jeder andere Yorschlag auch. Johanna sprach kein Wort. Sie lachelte ihn nur an in grossem Vertrauen und grosser Zugehörigkeit. Herr Heini, das Unterlauferl, benutzte diesen Augenblick, um unbemerkt aus dem Zimmer zu gelangen. Fünf Minuten spater schon wird er sich, mit wiedererstandenem Selbstbewusstsein, in die Brust werfen und im ganzen Haus herumerzahlen, dass er, Heini Kment, auf den ersten Bliek Janes geniale Begabung erkannt habe. Er wird noch lange darüber reden. Sehr lange. Und andere, im selben Masse berechtigt wie er, mit ihm. Leonhard Pfeil und Johanna sind zusammen durch den Bühnenausgang und über den Hof auf die Strasse gelangt. Die Sonne scheint, Leonhard Pfeil tut sie wohl, er bleibt stehn, nimmt den Hut ab. Johanna wendet sich noch einmal um nach dem alten Sandsteinbau, dem Aussehen nach eher ein behabiges Bürgerhaus als ein Theater. Mit einem langen Bliek umfasst sie es, es pragt sich ihr ein. Nie wird sie diesen biirgerlich bescheidenen Bau vergessen. Wenn sie die von alter Theatertradition erfüllten Hauser Europas durch den Bühneneingang betreten wird, sich mit Mühe einen Weg bahnend durch die sie seit Stunden Erwartenden, dann wird sie wieder diese Sandsteinmauern vor Augen haben. Und wenn ihr eine unübersehbare, begeisterungstrunkene Menge vor den amerikanischen Prunkpalasten, in denen sie spielen wird, zu jubelt, dann wird das alles für Sekunden zerfliessen, nicht sein; denn dazwischen wird sich das Bild des kleinen Wiener Theaters schieben, seine gelben Mauern, seine weissen Fensterkreuze in der Sonne. Pfeil hat ihr die Hand auf die Schulter gelegt und schiebt sie ein wenig auf dem engen Biirgersteig vor sich her. Ihr Schatten fallt in seinen, der, sehr schwarz, nur ihm zu folgen scheint. Er friert plötzlich in der Sonne, und ihm ist, als sammelten sich alles Licht und alle Warme auf ihr. VON ADRIENNE THOMAS ERSCHIEN: DREIVIERTEL NEUGIER ROMAN Broschiert hfl. 1.25 Leinen hfl. 1.75 KATRIN! DIE WELT BRENNT! ROMAN Broschiert hfl. 2.50 Leinen hfl. 3.50 DIE KATRIN WIRD SOLDAT ROMAN BILLIGE AUSGABE Leinen hfl. 1.90 NEUERSCHEINUNGEN MARIE BONAPARTE TOPSY Leinen . hfl. 2.75 JOLAN FÖLDES MARIA VON DER REIFEPRÜFUNG Roman Broschiert hfl. 2.25 Leinen hfl. 2.90 S1GMUND FREUD DER MANN MOSES UND DIE MONOTHEISTISCHE RELIGION Broschiert hfl. 2.90 Leinen hfl. 3.90 JOHN GUNTHER SO SEHE ICH ASIEN Broschiert hfl. 3.90 Leinen hfl. 4.90 HERMANN KESTEN DIE KINDER VON GERNIKA Roman Broschiert hfl. 2.75 Leinen hfl. 3.50 VEIT VALENTIN WELTGESCHICHTE Reich illustriert Band I Bis zu den Religionskriegen . . hfl. 8.50 Band II Bis zur Gegenwart hfl. 9.50 FRIEDRICH WALTER KASSANDRA Roman Broschiert hfl. 1.90 Leinen hfl. 2.50 STEFAN ZWEIG UNGEDULDDES H ERZENS Roman Broschiert ..... hfl. 3.90 Leinen hfl. 4.90 VERLAG ALLERT DE LANGE / AMSTERDAM