ERSTES KAPITEL Das kleine Restaurant, Ecke Boulevard St. Germain- rue des Saints Pères, war um halb neun Uhr schon beinahe ganz leer. Die Stunde des Diners dauert in Paris von halb sieben bis acht Uhr; spater sitzen nur noch Wahnsinnige oder Auslander bei Tisch. Die beiden letzten Gaste, ein amerikanisches Ehepaar, waren eben dabei, ihren Kaffee zu trinken, da machte die Kellnerin ein erschrockenes Gesicht: es kamen noch vier Leute von der StraBe zwei junge Manner, ein Fraulein und eine altere Frau. Einer der jungen Manner — er war auffallend bleich und mager; über seinem Gesicht, das wie aus Wachs gebildet schien, stand das schwarze harte Haar aufrecht, wie in standigem Entsetzen gestraubt — erkundigte sich, ob man noch etwas zu essen bekommen könne. Die Kellnerin war schon im Begriff zu verneinen, als die Patronne, von der Theke her, ihre Stimme vernehmen lieB: aber gewifi doch, es seien noch zwei Portionen Poulées da, auBerdem ein „Schnitzel Viennois", und für eine der Damen könnte man ein Omelette machen. Die Vier schienen es zufrieden; wahrend sie sich um einen Tisch in der Ecke niederlieBen, erklarte der junge Mann, der vorhin mit der Kellnerin verhandelt hatte: ,,Ich habe neue Berliner Zeitungen besorgt!" Dabei legte er den StoB von Papieren vor sich hin. Das junge Madchen schnitt eine Grimasse und sagte: ,,Pfui! Sie redeten deutsch — was das Ehepaar am Nebentisch aufhorchen lieB. Nun war es die Amerikanerin, die eine angewiderte Grimasse schnitt. Gleichzeitig zuckte sie die Achseln und sagte etwas zu ihrem Gatten, was sich wohl in einem krankenden Sinn auf die Deutschen im Allgemeinen und die Vier am Nebentisch im Besonderen bezog. Der Gatte 2 schien ihr in allen Punkten recht zu geben; er nickte empört und rief dann schallend: „L'addition, Mademoiselle!" Die Deutschen inzwischen hatten ihre Zeitungen vor sich ausgebreitet. Das Madchen sagte, mit einer schön sonoren, etwas grollenden Stimme: „Auch noch Geld ausgeben für das Dreckszeug! Eine Schande!" Wahrend ihr Gesicht vor Ekel verzerrt blieb — als lage etwas Stinkendes, eine kleine Tierleiche etwa oder Erbrochenes, auf dem Tischtuch, zwischen den Gedecken — streckte sie ihre langen, unruhigen, muskulösen Hande gierig nach den Papieren aus. „LaB gleich das ScheuBlichste sehen!" rief sie und lachte finster. „Die Berliner Illustrirte!" Der schwarze Hagere hielt ihr mit melancholischer Neckerei das Titelblatt der Illustrierten hin: es zeigte den Führer und Reichskanzler in idyllischem tête-a-tête mit einem kleinen blond- bezopften Madchen, das ihm einen enormen BlumenstrauB überreichte. „Ist er nicht schön?" fragte der Bleiche, wobei sein Lacheln sauerlich war. Die altere Frauensperson — sie fiel durch kurzgeschorenes, hartes graues Haar und ein rotbraunes Kapitansgesicht auf — stemmte die Arme in die Hüften und machte dröhnend: ,,Hoho!" Die amerikanische Dame sagte, ziemlich laut: „Disgusting!" und stand auf. Die vier Deutschen, in den Anblick des Bildes versenkt, überhörten den Ausruf; sie sahen auch nicht, was für ein furchtbar drohendes Gesicht die Amerikanerin hatte, als sie nun, vom Gemahl gefolgt, das Lokal durchquerte, um die Ausgangstür zu erreichen. ,,Er bekommt einen Bauch!" steilte animiert der zweite junge Mann fest, und meinte den „Führer". Als die Amerikaner an dem Tisch vorbeikam, wo deutsch gesprochen und das Hitler-Bild betrachtet wurde, blieb sie eine Sekunde lang stehen, und sagte sehr deutlich: „En bas les boches!" Ihr französischer Akzent war leidlich; jedenfalls viel besser, als der des Gatten, der noch breit hinzufügte: „En bas les Nazis!" Dabei hatte er sich der Türe genahert. Die Dame aber wandte sich noch einmal um, und nun spuckte sie aus. Auf eine Entfernung von mindestens zwei Metern spuckte sie recht kraftig und geschickt — man hatte es der respektabeln, keineswegs jungen Person kaum zugetraut -, sodaB eine nette, saftige Portion Speichel direkt neben den Schuhen des hageren jungen Mannes auf den FuBboden klatschte. Dann fiel die Türe hinter der Amerikanerin zu. Die Kellnerin und die Patronne des Lokals hatten den Vorgang wortlos beobachtet; die Kellnerin mit einem kaum sichtbaren, hamischen Grinsen, die Chefin mit einem Achselzucken, als wollte sie sagen: ,Wozu soviel Aufregung wegen dieser Deutschen? Solange sie ihre Zeche zahlen, soll mir alles andere egal sein ..." Die Vier am Tisch waren so erschrocken und derart fassungslos erstaunt, daB mehrere Sekunden lang keiner von ihnen ein Wort hervorbrachte. Die beiden jungen Manner und das Madchen waren sehr blaB geworden, wahrend das Gesicht der Alten leuchtend rot-braun blieb. Sie war es, die das Schweigen brach, indem sie schallend zu lachen begann. „Das ist wunderbar!" brachte sie unter groBem Gelachter hervor, wobei sie mehrfach dröhnend auf die Tischplatte schlug. „Ausgerechnet uns muB das passieren! Das ist köstlich! Nein, sowas!" Die beiden Jungen versuchten mitzulachen; aber das Resultat ihrer Bemühung war kümmerlich, nur die bittere Andeutung eines Lachelns kam zustande. Das Madchen schaute vor sich hin auf den Teller und sagte leise: „Ich finde es gar nicht komisch". — Warum nicht komisch ? Wieso nicht ? — wollte die Alte wissen. Aber nun gestand der zweite junge Mann — der blond und stattlich war, mit einem hellen, groBflachigen, hübschen, etwas weichen und müden Gesicht —: „Ich kann mich eigentlich auch nicht besonders darüber amüsieren. Mein Gott, bin ich erschrocken!" Dabei führte er die Hand ans Herz und blickte aus groBen, entsetzten Augen, kokett um Mitleid werbend, von einem zum anderen. Der hagere Schwarze betrachtete grüblerisch den Speichelpatzen, der noch neben seinen FüBen auf dem Bodem lag. ,,Vor zwei Wochen", sagte er leise, ,,vor genau zwei Wochen hat in Berlin, auf dem Kurfürstendamm, ein S.A.-Mann mich angespuckt. Auch aus ziemlicher Entfernung. Er traf noch etwas besser als diese Lady: sein Speichel klebte an meinen Schuhen . . In eine kleine Stille hinein, die diesem Bericht folgte, sagte die Grauhaarige: „Armer David ..." Die Kellnerin steilte, mit einem demonstrativen Mangel an Höflichkeit, die zwei Portionen Poulées, das Schnitzel Viennois und ein Omelett auf den Tisch. „Man hatte die Leute ja aufklaren können," sagte der blonde junge Mann mit dem schonen, weichen Gesicht — er hatte eine schleppend melodiöse Art zu sprechen; seine Worte kamen zögernd und einschmeichelnd daher. „Man hatte Ihnen auseinandersetzen können, daB wir zwar vielleicht ,des sales boches', aber sicher nicht ,des sales nazis' sind. Nur scheint mir ungewiB, ob die Herrschaften sich für solche Nuancen überhaupt interessiert hatten; für sie ist das alles wohl das gleiche . . Er zuckte die Achsel und lachelte resigniert. „AuBerdem lieBen sie uns keine Zeit zu ausführlichen Konversationen". Das Madchen mit der schonen, grollenden Stimme schob die Zeitungen fort, die immer noch aufgeschlagen zwischen den Weinglasern und den Tellern lagen. „Sowas muB man sich gefallen lassen! — Ich war gleich dagegen, daI3 man sich mit dem Schmutzzeug" — sie gab den Papieren noch einen wütenden StoB — „in ein öffentliches Lokal setzt. Es ist eben einfach zu kompromittierend!" Sie sah reizvoll aus in ihrer Empörung. Aus ihren Augen, die eine merkwürdig dunkelgrüne, ins Schwarze spielende Farbung hatten, schlugen schone Flammen des Zornes. Der blonde junge Mann — er hieB Martin Korella legte ihr den Arm um die Schulter und bat mit der schleppenden Schmeichelstimme: „Argere dich nicht Marion! Wir sind ja eigentlich gar nicht gemeint gewesen. Im Grunde war es doch ein recht erfreulicher kleiner Zwischenfall: er beweist, wie unbeliebt die Nazis drauBen sind. In Amerika scheint ja eine nette Stimmung gegen sie zu herrschen. — Die freundlichen Herrschaften sind doch Amerikaner gewesen?" fragte er. Das Madchen Marion indessen wollte sich nicht beruhigen lassen. „Es ist grauenvoll!" klagte sie. „Wie schrecklich schnell ist es diesem Hitier gelungen, die Deutschen in der Welt wieder derart verhaBt zu machen, dafi man es riskiert, angespuckt zu werden, wenn man sich als Deutscher zu erkennen gibt!" Martin, dessen Arm immer noch um Marions Schulter lag, sagte nachdenklich: „Die Frage ist nur, ob diese Welt-Empörung lange anhalten wird. Die Menschen vergessen so schnell, und es kommen andere Sensationen. In fünf Jahren würden wir uns vielleicht freuen, wenn die Leute noch beim Anblick von Berliner Zeitungen in Wut geraten . . . Die Grauhaarige schlug vor: „Jetzt wollen wir aber zunachst mal was essen, Kinder! Das gute Zeug wird ja kalt. Mein Schnitzel sieht wundervoll aus!" Sie sagte „mein Schnitzel", obwohl doch noch gar nicht die Rede davon gewesen war, wie die Gerichte verteilt werden sollten. — „Mutter Schwalbe hat immer recht" konstatierte Martin Korella, und beschenkte die resolute Alte mit einem langen, zartlich siegesgewissen Bliek aus den schlafrig verhangenen Augen. „Essen wir also!" — David erklarte geschwind: „Ich bin nicht sehr hungrig und nehme das Omelett, wenn ich darf". — Er hatte eine seltsame Manier, sich beim Sprechen mit einem schiefen Ruck der rechten Schulter seitlich zu verneigen; dabei verzerrten sich seine ungesund blaulich gefarbten Lippen zu einem liebenswürdig angstvollen Lacheln. Es war eine rührende und etwas groteske, zugleich mitleiderregende und erheiternde kleine Höflichkeitspantomime. „Ich lasse mir den Appetit nicht verderben!" erklarte Mutter Schwalbe, schon mit ihrem Schnitzel beschaftigt. Und David, dem man das nicht sehr verlockend aussehende harte kleine Omelett überlassen hatte, bemerkte schüchtern: „Ich finde es hübsch hier... Dieses kleine Lokal gefallt mir. Und daG wir vier hier so beieinandersitzen . . . Ich habe es mir in Berlin oft gewünscht," gestand er, und über sein wachsern zartes Gesicht zog eine flüchtige, helle Röte. „Manche Wünsche gehen unter recht merkwürdigen Umstanden in Erfüllung — ganz anders, als man es sich ursprünglich vorgestellt hatte ..." Seine rehbraunen, kurzsichtigen Augen wanderten zwischen Marion, Martin und der Mutter Schwalbe hin und her, ehe sie sich, bescheiden und angstlich, senkten. Man schrieb den fünfzehnten April 1933. Die vier Deutschen — Marion von Kammer, Frau Schwalbe, Martin Korella und David Deutsch — waren alle erst im Lauf der letzten zwei Wochen in Paris eingetroffen; zuletzt die Schwalbe, für die es nicht ganz einfach gewesen war, ihren Berliner Betrieb aufzulösen. Ihr hatte ein kleines Etablissement, halb Restaurant und halb Kneipe, gehort, in dem sie als Köchin, Empfangschef und Madchen-für-Alles tatig war. Das Lokal „Zur Schwalbe" war nicht weit von der Kaiser-Wilhelm-Gedachtniskirche, in einer NebenstraBe des Kurfürstendamm gelegen, und hatte sich einer starken Beliebtheit in gewissen Zirkeln der Berliner Jugend erfreut. Leute mit keinem anderen Kapital als ihrem Ehrgeiz und ihrer radikalen Gesinnung, Studenten, angehende Literaten, Maler, Schauspieler hatten sich wie in einem Klub bei „Mutter Schwalbe" zusammengefunden, um dort über Marxismus, atonale Musik und Psychoanalyse zu diskutieren und auf Kredit Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat zu essen. Die Schwalben-Wirtin war, mit einer dicken Zigarre im Mund, zwischen den Tischen umhergegangen, hatte alle gekannt, allen auf die Schulter geklopft, und zuweilen einen furchtbaren Krach geschlagen, wenn jemand es sich einfallen lie!3, reaktionare politische Tendenzen zu verteidigen, oder gar zu saumig mit dem Bezahlen seiner Schulden war. Als die Hitler-Diktatur in Deutschland sich etablierte, waren die Stammgaste der Schwalbe auseinandergestoben; viele waren emignert, andere waren verhaftet worden; wieder andere blieben zwar in Berlin, hielten es aber nicht mehr für ratsam, sich in dem berüchtigten Lokal noch zu zeigen; manche waren sogar — die Schwalbe muBte es mit Bitterkeit konstatieren — zu den Nazis übergelaufen. Im Restaurant und in der Privatwohnung der „Patronne" — zwei Dachstuben, die sich im selben Haus wie die Kneipe befanden — hatte es Razzias gegeben; durch die Pro- tektion eines Jungen in S.S.-Uniform, der früher zu ihrer Klientel gehort hatte, war der Braven die Verhaftung erspart geblieben. „Und jetzt singen sie jeden Abend das Horst Wessel-Lied in meiner schonen Bude", steilte die Schwalbe wehmütig fest. David Deutsch — derartig nervös und übersensibel, dafi er auf bestimmte Worte reagierte wie auf die Berührung eines eisigen Windes — schauerte zusammen und bewegte gequalt die Schultern. „Das Horst WesselLied!" wiederholte er und blickte hilfesuchend um sich, als erbate er von den anderen Trost oder doch mindestens eine Erklarung. Er war einer der treuesten Gaste der Schwalbe gewesen, wahrend Marion und Martin, sozial entschieden höher gestellt als das eigentliche SchwalbenPublikum, sich nur zuweilen hatten sehen lassen — immer ein wenig wie groBe Herren, die es manchmal belustigt, in ein inferiores Milieu hinabzusteigen. Die „Patronne" hatte, trotzdem, eine entschiedene Sympathie für die Beiden; ja, sie mochte sie im Grunde lieber als den armen David, von dem sie, nicht ohne eine gewisse Verachtlichkeit, zu sagen pflegte: „Ach, der ist ja so entsetzlich gescheit! Der weiB ja alles!" Marion und Martin waren Jugendfreunde. Marion stammte aus einer sehr guten, Martin aus einer mittelfeinen Familie, übrigens waren sowohl die alten Korellas als auch Marions Mutter, Frau von Kammer, ziemlich verarmt. (Herr von Kammer war vor Jahren gestorben). Marion hatte als Schauspielerin zwar noch keine groBen Erfolge gehabt und war mit fast allen machtigen Berliner Theaterdirektoren verkracht; aber ihre Leistungen in einigen literarischen MatinéeAufführungen hatten doch von sich reden machen. Viele von Marions Freunden gehörten zu den links gerichteten Schriftstellern oder Politikern, die bei den Nazis am verhaBtesten waren und eingesperrt lachelte etwas fahl: „Sie müssen es entschuldigen . . . Aber Sie kennen ihn ja. Sie wissen, warum er diese fürchterlichen Dinge sagen muB." Sie blieben mehrere Minuten lang stumm, bis Martin fragte: „Aus welcher Sprache stammt eigentlich das Wort Kikjou ? Es klingt wie ein Vogelname . . . HeiBen Sie wirklich so?" Der Fremde schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete: „Als ich ganz klein war, in Rio drüben, hat mich eine indianische Kinderfrau so genannt. Und dann Marcel wieder." — Martin nickte. Sie hatten die Gare de Montparnasse erreicht und bogen links in den Boulevard ein. Die Schwalbe schlug vor, man solle einen Rundgang durch die groBen Cafés machen: „um die Freunde zu sammeln —", als galte es, einen feierlichen oder kriegerischen Umzug zu organisieren. In der „Coupole" fanden die Deutschen keinen ihrer Bekannten; nur Marcel wurde von ein paar jungen Leuten begrüBt, es waren französische Literaten, sie paBten nicht ganz in den Kreis. Im „neuen" Café du Dóme — einer erst seit einigen Jahren eröffneten, etwas eleganteren Dépendance des alten, schon klassisch ehrwürdigen Etablissements — trafen sie Professor Samuel, den Maler: ein betagter Herr, würdig, vaterlich, aber immer noch unternehmungsLustig, nicht ohne verschmitzte, leicht diabolische Züge; Professor Samuel — Schüler der groBen Pariser Impressionisten, von den internationalen Kennern und Sammlern seit Jahrzehnten respektiert; seit Jahrzehnten in den MontparnasseCafés ebenso intim beheimatet wie in den Berliner Lokalitaten gleichen Stils—: er rief mit seinem wunderbaren, orgeltiefen BaB: „Da seidihrja, meine Kinder!" — und zog einen nach dem anderen ans Herz; zuerst Marion, dann Marcel, dann Martin, David, die Schwalbe, und sogar Kikjou, den er gerade erst kennen lernte. Der „Meister" war stets gerne dazu bereit, junge Leute, mannlichen oder weiblichen Geschlechtes, zu umarmen und ein wenig zu liebkosen. Er hatte, unter dem breitrandigen Schlapphut, ein groBes, kluges, altes, blasses Gesicht; die Augen verschwanden hinter geheimnisvoll spiegelnden Brillenglasern; das Lacheln des feingeschnittenen Mundes war sowohl gütig als schelmisch und von einer gleichsam verklarten, vaterlich-allumfassend gewordenen Sinnlichkeit. „Der Meister! Lemaitre lui-même!" riefen die jungen Leute durcheinander. Sie kannten ihn alle, und sie waren angenehm berührt, seine schone Orgelstimme wieder zu hören. Er genoB groBes Vertrauen bei den jungen Leuten, die oft ratlos waren. Man beichtete ihm, klagte bei ihm, erbat Rat, er hatte für alles Verstandnis, es überraschte ihn nichts, er hatte viel gesehen, auch selber viel mitgemacht, er war alt und klug. In der Gesellschaft des Meisters gab es einen munter und adrett wirkenden kleinen Herrn mit auffallend schönem, soigniertem weiBem Haar über einer rosig appetitlichen Miene. Marion und Martin schienen mit ihm intim zu sein, auch Marcel und die Schwalbe kannten ihn, David hatte ihn nie gesehen. Er hieB Bobby Sedelmayer und war der Manager der Knickerbocker-Bar in Berlin gewesen, — eines Etablissements, in dem die arriviertesten von den Stammgasten der Schwalbe sich mit dem eigentlichen Kurfürstendamm-Publikum, den Snobs und den hochbezahlten Künstlern, begegneten. Der kleine Sedelmayer und die Schwalbe standen in einem neckisch-gespannten Verhaltnis, jedoch überwog die schalkhafte Nuance; denn im Grunde waren sie nie Konkurrenten gewesen, da bei der Schwalbe die Erbsensuppe dreiBig Pfennige, bei Bobby der Cocktail fünf Mark kostete. Nun hatten sie Beide ihre Pforten schlieBen müssen, und begegneten sich auf der Terrasse des „Dóme" — beide übrigens durchaus optimistisch, bei allem Ernst der Situation, und den Kopf voller Plane. Bobby hatte in seinem Leben mindestens schon fünfundzwanzig verschiedene Professionen gehabt, hinter ihm lagen vielerlei Abenteuer, es war erstaunlich, daB er immer noch ein so rosig-adrettes Aussehen zeigte. Er war vermogend und er war bettelarm gewesen. Er hatte in einem groBen Kunst-Salon in Frankfurt am Main Picassos verkauft, und zu Berlin heiBe Würstchen, nachts, auf der FriedrichstraBe. Er war Fremdenführer in New-York gewesen, und Schauspieler in München, Journalist in Budapest, und der Empfangschef eines Institut de Beauté ander TauentzienstraBe in Berlin. Er war einfallsreich, tapfer, immer guter Laune, intelligent und unverwüstlich. Marion küBte ihn auf beide Backen, er zog sie sofort beiseite, um ihr mitzuteilen: „Jetzt mache ich natürlich in Paris ein Lokal auf, der alte Bernheim wird mir das Geld geben, du kommst doch zur Eröffnung, ich will es diesmal ganz schick machen — Avenue de 1'Opéra, groBe Negerband —, der alte Bernheim scheint ziemlich viel money im Ausland zu haben ..." AuBer Bobby fand sich ein verschüchtert wirkender Jüngling an Samuels Tisch: ahrenblondes, artig gescheiteltes Haar, das hübsche, glatte Gesicht etwas entstellt durch mehrere Pickel auf der Stirne und um den Mund; dunkel und nicht ohne Feierlichkeit gekleidet, mit breiter, schwarzer Krawatte, im Stil lyrisch gestimmter Heidelberger Studenten. — Martin zwickte Samuel in den Arm: ,,Wo hast du den aufgegabelt ?" Der Meister schmunzelte: „Ach, er saB so einsam und bekümmert hier auf der Terrasse, mit seiner deutschen Zeitung auf den Knieen. Ich habe es für meine Christenpflicht gehalten, ihn anzusprechen. Er ist ein ungeheuer braver Junge, soviel habe ich schon heraus. Übrigens scheint er dort drüben, in Deutschland, arge Sachen erlebt zu haben." Dann wendete der Meister sich wieder an die ganze Gesellschaft, und erklarte, gegenüber, im „Select", sitzte der reiche Bernheim mit noch ein paar Leuten. „Wollen wir nicht hinüber gehen ? Er bezahlt uns die Drinks." Alle waren dafür, aber die Schwalbe sagte: „Ich muB nur erst noch ins alte ,Dóme' und in die ,Rotonde' schauen, ob nicht die arme Proskauer irgendwo sitzt. Sie kommt direkt aus Berlin und wird sicher etwas Interessantes zu erzahlen haben." Samuel, mit Marion, Martin, Kikjou und dem schüchternen Studenten ging schon ins „Select" hinüber, wo der reiche Bernheim die Drinks bezahlen würde; wahrend die Schwalbe sich von Marcel und David ins alte ,Döme' begleiten liefi. Dort fanden sie gleich das Madchen, welches sie suchten; sie saB in einem kleineren Nebenraum in der Nahe der Theke. Die Proskauer, mit einer ungewöhnlich langen, stark gebogenen Nase, an der die dunkeln, sorgenvollen Augen behindert vorbeiblickten, prasentierte sich als eine sehr haBliche, aber Vertrauen einflöBende, sympathische Person. Sie hielt sich schlecht; ihr schrag gehaltener Kopf mit tief sitzendem, unordentlich geflochtenem schwarzem Haarknoten, steckte zwischen den zu hohen Schultern. Ihre Worte kamen wie das leise, undeutlich-sonore verstandige Platschern einer kleinen Quelle unter der Felszacke ihrer Nase hervor. Man hatte sie recht gerne als milde Schwester um sich gehabt, wenn man fiebrig zu Bette lag. Marcel empfand angesichts dieses Typs von Madchen ein Mitleid, das an Zartlichkeit grenzte. „Pauvre enfant." dachte er und schaute die Proskauer leuchtend aus den Sternenaugen an. Bei ihr am Tisch saBen zwei Manner, beide hatten fast drohend ernste, unrasierte Mienen, und sie wirkten, als versteckten sie hohe, derbe, kotbespritzte Stiefel. Die Proskauer steilte sie als Theo Hummler und Dr. Mathes vor: „zwei sozialdemokratische Genossen," murmelte sie verstandig. Die Beiden hatten einen erschreckend festen Handedruck. Als sie mit Marcel bekannt wurden, sagten sie: „Enchanté", wurden etwas rot und lachten geniert, als ware es ein ungehöriger kleiner Scherz, dafi sie das französische Wortbenutzten. Beide Manner waren groB gewachsen und gut aussehend. Theo Hummler hatte sehr dichtes, schwarzes, etwas fettiges Haar und kluge, freundliche Augen. Dr. Mathes blickte etwas glasig um sich. Ein rotblonder Schnurrbart hing ihm in feuchten Fransen auf die Oberlippe. Er war Assistent an einem Berliner Krankenhaus gewesen — wie dem undeutlichsonoren Bericht zu entnehmen war, den die Proskauer der Schwalbe ins Ohr summte. „Unerhört tüchtiger Mensch", soviel lieB sich aus ihren Worten erraten, . habe ihn erst wahrend der letzten Wochen so richtig schatzen gelernt. . . Hat sich nur unter dem Zwang der Umstande zur Emigration entschlossen . . . Sehr ernst. . . wirklich sehr zuverlassig ..." — Was den Theo Hummler betraf, so war er in sozialdemokratischen Arbeiter-Bildungs-organisationen tatig gewesen. „Ein marxistisch geschulter Kopf", raunte die Proskauer, wozu Frau Schwalbe nickte. Auf dem Wege vom „Döme" zum „Select lieBen die drei aus Berlin neu Eingetroffenen schon die ersten Schreckens-Nachrichten hören. „Sie haben Betty verhaftet", murmelte die Proskauer, und der Mann vom Volksbildungs-Wesen erganzte: „Vorgestern abend, ich hatte sie ein paar Stunden vorher noch gesehen — der reine Zufall, daB sie mich nicht auch wieder erwischt haben!" — ,,Sind Sie denn auch emprisonniert gewesen?" erkundigte sich Marcel. Theo Hummler nickte: „Gleich in den ersten Tagen. Aber sie haben mich bald wieder raus gelassen, ich hatte Glück." — „Hat man sie . . . ?" Marcel fragte es mit Angst in der Stimme. Da er das deutsche Wort nicht gleich finden konnte, deutete er pantomimisch das Prügeln an. „Ob man mich geprügelt hat?" Hummler lachte kurz und grimmig durch die Nase. „Das vergessen sie niemals. — Aber es ist mir weniger schlimm gegangen als vielen von den Genossen. Doktor Mathes sagte, wobei er sich mit einer gewissen Scharfe an Dora wandte: „Übrigens ist es notorisch, dafl man uns Sozialdemokraten mit noch mehr Grausamkeit behandelt als die Kommunisten. Die Nazis wissen genau, wer ihre gefahrlichsten Feinde sind." — Die Proskauer schüttelte ernst den Kopf. „Ich habe in StraBburg junge Kommunisten gesehen — die waren zugerichtet: grauenvoll. Schlimmer kann kein Sozialdemokrat aussehen, der aus den Kellern der Gestapo kommt." Theo Hummler, dem der Gegenstand peinlich zu sein schien, wuBte noch zu erzahlen: „Und den Willi haben sie auch gekriegt — du weiBt doch: den kleinen Dicken, der auf unserer letzten Versammlung das Hauptreferat hatte..." Sie waren vor der Terrasse des „Select" angekommen. Der junge Arzt mit dem rötlichen, feuchten Schnurrbart zog Dora zur Seite. „Mit wem treffen wir uns da eigentlich ?" fragte er mifitrauisch. „Wenn es feine Leute sind, gehe ich lieber nicht mit. Ich sehe unerlaubt schabig aus ..." Auch der Volksbildungs-Mann hatte Bedenken: „In diesen Montparnasse-Cafés sollen besonders viel Spitzel sein. Man sagt, sie geben einem zu trinken und versuchen dann rauszukriegen, was für Beziehungen man nach Deutschland hat." Die Proskauer bekam etwas unruhige Augen, die angstlich an der Nase vorbei- blickten. „Ich weiB wirklich nicht. . murmelte sie. „Es sind Freunde der Kameradin Schwalbe..." Nun mischte diese sich ins Gesprach, wahrend David Deutsch und Marcel schon langsam die Terrasse betraten, auf der alle Tische dicht besetzt waren. — „Seid doch nicht übertrieben vorsichtig!" riet die Alte. „Ich kenne fast die ganze Bande da drinnen — und den Freunden meiner Freunde miBtraue ich nie!" — „Na ja", entschied Hummler, nachdem er sich mit dem Doktor durch Blicke, Achselzucken und Kopfschütteln nicht sehr taktvoll verstandigt hatte. „Machenwir alsomit! Man will kein Spielverderber sein!" — Die Schwalbe erklarte noch: „Es ist wohl so ein alter Berliner Bankier dabei, ein Freund vom Maler Samuel. Das scheint so einer, dergernefür einen ganzen Haufen von Leuten die Rechnung bezahlt." — „Ist ja ganz angenehm!" rief Hummler, durch diese Mitteilung besserer Laune gemacht. Er und Doktor Mathes lieBen herzliches Gelachter hören, die Schwalben-Wirtin stimmte dröhnend ein, auch die Proskauer hatte ein dunkel platscherndes kleines Lachen. Theo Hummler wunderte sich selbst: „DaB man bei den Zeiten noch vergnügt sein kann!" Dabei hatten sie den Tisch erreicht, an dem Bankier Siegfried Bernheim prasidierte. Professor Samuel schien die Unterhaltung zu beherrschen; als die Schwalbe mit ihren Freunden zur Gesellschaft stieB, lieB er eben seinen prachtvollen BaB hören: „GewiB, jeder von uns hat viel aufgeben müssen. Ich hatte gerade SchluB gemacht mit dem Vagabundenleben — reichlich spat, wie manche meiner Freunde fanden —, und war wohlbestellter Professor in Berlin geworden, mit festem Einkommen, einem hübschen Atelier in Dahlem und nur noch ganz geringfügigen Schulden. Ein ruhiger Lebensabend war mir aber wohl nicht beschieden. Da sitze ich wieder, wie vor vierzig Jahren —: unbeschwert. Mein Besitz ist ein Handkoffer, enthaltend zehn französische und fünf deutsche Bücher, einen Flanellanzug, einen ungebügelten Smoking, eine Zahnbürste, einen Skizzenblock, zwölf Bleistifte und ein paar Tuben Farbe. So zog ich schon vor vierzig Jahren durch die Welt. Und inzwischen ..." — er senkte sein groBes, erfahrenes, altes Haupt; seine Stimme dampfte sich düster —, „und inzwischen hat man sein Lebenswerk geschaffen." Dann sprang er auf, um die Schwalbe und ihre Begleitung mit Herrn Bernheim bekannt zu machen. Der reiche Mann sagte: „Herzlich willkommen an meinem Tisch!" Er hatte immer noch die salbungsvollgastliche Allüre, mit der er, so viele Jahre lang, seine Gaste — Politiker und Financiers, Chefredakteure und Schauspielerinnen, Prinzen, Musiker und Poeten — am Portal seiner Grunewald-Villa in Empfang genommen und begrüBt hatte. „Recht herzlich willkommen!" wiederholte er mit etwas öliger Stimme, und schüttelte der Schwalbe beide Hande. „Ich habe viel von Ihnen gehort!" — Sein Gesicht war alttestamentarisch würdevoll, mit groBer, fleischiger, ziemlich platter Nase, und einem breiten, rund geschnittenen Vollbart, der früher rot gewesen sein mochte und jetzt eine merkwürdig rosa-graue Farbung zeigte. Siegfried Bernheim schien die Stattlichkeit in Person; stattlicher und imposanter als er konnte ein Mensch überhaupt nicht sein. Alles an ihm atmete eine gesunde, fröhlich-ernste Selbstzufriedenheit, die jedoch weit davon entfernt war, in einen lacherlichen Dünkel auszuarten. Ihm lieB sich ansehen, daB auch der Schicksalsschlag, der ihn nun betroffen hatte — der Verlust von Haus und Heimat: das Exil — sein solides inneres Gleichgewicht keineswegs hatte storen können. Das gesellige Heim im Grunewald hatte er fluchtartig verlassen müssen — denn er war den Nazis nicht nur als reicher Jude, sondern auch als Förderer links-gerichteter Künstler und Politiker besonders verhaBt —: Was schadete es ? Es schadete wenig, so gut wie nichts. Er hielt Hofstaat auf der Terrasse dieses hübschen Cafés, und übrigens würde er bald eine geraumige Wohnung in Passy beziehen. Er hatte nur wenig Geld verloren. „Verhungern werde ich in absehbarer Zeit nicht müssen", gab er zu. — Die Comités für jüdische und politische Flüchtlinge erhielten keineswegs überwaltigend groBe, aber doch erfreuliche Gaben von ihm. Er war von liberaler Gesinnung, nicht ohne vorsichtige Sympathie für gemaBigt sozialistische Ideen. Seine Feinde und einige seiner Freunde, hatten ihn den „roten Millionar" genannt, wasersichmit Schmunzeln gefallen lieB. Ein wohlmeinender, ziemlich intelligenter, fortschrittlich gesinnter Herr: muBte man nicht froh und dankbar sein, daB es ihn gab ? DaB er hier, im braunen flauschigen Paletot, vor seinem schwarzen Kaffee mit Benedictiner saB, und die neuen Gaste fragte: ,, Was darf ich für Sie bestellen, meine Herrschaften ?" Es amüsierte ihn, daB David Deutsch nur heiBe Milch habenwollte. Die Herren Mathes und Hummler entschieden sich für Bier und etwas zu essen; Bernheim schlug Würstchen vor, weil es an die Heimat erinnerte. Mit Marcel versuchte er französisch zu reden. „J'ai — lu — un — de vos livres ... Trés beau —: en effet, trés beau. Trés originel", sagte er noch. „Quelque chose de trés nouveau!" Und er strich sich den rot-grau melierten Bart, durchaus befriedigt von seiner kleinen Ansprache in fremder Zunge. Als aber Marcel seinerseits zu sprechen anfing, mit unbarmherziger Geschwindigkeit, LiteratenJargon und Apachen-Argot vermischend, fiel es dem Bankier doch recht schwer, zu folgen. Er rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; sagte mehrfach: „Trés interessant!", und wandte sich schlieBlich, serenissimushaft seine Gnaden verteilend.an Mathes: „Ich höre, Sie sind ein vorzüglicher Internist, Herr Doktor . . . wie war doch der Name ?" — Marion berichtete in hochdramatischer Form von dem zugleich beschamenden, grotesken und erfreulichen Abenteuer, das sie vor einer Stunde, zusammen mit den Freunden, in dem kleinen Restaurant, rue des Saints Pères, gehabt hatte. „Wie aufregend das schone Kammer-Madchen zu flunkern versteht!" sagte Bernheim herzlich anerkennend. „Das war eine Leistung, Marion! Erlauben Sie, daB ich Ihnen noch einen Black-and-White kommen lasse ?" Marion argerte sich. „Ich habe nichts übertrieben! Du kannst es bestatigen, Schwalbe — und du, Martin —: Es ist alles genau so gewesen!" Ein Herr mit mongolisch schmalen, schiefgestellten Augen sagte achselzuckend: „Marion hat eine recht amüsante, aber doch keineswegs erstaunliche Geschichte erzahlt. Ich begreife die Aufregung der Herrschaften nicht. Selbstverstandlich ist Deutschland heute enorm unbeliebt; übrigens ist es niemals beliebt gewesen. Die zivilisierten Nationen haben Deutschland im Grunde immer verabscheut. Sie bewiesen einen guten Instinkt." „Aber erlauben Sie mal!" begann Theo Hummler drohend — dabei schob er den Teller von sich und wischte sich mit der Papierserviette den Mund: es machte den besorgniserregenden Eindruck, als sei er eisern entschlossen, eine ausführliche Diskussion zu beginnen. „Erlauben Sie mal —: angenommen sogar, was Sie da behaupten, stimmt! Sie stellen es mit dem Ton einer entschiedenen Befriedigung fest. Die sogenannten zivilisierten Machte hatten einen guten 4 Instinkt bewiesen, als sie Deutschland herabsetzten ? Offen gesagt, sowas begreife ich nicht! Deutschlands Beitrag zur Weltkultur" — Theo HummlerhattedenToneines Versammlungsredners, der sich eines nicht grob-demagogischen, sondern eines gebildet-maBvollen Jargons befleiBigt —: „Deutschlands kulturelle Leistung kann den Vergleich mit der Leistung jedes anderen Landes wohl aushalten . . . Das Land Goethes und Kants ..." Hier hatte der Herr mit den gescheiten MongolenAugen eine kleine, abwinkende Bewegung, die es dem braven Hummler durchaus verbot, weiter zu reden. „Lassen Sie doch die Herren Kant und Goethe, der Abwechslung halber, beiseite!" bat er hochmütig. Sein intelligentes Gesicht blieb merkwürdig starr, was mit seiner Angewohnheit, die Zigarette beim Sprechen im Mundwinkel zu behalten, zusammen hangen mochte. „Was haben die Deutschen mit Kant und Goethe zu tun ? Über die Beziehung — oder vielmehr: Nicht-Beziehung — der Deutschen zu ihren groBen Mannern können Sie sehr aufschluBreiche Bemerkungen bei einem Autor finden, der in Dingen der Psychologie einigermaBen beschlagen war. Nietzsche kannte sich aus ..." „Nietzsche! Nietzsche!" wiederholte, höhnisch und aufgebracht, der Mann vom Volksbildungswesen. „Sie berufen sich auf den Machtphilosophen, den Liebhaber der blonden Bestie, den ausgesprochen prafascistischen Typus!" Der andere zuckte wieder die Achseln. „Das ist dumm", sagte er, unbewegten Gesichts, immer mit der Zigarette im Mundwinkel. „Leider einfach dumm." Theo Hummler war kein besonders empfindlicher Mensch; aber dieser Bursche ging ihm auf die Nerven. „Wenn Sie mich für einen Idioten halten", sagte er Marion wuBte genau, wie miserabel sie für ihre verschiedenartigen Arbeiten bezahlt wurden. Übrigens hatten alle Drei immer Heimweh. Er gelang ihnen nicht, sich einzuleben im fremden Paris. Sie verkehrten beinah nur mit Russen, lasen fast nur russische Zeitungen und Bücher. Sonderbarer Weise litt an dieser Heimwehkrankheit sogar die junge Germaine, die doch ein ganz kleines Kind gewesen war, als ihre Mutter RuBland verlieB. Sie stammte aus einer ersten Ehe Anna Nikolajewnas; der Vater war im Bürgerkrieg gefallen, auf der Seite der WeiBen . . . Madame Rubinstein konnte nicht alter als fünfundvierzig Jahre sein; sie sah aus wie eine Sechzigjahrige. Ihr Haar war schlohweiB, ihr gescheites sanftes Gesicht von vielen Falten durchzogen. Sie trug sich immer in Schwarz. ,,Ich muB Trauer um RuBland tragen," hatte sie einmal mit geheimnisvollem Lacheln zu Marion gesagt, die etwas schaurig davon berührt gewesen war. Manche der Kleidungsstücke.die Anna Nikolajewna besaB, stammten noch aus der Zeit vor dem Kriege — wunderliche Pelzmantillen, Spitzen-Jabots, kleine runde Muffs, allerlei überraschende Kopfbedeckungen aus Pelz: St. Petersburger Mode aus dem Jahre 1913 . . . Marion freute sich darauf, ihre alte Freundin wieder zu sehen; aber sie wurde ein sonderbar bedrücktes Gefühl nicht los, als sie — es war zur spaten Nachmittagsstunde — die dammrige Treppe des Mietshauses im Montrouge hinaufstieg. Früher war sie meist mit irgend einem kleinen Geschenk gekommen, oder sie hatte ein wenig Geld zurückgelassen, wenn sie ging. Madame Rubinstein hatte es sich oft verbeten, aber es doch schlieBlich dankbar geschehen lassen. Nun war Marion ihrerseits eine Verbannte. Marion und Anna Nikolajewna trafen sich, zum ersten Mal, als Schicksalsgenossinnen. Die Russin tat zu Anfang des Gespraches, als wüBte sie nichts davon. Sie umarmte und küBte Marion, wie immer, und bemerkte nur: „Auch wieder einmal in Paris, mon enfant!" Sie sah würdevoll und appetitlich aus, in einem altmodischen schwarzen Kleid mit Schleppe und elfenbeinfarbigen Spitzen am Halsausschnitt wie an den Manschetten. ,,Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein", steilte Marion befriedigt fest, als sie sich am kleinen Tee-Tisch gegenüber saBen. ,,Und all eure komischen kleinen Sachen: ich freue mich immer, wenn ich sie wiedersehe ..." — Das Wohnzimmer der Familie Rubinstein, in dem Mademoiselle Germaine nachts auf der Ottomane schlief, war überfüllt mit allerlei seltsamen Gegenstanden, die der Hausherr sammelte. „Mon pauvre Léon", pflegte Anna Nikolajewna etwas mitleidig zu sagen, „es macht ihm plaisir . . ." Die Kollektion bestand teils aus den Modellen alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen placiert waren; teils aus ausgestopften Vögeln und Fischen, deren bizarre Formen alle vier Wande zierten. Zwischen den Schwertfischen, Flundern, Adlern und Papageien gab es, mit roter und grüner Farbe an die Wande gemalt, ein sonderbares System von Linien, Pfeilen und Kreisen; ein mystisch und bedeutungsvoll wirkendes Netz, das „le pauvre Léon" kindisch-emsig angefertigt hatte und von dem niemand, auch Anna Nikolajewna nicht, wuBte, ob es einen geheimen, nur seinem Schöpfer bekannten Sinn enthielt, oder nichts als das Resultat von Schrulle und unbeschaftigter Künstlerlaune war. Das enge Zimmer, vollgestopft mit Möbeln, allerlei NippesSachen, kleinen russischen Andenken und mancherlei Reiseerinnerungen, überfüllt mit Photographien und den Spiegein, Tassen und Blumenvasen, die Madame mit Barockengeln oder Blumen bemalte, bot einen zugleich traulichen und beangstigenden Anblick. Meistens war es auch noch von dickem blauen Rauch erfüllt, da keines der Familienmitglieder auf die Zigaretten mit den langen Papp-Mundstücken verzichten konnte, und sie alle eine Aversion dagegen hatten, das Fenster zu öffnen. „Ja, es ist ein gemütlicher Raum", sagte Anna Nikolajewna, wahrend sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Geback auf den Teller legte. „Aber mein pauvre Léon wird immer trauriger. Er spricht nicht viel, aber ich sehe doch, wie er sich gramt. . . Und neuerdings macht mir die kleine Germaine Vorwürfe . . „Worüber macht sie Ihnen denn Vorwürfe?" wollte Marion wissen. Madame Rubinstein sagte leise: „DaB sie nicht in RuBland sein darf." „Aber was für ein Unsinn!" rief Marion aus. „Wie kann sie Ihnen darüber Vorwürfe machen?" Anna Nikolajewna zuckte die Achsel und lachelte betrübt. Erst nach einer kleinen Pause sagte sie: „Germaine hat mir neulich versichert, daB sie in der SowjetUnion glücklicher sein würde als hier. Sie ist sehr aufgeregt gewesen und hat geweint. Es war ein Irrtum von euch — hat sie mich angeschrien—, es war ein Irrtum und auch eine Sünde von euch, die Heimat aufzugeben. Man soll die Heimat nicht aufgeben •— hat die kleine Germaine unter Tranen gerufen —, man soll sie unter keinen Umstanden aufgeben; denn sie ist unersetzlich. Wenn die Heimat leidet, muB man mit ihr leiden — ich wiederhole immer nur Germaines sehr heftig vorgebrachte Worte —; man soll weder klüger noch glücklicher sein wollen als die Nation, zu der man gehort. Übrigens — ich zitiere immer noch das weinende neunzehnj ahrige Kind —, übrigens sind die Katastrophen ja kein s Exil aus. — Es ist keine Bagatelle", sagte sie, abschlieBend, wieder in ihrem lockeren, damenhaften Konversations-Ton. „Durchaus keine Bagatelle." Dabei schüttelte sie die Manschetten graziös über ihren Handen. Dann goB sie Tee ein. . . . Spater erschienen Herr Rubinstein und die kleine Germaine. Man speiste zu Abend, es gab Schinken und Eier, dazu wieder Tee und für jeden ein Glaschen Wodka. Herr Rubinstein aB viel und schweigsam. Er war ein weichlicher KoloB mit sehr gutmütigen Augen — Hundeaugen, wie Marion fand — und einer grauen, auffallend porösen Gesichtshaut. Die kleine Germaine war sehr hübsch und ernst. Sie rührte beinah nichts von der Mahlzeit an, was ihre Mutter besorgt tadelte. „Ich habe keinen Hunger", sagte die kleine Germaine. Nachdem der Tisch abgeraumt war, begann Herr Rubinstein, beinah ohne Übergang, von alten russischen Tagen zu erzahlen. Anna Nikolajewna versuchte, das Gesprach auf aktuelle Pariser Ereignisse zu bringen; etwas krampfhaft plauderte sie über einen Ministersturz, eine Opernpremière. Léon aber fand Mittel und Wege, immer wieder auf seine Moskauer Reminiszenzen zu kommen. „Heutehabe ich den alten Petroff im Klub getroffen", berichtete er. „Mein Gott, wennich mich erinnere.. Die kleine Germaine verabschiedete sich ziemlich bald. „Ich habe eine Verabredung" , erklarte sie kurz auf die unruhige Frage der Mutter. Herr und Frau Rubinstein wechselten einen betrübten, ratlosen Bliek. Die Tochter, in grausamer Wortlosigkeit, setzte sich vorm Spiegel ihr schickes schwarzes Hütchen auf. Der Rahmen des Spiegels war mit dicken, drolligen Engeln verziert: eine der niedlichen Arbeiten Anna Nikolajewnas, die sich als unverkauflich erwiesen hatte. Martin war den ganzen Tag unruhig. ,Auf was warte ich', dachte er. Paris interessierte ihn nicht. Er hatte keine Lust auszugehen. Er versuchte zu schreiben. Das Papier vor ihm blieb leer. Auch das Buch, das er angefangen hatte zu lesen, langweilte ihn. Er wuBte, worauf er wartete. Der Geruch von Staub und einem süBlichen JasminParfum, der sein enges Hotelzimmer füllte, war ihm ekelhaft. Trotzdem brachte er bis gegen Abend die Energie nicht auf, auszugehen. Er klopfte mehrfach bei Marion an, die im selben Stockwerk wohnte wie er; aber sie schien den ganzen Tag unterwegs zu sein. Es gab auch noch ein paar andere Bekannte im Hotel „National"; Martin hatte keine Lust, sich mit ihnen zu unterhalten. Er schaute auf die StraBe hinaus und beobachtete die Leute, die gegenüber im kleinen Bistrotihren Kaffee oder Apéritif tranken. Einigekauften sich Zigaretten und Briefmarken. Martin konnte ihre Gesprache und Gelachter hören. Plötzlich ertappte er sich dabei, daB er an Berlin dachte. Als er abends das Hotel verlassen wollte, begegnete er Kikj ou vor der Loge des Concierges.,, Ich suche Sie", sagte Kikjou, als ob das eine Selbstverstandlichkeit ware. ,Haben wir denn ein Rendezvous für heute Abend gemacht ?' überlegte Martin einen Augenblick lang. Er war aber vorsichtig genug, seine Zweifel nicht auszusprechen. Vielmehr sagte er nur: „Das ist nett. Wohin gehen wir essen ?" Kikjou wuBte ein kleines Restaurant in der rue de Seine. „Es ist eigentlich gar kein Lokal", sagte er, „nur eine enge Stube, wo gerade zwei Tische Platz haben. Die Patronne kocht selber, und das Fraulein Tochter bedient. Aber man iBt dort ausgezeichnet und gar nicht teuer." Die Unterhaltung, abwechselnd deutsch und französisch geführt, blieb erst bei literarischen Gegenstanden. Schweiz wiederum kamen vor allem das Tessin, das Engadin oder Zürich in Frage. Frau von Kammer behauptete, daB sie persönlich einen stillen, landlichen Platz, etwa Ascona oder Sils Maria, vorziehen würde: ,,denn ich habe genug von der Welt", sagte sie in ihrer sonderbar konventionellen, starren Manier, die selbst noch der aufrichtigsten, spontansten AuBerung einen floskelhaft rhetorischen Charakter gab. „Aus Rücksicht auf ihre Töchter", entschloB sich die Geheimratswitwe dazu, vorlaufig in der gröBeren Stadt, in Zürich, Wohnung zu nehmen. „Ich will, daB meine Madels von der Gesellschaft empfangen werden", sagte sie — und es klang, als gabe es in Zürich einen Kaiserlichen Hof, dessen Zierde die jungen Damen von Kammer nun ausmachen sollten. Wenn sie, in solchem Zusammenhang, von „meinen Madels" sprach, machte sie sich einer Übertreibung schuldig, denn wirklich konnte es sich nur um Tilly, die Neunzehnjahrige, handeln. Susanne war erst dreizehn Jahre alt und sollte in einem Schweizer Pensionat „für junge Madchen ausersten Familien" untergebracht werden. Das Institut war entschieden zu teuer für die fïnanziellen Verhaltnisse der Geheimratin. „Aber es muB eben reichen!" erklarte die Mutter, fanatisch in ihrer Zartlichkeit zu dem hochaufgeschossenen, etwas mürrischen Backfisch, wie in ihrem unbedingten EntschluB, sich sozial nicht degradieren zu lassen. Marion blieb in Paris. Einige Tage nach ihrer Ankunft in Zürich hatte die Mutter, „mit Voranmeldung für Mademoiselle vonKammer'', das Hotel „National", Paris, rue Jacob, angerufen. „Ich bin froh, deine Stimme zu hören, mein Kind!" sagte sie, und der Klang ihrer Worte war warmer und belebter als meistens. — „Wie geht es dir denn, Mama?" fragte Marion, glücklich über die ungewohnt einfache, herzliche Art der Mutter. — „Danke, mein Kind: leidlich gut." Nun hatte sie schon wieder jene damenhafte Verbindlichkeit, unter der Marion heftiger litt als andere Töchter unter den Wutausbrüchen ihrer Mutter. — ,,Du weiBt ja: das Züricher Klima ist eine Wohltat für meine Nerven — natürlich nur so lange es keinenFöhn gibt. . Sieredete, als ware sie soeben in Baden-Baden oder Bad Gastein eingetroffen und berichtete nun einer entfernten Bekannten über die ersten Erfolge der Kur. Es war der Ehrgeiz der Frau von Kammer, Haltung zu bewahren, auch der Tochter gegenüber —: Haltung um jeden Preis, den Verhaltnissen zum Trotz, malgré tout, geschehe, was auch immer. Das Telephongesprach zwischen Paris und Zürich dauerte nicht sehr lange. Mama berichtete noch, daB sie, mit Tilly und der kleinen Susanne, vorlaufig in einem sehr hübschen Hotel am See abgestiegen sei. ,,Sehr soigniert", sagte sie anerkennend. „Die Bedienung — tip-top! Aber es ist natürlich nur provisorisch. Auf die Dauer könnte man sich das nicht leisten." ,,Es ist schrecklich traurig", sagte Marion, nachdem sie eingehangt hatte, zu Martin Korella, der gerade bei ihr im Zimmer war. „Sie kann es einfach nicht zeigen, wie nett sie ist. Hinter ihrer blöden .feinen'Art versteekt sich ihre ganze groBe Nettigkeit." Marion sah bekümmert aus. Mit ihren schonen und langen Fingern — den kraftvoll trainierten Fingern einer Pianistin, muBte Martin denken; oder, nein: eigentlich einer Bildhauerin — zerdrückte sie im Aschenbecher eine Zigarette, die sie gerade erst angeraucht hatte. Dabei stieB sie den Aschenbecher — es war eine jener haBlichen, weiBen kleinen Schalen, mit dem Reklame-Aufdruck der „Galeries Lafayette" — vom Tisch; mit zornig verfinsterten Augen schaute sie auf Zigarettenstummel und Asche, die nun den Teppich verunzierten. „Dabei ist sie namlich wirklich ganz besonders nett", behauptete sie mit einer tiefen, grollenden Stimme und schüttelte — einer gereizten Löwin ahnlich — die lockere Fülle ihres rot-braunen, purpurn schimmernden Haares.— ,,Zum Beispiel war es doch ganz groBartig von ihr, wie sie sich wahrend dieser letzten Wochen benommen hat , sagte Marion noch, trotzig und aufgebracht, als hatte jemand ihr widersprochen — wahrend Martin doch nur liebenswürdig und etwas schlafrig lachelte. „Langst nicht jede alte Dame bringt es fertig, sich so prima zu halten; die meisten hangen viel zu sehr an ihrer Tischwasche oder an einer bestimmten Friseuse, um die freiwillige Emigration auch nur zu erwagen. Und für die geborene von Seydewitz sollte es im Nationalsozialismus eigentlich verschiedene Elemente geben, die ihr gar nicht übel gefallen: stramme Haltung, nationales Gefühl, und all so'n Zeug . . . Aber nein: die geborene von Seydewitz überlegt sichs erst gar nicht lange. In ihrer ulkigen Ausdrucksweise konstatiert sie: Die Nazis sind schlechte Klasse — womit sie freilich auf eine etwas andere Art recht hat, als sie selber meint. Damit ist für sie alles erledigt. Ihr Instinkt hat gespürt: Was jetzt in Deutschland regiert, das ist Dreck. Und sie packt ihre sieben Sachen ..." „Vielleicht", gab Martin zu bedenken — jedes seiner Worte mit einer selbstgefalligen Langsamkeit schleppend —, „vielleicht ist diese brave Attitüde durch den schonen Einflufi einer gewissen Tochter zu erklaren . . „Vielleicht. Bis zum gewissen Grade." Marion biB sich in die Knöchel der geballten Faust, wie es ihre Angewohnheit war, wenn sie konzentriert nachdachte. „Aber mein EinfluB" — beschloB sie — „hat gewiB keine entscheidende Rolle gespielt. Die Seydewitz konnte ja gar nicht anders handeln, als sie es getan hat!" Dabei schüttelte sie, wie triumphierend, wieder das prachtvolle Purpur-Gelock. Martin lachelte, sphinxhaft, zartlich und verschlafen. — In der Tat: Frau von Kammer, die geborene Baronesse von Seydewitz, konnte gar nicht anders, als sich mit gelassener, hochmütiger Unbedingtheit gegen das suspekte Phanomen des Nationalsozialismus zu stellen. In allen politischen Dingen war sie vollkommen ahnungslos; aber für den neu-deutschen,,Erlöser" und seinen Anhang hatte sie nur das angewiderte Achselzucken, mit dem sie einen schlecht gebauten alten Klepper abgelehnt hatte, den man ihr als Rennpferd anzubieten wagte. Ihr Instinkt für biologische Werte —- viel scharfer entwickelt als ihr Gefühl fürs Moralische — bewahrte sie davor, auf die Tricks der Demagogen auch nur eine Sekunde lang herein zu fallen. Hinzu kam ihr höchst empfindliches Gefühl für die Würde ihrer Familie, das durch die neue Staats-Religion verletzt wurde. Denn das Rassen-Dogma beleidigte das Andenken ihres verstorbenen Gatten. Der Geheimrat von Kammer war Jude gewesen; seine Töchter galten, nach neuester deutscher Auffassung, als „Nichtarierinnen". Den Adelstitel hatte der Geheimrat von seinem Vater, einem einfluBreichen Bankier, geerbt. Seit einem halben Jahrhundert unterhielt die Frankfurter j üdische Patrizier-Familie gute Beziehungen zur Aristokratie und sogarzum Kaiserlichen Hof. Marie-Luisensseliger Gatte, Alfred von Kammer — Internist von internationalen! Ruf, Chef eines groBen Berliner Krankenhauses — hatte das Faktum seiner jüdischen Herkunft niemals verleugnet, sondern es eher, auf seine unpathetische, jovial-scherzhafte Art, zu betonen geliebt. Er war fünfundzwanzig Jahre alter als MarieLuise, deren Vater, dem General, er die letzten Lebensstunden zwar nicht wesentlich verlangert, aber durch klug gewahlte Tropfen und Injektionen doch ein wenig erleichtert hatte. Familie von Seydewitz lebte in Hannover und hatte kein Geld. Der General war stockkonservativ; verachtete aber die meisten seiner Standesgenossen — wegen ihrer Unbildung und kulturellen Zurückgebliebenheit — womöglich noch mehr als die grauenhaften Sozialdemokraten. Abends, bei der Lampe, las er seiner Frau und den Töchtern aus den Schriften von Goethe, Stendhal, Lord Byron und Theodor Fontane vor. Als er krank ward, bestand er darauf, daB man den berühmten jüdischen Spezialisten rief. Professor von Kammer verliebte sich prompt in das spröde, arme, hochmütige und sehr hübsche Fraulein von Seydewitz. Wahrend einer beinah zwanzigj ahrigen Ehe wurde er sich niemals darüber klar, ob sie ihn wiederliebte, oder je wiedergeliebt hatte. Vielleicht hatte die kleine Baronesse ihn nur geheiratet, weil er eine gute Partie war. Das Problem — ob Marie-Luise ihn liebte — beschaftigte den groBen Arzt zwei Jahrzehnte lang. Als er sich zum Sterben niederlegte, zeigte sie ihm, zum ersten Mal, eine heftige, bewegte Zartlichkeit. Die Gebarde, mit der sie sich über sein Lager warf, hatte eine Vehemenz, die den Geheimrat an seiner reservierten Gattin verblüffte. „Bitte, bitte — stirb nicht!" flehte Maria-Luise — schamlos, fassungslos in ihrer Angst. Wovor fürchtete sich denn die geborene von Seydewitz ? Sie gestand es selbst; denn sie schrie: ,,Dann ware ich ganz allein!" Der Geheimrat starb aber doch. Das war im Jahre 1925. Herr von Kammer hatte schon am 9. November 1918 beschlossen, nun wolle er nicht mehr lang leben. Die Niederlage des Reiches, der Zusammenbruch der Monarchie hatten ihn psychisch und physisch erledigt — übrigens auch finanziell. Er war ein glühender Patriot und fanatischer Anhanger des Hauses Hohenzollern — wahrend Marie-Luise, was vaterlandische Gefühle betraf, sich zwar korrekt aber eher kühl verhielt und die Kaiserliche Familie sogar ein wenig verachtete. Der Geheimrat hinterlieC seiner Witwe ein nur geringes Vermogen; den gröBten Teil seiner stattlichen Guthaben hatte er in Kriegsanleihe investiert — und also verloren. Der immer noch betrachtliche Rest zerschmolz ihm wahrend der Inflation. Marie-Luise verkaufte, Stück für Stück — und übrigens nicht ohne kommerzielle Geschicklichkeit — die Renaissance-Teppiche, Biedermeierkommoden und die kleine Bildersammlung — Böcklin, Schwind, Spitzweg, Leibl, Hans Thoma —, die den Schmuck ihrer reprasentativen Wohnung in der TiergartenStraBe ausgemacht hatten. Das geringe Kapital brauchte sie noch nicht anzugreifen. Von den Zinsen und dem Erlös der Verkaufe konnte sie ihre bescheiden gewordene Existenz, samt standesgemaBer Erziehung der Töchter, bestreiten. Es bedeutete entschieden eine Enttauschung für die Mama, daB ihre Alteste, Marion, zum Theater wollte. Indessen war Marie-Luise zu intelligent, um Einspruch zu erheben. ,Wenn sie als Schauspielerin keine Karriere macht, wird sie heiraten', dachte sie und genehmigte Marion ein paar hundert Mark extra, damit sie mit einem anstandigen GarderobeBestand ins erste Provinz-Engagement reisen könne. Tilly ihrerseits erklarte, am Tage ihres siebzehnten Wiegenfestes, nicht ohne Feierlichkeit, daB sie sich zur Malerei berufen fühle. Die Mama schlug vor, ob sie es nicht zunachst mit der Herstellung von stilisierten Lampenschirmen und netten Glastieren versuchen wolle; dergleichen hatte mehr praktische Aussichten als Ölgemalde oder Kupferstiche. Tilly ging zur Kunstgewerbeschule. Frau von Kammer hoffte, daJ3 wenigstens bei der kleinen Susanne jener Drang nach künstlerischer Aktivitat, der bei den Alteren so heftig schien, ausbleiben werde. Freilich: sogar junge Damen aus erstklassigen und selbst noch wohlhabenden Hausern zeigten heutzutage eine gewisse Neigung, sich „auf eigene FüBe zu stellen". Trotzdem war die geborene von Seydewitz der Meinung, daB arbeitende Madchen schwerer zu verheiraten seien als faule. Woher hatten Marion und Tilly ihre Talente und ihren unruhigen Ehrgeiz ? In der Familie von Seydewitz kam dergleichen nicht vor. Sie muBten es von den Kammers geerbt haben. Dabei konnte man nicht eigentlich sagen, daB Marion, auBerlich oder als Charakter, dem Vater glich. Ihr vehementer, aggressiver Charme, ihre begabte Nervositat, ihre Unrast, ihr Eigensinn waren weder in der jüdischen Patrizierfamilie, noch in dem preuBischen Aristokratengeschlecht vorher dagewesen. Die hohen und schmalen Beine hatte sie von der Mutter; den gescheiten, manchmal grüblerisch sich verdunkeinden Bliek vielleicht vom Papa. Aber es blieb, an diesem kompliziert zusammengesetzten und fast beunruhigend reizbegnadeten biologischen Phanomen, genannt „Marion", ein groBer Rest von durchaus fremdartigen Qualitaten; eine Fülle von Zügen, die der Mutter erstaunlich, unverstandlich und beinah erschreckend schienen. Tilly erinnerte auf eine klarere, eindeutigere Art an den Vater: schon durch ihre Neigung zur Rundlichkeit — sie tat gut daran, auf ihre Linie zu achten —; aber auch durch Form und Ausdruck ihres intelligenten, weichen, gutmütig sinnlichen Gesichtes. Tillys Lippen, besonders, lieBen Marie-Luise oft an den seligen Geheimrat denken: dieser genufifreudige, ein wenig zu üppige Mund, der immer ein wenig feucht wirkte — als hatte er gerade etwas Leckeres, Fettes, HonigsüBes verzehrt, oder als hatte er sich soeben erst von einem anderen nassen Mund gelost, an dem er sich mit langem Kusse festgesaugt. Übrigens war es diesem Munde, auf eine überraschende, fast fürchterlichte Art auch gegeben, Schmerz, sogar Verzweiflung auszudrücken. Es geschah zuweilen, daB Tillys Lippen sich tragisch öffneten, wie zu einem stummen Schrei, und ehe die Augen noch Tranen vergossen, schienen die feuchten Lippen zu weinen. — Von dem Kind Susanne durfte man erwarten, daB eine veritable von Seydewitz aus ihr werde: sie brachte das Zeug dazu mit. Marie-Luise mochte als kleines Madchen hübscher und wohl auch, auf ihre spröd befangene Art, liebenswürdiger gewesen sein. Gewisse Züge, die bei der Mutter erst jetzt, im Alter, hervortraten, waren bei Susanne schon in zarter Jugend auffallend: etwa das zu lange, hart geformte Kinn; die schmalen, aufeinander gepreBten Lippen und die ein wenig bitteren Falten, von denen die Mundwinkel abwarts gezogen wurden. Das Kind Susanne hatte wasserblaue, streng blickende Augen und frisierte sich das dünne, aschblonde Haar zu steifen kleinen Zöpfen, von denen man den Eindruck bekam, daB sie hart und kühl anzufühlen sein müBten wie Metall. Im Jahre 1931 wollte Susanne Mitglied einer Nationalsozialistischen Jugend-Organisation werden. Frau von Kammer muBte es ihr verbieten und sie auf die jüdische Abkunft ihres Vaters schonend aufmerksam machen. Susanne, die davon nichts geahnt hatte, wurde bleich und verstummte. Dann weinte sie lange. ,,Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schamen", versuchte Marie-Luise sie zu trosten. ,,Er hat seinem Lande groBe Dienste geleistet." — Die geborene von Seydewitz war keineswegs gewillt, mit irgendjemandem eine Philosophie und politische Konzeption zu diskutieren, der zufolge ihr verstorbener Gatte zu einem Bürger zweiter Klasse, einem Paria degradiert ward. Sie brach rigoros den Verkehr mit allen jenen unter ihren Bekannten ab, die der Rasse-Dogmatik des Nationalsozialismus anhingen. Ihren Freundinnen — von denen die meisten zum mittleren preuBischen Offiziersadel gehörten erklarte sie: „Diese Nazis sind noch schlimmer als sogar die Kommunisten. Bei denen weiB man doch wenigstens, was sie sind: unsere Feinde. Die Nazis aber spielen sich als die Bewahrer unserer heiligsten Güter auf und sind in Wahrheit doch nur respektlose Plebejer." Die Offiziers-Gattinnen schwiegen pikiert, wenn die geborene von Seydewitz scharf betonte: „Wer behauptet, ein Jude könne kein guter deutscher Patriot sein, der ist ahnungslos, oder er lügt. Mein seliger Vater — sicherlich ein preuBischer Soldat von guter alter Art — zahlte einige Juden zu seinen intimsten Freunden. Meine Madels sind in einem tadellosen Geist erzogen worden. Soll ich es mir nun bieten lassen, daB man sie plötzlich wie Pestkranke behandelt ?" Marie-Luise, sonst so fein und still, sprach mit einer vor Indigniertheit beinah klirrenden Stimme. Was den verstorbenen General von Seydewitz betraf, so war es bekannt, daB er seiner Familie abends aus den Werken deutscher und sogar auslandischer Poeten vorgelesen hatte — was befremdlich genug wirkte —, und daB er, seiner eigenen Kaste gegenüber, von einer sonderbaren Reserviertheit gewesen war. Und nun gar die beiden jungen Fraulein von Kammer angehend: da hatten Marie-Luisens gute Freundinnen recht gemischte — oder eigentlich schon: ganz eindeutige — Gefühle. Untereinander redeten sie, halb mitleidig halb entrüstet, über Marion und Tilly. — an seine Deckadresse in Prag und erkundigte sich bei ihm, was er von ihrem Reiseplan halte. Er erwiderte, kurz und bündig: Das ist Quatsch. Du kannst dem Jungen nichts nützen und bringst dich selbst in Gefahr. — Merkwürdiger Weise nannte der Unbekannte sie „Du". Tilly wunderte sich darüber; fühlte sich aber auch geschmeichelt und, auf eine fast sinnliche Art, gereizt. Konnis Freund rechnete sie also zu den Zuverlassigen, den Genossen . . . Dabei hatte sie sich eigentlich nie für Politik interessiert. Nur um die Abende mit Konni verbringen zu können, hatte sie ihn zu den Meetings begleitet — die tödlich langweilig für sie gewesen waren, wenn er nicht neben ihr gesessen hatte. Sie liebte ihn. Jetzt erst, da sie ihn verloren hatte, ermaB sie es ganz, wie sehr sie ihn liebte und brauchte. Sie dachte immer an ihn, und sie weinte viel. Das Argste war, daI3 keine Nachricht von ihm kam — keine Zeile. Erreichten ihn denn die langen Briefe, die sie ihm fast taglich schrieb ? Auch der mysteriöse H.S. in Prag hatte seinerseits nichts von Konni gehort: er teilte es Tilly, die ihn brieflich mit Fragen bestürmte, lakonisch mit. — Wie mochte dieser H.S. aussehen? Tilly beschaftigte sich zuweilen mit der Frage. Seine Handschrift war sympathisch, übrigens recht kindlich steif und steil. Er hatte eine unbeholfene, aber kraftig volkstümliche und pragnante Art, sich auszudrücken. ,Sicher ist er ein sehr anstandiger, einfacher Junge', beschloB Tilly. .Ichglaube, daB ich ihn mögen würde.' Ernst und heroisch gestimmt, wie sie war, gab sie luxuriöse Gewohnheiten auf; zum Beispiel die, in Nachtlokale zu gehen, Whisky zu trinken und fünfzig Zigaretten am Tag zu rauchen. Sie verzichtete auch darauf, weiter die Kunstgewerbeschule zu besuchen. Ihrer Mutter teilte sie mit, daB sie Unterricht im Maschine-Schreiben und Stenographieren nehmen wolle, um möglichst bald selbst etwas zu verdienen. Frau von Kammer konnte nichts dagegen einwenden — obwohl die Vorstellung, eine ihrer Töchter als Sekretarin arbeiten zu sehen, ihr höchst peinlich war. Aber die Geldverhaltnisse der Witwe verschlechterten sich rapide. Die Bilder und Kunstgegenstande, die ihr noch geblieben waren, hatte sie zwar, samt ihrer Wohnungseinrichtung und der kleinen Bibliothek, mit in die Schweiz nehmen können. Die besten Stücke aber waren langst verkauft, und von dem Barvermögen hatte sie erhebliche Teile für die „Reichsfluchtsteuer opfern müssen. In dem kostspieligen Hotel an der Seepromenade war Frau von Kammer mit ihrer Tochter nur einige Wochen geblieben. Die Dreizimmer-Wohnung, die sie nach langem Suchen gefunden hatte, war immer noch teuer genug. Sie lag in der „Mythen-StraBe , die einen gediegen soignierten Eindruck machte. ,,Die Lage könnte nicht besser sein", erklarte Marie-Luise ihren Bekannten, die kleinbürgerliche Enge der dunklen Parterre- Stuben mit der Vortrefflichkeit ihrer topographischen Situation gleichsam entschuldigend. „Man hat nur ein paar Schritte bis zum See, bis zu den guten Geschaften an der Bahnhofstrafie, zumParadeplatz, zum Kursaal und — darauf lege ich ganz besonderen Wert! — man ist nah bei der Tonhalle. Die Konzerte hier sollen ja ersten Ranges sein .... Wirklich hatte sich die geborene von Seydewitz, obwohl sie gar nicht musikalisch war, ein Abonnement für die Symphonie-Konzerte geleistet; dies glaubte sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig zu sein. „Wennmanaufhörtzureprasentieren", versuchte sie Tilly klar zu machen, „ist man verloren. Die Leute sehen einen überhaupt nicht mehr an." Der Geheimrat hatte in Zürich viele gute Freunde gehabt — prominente Kollegen, oder reiche Patienten — Marie-Luise durfte meinen, daB sie mit mehreren Damen aus Schweizer Patrizier- Kreisen in den herzlichsten Beziehungen stand. Nun meldete sie sich telephonisch bei ihnen. Man war erfreut, ihre Stimme zu hören; da sie als Adresse zunachst das luxuriöse Seehotel nennen konnte, nahm man an, sie befinde sich auf der Durchreise. Man lud sie zum Tee oder zum Abendessen ein. Sie nahm Tilly mit. „Du wirst sehen, wir werden bald einen reizenden Kreis hier haben", versicherte sie siegesgewiB der Tochter auf der Taxifahrt zum Villenvorort, wo die lieben Bekannten wohnten. Indessen erfror das Lacheln auf den Mienen der wohlhabenden Gastgeber, als Frau von Kammer gestand, daB sie diesmal nicht auf einer Vergnügungsoder Erholungsreise sei, sondern sich hier niederzulassen gedenke. Es war, als hatte man die eben noch respektable Dame bei suspekten, wahrscheinlich kriminellen Machenschaften ertappt. „Ja, wieso denn?! Warum denn nur, meine Liebe ?" forschte angstvoll die Hausfrau. Als Marie-Luise aber, artig und gelassen, erklarte, dass man ihr doch wohl kaum zumuten könne, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte heute als ein Aussatziger gelten würde, — da fiel es wie ein eisiger Reif auf die gesellige Runde, und die gute Stimmung war weg. Nach einer fürchterlichen Pause bemerkte jemand, mit schonender Behutsamkeit: ,,Ja, freilich — der gute Geheimrat war ja . . . Er war ja wohl . . . hm . . als müBte man nun endlich den peinlichen Tatbestand zugeben, daB Herr von Kammer Zeit seines Lebens an einer stinkenden Kratze gelitten habe. Tilly bekam schon drohende Augen; sie war im Begriff, Dinge zu auBern, die ihre Mama für immer in diesem Zirkel unmöglich gemacht hatten. Einer der anwesenden Herren ahnte es vielleicht; denn er sagte begütigend: „GewiB, gewiB, es ist wohl nicht alles, wie es sein sollte im neuen Deutschland. Manche Tendenzen, — an sich vernünftig und lobenswert — werden ins MaBlose übertrieben. Das sind unvermeidliche Kinderkrankheiten . . Frau von Kammer erklarte, ruhig aber dezidiert: ,,Von Politik versteheich nichts; meine Kinder machen mir zum Vorwurf, daB ich nie Zeitungen lese. Aber sovielweiflichdoch: diese Nazis sind gemeine Plebejer. Man braucht sich nur ihre Gesichter anzuschauen! Sehen gutrassige Leute so aus ?! Und benehmen Menschen, die eine Kinderstube haben, sich so, wie die Herren von Deutschland es tun?!" Einer der Gaste — ein millionenschwerer Industrieller; Mann von strammer Haltung und strammer Gesinnung — rausperte sich schon recht indigniert. „Aber erlauben Sie, gnadige Frau", lieB er seinen einschüchternden BaB vernehmen. „Aus der Art, wie sie den Ausdruck .Plebejer' verwenden, könnte man fast auf eine sehr rückstandige Gesinnung bei Ihnen schliefien. Die Manner des Volkes, die jetzt in Deutschland drauBen, Gott sei's gedankt, an der Macht sind, erfüllen eine eminente historische Aufgabe. Die Volksgemeinschaft ist hergestellt, die Hetze zum Klassenkampf gibt es nicht mehr. Wenn Sie die akute bolschewistische Gefahr bedenken, in der das Reich sich tatsachlich befand ..." Die Hausfrau rief flehend: „Aber lassen wir doch die Politik! Frau von Kammer hat ja selbst erklart, daB sie sich mit dergleichen nicht befaBt! Und es gibt doch so viel andere Gesprachsthemen, die amüsanter sind." Sie blickte hilfesuchend im Kreise umher. Eine rechte Gemütlichkeit wollte sich nicht mehr herstellen. Frau von Kammer und ihre Tochter brachen früh auf. Im Wagen blieben sie beide eine Weile stumm. Marie-Luise saB in sehr aufrechter Haltung, den Bliek starr geradeaus gerichtet. Tilly — die noch vor einer Viertelstunde sehr argerlich auf ihre Mutter gewesen war — spürte jetzt nur noch Mitleid. Sie überwand ihre Scheu und Befangenheit, die sie sonst in Gegenwart der Mama selten los wurde; vorsichtig streichelte sie die magere, harte Hand ihrer Mutter. Frau von Kammer war leicht zusammen gefahren; beinah hatte sie den Arm weggezogen. Sie hielt aber stille. Die kleine Liebkosung tat wohl. Mit einer ganz weichen, etwas heuchlerischen Stimme sagte sie: „Es war wohl nicht sehr unterhaltend bei Krügis — wie ? Mir scheint, sie haben sich recht verandert. Früher ist es viel zwangloser und netter bei ihnen gewesen. Vielleicht war Frau Krügi durch irgend etwas praokkupiert. . ." „Sei nur still, Mama!" Tilly schmiegte sich enger an die Mutter. „Wir müssen ja nicht mehr zu den Leuten. Wir wollen überhaupt nicht mehr solche Besuche machen — versprichst du mir das ?" Nun fand Frau von Kammer doch, daB ihre Tochter zu weit ging. Das war wieder jene Neigung zur Hemmungslosigkeit, die Marie-Luise so fremd und sogar beangstigend schien. „Es ist sehr wichtig für uns, daB wir von der Züricher Gesellschaft empfangen werden," sagte sie, nicht ohne Strenge, und nahm wieder Haltung an. „Morgen sind wir zum Tee bei Wollenwebers." Tilly seufzte und lieB die Hand ihrer Mutter los. — Frau von Kammer war in allen gesellschaftlichen Dingen von Sensibilitat und prompt reagierendem Taktgefühl. Jetzt aber dauerte es ziemlich lange, bis sie es verstand und sich klar machte, daB sie in der Gesellschaft, der sie sich, ihrer Herkunft und Erziehung, wie ihrer Neigung nach, zugehörig fühlte, unerwünscht war. Nur sehr allmahlich begriff sie, daB es bei den reichen, alteingesessenen, hochachtbaren Familien einfach als anstöBig galt, mit der Regierung des eigenen Landes überworfen zu sein. Wenn es sich um ein sozialistisches Regime gehandelt hatte, mit dem man nicht auskommen konnte, ware dies entschuldbar und selbst ehrenvoll gewesen. Marie-Luise sah sich fallen gelassen von denen, die sie als „Menschen meinesgleichen" zu bezeichnen pflegte, und sie litt darunter. Keineswegs hatte sie vorgehabt, sich von ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zu lösen, als sie Deutschland verlieB. Nicht ohne Schrecken muBte sie nun konstatieren, daB genau dies es war, was sie getan hatte. Sie fühlte sich sehr allein, — so allein, wie noch niemals zuvor im Leben. Mit wem sollte sie reden, wenn die „Menschen ihresgleichen" auf die Unterhaltung mit ihr keinen Wert mehr legten ? Sie verstand nur ihren Jargon, keinen anderen. Sowohl die Leute „aus dem Volke" als auch die Intellektuellen drückten sich für die Ohren Marie-Luisens in fremden Zungen aus. Manchmal versuchten ein Brieftrager, ein Handwerker oder die Gemüsefrau gutmütig, sie ins Gesprach zu ziehen. Sie hatten wohl davon gehort, daB diese deutsche Dame sich mit den neuen Machthabern in ihrem Lande nicht recht vertrug. Die meisten waren geneigt, Frau von Kammer, weil sie Emigrantin war, für eine Jüdin zu halten, trotz ihrem echt vonSeydewitz'schen Aussehen. Der Brieftrager und die Gemüsefrau drückten ihre Empörung aus über all das, was man den Israeliten jetzt antat — dort „drauBen", im Reich. Ein Handwerker, der die Wasserleitung in der Wohnung reparierte, ging so weit, zu erklaren: „Aufhangen sollte man den Hitier!" Alle waren sich darüber einig, daB es eine Schmach und eine Schande sei, und daB „bei uns in der Schweiz" dergleichen niemals geduldet würde. „Die sollten es nur pro- 7 bieren!" rief drohend die Gemüsefrau mit ihrer behindert-gutturalen Stimme. Es waren sehr brave Leute, von einem ruhigen, anstandigen SelbstbewuBtsein. Sie gehelen Marie-Luise. Trotzdem wuBte sie nicht, in welchem Tone sie ihnen antworten sollte. Sielachelte starr und befangen. „Ja ja, es ist wohl nicht alles ganz so, wie es sein sollte", bemerkte sie, konventionell und floskelhaft. Es war bitter, allein zu sein. Nun empfand Frau von Kammer es mehr denn je, daB zwischen ihr und den beiden Töchtern ein wahrhaft herzliches, spontan vertrauensvolles Verhaltnis sich niemals hatte herstellen wollen. Sie schrieb lange Briefe nach Paris, an Marion. Aber diejenigen, in denen von ihren Gefühlen und Noten die Rede war, schickte sie niemals ab, sondern nur die anderen, welche von der Wohnungseinrichtung oder von einem Abend im Stadttheater erzahlten. Marions Antworten — mit einer groBen, zugleich energisch beschwingten und fahrigen Schrift bedeckte Zettel — waren selten mehr als ein paar launig-barocke Redensarten, aphoristische Wutausbrüche gegen die Nazis oder wirre Andeutungen, das Pariser Leben betreffend. — Susanne sendete aus dem Internat pflichtgemaB ihre wöchentlichen Berichte; sie waren stets trocken gehalten, ihr Inhalt schien befriedigend, es fehlte ihnen jeder Hauch von Phantasie, jeder Atem von Zartlichkeit. Und Tilly ? Sie lebte in der Nahe der Mutter, und schien weiter von ihr entfernt zu sein als die beiden abwesenden Töchter. Marie-Luise wuBte kaum, mit wem ihr Kind seine Tage verbrachte. Von den Schreibmaschine- und Stenographie-Stunden konnte ihre Zeit keinesfalls ganz ausgefüllt sein. Tilly schien neue Bekannte, vielleicht Freunde zu haben. Frau von Kammer hörte sie am Telephon plaudern und Verabredungen treffen. Es waren wohl Emigran- ten — Marie-Luise wuBte, da/3 es ihrer ziemlich viele in Zürich gab. Tilly traf sich mit ihnen in den Caféhausern. Niemals brachte sie einen dieser Menschen in die Mythen-StraBe. Frau von Kammer konnte dies als Rücksicht auffassen. Immerhin hatte das Kind ja einmal fragen können, ob die Mama einen ihrer neuen Bekannten bei sich zu empfangen wünsche. Wahrscheinlich würde Marie-Luise abgelehnt haben. Sie empfand kein Bedürfnis, Leute zu sehen, mit denen sie wohl kaum mehr gemeinsam hatte, auBer eben ein Gefühl: die Antipathie gegen die Nazis. Fraglich blieb nur —dachte Frau von Kammer —, ob ihr ein Deutschland, das so, wie diese Emigranten sichs wünschten, regiert war, ertraglicher gewesen ware als das Dritte Reich. Man durfte vermuten, daB die meisten jener Exilierten „Radikale" waren —: ein Begriff, mit dem die Geheimratswitwe vage, aber keineswegs erfreuliche Vorstellungen verband. Da traf man sich also abends, in einer Wohnung, wo es gewiB recht unordentlich aussah, oder im Café, und diskutierte bösartig über die Revolution. Ein laut redender, reichlich Alkohol konsumierender Kreis — malte Marie-Luise sich aus —, und eine von der Gesellschaft war also ihre Tochter Tilly. Manchmal mochte es ja recht angeregt zugehen; es wurde gelacht, Frau von Kammer hatte schon so lange nicht mehr laut und herzlich lachen hören. Aber nein: ihr Milieu war dies entschieden nicht . . . Da war, immer noch, die Einsamkeit besser. Die Einsamkeit war nicht gut. Auf die Dauer wurde es fast unertraglich, durch die StraBen dieser schonen, sommerlichen Stadt zu gehen und zu niemandem sagen zu können: „Schau, wie die Flügel der Möwen heute wieder in der Sonne leuchten!" Oder: ,,Mir kommt es vor, als ware der See heute noch blauer, als er gestern war." Das Leben in Zürich war heiter. Die schone und reiche Stadt schien ihre Bürger — oder die Fremden, die in den gepflegten Hotels an der BahnhofstraBe, an den Seeufern logierten — vergessen lassen zu wollen, was im groBen, tragischen Nachbarlande taglich, stündlich an Jammervollem und Bösem, an Schauerlichem und Gemeinem geschah. Zürich strahlte. An den freundlich bebauten, höchst zivilisierten Ufern seines Sees hatten Wohlstand und Biederkeit sich niedergelassen. In diesen besonnten JuniWochen meinte man, hier nur glückliche Menschen zu sehen; die Unglücklichen zeigten sich nicht. Die Badeanstalten am See waren überfüllt, wie die eleganten Konditoreien, die Hotel-Terrassen, die Cafés, die popularen Biergarten. Wohin man schaute — braungebrannte, lachende Gesichter. Junge Leute gingen in Nagelstiefeln und Leinenhosen umher, schwer beladen mit ihrem Rucksack und doch leichten Schrittes; sie kamen von Bergtouren, oder sie brachen gerade zu Exkursionen auf. Bei „Sprüngli" oder bei „Huguenin", an der BahnhofstraBe, saBen die Madchen und ihre Burschen in weiBen Segelkostümen neben den alten Amerikanerinnen. Im Garten des Hotels „Baur au Lac" schmachtete die Zigeunerkapelle ihre Nachmittags-Musik; auf dem Parade-Platz klingelten munter die hübsch blau lakkierten Trambahnwagen; die groBen Limousinen aber glitten in vornehmer Stille über die Avenuen, Platze, Brücken und Quais; denn: ,,in Zürich wird nicht gehupt, aber vorsichtig gefahren"—: wie breite Spruchbander an den Stadteingangen und an einigenVerkehrszentren mahnend verkündeten. Auf die Nerven des Publikums wurde jede erdenkliche Rücksicht genommen . . . Liebenswürdig stand der Sommer dieser schonen Stadt zu Gesichte, wie einer hübschen Frau das lichte glasig erstarrt — schien es Tilly — und er schickte ein fahles Licht. Ihr Aufenthalt war kurz und übrigens völlig ergebnislos. Sie logierte bei einer Freundin, die ihrerseits in Beziehung zu den Genossen stand. Mit diesen traf sich Tilly, an dritter Stelle, nachts, unter allen erdenklichen VorsichtsmaBregeln. Einen der jungen Manner hatte sie schon früher durch Konni kennen gelernt: er war Student der Philosophie und trug eine groBe Hornbrille im kindlich weichen, rosigen Vollmondgesicht. Der andere schien ein strebsamer, gescheiter Proletarier zu sein; der Anzug kleinbürgerlich-korrekt; die Miene von einem verbissenen, fast drohenden Ernst. Sie steilten sich als Fritz und Willy vor, sprachen mit gedampften Stimmen — obwohl man sich in einer leeren, vielfach verschlossenen, isoliert gelegenen Wohnung befand —, und hatten die nervöse Gewohnheit, standig um sich zu blieken, zuweilen, mitten im Satze, jah aufzuspringen und zur Tür zu eilen, um festzustellen, ob sich hinter ihr jemand verbarg. Von ihnen erfuhr Tilly, daB Konni sich im Konzentraticnslager Oranienburg befinde; der Student mit dem runden Gesicht hatte ihn einmal besuchen können und versicherte: „Es geht ihm leidlich. Man hat ihn verhaltnismaBig wenig geprügelt." — „VerhaltnismaBig wenig. . .", wiederholte Tilly und schüttelte langsam den Kopf. „Es ist unfaBbar . . . unfaBbar . . ." Sie sagte es mit einer ganz leisen Stimme. Dann fragte sie schüchtern: „Wie lange, glauben Sie, wird man ihn dort behalten ?" Die jungen Manner, die sich Fritz und Willy nannten, sahen sich an und hatten beide ein kaum merkbares Lacheln, das gutmütigen Spott und etwas Bitterkeit ausdrückte. Endlich sagte der Proletarische: „Wenn man das wüBte . . ." Es gab ein Schweigen. Endlich stand Tilly auf, machte ein paar Schritte durchs Zimmer, und erklarte: „Ich muB ihn sehen." Da erwiderten die Beiden, wie aus einem Munde: „Das geht nicht." Sie könne ihren Konni keinesfalls besuchen —, setzten sie der armen Tilly auseinander. Sie sei der Gestapo sehr wohl bekannt; sei denunziert worden; man argwöhne, daB sie bei der Sache mit den Flugblattern im Universitatsgebaude mitgemacht habe. Tilly warf ein: „Das ist aber Unsinn!" Und der Philosophie-Student: „Darauf kommt es nicht an. — Ich gebe Ihnen den Rat: Hauen Sie ab! Fahren Sie möglichst schnell dorthin, woher Sie gekommen sind!" Es klang barsch, beinah unfreundlich. „Hier können Sie nichts nützen, nur schaden. Die illegale Arbeit ist nicht jedermanns Sache; dazu braucht man mehr als die rechte Gesinnung, und sogar mehr als nur Courage; namlich: Erfahrung; Training — wie zu einem Sport." Versöhnlicher fügte er hinzu, da er das Madchen mit den Tranen kampfen sah: „Wenn ich den Konni wieder mal sehen sollte, werde ich ihm erzahlen, dafi Sie hier gewesen sind; daB Sie an ihn denken. — Vielleicht lassen sie ihn doch bald raus . . sagte er tröstlich, gerührt durch den Anblick von Tillys zitterndem Kinn und ihren Augen, die naB wurden. — Frau von Kammer wunderte sich darüber, daB ihre Tochter durchaus nicht braungebrannt und frisch, vielmehr recht blaB und erschöpft von ihrem Ausflug zurück kam. — Tilly berichtete dem H.S., nach Prag, über ihre miBglückte Reise. „Du hast also recht gehabt," — da er sie in allen seinen Briefen „Du" nannte, hatte sie es unhöflich gefunden, ihn mit „Sie" anzureden —, „es war sinnlos. Ich habe den Konni nicht sehen können. Die Nazis zeigen ihre Opfer nicht her. Berlin hat sich schrecklich verandert. Ich war nur drei Tage dort und habe fast die ganze Zeit geweint." Wahrend sie das Briefcouvert schloB, dachte sie — zum wievielten Male?—: ,Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieser H. S. ? Ist er groB oder klein ? Blond oder schwarz ? Wie heiBt er ? Ist er ein intimer Freund von Konni ?' ,Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieses Madchen ?' dachte Hans Schütte. Er wohnte mit seinem Freund Ernst zusammen in einem recht engen Zimmer. Das Zimmer kostete 120 Tschechenkronen im Monat. Es lag unbequem, etwas auBerhalb der Stadt, in Kosirse. Man brauchte vom Zentrum aus zwanzig Minuten mit der Trambahn. Die Trambahn fuhr eine trostlos lange VorstadtstraBe hinunter: die Pilsener-StraBe. Hans und Ernst lernten es allmahlich, auch ihren tschechischen Namen auszusprechen; er lautete: Plzenska. Hans war fünfundzwanzig, Ernst siebenundzwanzig Jahre alt. Ernst war Sozialdemokrat gewesen und hatte in Berlin ein gutes Auskommen gehabt, erst als Schupo; dann als Privatchauffeur eines sozialdemokratischen Polizeiprasidenten. Er war ein nett aussehender Bursche von slawischem Gesichtstyp, wie man ihn in Berlin haufig findet. Hans war kleiner und stammiger als Ernst: mit rundem Schadel, auf dem er das dichte, dunkle Haar kurz geschoren trug; runden, gutmütigen, etwas vortretenden braunen Augen. Er hatte keiner Partei angehört, war aber mit den Kommunisten in Verbindung gewesen und hatte mit ihnen zusammen manchmal „ein Ding gedreht", wie er es nannte. Das heiBt: er hatte sich gelegentlich an kleinen Aktionen gegen die Nazis oder am Saalschutzbei Versammlungen beteiligt. Er war brauchbar 8 und tapfer; aber er konnte sich nicht unterordnen und muflte sich immer wieder sagen lassen, daB er „keine Disziplin" habe. Wenn man ihn aufforderte, in die Partei einzutreten, erklarte er: „Das ist nichts für mich. Ich passé in keine Organisation. Überhaupt bin ich kein Politiker. Mir fallt nur auf, dafi es in dieser Welt sehr viel Dreck gibt. Ich weiB noch nicht recht, wie man den am besten wegschafft. Oft möchte ich am liebsten alles zusammen hauen. Es gibt zu viel ScheiBe." ... Im Herbst 1933 kamen sie beide gerade recht zeitig über die Grenze — illegal, ohne Passé. Zu Anfang wurden sie in Prag unterstützt: Ernst von seiner Partei; Hans von einer linken humanitaren Organisation, an die kommunistische Freunde ihn empfohlen hatten. Ihr Leben war ganz ertraglich. Beide hatten noch niemals in einer anderen Stadt als Berlin gelebt. Nun lernten sie plötzlich etwas Neues kennen. Sie fanden, daB Prag wundervoll war. Stundenlang konnten sie sich herumtreiben: am Wilson-Bahnhof, auf dem groBen Wenzelsplatz, wo es die verführerischen Automaten-Buffets gab, oder am „Graben", wo sie in die Auslagen der eleganten Geschafte starrten; auf den Moldau-Brücken, oder am anderen Ufer, auf der geheimnisvollen,,Klein-Seite". Sie stiegenzum Haradschin hinauf und sagten: „Hier wohnt der al te Masaryk: ein sehr anstandiger Kerl." Sie fanden es aufregend im engen Alchymisten-GaBchen — „da haben sie früher mal Gold gemacht! Junge Junge!" —, und sie tauschten Erinnerungen an die Geschichtsstunden, als sie nebeneinander vor den hohen Mauern standen, die das Wallenstein-Palais umgeben. Vorm CzerninPalais sagten sie: „Mensch, det is pures Rokoko! So wat Schönes haben wir nich, in Berlin!" Sie waren sehr empfanglich für die mannigfachen Reize der Stadt Prag. Sie lernten auch nette Madchen kennen, die relativ wenig Geld verlangten. Manchmal nahmen sie sich zwei Madchen mit, in ihr enges Zimmer; manchmal nur eines, weil das billiger kam. Jede Woche zwei- oder dreimal trafen sie in einem kleinen Bierlokal ein paar Kameraden aus Deutschland,mit denen sie die politische Situation diskutierten. Sie untersuchten, warum alles so gekommen war, und was man dafür tun könnte, daB es anders würde. Ein Gescheiter, mit Hornbrille auf der Nase, erklarte: ,,W:r sind selber schuld an dem ganzen Unglück! Wenn die Linksparteien einig gewesen waren, hatte der Hitier es nie geschafft." Dann nickten sie alle nachdenklich. Aber einer von der Kommune sagte, halb scherzhaft, halb wirklich böse zu Ernst gewendet: „Mit euch Sozialfascisten konnte ein anstandiger Mensch doch nicht zusammen gehen!" — Daraufhin Ernst: „Ihr Kommunisten seid gar keine deutsche Partei gewesen, ihr wart doch abhangig von den Russen! Und was habt ihr denn für eine Politik gemacht ? Eure schlaue Theorie war: die Nazis sollen nur kommen, die werden bald abgewirtschaftet haben, und dann sind wir an der Reihe. Na, da haben wir die Pastete . . ." Der mit der Hornbrille lachte bitter: „Da streiten die sich schon wieder!!" — Hans sagte: „Wir hatten eben nur eine groBe Partei haben dürfen. In die hatte ich vielleicht dann auch gepafit..." — . . . Die Monate vergingen. Hans und Ernst hatten Sorgen; die Unterstützung war ihnen reduziert worden. Sie machten Gelegenheitsarbeiten; aber das war unerlaubt und konnte mit der Ausweisung bestraft werden. Es ging nicht anders, wenn sie ihr Zimmer halten und nicht in eines von den „Lagern" ziehen wollten, wo viele von ihren Kameraden untergebracht waren. Schon das Wort „Lager" war unangenehm; es erweckte Erinnerungen ans Dritte Reich . . . Hans und Ernst trugen Koffer von den Bahnhöfen in die Hotels; sie halfen in einer Gartnerei; spülten Teller ab; verkauften deutsche antifascistische Literatur in den Cafés . . . Nach und nach kam das Heimweh. „Berlin war doch besser", sagten sie immer haufiger. Die lange Trambahnfahrt vom Wenzelsplatz nach Kosirse wuchs ihnen zum Halse heraus. Sie fanden auch, daB die Stadt schmutzig war; der Kohlenstaub machte die Hemden, das Gesicht und die Hande schwarz. „In Berlin ist man nicht so dreckig geworden", meinten sie verdrossen, wenn sie sich abends wuschen. — Dabei zitterten sie immer davor, ausgewiesen zu werden. Hans gebrauchte immer haufiger seine alten, grimmigen Redensarten: „Man sollte alles zerschlagen. Es muB ein groBer Krach kommen, der alles kaputt macht. Alles ist ScheiBe." Manchmal aber sagte er zu seinem Freund Ernst: „Ich komme mir selbst schon ganz ulkig vor, weil ich mich an so komische Sachen klammere und über Dinge nachdenke, die in Wirklichkeit sicher ganz unwichtig sind. Dieses Madel da, die Freundin vom Konni, der ich immer Briefe schreiben muB —: ich habe so ein Gefühl — die ist eine brave Person; die war vielleicht was für mich; die könnte mir vielleicht helfen..." „So'n Quatsch", sagte Ernst. Kikjou war bei Martin geblieben. Das Zimmer im Hotel „National", wo es nach Staub und nach JasminParfum roch, war eigentlich zu eng für zwei Personen. Aber sie merkten es nicht. Sie sahen fast niemanden, immer nur einer den anderen. Manchmal trafen sie Marion für eine halbe Stunde. „Marion ist wunderbar", sagten sie, wenn sie sich wieder von ihr getrennt hatten. „Aber ohne sie ist es doch noch besser." Wie lange dauerten diese ersten Tage der unendlichen Gesprache und der unendlichen Umarmungèn ? Eine Woche, oder zwei, oder drei? — In Wahrheit mochten es vielleicht zehn Tage sein. Als Martin eines Morgens aufwachte, kauerte Kikjou neben ihm im Bett und schaute ihn sinnend an aus den vielfarbigen Augen. Den Unterkiefer hatte er vorgeschoben; mit beiden Handen hielt er einen Strohhalm, an dem er eifrig kaute. Sein bleiches Gesichtchen glich dem Antlitz eines müden, zarten kleinen Affen. „Mon petit singe!" lachte Martin. „Was ist mit dir los? Du siehst aus wie ein zwölfjahriger Junge, der eine fürchterliche Unart* ausbrütet. Was hast du vor?" „Ich mul3 wegfahren", erwiderte Kikjou, immer noch den Strohhalm zwischen seinen Zahnen. Und als Martin sich erschrocken erkundigte:,, Wohin ?" — sagte er, mit einer sanften Stimme, die aber keinen Widerspruch duldete: „Nach Belgien, zu meinem Onkel. Vielleicht wird er mir verzeihen." — Was der Onkel denn ihm verzeihen solle, wollte der fassungslose Martin wissen. — „DaB wir so viel gesündigt haben", war die ernste Antwort des kleinen Kikjou. Nun argerte sich Martin ein biBchen. „Wenn das Siinde ist . . .", machte er beleidigt. Kikjou legte ihm begütigend die Hand auf die nackte Schulter. „Sei nicht böse!" Dabei hatte er die Augen voll Tranen. „Ich weiB nicht, was Sünde ist. Niemand weiB es. Sogar der Onkel weiB es wohl nicht genau. Vielleicht ist dem lieben Gott besonders wohlgefallig, was die Menschen in ihrer Torheit für entsetzlich halten. Uns wird nicht mitgeteilt, wann wir AnstoB und wann wir Freude erregen. — Aber ich brauche ein paar stille Tage, um nachzudenken." — Als Kikjou abgereist war, wurde Martin sehr traurig. Wenn er mit Marion, Helmut Kündinger und den anderen Freunden in einem Montparnasse-Café saB, sehnte er sich nach der Einsamkeit seines Zimmers. Dort aber war es noch arger, und er lief zu Professor Samuel oder zur Schwalbe, weil er es nicht aushielt, allein zu sein. Kikjou hatte die Adresse des frommen Onkels in Belgien nicht verraten. „Ich werde von mir hören lassen — wenn es Zeit ist. . hatte er beim Abschied geheimnisvoll gesagt. Martin konnte ihm nicht einmal schreiben. Manchmal dachte er: ,Es ist vielleicht gar nicht Kikjou, nach dem ich mich sehne. Ich sehne mich nach Berlin. Ich habe Heimweh nach den StraBen von Berlin, nach ein paar Lokalen und ein paar Menschen, und vielleicht sogar nach den alten Korellas ... Ich habe mich doch recht an sie gewöhnt in all den Jahren, obwohl sie mir oft entsetzlich auf die Nerven gingen. Es war so angenehm, Menschen zu haben, die sich immer Sorgen um einen machten. Man braucht das, es erhöht das Selbstgefühl . . .' ,Nein', beschloB er dann wieder, ,in Berlin möchte ich gar nicht sein. Es ist graBlich dort. Ich bin froh, daB ich diese Stadt nicht mehr sehen muB. Heimweh nach der Stadt habe ich sicher nicht. Es ist die eigene Kindheit, nach der ich Heimweh habe. Ich möchte wieder mit Marion im Garten Murmeln spielen oder Krocket, und mich vom Vater ein biBchen schimpfen lassen, weil ich zu spat nach Hause komme zum Abendessen. Was für gute Zeiten sind das gewesen! Nach ihnen sehne ich mich . . . Sogar das Krank-sein hatte seine Reize. Die schmeichelhafte Sorge, von der man umgeben wurde, war dann am starksten und zartlichsten. . . Mutter hatte viel Talent zur Kranken- durch das blau-schwarze, dichte, starre, negroid gekranste Haar: das Einzige an ihm, was von einer soliden, haltbaren, sturm- und wetterfesten Substanz zu sein schien. „Hallo!" machte er plötzlich schreckhaft — so, als hatte sich jemand einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt: ihn etwa mit einem kalten Metall am Nacken gekitzelt. „Hallo! Nun habe ich aber etwas Riskantes gesagt, etwas Schlimmes!" Er drohte sich selbst mit dem Zeigefinger, zugleich erheitert und schaurig berührt von der Gewagtheit seiner eigenen Bemerkung. „Ei weh!" sagte er noch und wiegte schelmischklagend den Oberkörper, wahrend Fraulein Proskauer ihn ernsthaft und interessiert beobachtete. „Wenn das stimmte, daB bei uns ein ,einigendes Moment' nicht vorhanden ist; wenn das Wort für Wort wahr ware, was ich gerade unbedacht genug war, anzudeuten — dann hatte der Hitier ein verdammt leichtes Spiel. Natürlich gibt es etwas, was wir alle gemeinsam haben — und ware es zunachst nur der HaB." Er war nun wieder ganz ernst geworden. In der Geisterblasse seines Gesichtes hatten die dunklen, kurzsichtigen Augen einen wilden Glanz. „Und sei es zunachst nur der HaB!"wiederholte er drohend, den schmalen Oberkörper schief nach vorne gereckt. „Beim HaB aber bleibt es nicht, und übrigens hat es mit ihm nicht angefangen." Er sprach jetzt in einem heftigen Flüsterton; gleichsam raunend, beschwörend. „Angefangen hat es mit der Liebe. Wir haben alle unser Land geliebt —: wie hatten wir sonst so fürchterlich betroffen sein können von seiner Heimsuchung, seiner Entwürdigung, seinem Sturz ? — Nur haben wir es leider auf gar zu viel verschiedene Arten geliebt; hier liegt die Wurzel zu groBem Unglück. Der eine verstand die Liebesform des anderen nicht; er beschimpfte sie wohl gar als Verraterei. So erklart sich, daB die 9 Dinge treiben konnten, wohin sie trieben." Er atmete schwer und schien recht erschöpft. Die Hand hatte er an die Stirne gepreBt, als ware dort eine Wunde und er müsste das rinnende Blut aufhalten. — ,,Wir werden lernen müssen, alle gemeinsam eine Zukunft zu lieben", sprach er schwer atmend, beinah keuchend weiter. „Das wird zunachst nicht leicht für uns sein; aber die Feinde jeder besseren Zukunft, die deutschen Herren, erleichtern es uns." Er versuchte noch einmal, zu lacheln. Es miBlang; die imaginare Wunde auf der Stirne tat ihm wohl gar zu weh. „Sie erleichtern es uns: indem sie uns namlich das exakte Gegenteil zeigen von dem, was wir alle lieben wollen. Der HaB, durch den wir nun hindurch müssen, ist eine gute Schule. Haben wir sie erst hinter uns, so werden wir kundiger geworden sein — in der Liebe ..." WuBte er noch, daB die haBliche Proskauer ihm zuhörte ? Es war deutlich, daB er monologisierte; daB er tausendmal Gedachtes, Überlegtes, Durchlittenes im raunenden Flüsterton aussprechen muBte, gleichgültig, in wessen Gegenwart. Freilich gab es niemanden, — bei der,,Schwalbe" nicht, undnirgendwo sonst —, der es so verstand wie die Proskauer, sich selber auszuschalten, gleichsam unsichtbar zu werden, nur Gehör zu sein. Die kleinen, runden, goldbraunen Augen, deren kluger Bliek behindert schien durch die ungeheure, gebogene Nase, hingen andachtig und gerührt an den beweglichen Lippen des David Deutsch. Der besann sich plötzlich, daB er nicht alleine war, und wovon er hatte sprechen wollen. Einem Dozenten ahnlich, der vom Thema seines Vortrages abgeschweift ist und nun das Auditorium um Verzeihung bittet, sagte er, die rechte Schulter schief nach vorne drehend — wobei er endlich die Hand von der Stirne nahm: man war erstaunt, sie blank und unversehrt zu finden —: „Aber wohin lasse ich mich entführen? Warum unterbrechen Sie mich nicht, liebe Dora?" „Die Abweichung hat sich gelohnt", konstatierte die Proskauer, ruhig und sachlich; ihre Worte kamen unter der enormen Nase hervor wie ein gleichmaBig platscherndes, nüchtern freundliches Bachlein unter einer jah vorspringenden Felszacke. „Das Problem unserer Emigration", — David Deutsch sprach nun in einem Ton und mit einer Mimik, als wendete er sich an eine gröBere Versammlung — was wiederum nur eine andere Form des Monologisierens war —, „das Problem unserer Emigration wird kompliziert, fast möchte ich sagen: korrumpiert, durch den Umstand, daB ein erheblicher Teil unserer Leidensgenossen nicht aus Überzeugung, sondern nur durch Zwang ins Exil gekommen ist. Ich rede von den Juden." Er machte eine effektvolle kleine Pause. Die Proskauer -nickte ihm aufmunternd zu. David rückte nervös die Schulter, rausperte sich und fuhr fort: „Wie viele deutsche Juden würden sich mit dem infernalischen Phanomen .Nationalsozialismus' herzlich gern abfinden — wenn der Nationalsozialismus nicht antisemitisch ware ?" Der Redner steilte die Frage mit unheilverkündender Strenge. „Die totale Barbarei, die der Nationalsozialismus bedeutet — und von welcher der Antisemitismus nur ein besonders krasses, fast möchte ich sagen: besonders pittoreskes Symptom ist —: wie viele deutschjüdische Bankiers, Theaterdirektoren oder Feuilletonredakteure würden denn nun wirklich AnstoB an ihr nehmen — wenn sie nicht eben dazu gezwungen waren?! —" Er verstummte, und sein Oberkörper zuckte besorgniserregend. Dann — mit der edlen Geisterhand flüchtig durch die Luft fahrend, als gabe es dort etwas wegzuwischen —: „Die jüdischen Exilierten sind für den politisch, den revolutionair Denkenden nur interessant, wenn wir von ihnen wissen, oder doch annehmen dürfen: sie würden die Feinde dieses Regimes auch bleiben, wenn das Regime auf einen seiner schandbaren Tricks verzichten würde, auf den A ntisemitismus. — Nun ist freilich festzustellen, dafl ausmanchdeutschem Juden, der zunachst keineswegs aus Gesinnungsgründen, vielmehr unter dem Druck der Umstande ins Exil gegangen ist, allmahlich ein bewuBter und aktiver Antifascist werden kann. In vielen Fallen hat dieser bedeutsame Verwandlungsprozess wohl schon begonnen . . . Denn natürlich sind in den jüdischen Traditionen, in der jüdischen Geistigkeit die Widerstande gegen den militanten Barbarismus, das aggressive Neuheidentum besonders stark; starker oft, wollen wir hoffen, als ein Klasseninteresse, welches dem Wohlhabenden ratsam scheinen lieB, mit den Unterdrückern gegen die Unterdrückten zu stehen. Eine Jahrtausende lange Leidensgeschichte hat unser Volk doch wohl den Wert einiger Begriffe und Ideale sehr tief begreifen lassen — etwa die Begriffe und Ideale der Toleranz; der Gerechtigkeit. — Und wenn sie es noch nicht begriffen haben," fügte er hinzu, plötzlich in einem leichteren, verargerten Ton, so als ginge das Ganze ihn nicht sehr viel an —, ,,tant pis pour eux. Dann werden sie es eben noch lemen müssen. Es ist doch so klar, so selbstverstandlich", — er sagte es ungeduldig, als langweilte und enervierte es ihn, begriffsstutzigen Schülern die gleichen einfachen Dinge gar zu oft wiederholen zu müssen —, ,,es liegt doch so auf der Hand: Wir Juden gehören auf die Seite der Unterdrückten, einfach, weil wir selbst Unterdrückte sind. Es ist ungemein in unserem Interesse, daB die Menschen etwas aufgeklarter, zivilisierter, etwas menschlicher werden; wahrend der Fascismus es doch gerade darauf anlegt, sie immer mehr zu entmenschlichen. — Aber entschuldigen Sie, daB ich Sie mit diesen Banalitaten ennuyiere", wendete er sich — ein pedantischer, aber doch gefallsüchtiger Dozent —an das unsichtbare Auditorium. Überraschender Weise liefi an dieser Stelle des Vortrages die Proskauer das verstandige Murmeln ihrer Stimme hören. „Man muB heute wieder den Mut zu gewissen Banalitaten haben", bemerkte sie und blickte freundlich an ihrer Nase vorbei. ,, Ubrigens ist es noch sehr die Frage, ob man das Selbstverstandliche weiter als banal bezeichnen darf. Es stöBt überall in der Welt — nicht nur in Deutschland — auf einen derartigen Widerspruch, daB es beinah den Reiz des Neuartigen und Gewagten bekommt." David schien ein wenig erstaunt darüber, daB sein Publikum es sich plötzlich herausnahm, das Kolleg durch Zwischenbemerkungen zu unterbrechen. Sein Gesicht verfinsterte und verzog sich nervös. Er beherrschte sich aber, lachelte verzeihend, winkte beinah fröhlich mit der gewichtslosen Hand — als wollte er sagen: Ein wenig keek, meine Liebe! Aber lassen wirs gut sein —, und fuhr, unbeirrbar, fort: „Wir tun also gut daran, innerhalb der jüdischen Emigration jene Typen-Gruppe, die in der Tat nur aus geschaftlichen Gründen das Land verlassen hat und in keinerlei politischer oder moralischer Opposition zum Regime steht, scharf von den anderen zu trennen, die entweder von vorneherein auch Gesinnungsemigranten waren, oder sich doch zu Gesinnungsemigranten entwickeln." „Was hat Davidchen denn da eigentlich zu erzahlen?" wollte die Schwalben-Wirtin, etwas miBtrauisch, wissen. Sie trat, die Zigarre im Mund, Arme in die Hüften gestemmt, neugierig naher, um dem temperamentvoll Dozierenden zu lauschen. Auch andere wurden aufmerksam. Marion, die an einem Tisch mit dem Mediziner Dr. Mathes, dem ahrenblonden „Meisje" und der kleinen Germaine Rubinstein saB, brach ihr Gesprach ab. „David ist groB in Form", sagte sie lachend. Und wahrend die Schwalben-Wirtin sich mit leisem Achzen zwischen der Proskauer und David Deutsch auf einem Stuhl niederlieB, der viel zu schmachtig schien, um ihre Leibesfülle zu tragen, bemerkte das „Meisje", den leuchtend veilchenblauen Bliek sinnend auf den Redenden, Gestikulierenden gerichtet: „Ich weiB nicht. . . für mich hat er etwas Ergreifendes ... Er leidet so viel, und er denkt so viel nach . . . Sieht er nicht aus wie ein junger Priester ?" fragte sie schüchtern und wurde ein wenig rot, als hatte sie sich zu weit vorgewagt. Sie paBte nicht ganz in den Kreis; in Berlin war sie Gartnerin gewesen, sie hatte Kakteen gezüchtet. Weil ihre Mutter Hollanderin war, nannte man sie „Meisje", was das niederlandische Wort für Madchen ist. — „Es klingt ja etwas verstiegen", fügte sie nun geschwind hinzu. „Aber sieht er nicht wirklich wie ein Priester aus ?" — Marion, ohne sich nach Meisje umzudrehen, den Oberkörper nach der Richtung, wo David Deutsch saB, gewendet; den Arm um die Stuhllehne geschlungen; die Beine übereinander geschlagen, nickte ernst und freundlich: „Du hast ganz recht, Meisje. In anderen Zeiten ware er wohl ein frommer Schriftgelehrter geworden." Und auch die ernste kleine Germaine, Anna Nikolajewnas etwas widerspenstige Tochter, bestatigte: „Elle a tout a fait raison." — Herr NathanMorelli aber, der an einem anderen Tisch, ganz im Hintergrund des Raumes, mit Fraulein Sirowitsch speiste, schnitt eine gequalte Grimasse: „Der junge Herr dort drüben scheint mir zur Abwechslung über Deutschland und die Emigration zu plaudern. Ich wuBte gleich, daB wir besser in ein anderes Restaurant gegangen waren. Deutschland — Deutschland — Deutschland . . wenn ich nur das Wort nicht mehr horen müBte!!" Sein Gesicht hatte den starren, blasierten Ausdruck plötzlich verloren; der Mund verzerrte sich, und auf der Stirne lieBen sich die Spuren ausgestandener Leiden erkennen. Er nahm sogar die Zigarette aus dem Mund, wahrend er sich weit zu seiner Dame vorneigte und mit ganz leiser, gepreBter Stimme sagte: „Dieses Wort, dieser Begriff, dieses Schicksal, das ,Deutschland' heifit, hat mir mehr zu schaffen gemacht als irgend etwas anderes auf der Welt. Was glauben Sie, daB ich durchmachen muBte, ehe ich bis zu der kühlen Verachtung gegenüber allem Deutschen gekommen bin ?! Aber einmal muB man sich frei machen können! Man geht zu Grunde, wenn es nicht gelingt! Ich habe mich frei gemacht! Oder glauben Sie mir nicht. . . ?" fragte er mit einer jahen Gereiztheit. Die Sirowitsch betrachtete den erregten Nathan-Morelli und lachelte zartlich, mütterlich und etwas spöttisch. David, der endlich etwas wie ein Auditorium hatte und sofort befangen wurde, steilte sich, als ob er gar nicht merkte, daB man auf ihn aufmerksam war, und richtete nun, zum ersten Mal, seitdem sie hier beisammen saBen, seine Worte wirklich an die Proskauer. ,,Es würde ebenso komplizierte wie fesselnde Statistiken geben", sagte er, „wenn man versuchen wollte, auszurechnen, wie viele unter den jüdischen Emigranten auch Gesinnungsemigranten sind. AuBerdem ware festzustellen, ein wie groBer Prozentsatz der jüdischen oder nicht-jüdischen Gesinnungsemigranten aus rein politischen Gründen gegen die Nazi-Diktatur opponiert. Dieses dürfte vor allem bei den berufsmaBigen Politikern, Parteiführern, Funktionaren, politischen Journalisten und bei den proleta- rischen Exilierten der Fall sein. Aber wie viele proletarische Exilierte gibt es ? Auch dies sollte errechnet werden! Über alles müBte unsere Statistik Auskunft geben: Welche Berufe in der Emigration am haufigsten vorkommen; welche Lebensalter; ob es unter den Christen mehr Katholiken oder mehr Protestanten gibt . . . „Unsere Statistik hat viele Rubriken; das Werk, welches ich plane, wird viele Kapitel haben. Die religiöse Opposition wird zu behandeln sein, und es ist darzustellen, wie der christliche Glaube, mit dem atavistischen Neuheidentum konfrontiert, in sich selber seine humanitaren, sozialen, ja sozialistischen Elemente wieder-entdeckt, oder doch wieder-entdecken könnte. Darzustellen ist, wie das liberale Pathos angesichts der Greuel, zu denen eben die Schwache eines falsch verstandenen, heimlich reaktionaren Liberalismus geführt hat, sich radikalisiert, kampferisch aggressiv wird; wie die Stellung der wirklichenDemokraten zum Problem der Gewalt-Anwendung, ja, zu einer — unter bestimmten Pramissen notwendigen — Intoleranz sich mahlich verandert. Darzustellen ist anderseits, wie die Anhanger einer linken, sozialistischen Diktatur — von der Katastrophe erschüttert, die nun eine Partei-Tyrannis für unsere Heimat bedeutet — ihre Stellungnahme zu dem gesamten Themen-Komplex ,Diktatur' zu revidieren beginnen; in harter Schule den Wert der Freiheit neu, und diesmal hoffentlich gründlich, begreifen lernen." David warf, in einer Art von trockener, intellektueller Begeisterung, das leuchtend bleiche Gesicht in den Nacken. ,Wie sieht er denn aus ?' dachte Marion, die immer noch in ihrer ziemlich unbequemen Haltung saB, den Körper im Sitzen seitlich gewendet; die Arme um die Stuhllehne geschlungen. ,Wem gleicht er denn ? . . . Sein Gesicht müBte gerahmt sein von einem dunklen und harten Bart. Ganz entschieden: ein nachtschwarzer Bart, steif wie Holz, ware stilvoll um diese Miene. Er würde unserem David ganz das Aussehen unseres Jochanaan geben. Ich sehe sein Haupt auf der Silberschüssel der sündigen Prinzessin Salomé kredenzt. . „Wie viel Typen!" rief David mit merkwürdig fliegenden Gesten. „Wie diese moralischen, politischen, artistischen Konzeptionen dialektisch gegeneinander stehen; sich erganzen, begegnen, überschneiden; sich widersprechen, gegenseitig aufzuheben scheinen — und doch alle zusammen, in eine Synthese, zu der wir erst allmahlich vordringen werden, einmünden; in das wahrhaft Neue, die Zukunfts-Form des Humanismus . . . Jeder tragt sein Teil dazu bei; jede Rubrik in unserer komplizierten Statistik hat ihre besondere, wesentliche Funktion. „Um nur irgend einen Fall herauszugreifen: mein alter Professor Abel, bei dem ich in Bonn Kollegs über den Faust und die deutsche Romantik hörte; bourgeoiser Intellektueller, gutmütiger Liberaler, ausgesprochen historisch-konservativ orientiert; der unpolitische, antirevolutionare Deutsche par excellence: wer hatte gedacht, daB er jemals mit der Macht in akuten Konflikt kommen würde ? Mein alter Abel — die Harmlosigkeit in Person — wird ins Exil getrieben. Als Exilierter entwickelt er sich vielleicht zum Representanten klassischer deutscher Traditionen — gegen jene Verfalschung und Verfratzung deutschen Wesens, die Nietzsche schon in Bismarcks Reich seherisch erkannte, anprangerte, bekampfte. Mutter Schwalbe stand seufzend auf. Es wurde ihr zu gebildet. Marion erkundigte sich — das Gesicht in die Hand geschmiegt, die auf der Stuhllehne ruhte —: „Wo ist dieser Abel jetzt ?" Ihre Stimme, leuchtend zugleich und dunkel, hatte die Macht, sofort die gespannte Aufmerksamkeit aller im Raum wie durch einen Zaubertrick zu gewinnen. David, schreckhaft von Natur, warf, in jaher Drehung zuckend, den Oberkörper herum. Statt zu antworten, bedeckte er die Augen mit der Hand, als hatte zu starkes Licht ihn geblendet. Marion wiederholte : „Wohin ist denn dieser Abel verschlagen worden ?" DRITTES KAPITEL Professor Benjamin Abel war dreiundvierzig Jahre alt und gehorte zu den angesehensten jüngeren Literaturhistorikern der deutschen Universitat. Er war Privatdozent in Heidelberg gewesen und hatte im Jahre 1929 einen Ruf als Ordentlicher Professor an die Universitat Bonn erhalten, was für einen jüdischen Gelehrten, und gerade für einen Germanisten nichtarischer Abkunft, damals schon eine besondere Ehrung bedeutete; denn der Antisemitismus an den deutschen Hochschulen war penetrant, noch ehe er zur Staatsreligion erhoben wurde. In Bonn hatte sich Professor Abel einer starken Beliebtheit bei den Studenten erfreut; sein Kolleg über die deutsche Romantik war starkerfrequentiert worden als die Vorlesungen über „Friedrich Schiller und die nationale Idee", die sein Kollege, deralte Geheimrat von Besenkolb, im gleichen Semester hielt. Geheimrat Besenkolb war früher Alldeutscher, dann Deutschnationaler gewesen; am Tage nach dem ersten groBen Wahlsieg der Nazis erschien er vor seinem Auditorium mit einem kleinen, jedoch nicht zu übersehenden Hakenkreuz im Knopfloch seines Jackettaufschlages. Besenkolb, ein aufrechter Greis mit bösen, stahlblauen Augen, weiBem Knebelbart und stark hervortretenden blaulichen Adern auf den Handrücken und auf der mehrfach gebuckelten, hohen, kalkweiBen Stirn — Geheimer Rat Maximilian Freiherr von Besenkolb — hatte eine vernichtende Art, mit knapp andeutendem Kopfnicken den etwas ironisch-devoten GruB seines Kollegen Abel zu erwidern. Seit dem Herbst 1930 erschien der Geheimrat in keiner Gesellschaft mehr, wenn die Hausfrau ihm nicht vorher die Zusicherung gegeben hatte, daB Professor Abel nicht zugegen sein würde. hören war und das sich verstarkte, wenn man die steile Treppe hinunter ging und an einer bestimmten Türe des ersten Stockwerkes vorüber kam. Ohne Frage, hinter dieser Türe hauste ein Brummer; irgendjemand, der auf eine dumpf-melodische Art Tag und Nacht vor sich hin brummte — es war ziemlich schaurig, diesem trostlos monotonen Gerausch zu lauschen. Wer mag der Brummer sein ? —• muBte der einsame Professor immer wieder mit einer mechanischen, lustlosen Neugierde denken. Als er der geheimnisvollen Person des Brummers dann von Angesicht zu Angesicht begegnet war, begriff er nicht mehr, wie er jemals erpicht auf ein so macabres Zusammentreffen hatte sein können. Beinah, um ein Haar, ware Benjamin mit dem Brummer im dammrigen Korridor zusammen gestoBen. Dabei erwies sich, daB es sich um einen alten, machtig groBen, gebückt gehenden Mann mit schlohweiBem Haar handelte. Er schwankte dem bestürzten Professor wie ein Betrunkener entgegen. Mit den langen Armen ruderte er, als hatte er gegen Widerstande zu kampfen und bewegte sich nicht durch Luft, sondern durch eine zahflüssige Materie. Er tastete mit den gespreizten Handen ins Leere; wahrscheinlich war er blind, aber selbst Blinde laufen nicht auf so bedenkliche Art im Zickzack, und Blinde taumeln nicht, wie dieser erschreckende Alte es tat. Der da war geschlagen mit einer graBlichen Krankheit, er hatte nicht nur den Verstand verloren, sondern auch jede Balance und die simple Fahigkeit, geradeaus zu gehen: ohne Frage, er war aufs Schlimmste beschadigt im Zentrum des Organismus, sein Rückenmark war ladiert. Mit diesem Unglückseligen, der in eine geschlossene Anstalt gehorte, hauste Professor Abel also unter einem Dach, schon seit Wochen — und dem verzweifelten BrummKonzert, das der heillos von Gott Geschlagene mor- gens, mittags und mitternachts veranstaltete, muBte man lauschen, wahrend man versuchte, die verwirrten und gequalten Gedanken auf geistige und reine Gegenstande zu konzentrieren. ,Das ist ja schaurig', dachte Benjamin, und er tat entsetzt einen Sprung beiseite; denn der Brummer war im Begriff, auf ihn zu zu schwanken. Die getrübten Augen des Kranken hatten wohl die Gestalt des Professors, deren vage Umrisse sie erkennen mochten, als nachstes Ziel visiert. Der Brummer kam naher, lallend, singend, mit den krampfig gespreizten Handen fuchtelnd — und das Argste war, daB sein taumelnder Zickzack-Lauf auf schlimme Art einen lustigen Charakter hatte; er erinnerte an gewisse Sprünge, die Kinder manchmal auf der StraBe tun, wobei sie ganz bestimmten SpielRegeln folgen, die den Erwachsenen mysteriös und unbegreiflich bleiben. Übrigens hatte auch die dumpfe Melodie, die der Schwankende hören lieB, einen munteren, fast hopsenden Rhythmus. Es war deutlich, der Unglückselige fühlte sich relativ wohl; in seinem umnachteten Inneren war ihm nach Tanz und Gedudel und schauerlichem Hopsassa zu Mute. Er war seiner Pflegerin ausgerissen und wollte nun selbstandig schakern und ein wenig übermütig sein. ,Gott steh mir bei', dachte Benjamin, der sich vor Grauen nicht mehr bewegen konnte und erstarrt, so wie in einem bösen Traume stand. .Gott'sei mir gnadig, noch ein paar Sekunden, und er wird mich erreicht haben, er wird mich an den Schultern packen, — ich sehe es ihm doch an, was er im Schilde führt: er will sich ein wenig mit mir im Kreise drehen, ein Morgentanzchen, hier auf dem Treppenabsatz, das ist es, wonach der Sinn dem armen Unhold steht..." Da war der im Nervenzentrum schwer ladierte Greis nah heran gekommen an den erstarrten Professor. Benjamin spürte schon den Atem des Kranken an spruchsvollen groBen Herrn, und der Inhaberin eines hollandischen Hauses mit Beschwerden lastig zu fallen. Ich bin ein Fremder, hier nur eben geduldet, und übrigens nicht vertraut mit den Sitten des Landes, das mir Obdach gewahrt. Die anderen Mieter im „Huize Mozart" scheinen an der Existenz des Brummers nicht AnstoB zu nehmen; ein armer Emigrant sollte nicht empfindlicher sein als Niederlandische Herrschaften, die vielleicht sehr fein und wohlhabend sind . . . Immerhin konnte Abel sich nicht enthalten, mit dem jungen Madchen, das sein Zimmer aufraumte und ihm die Mahlzeiten brachte, gelegentlich über den beunruhigenden Gast im ersten Stockwerk zu sprechen. Das junge Madchen erklarte ihm, daB Herr van Soderbloem ziemlich reich sei und schon seit Jahren die teuersten Stuben der Pension inne habe. „Er ist ganz ungefahrlich", erfuhr Benjamin. „Wie ein Kind laBt er sich von seiner Pflegerin spazieren führen und füttern. Man würde von seiner Existenz überhaupt nichts bemerken, wenn er nicht eben die Angewohnheit hatte, zu brummen, und manchmal, wenn die Laune ihn ankam, ein paar drollig tappende Tanzschritte zu tun. — Mich hat er auch schon einmal um die Taille gefaBt", erklarte kichernd das Madchen. Sie hieB Stinchen und war ein niedliches Ding; blutjung, noch keine neunzehn Jahre alt. Abel unterhielt sich gerne mit ihr. Wochenlang war sie der einzige Mensch, mit dem er sprach. Sie sah gut gewaschen, appetitlich, fast verführerisch aus in ihrer hellblauen, steif gestarkten Schürze und mit ihrem pfiffig-unschuldigen Gesicht eines dreizehn-jahrigen Buben. Das Hübscheste an ihr, fand Abel, war die geschwungene Linie des Hinterkopfes. Das mattblonde Haar trug sie kurz geschnitten, links flott gescheitelt. er ihn: ,,Ist es wirklich notwendig, dafl Sie Tag für Tag mit ihrem Lieferwagen herumziehen ? Haben Sie denn wirklich gar keine andere Chance ?" — „Kommt schon mal wieder anders", sagte der junge Hollmann. „Man muB froh sein, solange man überhaupt etwas hat." — Dann summte er ein Liedchen, das ein Freund von ihm für ein Prager Emigranten-Kabarett gedichtet hatte: ,,Ob wir Zeitungen verkaufen; Ob wir kleine Hunde führen Oder neben tauben Tanten laufen Oder als Statist Isolden küren . . . Alles das, alles das macht uns nicht krumm, Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum. Sollte man von uns begehren, Frösche kitzeln, Steine zahlen, Wolken schieben oder auch die Moldau kehren Oder unseren Wanzen Marchen zu erzahlen.. . Alles das, alles das macht uns nicht krumm, Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum." Abel nickte; aber sein Lacheln war etwas trübe. Einmal besuchte er den jungen Freund. Er wohnte in einem Heim, das eine Arbeiter-Organisation den deutschen Réfugiés zur Verfügung gestellt hatte. Das Gebaude wirkte, mit seinen langen zementierten Gangen und dem etwas trüben Metall seines Treppengel anders, halb wie eine Kaserne, halb wie ein billiges Hospital. Die vereinzelten Gestalten, denen man begegnete, sahen meist recht heruntergekommen, aber teilweise unternehmungslustig aus. ,Sie haben vergnügtere Gesichter, als ich sie im Huize Mozart sehe', fand der Professor, der ziemlich miBtrauisch betrachtet wurde. Hollmann teilte seine Kammer mit einem anderen jungen Menschen, der jetzt nicht zu Hause war. „Er verkauft Zeitungen, da unten an der Brücke, gegenüber vom Hotel American, Sie wissen doch..." Abel erinnerte sich daran, dem Burschen gelegentlich eine der Pariser Emigranten-Zeitungen abgenommen zu haben. „Ja, ja, ich kenne ihn", sagte er. — „Er kann sehr nett Guitarre spielen", erklarte Hollman. „Wenn er nachher kommt, werden wir was zu hören kriegen ..." Auf dem Tisch standen eine Flasche Portwein und Schüsseln mit Obst und Geback. Abel tadelte gerührt die Verschwendung. „Aber was fallt Ihnen denn ein, Fritz, sich so in Unkosten zu stürzen!" — Hollmann wurde ein biBchen rot. „Es kommt ja nicht so oft vor, daB ich einen Gast habe." Er lachte verlegen. „Und auBerdem kaufe ich das Zeug zu herabgesetzten Preisen. Vergessen Sie nicht: ich bin von der Branche ..." Es wurde ein netter Abend; Abel fühlte sich so wohl, wie schon lange nicht. Auch von den „alten Zeiten" redeten sie wieder; aber Hollmann sorgte dafür, daB die Erinnerungen nicht melancholisch wurden. Er machte die Professoren der Bonner Universiteit nach; besonders gut konnte er den Geheimrat Besenkolb kopieren. „Die Nation, meine Herren!" rief er mit quakender Stimme und machte lange Schritte über ein imaginares Katheder. „Die Nation ist der höchste, heiligste Begriff, den die Menschheit kennt! Alle groBen geistigen Leistungen kommen aus dem Geist des Nationalen!" — „Gehug! Genug!" flehte Abel, der sich zugleich amüsierte und ekelte. Aber der junge Hollmann dozierte unbarmherzig weiter, mit der Stimme und den Gebarden Besenkolbs. Spater wurden sie ernst. „Ich überlege mir oft", sagte Hollmann, „was aus den Jungens wird, die sich so verlogenen Quatsch jeden Tag anhören müssen und überhaupt nichts anderes mehr kennen dürfen. Unaufhörlich wird ihnen Gift eingetraufelt. . . Ich denke mir manchmal: gerade in so furchtbaren Mengen verabreicht, verliert es vielleicht seine Wirksamkeit. Es muB den Jungens doch schon zum Kotzen sein — und was man ausbricht, das kann einem nicht mehr den Magen verderben!" „Mochten Sie recht haben!" sagte Professor Abel. Dann kam der Bursche, dem Benjamin gelegentlich ein paar Zeitungen abgekauft hatte. Er sah müde und miBmutig aus. „Gar kein Geschaft heute gewesen!" beklagte er sich. „Bis man die paar Fetzen loswird, muB man sich die FüBe in den Leib stehen! Eine ScheiBe!" Als er aber zwei Glaser Portwein getrunken hatte, wurde er lustiger. Er holte die Guitarre aus dem Schrank. Erst sang er ein paar neue Schlager; dann kamen deutsche Volkslieder. „Die sind doch immer das Schönste", sagte er. Und Fritz Hollmann fügte trotzig hinzu: „Und wir lassen uns von niemandem die Freude daran verderben." Es war schon nach Mitternacht, als Benjamin sich zum gehen anschickte. „Mein Gott, ist es spat geworden!" rief er aus. „Die Zeit ist so schnell vergangen — ich habe es gar nicht bemerkt." Er schüttelte den beiden jungen Leuten die Hand. Dabei schien er noch etwas sagen zu wollen; es helen ihm aber wohl die rechten Worte nicht ein, und was er herausbrachte, war nur: „Vielen Dank. Das war ein sehr guter Abend ..." — Warum blieb er eigentlich im „Huize Mozart" ? Er hatte sich die Frage schon oft gestellt, und nun, auf dem Heimweg, beschaftigte sie ihn wieder. Warum blieb er! Was hielt ihn fest ? War es Stinchen ? Aber die sah er immer seltener. Immerhin beobachtete er sie genau genug, um zu bemerken, daB sie sich verandert hatte. Ihr Bliek, ihr Lacheln bekamen einen neuen Ausdruck; Haltung und Gang waren zugleich selbstbewuBter und weiblich-zarter geworden. Manchmal hatte sie nun eine verfangliche, spöttische und dabei verlockende Art, Benjamin anzuschauen, daB er beinah erschrak. Was ist mit dem Madchen ? — dachte er. Sie verwandelt sich. Unser kleines Stinchen mit dem Bubengesicht wird eine Frau . . . Wer weiB, wie lange Abel sich nicht weggerührt hatte vom „Huize Mozart", wenn nicht ein kleiner, aber fataler und aufrüttelnder Zwischenfall ihm den EntschluB aufgezwungen hatte, sein Leben zu andern, sich in Bewegung zu setzen, zu handeln. Um die Besitzer des Hauses, in dem er nun schon langer als ein halbes Jahr wohnte, hatte Benjamin sich nie viel gekümmert. Er wuBte nur, daB der Hausherr, ein Hollander, in irgendwelchen Geschaften unterwegs war, und sich in Amsterdam nur selten sehen lieB. Seine Frau war eine ziemlich hübsche Person, mit rundlichen Formen und einer blonden Dauerwellenfrisur über einem gesunden, rosigen, etwas leeren Gesicht. Benjamin begegnete ihr nicht sehr hauhg; zu einer langeren Unterhaltung war es niemals gekommen. Zuweilen hatte er sich Gedanken darüber gemacht, daB die Dame des „Huize Mozart sich etwas gar zu reserviert ihm gegenüber verhalte. Sie war Deutsche, in Hamburg geboren, wie sie ihm gleich zu Anfang erzahlt hatte. Neuerdings wollte ihm manchmal scheinen, daB sie ihn feindlich und miBbilligend betrachtete, wenn sie auf der Treppe oder im Flur an ihm vorüber ging. Ihre rund geschnittenen, wasserblauen Augen waren vielleicht ein klein wenig tückisch — wie ihm bei solchen Gelegenheiten vorkommen wollte. Aber dann beruhigte er sich bald wieder: ,Ich bin gar zu miBtrauisch, das grenzt ja schon an Verfolgungswahn. Was soll die brave Frau gegen mich haben ? Ich bezahle pünktlich die Miete, bin leise und höflich, einen besseren Klienten kann sie sich gar nicht wünschen.' Eines Vormittags steilte Benjamin fest, daB die Stube, die neben seinem Zimmer lag und bis dahin leer gestanden hatte, plötzlich bewohnt war. Durch Stinchen erfuhr er, der Bruder der gnadigen Frau sei eingetroffen: Herr Felix Wollfritz aus Hamburg, er würde mehrere Wochen lang bleiben. Benjamin begegnete dem Herrn Wollfritz noch am gleichen Tag auf dem Korridor, und seine schreckhafte Reaktion war sofort: Ein Feind!! AufgepaBt — mit diesem Mann wird es Handel geben! ,Ich bin die Friedfertigkeit selbst', dachte Benjamin, indem er gleichsam bei einer höheren Instanz für alles, was zwischen ihm und Herrn Wollfritz geschehen mochte, jetzt schon um Entschuldigung bat. ,Aber dieser Kerl als Zimmernachbar — das ist entschieden zu viel! Mit Herrn Wollfritz wird man wohl beim besten Willen nicht auskommen können.' Der Bruder der gnadigen Frau, der zwecks Geschaften oder Familienbesuchs für mehrere Wochen in Amsterdam weilte, war groB und stammig.Auf einer auffallend steilen und harten, ungesund geröteten Stirn und auf den Wangen waren die scharfen Konturen von SchmiBnarben sichtbar: Benjamin bemerkte es gleich, obwohl im Korridor Dammerung herrschte. Herr Wollfritz hatte einen flachen Hinterkopf, einen steilen und breiten Nacken, dessen blutig rotes Fleisch wulstig über den Rand des Kragens quoll. Sein Schadel war glattrasiert, nur auf der Höhe des Kopfes war ein winzig kleines, sorgfaltig pomadisiertes und gescheiteltes Arrangement semmelblonder Haare stehen geblieben —: eine recht erstaunliche Frisur, wie sie, auBer bei innerafrikanischen Negerstammen, wohl nur noch bei deutschen Mannern eines gewissen Typs üblich ist. Benjamin grüBte mit jener ironisch-zeremoniellen Neigung des Oberkörpers, die er früher bei Begegnungen mit dem Geheimrat Besenkolb gehabt hatte. Herr Wollfritz musterte den Mieter seiner Schwester stahlernen Blicks, vom Kopf bis zu den FüBen; zog dann mit einem unverschamten Ausdruck die dünnen, blonden Augenbrauen hoch; spitzte die Lippen wie zum Pfeifen, und dankte mit einem Kopfnicken, dessen Knappheit aggressiv wie eine Ohrfeige war. Als die beiden Herren am nachsten Vormittag sich wieder im Flur trafen, wurde kein GruB mehr getauscht. Benjamin Abel und Herr Felix Wollfritz konnten einander nicht ausstehen und machten kein Hehl aus ihrer instinktiven, heftigen Aversion. Es gibt den coup-de-foudre eines Hasses auf den ersten Bliek, wie den der Liebe. Leider war die Wand, die Abels Zimmer von dem des Herrn Wollfritz trennte, nur eine sehr dünne. Benjamin muBte hören, wenn sein Nachbar sich rausperte; wenn er morgens gurgelte, sich die Zahne putzte; ja, sogar wenn er laut gahnte. Als Wollfritz sich einmal eine Dame zur Lustbarkeit mitgenommen hatte, sah Benjamin sich genötigt, sein Zimmer und das Haus zu verlassen; es ging über seine Krafte, das Liebesleben des forschen Hamburgers in den akustischen Details zu verfolgen. Von dem Tage an, da Herr Wollfritz sich in so intimer Nachbarschaft einquartiert hatte, stand es bei Benjamin fest: Ich ziehe aus. Es muBte aber noch zu einem besonderen Eclat, einer Provokation ohnegleichen kommen, damit der sanfte, schwerfallige Abel seinen Auszug derart beschleunigte und die zornige Demonstration aus ihm machte, wie er es dann wirklich tat. Die Provokation, durch die der höchst Geduldige VIERTES KAPITEL Der Sommer des Jahres 1933 war sehr heiB. Paris glühte. Auch die Nachte brachten keine Kühlung. Die Steinmassen der ungeheuren Stadt strahlten die Warme aus, die sie tagsüber von der gewaltigen Sonne empfangen hatten. Der Asphalt schmolz. Die Schuhsohlen der Gehenden blieben hangen in seiner zah-breiigen Masse. In den engen Gassen des Quartier Latin und um den Boulevard St. Germain war die Temperatur wie in einem Backofen. Wenn man das Haus verlieB, empfing einen drauBen die Hitze wie eine erstickende Umarmung. „Es ist, als ob man einen Schlag vor die Stirn bekame", sagte Marion, die mit ein paar jungen Leuten den Boulevard St. Germain hinunter schlenderte. — „Alle besseren Pariser scheinen nach dem 14. Juli aufs Land gefahren", steilte Theo Hummler fest, der sich vor den Burschen, die gerade erst aus Deutschland eingetroffen waren, als Kenner französischer Verhaltnisse zeigen wollte. „Der ,BoulMich' ist verödet.Nicht einmal die Studenten sind mehr da . . — „Nur die Proleten — und die Emigranten sind zurück geblieben", erganzte Marion munter. Die Burschen aus Deutschland waren sozialistische junge Arbeiter, die über StraBburg hierher geflohen waren. Sie waren Schüler von Theo Hummler in Berlin gewesen. Marion und Hummler hatten sie früh morgens an der Gare de 1'Est abgeholt, und liefien sich nun seit Stunden von ihnen erzahlen. Einer war im Konzentrationslager gewesen; dort hatte er den Konni Bruck getroffen, den Freund von Marions Schwester. „Dem Jungen geht es miserabel", berichtete er bedauernd. „Er halt das Hundeleben nicht aus. Entweder er wird eingehen — oder er schwört alles ab und singt das Horst Wessel-Lied ..." — „Das darf Tilly nicht wissen", sagte Marion leise, mehr für sich selber. — Der Bursche erzahlte weiter: vom Leben im Konzentrationslager, und wie zwischen allen Gefangenen, welcher Richtung sie auch immer angehörten, eine natürliche und feste Solidaritat sich herstellte. „Ich habe nie gedacht, daB es unter den Kommunisten so viel anstandige Kerle gibt", sagte der junge Sozialdemokrat. „Wenn man sich im K.Z. so richtig kennen gelernt hat, weiB man, daB man auch drauBen miteinander arbeiten kann ..." Marion und Hummler nickten. Ein anderer von den jungen Leuten fing an zu klagen: über die Leichtglaubigkeit der Arbeiter; über den Mangel an KlassenbewuBtsein, den er bei ihnen gefunden hatte; daB sie sich von jedem Schwatzer anlügen und verführen lieBen. „Ich kenne so viele, die bei uns oder bei der Kommune waren, und die jetzt das Hakenkreuz im Knopfloch tragen." — „Sie werden mit der Zeit schon noch hinter den Schwindel kommen", versprach Hummler. „Es ist unsere Sache, sie aufzuklaren — nicht ein Mal, sondern hundert Mal. Dafür sind in Deutschland diejenigen von unseren Leuten da, die wirklich was wissen und was gelernt haben. Ihr seid dafür da, Jungens!" rief Hummler forsch. Etwas gedampfter fügte er hinzu: „— Und wir hier in der Emigration. — Ihr sollt gutes Material mitbekommen, wenn ihr nach Deutschland zurück geht!" Die drei Burschen antworteten nicht; zeigten aber ernste und begeisterte Mienen. Auch gingen sie plötzlich aufrechter, die Köpfe stolzer erhoben, als seien sie sich einer schonen und schweren Pflicht trotzig bewuBt. Es war Zeit zum Mittagessen; Marion schlug vor, man solle zur Schwalbe gehen. „Da trifft man immer ein paar Freunde." — Das kleine Restaurant florierte, trotz der drückenden Hitze. Von den Stammgasten Marion lieB sich ausführlicher über die diversen Schwierigkeiten vernehmen. „Sie werden nicht nur durch die Gleichgültigkeit der Welt verschuldet", erklarte sie; „auch nicht nur durch unseren Mangel an Mitteln. Die psychische Verfassung der Emigranten selber spielt dabei eine Rolle. Ich könnte ein Lied davon singen ..." — Seit mehreren Monaten bemühte sich Marion, eine kleine Theater-Truppe zusammen zu stellen, mit der sie auf Tournee gehen wollte. „Ein junger Autor hat mir ein paar politische Einakter geschrieben, die recht wirkungsvoll sind. Wir könnten mit dem Programm, das ich im Kopf habe, halb Europa durchziehen. Es würde eine gute, nützliche Sache sein — und den Mitwirkenden würde es soviel bringen, daB sich anstandig davon leben lieBe. Aber nun fangen die Komplikationen erst an. Ich habe mit vielen begabten Schauspielern verhandelt, die in Deutschland nicht mehr auftreten können — oder nicht mehr mögen. Jeder hatte andere Einwande. Dem einen war mein Programm ,zu links'; dem anderen , nicht links genug'. Der hatte Hoffnung auf ein Engagement in Wien oder Zürich; der nachste rechnete damit, eine kleine Rolle irgendwo im Film zu kriegen; wieder einer muBte auf seine Familie Rücksicht nehmen, die noch in Berlin sitzt. Der Sechste ist schwach von Gesundheit und vertragt das viele Reisen nicht. Der Siebente möchte seine eigene Truppe haben, der Achte ist mit dem Autor verkracht, der meine Texte geschrieben hat — und der Letzte kann mich persönlich nicht ausstehen. Es ist zum wahnsinnig werden!" Marion hatte schlenkernde, fast wilde Gesten vor Erregung. Sie lieB ihre Fingergelenke knacken und bekam drohende Augen. „Wir sind erst im Jahre 1933", meinte Hummler begütigend, „und das Exil hat nur gerade angefangen. In einem Jahr, oder in fünf Jahren, werden die Herr- schaften alle etwas weniger kapriziös geworden sein." „Ich weiB aber gar nicht", — Marion schüttelte gereizt die Purpur-Mahne —, ,,ob ich 1938 noch Lust haben werde, mit einer Truppe herum zu reisen. Wenn sechs oder zehn Leute nicht unter einen Hut zu bekommen sind: gut, dann mache ich eben meinen Dreck alleine, wie der selige König von Sachsen gesagt hat. — Ich habe schon meine Plane und Ideen", verhiefi sie, immer noch etwas grollend, aber doch schon wieder fast munter. „Wenn es sein muft, gehe ich ohne Ensemble auf Tour —: ich, ein zartes, einsames Madchen!" Sie grüflte kurz und ziemlich ungnadigzurTerrasse des Café du Dóme hinüber; denn dort saBen Herr Nathan-Morelii und Fraulein Sirowitsch und hatten ihr zugewinkt. Warum sie so unfreundlich nicke ? — wollte Hummler wissen. Marion erklarte: „Ich habe diesen Nathan-Morelli nicht besonders lieb. Sein antideutscher Snobismus geht mir auf die Nerven." — Darauf Hummler: „Er ist aber ein gescheiter, sehr gebildeter Mensch. Neulich habe ich mich mal lange mit ihm unterhalten. Er weiB enorm viel. Und ich glaube nicht, daB ihm Deutschland wirklich so gleichgültig ist, wie er es immer hinstellen möchte. Anfangs habe ich mich auch über ihn geargert — du erinnerst dich: am ersten Abend gleich, auf der Terrasse vom Café Select —; aber allmahlich habe ich kapiert, daB es sich da um etwas sehr Kompliziertes handelt, um eine Art von LiebeshaB." Hummler bewies, daB er psychologisch geschult und keineswegs ohne zartes Verstandnis war. „Ein sehr ambivalentes Gefühl", sagte er noch, klug und gebildet. „Mir hat NathanMorelli gestanden: Meinen Sie denn, ich bildete mir wirklich ein, Englander zu werden ? Englander wird man nicht. . . Ich tue, was ich kann, um mich von Deutschland zu distancieren — erklarte er mir —, und ich glaube in der Tat, daB dies heute die einzig würdige Haltung für einen deutschen Juden ist; aber ich weiB doch nur zu genau, daB ich von diesem verdammten Land niemals loskommen werde. — Die Redewendung mit dem ,verdammten Land' hat mich ja wieder ein biBchen verstimmt. Aber im Ganzen war es doch gar nicht so dumm, was er da alles vorgebracht hat." „Er hat sicher seine braven Seiten", raumte Marion ein; aber sie behielt ihr böses, unduldsames Gesicht. — „Und es ist ja rührend, wie die Sirowitsch ihm ergeben ist!" Hummler lag daran, Marion für diese beiden Menschen, die er schatzen gelernt hatte, zu interessieren. „Zunachst verhielt er sich nicht sehr entgegenkommend, ihr gegenüber; aber nach und nach hat sie ihn doch gewonnen. Jetzt sieht man sie beinah immer zusammen. — Man mufi nur Geduld haben." Dies auBerte Hummler mit bedeutungsvollem Bliek. Er bemühte sich seinerseits, zah und unermüdlich, um Marion, die ihm aber wenig Gunstbeweise gab. — Bei der Schwalbe war es ziemlich voll. Doktor Mathes, der mit Meisje saB, winkte den Eintretenden zu, sich an seinen Tisch zu setzen. Der Arzt und das blonde Madchen sahen glücklich aus; sie hatten einander gefunden — und Mathes auBerdem eine Stellung. Durch besondere Protektion, die er Marcel Poiret verdankte, war er an einem Krankenhaus untergekommen und verdiente sogar ein biBchen. Meisje ihrerseits, die eingesehen hatte, daB sie als Blumenzüchterin hier wenig Chancen hatte, absolvierte einen Pflegerinnen-Kursus. Übrigens erhielt sie monatlich eine kleine Gulden-Anweisung von ihren Verwandten aus Holland. Die Beiden waren also relativ wundervoll dran. Sie hatten sich eine Zweizimmer-Wohnung im XIV. Arrondissement genommen. Dort gab es, auBer ihrem Bett, ein Sofa, auf dem fast jede Nacht ein anderer Emigrant schlief, und einen Tisch, an dem meistens zwei oder drei Fremde zu essen bekamen. Meisje, die bis jetzt ein einsam-jungfrauliches Leben geführt hatte, sah noch schoner aus, seit sie sich lieben lieB. Ihr klares, offenes Gesicht unter der Fülle des ahrenblonden Haares schien zugleich weicher und stolzer geworden. Ein auBerordentlich prachtvolles Geschöpf. Marion schaute sie an und dachte: So möchte ich einmal aussehen dürfen, so unschuldig und so stark! Wie herrlich muB man sich fühlen in seiner Haut, wenn man so wohlgeratene Glieder hat, und eine so engelhaft blanke Stirn! — Mathes bemerkte Marions neidisch-zartlichen Bliek. Er nickte ihr zu und lachelte, als wollte er sagen: Ist sie nicht unvergleichlich ? Ich finde, daB sie durchaus unvergleichlich ist! Die drei Burschen, die aus Deutschland kamen, wurden ausgefragt; wahrend sie ihre Erbsensuppe mit Wurst verzehrten, muBten sie nochmals all ihre Neuigkeiten auspacken. Meisjens Gesicht verfinsterte sich zürnend, wie das eines gekrankten Engels, als von den sadistischen Schikanen die Rede war, mit den S.S.-Leute ihre Gefangenen qualten. Auch am Nebentisch unterbrach man die Unterhaltung, um zuzuhören. Dort saB die Proskauer mit Germaine Rubinstein und dem jungen Helmut Kündinger. Die Proskauer arbeitete seit einigen Wochen in einem Comité für jüdische Flüchtlinge. Auf ihrem schragen Nacken und den schmalen, gesenkten Schultern schien sie allen Kummer der Unglücklichen zu tragen, die sie betreuen half, und ihre raunende Stimme war voll von den tristen Geheimnissen, die ihr anvertraut wurden. „Das Elend ist unbeschreiblich", murmelte sie oft. Mehr war kaum aus ihr heraus zu kriegen. Helmut Kündinger sprach immer noch ziemlich viel und wehmutsvoll von Göttingen und seinem Freund, der sich erschossen hatte. Manchmal packte die Heimweh-Krankheit ihn wie eine schwere Grippe. Die Attacke dauerte ein paar Stunden oder ein paar Tage. Dann überwand er sie wieder. Neuerdings hatte das labile Selbstbewufltsein des schüchternen Jünglings eine gewisse Starkung erfahren; ein untergeordneter, aber doch nicht ganz unwichtiger Posten an der neu gegründeten Tageszeitung war ihm anvertraut worden. Er durfte Korrekturen lesen, und zuweilen auch selber etwas einrücken lassen. Seine Artikel handelten meistens von den Verhaltnissen an den deutschen Universitaten. In diesem Milieu kannte er sich aus, und die Journalisten bestatigten ihm, dal3 er brauchbare Arbeit tue. Nun konnte er, im Café du Döme oder bei der Schwalbe, gelegentlich auf die Uhr sehen und nervös aufspringen: „Mein Gott, — ich muB in die Redaktion! Es ist Zeit zum Umbruch!" Oder er durfte abends mit bedeutsamer Miene sagen: „Ihr entschuldigt mich, bitte! Ich habe noch einen Aufsatz für die Sonntagsnummer fertig zu machen . . ." — Man richtete sich ein im Exil. Es dauerte kaum ein halbes Jahr, und war doch schon kein Abenteuer mehr, sondern gewohnter Zustand. Alle hatten Plane, die meisten schon irgend eine Beschaftigung, und manche verdienten sogar etwas Geld. Man bewegte sich in der fremden Stadt fast schon mit der gleichen Selbstverstandlichkeit wie einst in der Heimat; man hatte seine Stammlokale, seinen Bekanntenkreis. Aus dem Reich kam immer neuer Zustrom. Die „alt-eingesessenen Emigranten" empfingen die eben erst angekommenen nicht ohne einen gewissen Hochmut. „Habt ihr es nun auch eingesehen, daB man bei den Nazis nicht leben kann ?" fragten sie, etwas mitleidig und etwas höhnisch. „Na, nun sollen wir euch wohl zunachst mal etwas von Paris zeigen!" — Man blieb unter sich, sprach immer deutsch miteinander. Die politisch Aktiven hatten wohl den Kontakt mit französischen Gesinnungsgenossen aufgenommen: man unterzeichnete zusammen Proteste; auch gemeinsame Versammlungen und Demonstrationen wurden geplant. Aber diese Beziehungen waren zunachst aufs Sachliche beschrankt. Marcel war einer der wenigen unter den Pariser Schriftstellern, der mit den deutschen Emigranten freundschaftlich-intim verkehrte. Auch mit den übrigen internationalen Emigranten, von denen die Stadt wimmelte, hatte man wenig Umgang. Von den weiB-russischen Exilierten distancierte man sich schon aus politischen Gründen. Marion und Madame Rubinstein, zum Beispiel, sahen sich jetzt viel seltener, als es früher bei den Pariser Aufenthalten Marions der Fall gewesen war. Hingegen erschien die ernste kleine Germaine immer haufiger in der „Schwalbe"; man durfte sie beinah schon zu den Stammgasten rechnen. Das Zusammensein mit den deutschen Antifascisten, die noch kampferisch gestimmt waren und auf eine bessere Zukunft hofften, behagte ihr besser als der Verkehr mit den resignierten, verbitterten oderstumpfgewordenenFreunden ihrer Eltern, oder als das Geplauder mit den kleinen Pariser Madchen, die ihre Kolleginnen im Modesalon waren. ,,Die haben doch nur ihre Flirts im Kopf", meinte sie verachtlich. Und sie gestand Marion, dafi sie immer noch, und immer heftiger, von der Rückkehr nach Moskau traume. „Gestern habe ich mir einen neuen russischen Film angesehen", sagte sie gerade zur Proskauer. "Alle Gesichter, die auf die Leinwand kamen, hatten so ein Leuchten . . . Es waren gar nicht lauter schone Gesichter; aber wenn sie lachten, konnte man sich in jedes von ihnen verlieben. Ich kann es gar nicht beschreiben . . . Ich war nachher so traurig — und so froh, wie noch lange nicht. Wenn Mama mir nur erlauben wollte . . flüsterte sie und blickte scheu um sich, als könnte Anna Nikolajewna sie hören. Die Schwalbe, Zigarre im Mund, Arme breit in die Hüften gestemmt, ging zwischen den Tischen umher und erkundigte sich bei den Gasten, ob das Essen schmecke. „Ausgezeichnet!" lobte Marion. „Es wird immer feiner bei dir, und immer voller. Ich glaube, dein Laden geht besser als alle anderen von Paris. Bobby Sedelmayer könnte sich gratulieren, wenn er nur die Halfte von deinen Gasten hatte." Bobbys Lokal hieB „The Rix-Rax-Bar" und war verlockend aufgemacht; leider blieb der Erfolg maBig. Für die Emigranten waren die Drinks zu teuer, und die Pariser groBe Lebewelt frequentierte kaum ein Dancing, das von einem unbekannten Deutschen geleitet wurde. Die Jazz-Kapelle war gut, der Mixer galt für eine Kapazitat in seinem Fach, die Dekorierung der Wande stammte von einem jungen Maler, den man in Kennerkreisen als einen ,,aufgehenden Stern" bezeichnete. Übrigens lag das Lokal günstig, nicht weit von der Avenue de 1'Opéra. Es waren aber nur ein paar durchreisende Amerikaner und einige wohlhabende Geschaftsleute aus dem Berliner Westen, die sich, in nicht besonders heiterer Laune, hier zusammen fanden. Bobby, sehr adrett in seinem zweireihigen Smoking, eine groBe weiBe Nelke im Knopfloch, empfing alle mit dem gleichen gastlichen Lacheln und versuchte optimistisch auszusehen. Besonders wenn Siegfried Bernheim erschien, strahlte Bobby; der Bankier behielt trotzdem den verdrossenen Gesichtsausdruck. Er hatte zu viel Geld in dieses Unternehmen gesteckt, und schon wurde ihm klar, daB es nicht rentierte. Bobby sagte aufgeraumt: „Heute abend ist es ausnahmsweise nicht besonders voll bei mir. Ist ja selbstverstandlich, bei der Hitze! Wer bleibt denn jetzt in Paris ?" Aber Bernheim schüttelte nur düster den Kopf. Er reiste schlechter Laune nach Mallorca ab. Professor Samuel begleitete ihn. Die Schwalbe war natürlich doch ein wenig schadenfroh, was die „Rix-Rax-Bar" betraf. „Bobby wollte es eben gar zu schick haben", tadelte sie. „Die Zeiten sind nicht danach." Aber als dann Marion nett von Bobby sprach — er sei ein so lieber Kerl und sein MiBerfolg tue ihr leid —, war es die Schwalbenwirtin selber, die vorschlug: „Wir sollten nachstens mal alle zusammen abends zu ihm gehen. Ich lade euch ein — aber keiner darf sich mehr als einen Cocktail bestellen; sonst bin ich ruiniert. — Und überhaupt", fügte sie brummend hinzu, „ist es eine Sünde, heutzutage dreiBig Francs für ein biBchen Gin rauszuschmeiBen, in dem eine Olive und eine halbe Orchidee schwimmen; das ist dann der neu erfundene ,Rix-Rax-Cocktail'. . ." — „Bobby ist immer sehr hilfreich und gefallig, wenn er selber was hat," bemerkte Marion noch. „Er sieht jetzt oft sorgenvoll aus. WeiB Gott, wieviele Leute er ernahren muB . . ." Marion hatte eine Schwache für den unternehmungslustigen kleinen Mann mit den blendenden weiBen Haaren. Sie wurde ans Telephon gerufen. Es war Marcel. „Ich spreche aus Martins Zimmer", sagte er. Martin und Kikjou hausten zusammen in einem kleinen Hotel, das gleich neben dem „National" in der rue Jacob lag. Seit Monaten hatten sie sich nicht einen Tag mehr getrennt. Kikjou war damals, im April, von seinem Ausflug zum frommen Oheim in Belgien nach einer Woche zurückgekommen. Der enge Raum im „National" war auf die Dauer zu eng für die beiden Freunde geworden. Das Zimmer, das sie nun im Nebenhaus bezogen hatten, ging eigentlich weit über ihre Verhaltnisse. Es war ein geraumiges Studio mit eigenem Bad und groBem Atelier-Fenster, durch das man den Bliek weit über die Dacher des Quartiers hatte. Das Appartement kostete 500 Francs im Monat; an jedem Ersten muBte Kikjou eine neue List ersinnen, um den Onkel in Lausanne weich zu stimmen; — der fromme in Belgien schien finanziell nicht in Frage zu kommen; — oder Martin sah sich genötigt, einen bewegenden Brief an al te Korellas abzufassen. Manchmal blieben die Gemüter hart, und die Geldsendungen aus Berlin wurden, durch die deutschen Devisengesetze, ohnedies immer mehr erschwert. Dann gab es dramatische Auftritte mit der Patronne, die zornig drohte, die beiden jungen Leute aus dem Hotel zu werfen und ihr Gepack zu beschlagnahmen; schlieBlich aber doch wieder Nachsicht und Geduld zeigte. Meistens lagen sie biszum Nachmittag im Bett —: „um den Lunch zu sparen", wie Martin erklarte. „Wenn man lange schlaft, genügt eine Mahlzeit am Tag." Gegenhalb zwei Uhr klingelten sie; dann brachte ihnen der Valet de Chambre Chocolade und Brioches. Der Valet hieB Jean und war ein würdiger Mann mit hangendem weiBen Schnurrbart. Er empfand eine vaterliche Sympathie für die zwei seltsamen Knaben; sein Wohlwollen war nicht frei von Sorge. Die Beiden besprachen fast alles mit ihm; er kannte ihre Geldsorgen, begriff, daB es Monsieur Martin so schwer fiel, Artikel für die Zeitung zu schreiben, und all der Arger, den Monsieur Kikjou mit seiner Familie hatte, war ihm wohl vertraut. „Aber Sie schlafen zu lange!" sagte Jean tadelnd. „Das ist kein Leben! Etwas Sport sollten Sie treiben! Junge Menschen müssen aktiv sein!'' Es war dem Alten auch nicht unbekannt geblieben, welch gefahrlichen und ungesunden Angewohnheiten „le jeune Monsieur allemand" hatte. Eines Tageswar dem Valet beim Aufraumen die Spritze in die Hande gefallen, und dann mufite Martin alles gestehen. Übrigens liebte er es, von seinem Laster ausführlich und mit einer gewissen Pedanterie zu sprechen. Er schilderte dramatisch das erste Zusammentreffen mit Pépé und schloB den Bericht, nicht ohne Selbstgefalligkeit: „Das Erstaunliche ist, daB ich immer noch nicht eigentlich süchtig bin, weiBt du." (Diese letzten zwei Worte auf die kokette Art zerdehnt und geschleppt.) „Von Morphinismus kann man bei mir gar nicht sprechen. Ich nehme unregelmaBig, in groBen Abstanden." Wirklich besuchte er seinen Freund Pépé — der das Stammlokal langst gewechselt hatte und nun in einem Café nahe der Madeleine „empfing" — zunachst nur jede zweite Woche. Mit einem Heroin-Packchen, das er nun für 150 Francs erstand, reichte Martin vierzehn Tage lang. Nur jeden zweiten oder dritten Abend gönnte er sich eine Injektion. Er war schon seit langerem davon abgekommen, das Pulver durch die Nase hochzuziehen, und hatte sich daran gewöhnt, die Substanz in destilliertem Wasser aufzulösen. Anfangs hatte er seine Beziehung zu Pépé und alles, was mit ihr zusammen hing, vor Kikjou strikt verheimlicht. Auf die Dauer war dies nicht möglich; auch litt Martin zu sehr darunter, ein solches Geheimnis vor dem Freund zu haben. Kikjous Reaktion auf die Eröffnung war sonderbar. Er schien beinah nicht überrascht. „Ich hatte etwas dieser Art erwartet," sagte er nur, und schaute den anderen, mehr sinnend als streng, lange aus den weit geöffneten, schillernden Augen an. Dann lieB er sich ein paar Stunden lang nicht blieken. schönes Atelier zu verlassen. Erst am spaten Nachmittag verbrachten sie eine Stunde im Bistrot gegenüber, um einen Vermouth zu trinken. Dann gesellte sich wohl David Deutsch zu ihnen, der sich noch intensivere Sorgen um Martin machte als der brave Valet de Chambre. David liebte und bewunderte den jungen Dichter, der sich nun an so bedenkliche Abenteuer verlor. Er nahm Kikjou bei Seite, um ihn herzlich zu bitten: „Bringen Sie ihn doch ab von dem abscheulichen Gift! Sie haben EinfluB auf ihn! Machen Sie ihn geltend! Wir verlieren Martin, wenn er es so weiter treibt — was ja bedeuten würde, daB er es bald viel schlimmer treiben wird. Wir dürfen ihn nicht verlieren!" Aber Kikjou — ein junger Priester, der nachsichtig das helle Antlitz zur nackten Sünde neigt — schüttelte nur sanft das Haupt. ,,La chose infernale ist schon starker geworden als ich," sagte er, und es klang kaum bedauernd. Das Abendessen nahmen sie zu dritt in dem kleinen Restaurant, Ecke rue des Saints Pères, wo damals die Amerikanerin ausgespuckt hatte. Und dann kam wieder die Nacht . . . Am nachsten Vormittag lieB Marcel auf dem Korridor vor Martins und Kikjous Zimmer den Vogelruf horen, mit dem er sich anzumelden pflegte: „Ohu . . . Ohu!" Er muBte mehrfach an die Türe klopfen, ehe Martin, sehr verschlafen und in einem nicht ganz sauberen Pyjama, ihm die Türe öffnete. „Les singes!" schimpfte Marcel. Er nannte die Beiden niemals anders, was eine Anspielung auf Kikjous zartes und nervöses Afïengesichtchen war. „Natürlich! Mitten am Tag noch im Bett!" Martin brachte in seinem langsamen, unbeholfenen Französischschmollendvor: „So eine Gemeinheit, einen gleich nach Mitternacht zu storen! Komm schon herein, da du nun einmal da bist . . Übrigens freute Martin sich im Grund darüber, dafi Marcel neuerdings haufiger zu ihm kam. Er machte es sich nicht klar, oder wollte es sich doch nicht ganz zugeben, dafi Poirets Visiten weniger ihm als dem kleinen Kikjou galten. Marcel bewahrte seinem „petit frère" Sympathie und Freundschaft. „Ein sehr anziehendes und interessantes Affchen," pflegte er, etwas gönnerhaft, von ihm zu sagen. „Er macht mir SpaB, weil er genau so ist, wie ich in seinem Alter leicht hatte sein können, aber durch verschiedene Zufalle nicht gewesen bin. Wahrscheinlich ist er auBerordentlich begabt, und übrigens stark und zah im Grunde, bei aller Zartheit. Er macht Augen wie ein hysterisches kleines Madchen; wenn es aber drauf ankommt, weiB er recht genau, was er will. Man könnte noch Überraschungen mit ihm erleben. Er wird manches leisten, und wahrscheinlich überlebt er uns alle." — „Eine tierisch verkommene Wirtschaft!" Marcel warf mit kühnem Schwung den leichten, hellen Hut auf einen Sessel; er stand da in seinem grauen, etwas fleckigen, aber gut gemachten Flanellanzug, mit breiten braunen Halbschuhen und einem dicken, rot und blau karierten Leinenhemd, zu dem er keine Krawatte trug. — „Wie das hier aussieht! Schweinerei!" Er lachte und fühlte sich ganz behaglich. Kikjou hoekte nackt auf dem Bett, seine Hande um die mageren Knien geschlungen. Martin warf ihm einen Morgenrock zu. „Du siehst unanstandig aus," bemerkte er, und grimassierte, als ekelte ihn der Anblick. Marcel hatte auf Kikjous bloBer, unbehaarter Brust das kleine, goldene Kruzifix entdeckt. Der AnlaB kam ihm gelegen, um sich gleich mit Feuereifer in die Diskussion zu stürzen, auf die er sich beinah immer einlieB, wenn er Kikjou sah. „Natürlich!" höhnte er, „den hafllichen kleinen Fetisch tragst du auf deinem Herzen! Merde alors!" „Sei still!" bat der andere ihn sanft, und schützte das heilige Ding mit zartlich gewölbten Handen, als wollte Marcel es ihm vom Halse reiBen. Dem schien wirklich nach irgend einer Aktion solcher Art zu Mute zu sein. „Es ist eine Schande!" polterte er. „Überall auf der Welt geht die Kirche mit der Reaktion, in allen Landern macht sie gemeinsame Sache mit den Feinden des Fortschritts, mit den Ausbeutern, oder auch mit den fascistischen Mördern — und du hangst dir diesen Firlefanz um den Hals! Dabei bildest du dir auch noch ein, eine linke Gesinnung zu haben, und treibst dich mit Leuten herum, die von dem Fascistenpack aus ihrer Heimat vertrieben worden sind!" Marcel lieB wegwerfende Blicke über die hübsche Gestalt des schmalen Knaben hingleiten, der seine Nacktheit jetzt notdürftig bekleidet hatte. Kikjou erlaubte sich einen Einwand. „Soviel ich weiB, werden die Katholiken im Dritten Reich fast ebenso schrecklich verfolgt wie die Juden und Sozialisten. Alles spricht dafür, daB die Feindschaft zwischen den Christen und Nazis sich noch verscharfen anstatt mildern wird." „Das ist Zufall", behauptete Marcel gereizt. „Die Herren Bischöfe würden sich mit dem ,Führer' herzlich gern abfinden, wenn sich der nur um eine Nuance entgegenkommender ihnen gegenüber verhielte. Man sieht es doch in Italien: das Gentlemen-Agreement zwischen Mussolini und dem Papst scheint zu funktionieren." Kikjou versetzte, sanft und eigensinnig, übrigens nicht ohne Feierlichkeit: „In Deutschland wird es Martyrer des Glaubens geben." „Martyrer des Glaubens gibt es dort schon," warf Marcel zornig dazwischen. „Des sozialistischen Glaubens namlich!" „Sind die Christen, die den Kerker oder Schlimmeres auf sich nehmen, weniger bewunderungswert ?" Kikjou sandte einen groBen, ernst fragenden Bliek der schimmernden Augen, die unter ihren gewölbten Brauen den Augen Marcels so sehr glichen. Marcel wollte nicht weiter von den christlichen Martyrern in Deutschland sprechen. „Die Kirche ist aus leicht durchschaubaren Gründen immer und überall gegen den sozialen Fortschritt gewesen," beharrte er. „Nach der Französischen Revolution war der Papst der Erste, der sich gegen die Proklamation der Menschenrechte erklarte. In Spanien wollen die Priester, Hunderttausende sollen Analphabeten bleiben, nur damit die kleinen Bauern und Landarbeiter sich ohne Widerstand von den GroBgrundbesitzern ausnutzen lassen, stumpfsinnig wie das Vieh. Dort wird es auf besonders krasse Art deutlich, welche Rolle die Kirche spielt, und am liebsten überall spielen möchte. Sie tut alles dafür, damit das Land, geistig und ökonomisch, in einem mittelalterlichen Zustand bleibe. Dann könnte man die Heilige Inquisition wieder einführen und die Ketzer brennen lassen, merde alors. Wenn es in Spanien einmal Revolution gibt — und die kann nicht ausbleiben —, dann werden diese verdammten Priester es sein, an denen das Volk sich am grausamsten racht!" Marcel hatte blutdürstige Augen. Martin konnte das furchtbar schnell gesprochene Französisch nicht ganz verstehen. Übrigens war er schon mehrfach Zeuge ahnlicher Debatten gewesen, und sie langweilten ihn etwas. Deshalb zog er sich nun ins Badezimmer zurück. „Ich gehe," sprach er noch, mit würdevoller Miene, ehe er die Tür hinter sich schloB, „um dem heiligen Vater eine Ansichts- karte zu schreiben. Der arme Mann muB doch wissen, was für unerbittliche Feinde er hat ..." Dann lieB er drinnen das heiBe Wasser in die Wanne rauschen. Kikjou, noch immer vom Bett her, sagte leise: „Es gibt falsche Priester. Ich verteidige sie nicht. Jede groBe Sache hat unwürdige Diener, neben den verdienstvollen; auch der Sozialismus. Die spanischen Kleriker mögen irren, sie sind menschliche Wesen, höchst fehlbar. Die deutschen Priester beweisen, daB die allein-selig-machende Kirche im Grande auf der Seite des menschlichen Rechtes steht. Der Mut, den diese frommen Manner zeigen, kann nur aus innerer Erleuchtung — muB aus der Gnade kommen." „Dasselbe lieBe sich von den kommunistischen Arbeitern behaupten, die auch nicht gerade feige sind," versetzte Marcel, zornig und geschwind. „Nur bei den Pfarrern laBt Zivilcourage auf Gnade schlieBen! — So niedertrachtigen Unsinn bin ich gewöhnt, von Madame Poiret zu vernehmen — wenn ich der ekelhaften Person überhaupt noch zuhöre. In Wahrheit ist es aber doch so, daB diese Herren vielleicht in einigen Fallen Mut bewahren mögen, aber für die falsche, verlorene, überwundene oder zu-überwindende Sache; für einen Aberglauben, durch den der Fortschritt seit Jahrhunderten bösartig gehemmt worden ist. Kann der Mut des Menschen denn ein anderes Ziel haben, als die materielle und moralische Besserung seines Schicksals ?! Die Priester lenken den Menschen von der einzigen Sorge ab, die ihn wirklich zu beschaftigen hatte: von der Sorge um sein eigenes Wohlergehen. Als Ersatz für Annehmlichkeiten, die er sich hier nicht verschaffen darf, winkt ein Jenseits — an dem das einzig Gute ist, daB es nicht existiert; denn seine Langweiligkeit ware unvorstellbar. — Wir wollen aber nicht warten bis zum jüngsten Tag!" Marcel stand mitten im Zimmer wie auf einer Tri- büne und schrie den Jungen im Bett mit Donnerstimme an, als wendete er sich an eine widerspenstige Masse. Die Augen sandten Strahlen; er hob die Faust. „Hier soll es heil werden!" verlangte er stürmisch. „Hier — wo wir leben und uns plagen!! — Es wird heil sein!" verkündete er entzückt, als ware ihm gerade jetzt von kompetenter Seite diese Mitteilung gekommen. „Weit hinten am Horizont sehe ich eine feurige und schwefelnde Sonne. Sie ist so stark, daÖ ihre Strahlen viel versengen werden —: sehr wohl möglich, dafl sie einen Feuerbrand anrichtet. Aber die Dunkelheit nimmt sie fort!" . . . Marcel liebte es, und es unterhielt ihn sehr, vor dem kleinen Kikjou Christum und Kirche anzuklagen, und eine bevorstehende, „klassenlose, kirchenlose, grenzlose Gesellschaft" zu preisen. Das erregte Gesprach, das sie vormittags im Hotelzimmer begannen, setzten sie zuweilen bis in den Nachmittag oder Abend fort: auf Spaziergangen, in einem Café, oder in Marcels kleiner Wohnung, drauflen in Auteuil. Marcel redete und redete — fieberhaft eilig, höhnisch und pathetisch, grob und zartlich, ekstatisch und vuig ar. Welche Angst hatte er denn zu betauben mit dieser Sturzfiut von Worten ? ... Er war geplagt von Ideen, wie ein anderer von Schmerzen. Jeder Gedanke, wenn man ihn nur bis zur letzten Konsequenz zu Ende dachte, bedeutete Verpflichtung, alarmierendes Programm, Aufforderung zur Tat. Auch die Zweifel blieben nicht immer aus, und es kamen Leiden. Entschlossen mutig, wie ein Schwimmer sich in kaltes Wasser wirft, stürzte Marcel Poiret sich in die intellektuellen Komplikationen. „Das Einfache ist stets nur das Vereinfachte!" proklamierte er. Andererseits qualte es ihn, dafi die schillernde Zusammengesetztheit seines Denkens ihn den einfachen Kampfern, den „Soldaten der Revolution" entfremdete. Die Manifeste und Pamphlete, die er verfaBte, verwirrten durch ihre Gedankenfülle wie durch den fulminanten Stil. Die Abonnenten der marxistischen Tageszeitungen und die Besucher von Massenversammlungen konnten mit ihnen kaum etwas anfangen. Sie begriffen wohl, daB dieser entflammte Jüngling sie zum Kampfe rief — „Der Kapitalismus tötet sich nicht selber; man muB ihn toten!" hatte er geschrieben —; aber sowohl Pathos wie Ziel dieses Kampfes blieben ihnen mysteriös. In den dogmatischen Materialismus des hymnischen Marxisten mischten sich zuviel lyrisch-überschwengliche Elemente. „Am Baume des Umsturzes" sah er „die wundersamsten Früchte keimen," wie der begeisterte Wanderer durch eine Frühlingslandschaft —, und er rühmte eine heftig bewegte, gleichsam elektrisch geladene „konvulsivische" Schönheit, die einerseits überschwenglich irrational zu sein schien, andererseits aber in einer seltsam strengen und intimen Beziehung zu den exakten Wissenschaften stand. — „Die Dichtung ist ein Mittel zur Erkenntnis," lieB er hören; er enthusiasmierte sich für den „neuen wissen schaftlichen Geist" wie für eine Religion. Er gierte nach Licht, nach Erleuchtung, nach Helligkeit, wie der Kranke nach Sonne. Das Dunkle imtiefsten Grunde seines eigenen Wesens muBte wohl machtig sein, sonst hatte er nicht mit so gereizter Heftigkeit nach dem Hellen verlangt. — Seine Meinung war: „Zu bewirken: daB aller Muff der Faulnis verfliege, das wird die GröBe der Dichter des XX. Jahrhunderts ausmachen. Deshalb haben wir unser Los verbunden mit dem der proletarischen Revolution, die durch die Befreiung des Menschen den Geist befreien wird." . . . Manchmal, — aber nur selten — wurden seine schonen, starken, beweglichen Lippen müde von den gar zu vielen Worten, die sie geformt hatten. Er verstummte im befreundeten Kreis, und der Strahlenblick unter den gewölbten Brauen ward dunkel. „Was soll das alles ?" fragte er, nach solchem Schweigen. „Warum habe ich nicht fünfzig Jahre früher leben dürfen ? Dann hatte dies alles mich nicht gequalt und mich kaum beschaftigt. Ich hatte ein paar hübsche, traurige, verliebte Bücher geschrieben, ein paar Geschichten über einfache, menschliche Gegenstande, und ware zufrieden gewesen ..." Und mit einem groBem Aufseufzen sagte er: „Ach, ich wünschte mir so sehr, wir hatten die Revolution endlich endlich hinter uns, damit man wieder anfangen könnte mit der Literatur. — Was sollen wir Schriftsteller, wahrend die groflen Entscheidungen fallen ? Wo sollen wir hin? Sagt mir — wo sollen wir hin?" Die Freunde konnten es ihm nicht sagen. Was sie vermochten, war nur, den plötzlich Entmutigten etwas zu trosten. Marion legte ihm mit groBer Sanftheit die schone, starke Hand auf den Arm. Martin, pedantisch und kokett zugleich die Worte dehnend, begann, eine humoristische Geschichte zu erzahlen. Kikjou lachelte — ratselhaft, gütig und verführerisch. Man saB in Marcels kleiner Wohnung. Die Unordnung hier war horrend —auf den Stühlen lagen Broschüren neben getragenen Hemden, und das Bett war zerwühlt —; trotzdem herrschte eine gewisse Gemütlichkeit. Auf dem Tisch stand der rote Wein neben dem Brot und dem Fleisch. Marcel besorgte selber seinen kleinen Haushalt. Er scherzte und lachte mit den Ladenmadchen, wenn er seine Einkaufe machte. Alle im Quartier liebten ihn. Keiner widerstand seinem Charme. Wenn er zu Hause aB, hatte er immer Gaste. Entweder französische Kameraden steilten sich zur Mahlzeit ein, oder es erschienen ein paar deutsche Emi- hinzu: „Eine sehr originelle Person ... Sie hat mich auf die Idee gebracht, mit Lavendelwasser, Seife und komischen kleinen Schwammen hausieren zu gehen... AuBerst originell ..." In ihren Augen gab es ein kurzes, gehassiges Funkeln. Marion fragte besorgt: „Sie verkaufen also Toiletteartikel?" Dabei berechnete sie: ,Ich besitze noch 30 Francs. Eine Tube Zahnpasta könnte ich ihr vielleicht abkaufen; das wird nicht mehr als 8 Francs kosten.' Statt Marions Frage zu beantworten, erklarte die Fremde, mit einer vornehm knappen Neigung ihres langen und schmalen Hauptes: „Mein Name ist Friederike Markus." Den Oberkörper vorgebeugt, die aschfarbene Skeletthand an den Mund gelegt, fügte sie raunend hinzu: „Freunde nennen mich Frau Viola. Aber verraten Sie es Etzel nicht! Er kann es nicht ausstehen, wenn ich als ,Frau Viola' begrüBt werde — vielleicht weil Gabriel mich stets so angeredet hat: immer als Frau Viola, ganz konsequent, niemals anders." Da sie mit miBtrauisch schragem Bliek Marions erstaunte Miene bemerkte, machte sie gereizt: „Nun ja, es könnte doch sein, daB Sie Etzel, meinen sogenannten Gatten, einmal irgendwo treffen. Er ist viel unterwegs, wird überall vorgelassen, und benutzt all seine Verbindungen, um gegen mich zu intrigieren." — Marion dachte: ,Mein Gott, sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Durch vieles Leiden ist sie völlig aus der Form gekommen und hat ihr inneres Gleichgewicht ganz verloren. Was fange ich mit ihr an ?' Frau Viola, die kerzengrade, mit dem Köfferchen auf den aneinander gepreBten Knieen, im Stuhle saB, lieB ihre Stimme vernehmen, die scharf klirrte wie ein geborstenes Instrument: „Ehe wir zu den Geschaften übergehen, liebes Fraulein von Kammer, von Trance, in die sie verfiel, wenn sie die Feder ins TintenfaB tauchte — und es entstanden die endlos langen, konfusen, übrigens fast unleserlichen Briefe, die sie an berühmte und ihr meistens fremde Personen adressierte. Dichtern und Professoren, Malern und Schauspielerinnen, Dirigenten und Politikern ihr gepeinigtes Herz auszuschütten, war zum einzigen Vergnügen geworden, das sie sich gönnte. Solche Liebhaberei bedeutete für sie einen Luxus, und zwar einen recht leichtsinnigen, üppig unstatthaften. Das Briefporto spielte in ihrem Etat eine beangstigende Rolle, und wenn es sich gar noch um Doppelbriefe handelte, — was haufig vorkam —, und sie obendrein noch dem inneren Drang nachgeben muBte, das schwere Schreiben rekommandiert und express zu senden, so hieB es gar manches Mal, tagelang auf eine warme Mahlzeit verzichten und sich mit altem WeiBbrot und lauem Tee begnügen, damit nur all die fremden Berühmtheiten aus ihrer Morgenpost erführen, wie melancholisch und interessant das innere Leben der Frau Viola beschaffen war. Heute schrieb sie an Frau Tilla Tibori — was sie sich schon lange vorgenommen hatte; denn diese Schauspielerin war ihr eine der liebsten in Berlin gewesen. „Verehrte Frau!" Friederikens Feder eilte knirschend übers Papier. „Auch Sie hat unser gemeinsames Unglück in ein fremdes, unwirtliches Land verschlagen." (Die Markus hatte zufallig Tillas Züricher Adresse durch gemeinsame Bekannte in Erfahrung gebracht. ),,Hören Sie die Klage und das Bekenntnis einer Leidensgenossin . . ." An dieser Stelle stutzte sie plötzlich, als hatte eine Stimme sie angerufen. Sie hob ruckhaft den Kopf. Wahrend ihre . Blicke irr ins Leere glitten, sprach sie mit einer kleinen, zirpend hohen Stimme: „Ja — Gabriel — wo 14 bist du ? Ich kann dich hören! Aber sprich doch bitte bitte etwas deutlicher, damit ich dich besser verstehe!" Der Kellner beobachtete sie, erstaunt und ziemlich angewidert. — Wahrend Frau Viola das armselige Briefpapier „Au Rendezvous des Chauffeur" mit Anklagen und Beschwörungen, Ausbrüchen des Stolzes und des grenzenlosen Jammers füllte, telephonierte Marion mit der Proskauer, um einige Tatsachen über die Unglückliche zu erfahren. „Was ist das für eine Frau?" fragte Marion. „Sie hat mir angekündigt, dafl sie mich wieder besuchen wird ..." Ilse wuBte sofort Bescheid. „Natürlich erinnere ich mich an Friederike Markus, die vergiBt man nicht, sie hat uns ja genug Sorgen gemacht. Eine Zeit lang muBten wir sie unterstützen, bis wir ihr diese Parfümerie-Vertretung verschafften. Es sind noch keine Klagen über sie gekommen; ihre Arbeit scheint sie korrekt zu erledigen. Trotzdem bin ich pessimistisch, was ihre Zukunft betrifft. Ihr Geisteszustand wird immer bedenklicher." „Ist denn alles erfunden, was sie erzahlt ?" wollte Marion wissen. „Die ganze Geschichte von ihrem satanischen Gemahl Etzel und dem schonen Jüngling Gabriel ?" „Alles erfunden," bestatigte die Proskauer, „alles ertraumt. In Wirklichkeit hat sie niemanden — und das ist wohl so schlimm, daB sie sich einen Gatten ausdenkt, der sie qualt, und einen Jüngling, der sie verlassen hat. Von den Dingen, die in ihrem Leben wirklich passiert sind, spricht sie nie. Sie hatte namlich tatsachlich einen Mann — du wirst seine Namen wahrscheinlich gehort haben: Doktor Max Markus, Rechtsanwalt. Er war der juristische Vertreter einer links-politischen Gruppe in Berlin, und dann kam er ins Konzentrationslager, und dort soll er sich umgebracht haben." Ilse Proskauer schwieg; am anderen Ende der Leitung lieB Marion einen kleinen Laut der Bestürztheit und der Trauer hören. Marions Tage in Paris waren erfüllt von Sorge um die eigene Zukunft und von Anstrengungen, die sie für die Zukunft anderer unternahm. Nicht alles, was man versuchte und anzettelte, wollte geraten. Ilse 111, zum Beispiel, kam verzerrt vor Enttauschung von ihrem Rendezvous mit dem Theater-Direktor zurück. ,,Er hat mich abgelehnt!" zischte die Kabarettistin. ,,So eine Gemeinheit! — Und wissen Sie, was er zu mir gesagt hat?! Er hat mir ins Gesicht gesagt: Fraulein, Sie sind zu haBlich! — Spater hat er mir aber versichert: Natürlich, Sie haben Talent. — Nun bitte ich Sie, Marion, was soll das bedeuten ?! Wenn ich Talent habe, dann habe ich doch ein Gesicht. Und wenn ich ein Gesicht habe, dann bin ich doch nicht haBlich!!" ,,Ick kenne noch einen Pariser Theater-Direktor," sagte Marion müde. „Mit dem werde ich Sie zusammen bringen, Fraulein 111." Und Ilse — die vom Ehrgeiz gejuckt wurde wie von einem giftigen kleinen Ausschlag — wiederholte: ,,Er hat mir gesagt: ,Vous êtes trop laide, Mademoiselle!' Ist das zu fassen? Ist das vorzustellen ?" . . . . . . „Du muBt mit mir ans Meer!" Dieses Mal bestand Marcel darauf. Sie fuhren nach einem kleinen Ort in der Nahe von Deauville. Der Sommer ging zu Ende; die Winde waren heftiger und rauher. Das dunkle, bewegte Wasser lieB erkennen: es ist Herbst geworden. — „SchluB mit dem Sommer!" Marcel rief es mit grimmiger Vergnügtheit aus — als ware es jedenfalls gut, dafi wieder eine Jahreszeit, irgend ein Lebensabschnitt erledigt und endgültig vorüber war. — ,,Nie wieder Sommer 1933!" Marion hielt das Gesicht und die schimmernde Mahne dem Sturm hin. „Es war ein infernalischer Sommer. Diese heiBen Wochen in Paris vergesse ich nie. Der Asphalt auf den StraBen war ja schon ganz weich geworden; die Schuhsohlen klebten einem fest ..." — Sie machten weite Strand-Spaziergange, oder sie saBen, in ihre Mantel gehüllt, auf einer Terrasse — fröstelnd aber froh. Nachts, wenn der Sturm um das kleine Hotel tobte, veranderte sich alles um sie herum ins Wilde und Phantastische. Sie wuBten nicht mehr, daB es ein ziemlich kleinbürgerlicher Erholungsort war, den es da vor ihren Fenstern gab. Das Zimmer, in dem sie einander liebten, schien in der Luft zu hangen, eine schwebende Gondel. Marion taumelte. Die lange Promenade am Meer und der groBe Wind, dem sie ihr Gesicht dargeboten hatte, waren wohl ein wenig viel für sie gewesen. Sie klammerte sich an Marcel, als ob sie stürzen müBte, wenn sie ihn lieBe. „Wie mager du bist!" sagte er noch einmal; er schien sich über die Schmalheit ihres Körpers nicht genug erstaunen zu können, obwohl er selber dünn war. „Nur Haut und Knochen!" Dies konstatierte er nicht ohne eine gewisse Strenge. Aber wie viel gerührte Zartlichkeit klang in seinem Tadel! — ,, Komm zum Bett!" Es war Marion, die ihn bat. „Mir ist schwindlig." Das Zimmer schwankte ihr unter den FüBen. Nun schien es ein Schiff auf hoher See zu sein — oder vielleicht nur ein kleiner Nachen. Wohin trug er sie? Gab es Ufer, jenseits dieser Gewasser, die sich unermeBlich breiteten ? Und wenn es Ufer gab — hatte man Kraft genug, um sie zu erreichen ? ,,J'ai peur — ah, j'ai peur . . Marion erschrak: dies war Marcels flüsternde Stimme; sie aber hatte genau dasselbe sagen wollen — freilich auf deutsch. „Wovor fürchtest du dich ?" — Er beantwortete ihre Frage mit einer Stimme, die plötzlich rauh war und etwas keuchte. „Gefahren — Gefahren überall . . . Oh, wir sind schon verloren! . . . Welche Schuld haben wir auf uns geladen, daB man uns zu solcher Strafe verdammt ? . . . Ach, Marion — Marion . . Seine Worte vergingen an ihrem Hals. Vielleicht weinte er. „Wir werden schon fertig — mit allem!" raunte sie zuversichtlich. Aber auch ihre Augen hatten den entsetzten Bliek, als ware ein Abgrund jah vor ihnen aufgesprungen. Aus dem Abgrund stiegen Feuerbrande, auch Qualm kam in dicken Schwaden, und Felsbrocken wurden empor geschleudert. Es war der Krater eines Vulkans. Hüte dich, Marion! Wage dich nicht gar zu sehr in die Nahe des Schlundes! Wenn das Feuer dein schönes Haar erfaBt, bist du verloren! Wenn einer der emporgeschleuderten Felsbrocken deine Stirne streift, bist du hin! Auch könnte es sein, daB du am Qualm elend ersticken muBt. Hütet euch, Marion und Marcel! Furchtbar ist der Vulkan. Das Feuer kennt kein Erbarmen. Ihr verbrennt, wenn ihr nicht sehr schlau und behutsam seid. Warum flieht ihr nicht? Oder wollt ihr verbrennen ? Seid ihr versessen darauf, eure armen Leben zu opfern ? — Aber ihr habt nur diese! Bewahrt euch! Wenn auch ihr im allgemeinen Brand ersticken solltet —: niemand würde sich darum kümmern, niemand dankte es euch, keine Trane fiele über euren Untergang. Ruhmlos — ruhmlos, Marion und Marcel, würdet ihr hingehen! Noch einmal Marcels keuchende Flüsterstimme: „Gefahren, wohin ich schaue . . . Kampf — Kampf ohne Ende . . . Ich sehe Mord —: Mord und Tranen . . . Voici le temps des assassins! Die mörderische Zeit ist angebrochen . . . Wohin retten wir uns ? Wohin fliehen wir mit unserer Liebe ? Wohin, Marion, wohin ?" Der Griff seiner Hande, der von verzweifelter Heftigkeit war, lockert sich endlich. Er schmiegt sich an sie. Nebeneinander ruhen ihre erschöpften Haupter. Ihre Augen waren geblendet von Feuerbranden, die den Horizont nicht erhellen, sondern purpura verfinstern. Da der eine nun die atmende Nahe des anderen spürt, dürfen sie endlich damit aufhören, ins schauerliche Gewoge der Flammen zu schauen — der Flammen aus dem Vulkan. Sie schlieBen die Augen. Mit dem Seufzen, das alle Liebenden haben — und das nach Qualen klingt, wahrend es doch so viel mehr ausdrückt als nur die Schmerzen — vertrauen sie sich den Umarmungen an, und ihr letzter Trost sind die Küsse. FÜNFTES KAPITEL „Man gewöhnt sich an alles," konstatierteFrauvon Kammer und seufzte. Niemals hatte sie für möglich gehalten, daB sie im Stande war, ein derart reduziertes, glanzloses Leben auszuhalten. Den guten Bekannten, die in Deutschland geblieben waren — achtbaren Leuten durchaus konservativer Gesinnung — schien es noch bedeutend schlimmer zu ergehen, wenn man den Nachrichten glauben durfte, die in Zürich eintrafen. Ein Major a. D., der zu den Freunden des Generals von Seydewitz gehort hatte, war mehrere Wochen lang im Konzentrationslager gewesen, und safle heute noch drin, wenn er nicht über besonders glanzende Verbindungen verfügte: alles dies, weil sein Dienstmadchen gemeldet hatte, er spreche respektlos von derRegierung. Ein verdienstvoller Herr, bewahrt im Krieg wie im Frieden — und verhaftet wegen der Schwatzereien einer Magd! Manche, die im Februar 1933 von der „Machtergreifung Hitiers entzückt gewesen waren, schienen jetzt, ein Jahr spater, schon enttauscht. Vor allem in Offizierskreisen gab es Katzenjammer, wie Frau von Kammer sich erzahlen lieB. Nicht ohne Triumph nahm sie es zur Kenntnis. „Es scheint in der Tat, daB ein Mensch, der Gefühl für Würde hat, in diesem Deutschland nur noch Selbstmord begehen kann," sprach MarieLuise mit feierlichem Nachdruck. — „Selbstmord ist keine Lösung," warf Tilly etwas schnippisch ein. „Sinnvoller ware: gegen das Regime zu opponieren." — „— Falls das noch irgendwie möglich sein sollte," schloB Frau Tibori und hatte ihr dunkles, gurrendes, nicht ganz natürliches Lachen. — Tilly wollte das letzte Wort haben. „Die Möglichkeit zur Opposition ist wohl immer da," meinte sie und sah eingeweiht aus. „Freilich genügt für die illegale Arbeit gegen die Diktatur weder die rechte Gesinnung noch Courage; es gehort Erfahrung dazu — Trainung, wie zu einem Sport." Sie erinnerte sich der barschen Belehrung, mit der die zwei jungen Manner in Berlin sie abgefertigt hatten. Frau Tibori und Marie-Luise zeigten ziemlich ratlose Mienen. Die Schauspielerin erschien jede Woche mindestens einmal zum Tee bei ihrer Freundin. Frau von Kammer hatte, seit dem ersten Januar, die Wohnung in der Mythen StraBe aufgegeben, weil sie zu kostspielig war, und gesellschaftliche Reprasentation ohnedies kaum noch in Frage kam. Sie war weiter hinaus, an den See, gezogen und bewohnte nun mit Tilly drei bescheiden möblierte Stuben in Rüschlikon. Die Tibori ihrerseits lebte immer noch mit jenem alteren Herrn, von dem sie meist zurückhaltend als „von meinem Bekannten," manchmal auchals „von Herrn Kommerzienrat" sprach. — „Er ist gut zu mir, weiBt du," hatte sie Marie-Louise einmal gestanden, „und er verlangt nicht viel. Eigentlich liegt ihm nur daran, meine Stimme zu hören. Er ist vernarrt in hübsche Frauenstimmen, und hört mich so gerne schwatzen. Nun, das Vergnügen ist ihm zu gönnen —- wenn man bedenkt, was er sichs kosten laBt. — Der Rest bedeutet nicht viel für ihn." Frau von Kammer war doch ein wenig schokiert, weil ihre Jugendgespielin mit so viel Zynismus „vom Rest" sprach. Sie hatte Tilla einmal mit dem Kommerzienrat, gelegentlich einer Theaterpremière, getroffen. Der Tibori war es peinlich gewesen; aber ihr greiser Kavalier lieB sich unbarmherzig vorstellen. Er sah recht verfettet und melancholisch aus, mit hangenden bleichen Backen und Augen, die in fahlem Speek zu verschwinden drohten. — Wie halt Tilla das aus ? — fragte Frau von Kammer sich besorgt und etwas angewidert. Tilla muBte es wohl aushalten. Wie sollte sie sonst über die Zeit hinwegkommen, wahrend derer sie ihre Kenntnisse im Englischen perfektionierte und auf den Bescheid ihres Agenten aus Hollywood wartete ? — Einmal war sie in London gewesen; dort hatte man, im Auftrag einer amerikanischen Gesellschaft, Probeaufnahmen vor ihr gemacht. Nun hatte die Entscheidung in Kalifornien zu fallen. Aber die maBgebenden Herren schienenkaum Eile zu haben. . . Am Ende konnte es Frau von Kammer nur recht sein, daB die Freundschaft zwischen Tilly und Tilla nicht so intim geworden war, wie die Altere dies wohl beabsichtigt hatte. „Ich bin doch eigentlich so etwaswie deine Patentante", hatte die Tibori gescherzt, und nichts unversucht gelassen, um das junge Madchen für sich zu gewinnen und einzunehmen. Tilly aber blieb spröde. Wenn die Actrice sich Mühe gab, in ihre kleinen Geheimnisse einzudringen, schwieg sie störrisch. Sie war degoutiert von der Lebensführung ihrer „Patentante". — „Eine nicht mehr junge Frau, die sich von einem dicken Kapitalisten-Schwein aushalten laBt!" sagte sie streng. Der Patentante konnte es nicht entgehen, daB sie etwas verachtlich behandelt ward. Wahrscheinlich ahnte sie auch die Gründe. „Diese junge Generation ist moralisch," meinte sie sinnend. „Man erregt heute leichter AnstoB bei einer Zwanzigjahrigen als bei einem Pfarrer oder einer alten Jungfer. Vielleicht hat das gute Gründe. Wir haben uns aus den moralischen Gesetzen, mit denen es unsere Eltern noch so ernst nahmen, nicht mehr viel gemacht und sind machtig stolz auf unsere ,Freiheit' und .Unabhangigkeit' gewesen. Nun kommen andere: unsere Kinder — oder solche, die unsere Kinder sein könnten —, und sie müssen sich neue Gesetze erfinden, ganz für sich allein — weil das Leben sonst langweilig und ohne Spannung ware." Frau von Kammer dachte, etwas verbittert: ,Wie anspruchsvoll sie daherredet! Und was ist das für eine gewagte Behauptung: wir hatten die Moralgesetze überwunden ? Es gibt doch wohl Unterschiede, auch innerhalb einer Generation . . — Sie sagte: ,,Ich verstehe nicht ganz, was du meinst. Leider muB ich fürchten, da!3 die Kreise, in denen meine Tilly verkehrt, es nicht sonderlich genau mit den moralischen Prinzipien nehmen — weniger genau jedenfalls, als manche von uns es taten, als wir jung waren." — „Doch," beharrte Tilla Tibori, „auf ihre neue Art sind sie sehr moralisch und verurteilen jeden, der etwas laxere Begriffe hat und sich mal ein biBchen gehen laBt. Es fehlt ihnen der Sinn fürs Frivole. Sie sind alle politisch, lauter kleine Fanatiker — und das macht sie mindestens ebenso unerbittlich, als ob sie religiös waren. Wir haben wohl für all das nicht mehr ganz das richtige Verstandnis, meine liebe Marie-Luise. . . . . Frau von Kammer, die den Umgang mit verdachtigen Emigranten immer noch mied, und von den feinen Leuten ihrerseits gemieden wurde, blieb recht allein. Aus Deutschland schrieb ihr fast niemand mehr, auch kam wenig Besuch. Ihre beste — oder vielmehr: ihre einzige Freundin in Zürich war eine alternde Schauspielerin, die sich von einem Kommerzienrat aushalten lieB . . . Trotz alledem war MarieLuise nicht eigentlich unglücklich. Das BewuBtsein, daB sie sich Entwürdigungen entzogen hatte, denen ihre alten Bekannten in Berlin ausgesetzt waren, gab ihr den Halt. Marion war zu Weihnachten ein paar Tage in Zürich gewesen. Sie sprach viel und eifrig von ihren Planen; denn nun waren sie schon so weit gediehen, daB kein Aberglaube mehr daran hindern konnte, von ihnen zu reden. Es lief darauf hinaus, daB Marion als Rezitatorin Abende veranstalten und durch die Lander reisen wollte. Das Programm, das sie vorbereitete — Verse und Prosa von klassischen sowohl als auch von modernen Autoren —, war unter einem antifascistischen Gesichtspunkt zusammengestellt. „Freilich sollen nicht alle Stücke, die ich sprechen will, einen direkt politischen Inhalt haben," erklarte sie. ,,Aber irgendwie muB man sie in Beziehung bringen können zu unseren Kampfen und Problemen. Ich habe schon die wunderbarsten, aufregendsten Dinge gefunden, bei Goethe oder Lessing, bei Heine, Hölderlin oder Nietzsche, oder bei den Neuen. Die deutsche Literatur ist ja so reich, jetzt erst merke ich, wie herrlich reich sie ist. Alles was uns auf den Nageln brennt, ist eigentlich schon gesagt und ausgedrückt worden — mit welcher Macht, welcher Schönheit! — Wer zwingt mich übrigens, mich nur auf die deutsche Literatur zu beschranken ?" fügte sie noch hinzu, fast übermütig vor lauter Unternehmungslust. Tilly war gleich begeistert von Marions Plan. Die Mutter verhielt sich mifltrauisch. Ob man sich wirklich sein Brot verdienen kann, durch GedichteAufsagen ? zweifelte sie. Marion lachte. „Wir werden ja sehen . . . Und übrigens riskiere ich nicht viel — nur all die Arbeit, die ich mir jetzt mache. Wenn es kein Erfolg wird, versuche ich etwas anderes." So war Marion: immer aktiv, voller Einfalle und nicht ohne Munterkeit — wenngleich sie nun haufig recht angestrengte Züge zwischen den Brauen auf der Stirn zeigte. Sie reiste bald wieder ab, weil sie in Paris kolossal viel zu tun hatte, teils mit der Sorge um alle ihre Freunde, teils mit der Vorbereitung ihres literarischen Programms. Die drei Zimmer in Rüschlikon wurden so still, wie sie es gewesen waren vor diesem turbulenten, angeregten Besuch. — Tilly war selten zu Hause. Frau von Kammer be- schaftigte sich mit groBen Handarbeiten, oder sie schüttelte den Kopf über der Lektüre der Zeitung; oft saB sie auch nur einfach da und grübelte, oder sie schrieb auf Zetteln lange Zahlenkolonnen unter einander, um sich auszurechnen, ob sie mit ihrem Monatsgeld auskommen konnte. Es schien fast nicht möglich; aber es muBte sein. Wenn nur das Schulgeld für die kleine Susanne nicht so teuer gewesen ware. Die schrieb weiter ihre korrekten, ziemlich inhaltslosen Briefe aus dem Internat. Auf ihre trockene Art teilte sie mit, daB sie über nichts zu klagen habe. Sie war ehrgeizig, besonders was den Sport betraf. Stolz berichtete sie von ihrem Sieg auf einem Tennis Tournier, oder bei einer Schwimmkonkurrenz. Mit den anderen jungen Madchen vertrug sie sich gut. Vor allem lag ihr daran, nicht aufzufallen; eine unter vielen, ein „Durchschnittsmadel" zu sein. Frau von Kammer muBte ihre nette-" KI eider und feine Wasche schicken: das war nötig aus Prestigegründen. Essollte dem Kind nicht zu BewuBtsein kommen, daB sie armer war als alle, mit denen sie in der Klasse saB. Um keinen Preis hatte Susanne es sich selber oder anderen zugegeben, daB sie in dem Zirkel von jungen M adchen solide-wohlhabender Herkunftein Ausnahmefall und ein „fremdartiges'Element" bleibenmufite—: ihre Familie lebte unter gar zu anderen Umstanden und Verhaltnissen als die Angehörigen der übrigen Schülerinnen. Einmal hatte sie empörtan die Mutter geschrieben: „Die Berta Baudessin aus Hannover ist sehr frech zu mir gewesen und hatgesagt: .Ihrseidja nur Emigranten.' Das ist doch eine Gemeinheit und auch gar nicht wahr. Du hast mir gesagt, es ist nur wegen Deiner Gesundheit, daB Du in der Schweiz leben muBt, statt in Berlin. So ist es doch, Mama?" — Solche Zeilen las MarieLuise nicht ohne Sorge. ,Das Kind gibt sich falschen Vorstellungen hin," sprach sie kopfschüttelnd. Tilly aber argerte sich. „Eine dumme Gans!" rief sie böse. Die Mutter meinte versöhnlich: „Aber sie ist doch noch so jung! Wie soll sie eine Ahnung haben von dem, was in Deutschland geschieht ? Ihr kommt es doch nur darauf an, da!3 sie nicht aus dem Rahmen fallt und nicht anders ist als ihre kleinen Kolleginnen." Darauf Tilly: „Das ist ja gerade das Schlimme — wenn man bedenkt, was für eingebildete, kapitalistische Fratzen diese , kleinen Kolleginnen' sein müssen!" Es war einfach unpassend — fand Tilly —, daB Susanne in einer so teuren Schule blieb. „Das ist etwas für die Kinder von reichen Leuten! Susanne sollte nicht vergessen, daB ihre Schwestern sich schon plagen müssen, um leben zu können!" Sie übertrieb etwas; mit der Plage war es in ihrem Fall noch nicht arg. Sie hatte Stenographieren und das Bedienen einer Schreibmaschine perfekt gelernt, und durch die Vermittlung von Freunden hatte sie auch eine Art von Stellung gefunden. Jeden Tag war sie von morgens neun Uhr bis zum Mittagessen bei einem alten Herrn, der eine stattliche Villa am See bewohnte. Herr Ottinger beschaftigte sich mit der Abfassung seiner Memoiren, die er unter dem Titel „LebensbeichteeinesEidgenossen" zu veröffentlichen dachte. Dieses gewichtige Manuskript war es, aus dem er Tilly diktierte. Er erlaubte sich einen kleinen VerstoB gegen das Gesetz seines Landes, indem er die Fremde arbeiten lieB. Sicherlich war es die erste illegale Tat in seinem langen, korrekten Leben. Herr Ottinger erwies sich als ein freundlicher und liberal gesinnter Mann, mit weiBem Vollbart und kurzsichtigen, guten blauen Augen hinter den Brillenglasern. Sein Reichtum galt für solide; bedeutende Teile seiner Revenuen verwendete er für wohltatige Zwecke. Mancher in Stadt und Land und wohl auch auswarts hatte AnlaB, dem Ehepaar Ottinger herzlich dankbar zu sein; denn auch Madame war sehr gut. Sie hatte eine Menge seltsamer grauer Löckchen auf dem Kopf und ein Gesicht voll von Faltchen. Die Greuel, von denen man jetzt aus dem groBen Nachbarland wie auch aus anderen Weltgegenden berichtete, erschienen diesen zwei braven Menschen ebenso unverstandlich wie haBlich. „Ich bin ein alter Demokrat," erklarte Herr Ottinger und strich sich selbstbewuBt den schön gewellten Bart. „Nie werde ich verstehen, daB ein Volk sich so viel bieten laBt wie das Deutsche." Für die Emigranten hatte er Sympathie. Sogar wenn sie in ihrer Opposition etwas maBlos wurden und sich zu kommunistischen Ideen bekannten — die Herr Ottinger miBbilligte —, blieb er nachsichtig. „Man hat den armen Leuten sehr viel zugemutet," pflegte er zu sagen. „Durch HaB und Leiden sind sie vielleicht etwas kunfus geworden." Und er schrieb noch einen stattlichen Check aus. Einmal in der Woche gab es bei Ottingers „Jour" mit Musik. Madame spielte Klavier und komponierte selbst kleine Piècen. Tilly führte auch ihre Mutter ein. Frau von Kammer erschien im besten Kostüm, mit weiflen Glacéhandschuhen zu den Empfangen; manchmal wurde sie auch zu einer Bridgepartie gebeten. Hier durfte sie die Erfahrung machen, daB langst nicht alle Mitgleider der „besseren Kreise" jene Gesinnung teilten, durch die sie aus dem Salon der Krügis vertrieben worden war. — Auf einem der „Jours" lernte Tilly den jungen Peter Hürlimann kennen. Er galt als ein besonders begabter Schüler des Züricher Konservatoriums und durfte mit Frau Ottinger musizieren. Hürlimann sah nett aus, wenngleich etwas plump; ein vierschrötiger Bursche mit langem, struppig schwarzem Haar und einer Brille im runden, gutmütigen, intelligenten Gesicht. Am ersten Abend, als er Tilly traf, traute er sich kaum, mit ihr zu reden. Er schaute sie an. Als sich dann herausstellte, daB sie den letzten Zug nach Rüschlikon versaumt hatte, erbot er sich, sie nach Hause zu bringen. „Es ist ein schoner Spaziergang," sagte er ernst. Unterwegs sprach er nicht viel. Dann sahen sie sich beinah jeden Tag. Tilly war wahrend des letzten Jahres viel hübscher geworden. Es schien, als hatte die lange Traurigkeit sie verschönt. Ihr helles, weiches Gesicht wurde ernst gerahmt vom glatten, rötlichen Scheitel. Die schrag gestellten, langen, schwermütig zartlichen Augen führten eine sanfte, eindringliche Sprache. Besonders gefiel den Mannern ihr üppiger Mund, von dem Konni immer gesagt hatte, da!3 er so „schlampig" wirke. Sie hatte viele Verehrer, sowohl unter den Emigranten, die sich vorübergehend oder dauernd in Zürich aufhielten, als auch unter den jungen Schweizern, die sie hier und dort traf. Ihre etwas rundlichen, etwas tragen Glieder waren anziehend, und ihr feuchter Bliek verlockte. Die meisten Manner waren wild nach ihr. Von den Emigrantenhatten viele lange keine Frau gehabt. Sie waren gierig nach Liebe. Tilly wirkte wie eine, die nicht schwer zu erobern ist. Alle wollten gleich mit ihr ins Bett. Aber sie mochte das nicht. Sie dachte immer noch an ihren Konni, und sie rechnete heimlich damit, ihn bald wieder zu sehen. Nur einem hatte sie vielleicht nachgegeben: das war Konnis Kamerad in Prag, H.S., mit dem sie weiter korrespondierte. Den kannte sie nicht einmal; aber sie erwartete sich viel von ihm. Wenn das Schlimmste wahr werden und ihr Konni wirklich nicht mehr in Erscheinung treten sollte —: H.S. würde eines Tages da sein . . . Den Peter Hürlimann mochte sie gern. Seine Liebe war anspruchslos und zuverlassig. Ein paar Mal hatte er sie geküBt, aber niemals war er auf Weiteres ausgewesen. ,Wahrscheinlich hat er Hemmungen,' beschloB Tilly, aber sie war ihm doch dankbar für seine brave Zurückhaltung. — Peter sprach verstandig und langsam; was er sagte, hatte Hand und FuB, ob es sich um die Musik von Johann Sebastian Bach oder um die Schweizer Innenpolitikhandelte. An Tillys groBen und kleinen Sorgen nahm er ehrlichen, bieder-ernsthaften Anteil. Er bemühte sich, ihr das Leben etwas leichter und angenehmer zu machen. Spater einmal wollte er sie heiraten: dazu hatte er sich wohl schon seit langerem in aller Stille entschlossen. Tilly wuBte es; sprach aber nicht gerne davon. Er erklarte ihr, als ware im Übrigen alles zwischen ihnen abgemacht: „Natürlich kannst du erst meine Frau sein, wenn ich anstandig Geld verdiene. Das kommt aber bald. Ich werde eine Stellung als erster Geiger in einem Orchester kriegen. Und dem Herrn Kapellmeister hier vom Stadttheater, hat meine neue Komposition recht gut gefallen." — ,,Wir müssen abwarten . . Tilly sagte es zartlich, aber etwas beunruhigt durch die Selbstverstandlichkeit, mit der er ihre Verbindung erwahnte. „Man weiB ja heute nie, was geschieht — und es kommt einem so sinnlos vor, Plane zu machen . . Sie gingen zusammen ins Theater oder in Konzerte — Kino mochte Hürlimann nicht —; am Sonntag machten sie Wanderungen. Manchmal aBen sie auf dem Lande bei Peters Eltern, die eine bescheidene Gastwirtschaft nicht weit von Zürich hatten. Es waren einfache Leute, und viel Geld hatten sie nicht. Aber es langte bei Hürlimanns doch dazu, der Freundin ihres Sohnes einen Braten und einen offenen Landwein vorzusetzen. Im Garten, unter dem Kastanienbaum, oder in der alten Wirtsstube schmeckte es sehr viel besser als in den kleinen vegetarischen Restaurants, wo die Zwei sonst meistens miteinander speisten. Obwohl Tilly so viel an ihren Konni denken muBte und immer darunter litt, daB in Deutschland jetzt alles so schrecklich war, fand sie ihr Leben in Zürich, mit Ottingers, Peter Hürlimann und der starren Mama, nicht so übel und war, alles in allem, nicht unzufrieden. Es gab aber eine Sorge, aus der die argste Kalamitat werden konnte: ihr deutscher PaB war bald abgelaufen. Sie hatte sich überwunden und war zum Konsulat des Dritten Reiches gegangen. Um nur einen neuen PaB zu bekommen, hatte sie sogar das Hitlerbild an der Wand gegrüBt, so peinlich es ihr auch war. Der Beamte war ihr höflich, aber mit einer gewissen. Reserviertheit begegnet. Er versprach, wegen der Verlangerung ihres Passes „bei der zustandigen Berliner Stelle rückzufragen." Die „zustandige Berliner Stelle" verweigerte die Erlaubnis. Tilly von Kammer sollte keinen deutschen PaB mehr haben. Der Beamte, der ihr dies mitteilen muBte, schien selber ein wenig verwundert über den Bescheid. „Es ist also nichts zu machen," sagte er, als könnte er es nicht ganz begreifen. Nachdem die Stenotypistin den Raum verlassen hatte und er mit der Besucherin alleine war, wurde er zutraulicher. „Es scheinen in Berlin Anzeigen gegen Sie vorzuliegen. Was haben Sie denn angestellt, kleines Fraulein?" Er leekte sich die Lippen, lüstern, als ginge es darum, ein pikantes Histörchen zu erfahren. „Naja, es wird ja jetzt viel denunziert," gab er zu, „und nicht alles muB stimmen." Dann meinte er noch, sinnend, und mehr als sprache er zu sich selbst: „Vielleicht hangt es auch mit ihrer Fraulein Schwester zusammen. Die soll ja in Paris neulich einen sehr anstöBigen Vortragsabend gegeben haben." 15 Seine Stimme klang fast erehrbietig. „Jedenfalls — nichts zu machen. . Er zuckte, bedauerndabschlieBend, die Achseln. Der PaB wurde also nicht verlangert; und in ein paar Wochen würde er nicht mehr gelten. Die kleine Tilly mit den hübschen schragen Augen und dem schlampigen Mund sollte keine Deutsche mehr sein. Sie wu!3te nicht genau, wie sie zu dieser Schande kam — oder zu dieser Ehre. Wichtiger, als hierüber nachzugrübeln, war nun, sich zu überlegen, was geschehen sollte. Denn ohne PaB kann man nicht existieren: soviel hatte die junge Emigrantin schon begriffen. Fin PaB ist etwas durchaus Lebenswichtiges; unter normalen Umstanden weiB man es kaum, aber plötzlich stellt es sich, schrecklich und überraschend, heraus. Ehe er endgültig abgelaufen war, muBte etwas geschehen. ,,Ich weiB wirklich keinen Rat für dich, liebes Kind," sagte nervös Frau von Kammer. „Wahrhaftig, ich bin niemals in einer solchen Situation gewesen . . . Übrigens gilt mein eigener PaB auch nur noch drei Jahre lang," fügte sie hastig und gleichsam schuldbewuBt hinzu. Die Bekannten im Café rieten zu einer Scheinehe. „Für ein weibliches Wesen ist es ja gar nicht so schlimm," sagten die Manner neidisch. „Ihr könnt heiraten. — Sei nicht traurig, Tilly! Du heiratest einen netten Schweizer und wirst Eidgenossin." Tilly dachte an Peter; aber gerade er hatte für einen so zynischen Vorschlag kaum Verstandnis gehabt. Heiraten, um einen PaB zu bekommen! — Er ware entsetzt gewesen. Wenn sie ihn nahm, muBte sie mit Leib und Seele die Seine werden. Andererseits würde er sich bitter darüber kranken, wenn sie mit einem anderen zum Standesamt ging, und sei es auch nur aus den bekannten, unerfreulichen Gründen. Am besten, sie verheimlichte dem Hürlimann die ganze Sache. Mit dem „Ehegatten", von dem sie einen PaB wollte anstatt ein Kind, würde sie persönlich ja wohl kaum viel zu tun haben müssen. Ubrigens konnte man sich bald wieder scheiden lassen. — Sie schwieg Hürlimann gegenüber und bat die Freunde aus dem Café, auf Gattensuche für sie zu gehen. Es war nicht so einfach. Bei jedem der jungen Leute, mit denen die Bekannten sich in Verbindung setzten, gab es einen anderen Hinderungsgrund. Der eine hatte schon eine Braut, der andere eine Familie, die ihm einen so verwerflichen Akt wie die Scheinehe nie verzeihen würde; der dritte wollte viel Geld, der vierte war aus religiösen Gründen gegen das Ganze; der fünfte erklarte, daB er eine so schwerwiegende Gefalligkeit nur einer kommunistischen Gesinnungsgenossin erweisen könne, der sechste sparte sich und seinen PaB für eine jüdische Glaubensgenossin auf; der siebente, der achte und der neunte wollten gleichfalls ziemlich viel Geld. SchlieBlich empfahl man Tilly eine Rechtsanwaltin, die sich auf dergleichen Dinge verstehen sollte. Sie verdiene ihren Unterhalt mit Arrangements solcher Art, deuteten die Caféhaus-Bekannten an—; sei aber auch eine Idealistin.die umderguten.antifascistischen Sache willen, emsig, preiswert und gewandt, PaB-Ehen stifte. Frau Doktor Albertine Schröder wohnte in einer kleinen Pension, nahe dem Bahnhofplatz. Tilly war überrascht, daB die Anwaltin sie, nachmittags um drei Uhr, im Bett empfing. Über einem Nachthemd, das nicht ganz sauber schien, trug sie eine Art von Frisierjacke, hellblau, mit Spitzen garniert. Sie war eine altere Frau; Tilly taxierte: zwischen fünfzig und sechzig. Um ein aufgeschwemmtes, fahles Gesicht hingen die grauen Strahnen ihrer aufgelösten Frisur. Ihre Augen waren stahlblau und hatten einen erschreckend harten, übrigens lustigen Bliek—: , Augen wie aus Eis,' dachte Tilly entsetzt. Frau Doktor muBte die erschreckte Miene ihrer jungen Besucherin bemerkt haben. Sie redete, im Bett halb aufgerichtet, mit einer blechernen, künstlich lebhaften Stimme. „Na Kleine, Sie wundern sich wohl ein biBchen, daB ich am hellichten Tage in den Federn rumliege —: kann ich verstehen, kann ich durchaus begreifen, daB Sie sich etwas wundern. Sollten es aber 'ner alten Frau nicht übel nehmen, daB sie sich mal ein biBchen Ruhe gönnt. Habe es mir wohl verdient — oder finden Sie nicht, kleines Ding ?" Dazu lachte sie, und wies, noch kichernd, auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand. Tilly nickte, bleich und bestürzt. Wahrend sie sich auf dem Stuhl niederlieB — es war eine schmale, harte, unbequeme Sitzgelegenheit — plapperte die Alte mit ihrer Blechstimme weiter. „Mein Gottchen, nein, wenn ich denke — ich habe ja wahrhaftig genug hinter mir! In Deutschland haben sie mir tüchtig zugesetzt, haben mich olie Person tüchtig verdroschen, die Jungens von der S.A." Dazu lachte sie lüstern. „Die Nieren tun mir noch weh," konstatierte sie gutgelaunt. Tilly fragte bestürzt: „Aber wieso denn, Frau Doktor ? Warum sind Sie denn miBhandelt worden ?" Die muntere Rechtsgelehrte im Bett schlug die Hande über dem Kopf zusammen und amüsierte sich herzlich, als hatte Tilly einen guten Witz gemacht. „Aber Kindchen!" brachte sie schliefllich hervor. „Sie stellen mal ulkige Fragen! — Warum die olie Schröder von der S.A. vermöbelt worden ist ? Na, da gab es doch reichlich Gründe . . Das Telephon klingelte; Tilly bemerkte erst jetzt, daB der Apparat im Bett, neben dem Kopfkissen, stand. Die Anwaltin unterbrach sich sofort in ihrer grausig-aufgeraumten Rede und nahm den Hörer ab. „Hier Dr. Schröder." Sie sprach jetzt mit einer veranderten, leisen und drohenden Stimme. Ihr Gesicht war starr und furchtbar ernst geworden. Wahrend sie lauschte, kniff sie die blauen Eis-Augen ein wenig zusammen. Der Teilnehmer am anderen Ende des Drahtes sprach lange und klagend; schlieBlich unterbrach Frau Doktor barsch den RedefluB. „SchluB! Ich will nichts mehr horen. Sie schwatzen Unsinn und wissen das selber recht wohl. — Nein, natürlich kann ich mich auf Ihre Vorschlage nicht einlassen: sie sind absurd. Ich bin selbst eine arme Frau. Sie werden noch von mir hören, und bald — worauf Sie sich verlassen können. Adieu." Sie hangte ein und starrte, ein paar Sekunden lang, aus den bösartig zusammengekniffenen Augen vor sich hin. Dann wandte sie sich, wieder munter, an Tilly. ,,Also, kleine Dame —: warum die olie Schröder Haue bekommen hat, wollen Sie wissen ? Na, ich war doch eine bekannte Nummer in Berliner Linkskreisen; habe doch die ganzen roten Jungens juristisch vertreten, und geschickt vertreten, darf man wohl flüstern. Die Nazis hatten was gegen mich, und das war ihnen schlieBlich nicht zu verdenken. Als dann der Reichstagsbrand kam ..." Tilly überlegte: , Sonderbar, daB ich ihren Namen in Berlin nie gehort habe. Wahrscheinlich ist alles nicht wahr. Mein Gott, die Person spricht ja kein wahres Wort „Wenn ich nicht durch Geburt Schweizerin ware," fuhr die Alte fort, „dann saBe ich wohl immer noch in dem famosen Columbia-Haus, oder vielmehr: wahrscheinlich gabe es die olie Schröder nicht mehr; die Jungens hatten mich hin gemacht. Auf dem besten Wege dazu waren sie — kann ich Ihnen garantieren. Soll ich Ihnen mal meine Narben zeigen ? Aber so 'nen unschönen Anblick will ich Ihnen gar nicht zumuten, Sie sehen zart aus. — Erst haben sie mir die Kleider vom Leib gerissen, alle Kleider —; dann sind sie mit Gummiknüppeln über mich her und mit so 'ne langen Nilpferdpeitschen ..." Tilly, die den lügnerisch-lüsternen Bericht nicht langer ertragen konnte, bemerkte, eine wenig zitternd: „Leider bin ich ziemlich pressiert. Vielleicht haben Sie nichts dagegen, daB wir bald zu meiner Sache kommen." — Frau Doktor kniff drohend die Augen zusammen. „Gut. Ganz wie Sie wünschen, mein Fraulein. Durchaus wie's beliebt." „Mein deutscher PaB ist abgelaufen," erklarte Tilly, „und wird nicht verlangert." „Sie wollen also heiraten?" erkundigte sich die Juristin lauernd. „So 'ne kleine PaBehe — wie?" Tilly, sehr leise: „Ich dachte, Sie könnten mir dabei behilflich sein." Daraufhin die Rechtsgelehrte, munterer denn je: „LaBt sich machen, Kindchen, laBt sich durchaus machen. Sie sollen ja eine tapfere kleine Person sein, versichern mir Ihre Freunde. Tapferen kleinen Personen helfe ich immer gern . . . AuBerdem sind Sie ein appetitliches Madel, ein reizendes Geschöpf, muB man zugeben!" Sie zwinkerte der Besucherin unzüchtig zu. „Ist für keinen Kerl ein Opfer, Sie zu heiraten, kleines Fraulein..." Dazu das blecherne Lachen. „Ich will aber doch gar nicht wirklich heiraten," wandte Tilly ein. Die Rechtsberaterin schien wieder herzlich belustigt. „WeiB ich doch, weiB ich doch!" Sie machte eine munter abwinkende Bewegung. „Bin doch nicht doof!" versicherte sie. „Habe doch Köpfchen! Dabei tippte sie sich schalkhaft mit dem Zeigefinger auf die Stirn. „Na, man wird ja da sehn . . . Ungefahrlich ist die Sache für mich keinesfalls." Nun wurde sie wieder ernst und bekam die schmalen, unheilverkündenden Augen. „Aber für eine Gesinnungsgenossin, eine tapfere kleine Antifascistin riskiere ich was," sprach sie bieder. Dann erklarte sie, dafl sie gerade zufallig einen sehr sympathischen jungen Schweizer „auf Lager" habe: ,,aus guter jüdischer Familie; kommt sehr in Frage; werde ihn gleich mal anlauten." Sie zog den Telephon-Apparat an sich heran — mit einer merkwürdig zartlichen Gebarde, so wie eine Mutter ihr Kind an sich zieht — und wahlte die Nummer. — „Kann ich den jungen Herrn Nathan sprechen ? — Ach, er ist nicht zu Hause ?" Sie schien sehr enttauscht. „Er soll doch bitte die Frau Doktor Schröder anrufen, sowie er zurückkommt. Etwas Wichtiges! Na, wir werden das Kind schon schaukeln!" verhiefl sie, nachdem sie eingehangt und den Apparat wieder von sich geschoben hatte. „Der kleine Nathan ist gar nicht übel. Politisch tadellos; hübscher Bursch, brauchen sich mit ihm auf dem Standesamt nicht zu schamen. Kolossal anstandiger Kerl; wird Ihnen keine erpresserischen Geschichten machen." Tilly stand auf. „Sie werden sicher so liebenswürdig sein, mir gleich Nachricht zu geben, wenn Sie von dem Herrn gehort haben." „Ganz recht, Kindchen." Die Anwaltin bekam fürchterlich schmale Augen. „Aber erst müssen wir noch den geschaftlichen Teil der Sache erledigen, damit es keine MiBverstandnisse gibt. Mit dem jungen Nathan werden Sie sich leicht einigen, er dürfte nicht anspruchsvoll sein. Was mich betrifft ..." — sie saB aufgerichtet im Bett und hielt sich sie hellblaue Frisierjacke mit einer nervösen Bewegung über dem Busen zusammen —, „so gewahre ich Ihnen meine Hilfe aus Idealismus, aus selbstlosem Interesse an Ihrem Fall. Wenn ich aufs Geld aus ware, gabe es ja eintraglichere und weniger gefahrliche Dingefür mich zu tun. — Immerhin: ich lebe nicht von der Luft." Dies steilte sie mit einer gewissen Erbitterung fest, und sie fügte hinzu: „Was ich mir in Deutschland erspart habe, ist mir alles gestohlen worden. — Nun, liebes Kind, ich darf wohl annehmen, daB Sie mit Glücksgütern auch nicht gerade gesegnet sind. Ich schlage daher vor, als ein bescheidenes Honorar für meine Bemühungen: 800 Schweizerfranken. 400 Franken sind sofort anzuzahlen, ehe ich irgend etwas weiteres unternehme; die restlichen 400 sind auf einer Züricher Bank für mich zu deponieren." Tilly wurde sehr blaB. „800 Franken," sagte sie. „Aber ich habe kein Geld ..." Die Alte, mit unheimlich gedampfter Stimme: „Machen Sie keine Witze! Zu einer berühmten Anwaltin gehen, stundenlang ihre Dienste beanspruchen — und dann erklaren: ich habe kein Geld! So unverschamt kann doch wohl niemand sein! Tilly brachte hervor: „Ich hatte natürlich damit gerechnet . . ., Ihnen eine Kleinigheit zu bezahlen, wenn die Sache erledigt ist . . ." Die Doktorin höhnte wütend: „Eine Kleinigkeit! Wenn die Sache erledigt ist! Das könnte Ihnen so passen, Sie dummes Ding!" Tilly, sehr blaB, aber plötzlich etwas höher aufgerichtet, erklarte — fast zu ihrer eigenen Überraschung: „Nun ist es aber genug. Die Schröder war so erstaunt, daB sie ein paar Sekunden lang keine Worte fand. SchlieBlich lachte sie bitter. „Das hab ich gern! Auch noch frech werden —wie ?! Auch noch eine alte Frau, eine verdiente Sozialistin beleidigen!" Würdevoll im Bett sitzend, wiederholte sie grausam und majestatisch ihre Forderung! ,,400 Franken auf den Tisch des Hauses, 400 auf der Bank hinterlegt — oder der Fall ist für mich erledigt. „Der Fall ist für mich erledigt," sagte Tilly, schon in der Nahe der Tür. Frau Doktor rief, atemlos vor Wut: „He! Nicht so schnell! Ich habe eine Stunde meiner kostbaren Zeit für Sie vertan! Ich verlange 30 Franken Entschadigung — dann will ich Sie nie wieder sehen!" — Daraufhin Tilly, mehr noch fassungslos erstaunt alszornig: „Siesindjadiegemeinste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist." Albertine Schröder griff sich an den Busen, als könnte ihr Herz Attacken von solcher Infamie und Wucht nicht aushalten. Es gelang ihr aber doch, hervorzubringen: „Das büBen Sie mir! Sie sind die langste Zeit in der Schweiz gewesen! Ich lasse Sie ausweisen — das kann ich, als Schweizerin von Geburt! Ich zeige Sie bei der Fremdenpolizei an und erzahle, was Sie im Schilde führen, von wegen PaBHeirat und so!" „Sie waren dazu im Stande," sagte Tilly, die Türklinke in der Hand. „Es würde Ihnen aber nicht gut bekommen." „Nichtgutbekommenwürde es mir?!" Frau Doktor schüttelte mit rasenden Gebarden die Federbetten von sich und hüpfte, überraschend gewandt, aus demBett.,, Sie haben mich beleidigt! In meiner eigenen Wohnung! Das sind Verbalinjurien, was Sie da vorgebracht haben!" Bei dem Wort „Verbalinjurien" stampfte sie mit ihren beiden nackten FüBen auf den Teppich. „Sie werden es bereuen, Sie kleine Hochstaplerin!" „Was Verbalinjurien betrifft," sagte Tilly, die sich über die eigene GefaBtheit wunderte, „so dürften wir uns gegenseitig nichts schuldig geblieben sein." „Schweigen Sie!!" fauchtedie Alte; inihremlangen, grau-weiBen Nachthemd machte sie drohende Schritte auf Tilly zu. „Ich habe mich in Deutschland für meine Überzeugungen halb tot schlagen lassen! Ihnen wollte ich aus Güte bei Ihren schmutzigen Angelegenheiten behilflich sein — und das ist der Dank!" Sie schien noch nicht ganz entschlossen, ob sie in der nachsten Minute weinen oder mit den Fausten über ihre Besucherin herfallen wollte. Tilly sagte: „Pfui!" Dann schmiB sie die Türe hinter sich zu. Die Erfahrung mit Frau Dr. Schröder war niederschmetternd. Die Bekannten aus dem Café schienen wenig erstaunt, als Tilly von ihr berichtete. „Jaja, eine unangenehme Person," sagten sie nur. „Das Meiste, was sie erzahlt, ist wohl Schwindel." Manche wollten auch wissen, dafi sie keineswegs von Geburt Schweizerin war, sondern sich ihrerseits diese Staatszugehörigkeit durch eine suspekte Heirat erworben hatte. Tilly wunderte sich, dafl von all dem nicht die Rede gewesen war, als man ihr die Anwaltin so herzlich empfahl. Aber was sollte werden ? Das deutsche Papier dieses hafllich braun gebundene, abgegrifïene Heftchen — würde bald ungültig sein. Ein besonders schlauer Bekannter aus dem Café wuBte Rat. Er hatte eine Freundin in Budapest —: „eine abscheuliche alte Kupplerin," wie er versicherte, „aber zuverlassig und schlau; im Grunde ein braver Kerl. Die wird schon einen Mann für dich haben... Man schrieb der Dame; die Antwort aus Ungarn kam postwendend: Natürlich das Fraulein solle nur kommen, ein Gatte sei leicht zu finden, der ganze SpaB solle etwa 300 Schweizerfranken kosten. Tilly reiste sofort nach Budapest. Zeit war nicht zu verlieren, sonst galt der Pal3 nicht mehr. Alles ging geschwind wie im Traum, und nur in Traumen sieht man Gesichter, wie die Kupplerin eines hatte. Sie hiefi Beatrix Flock, und ihr Haar war graBlich rot gefarbt. Das Gesicht schien in Verwesung begriffen, zeigte aber den muntersten Ausdruck. Weniger fröhlich war der Kavalier, den Tilly heiraten sollte: ein Major auBer Dienst, er nannte Tilly „meine Gnadigste," und küBte ihr wahrend einer Viertelstunde zehn Mal die Hand. Sie entschuldigte sich bei ihm, weil sie seinen Namen nicht aussprechen konnte; es war ein ungarischer Name, überreich an Konsonanten und von erstaunlicher Kompliziertheit. „Es wird Ihr Name sein, Gnadigste," naselte der Major auBer Dienst. Er trug weiBe Glacéhandschuhe; sein eisgraues Schnurrbartchen war an den Enden steif aufgezwirbelt. Die Kupplerin kicherte animiert. Tilly fragte: „ Wann werde ich den PaB bekommen können?" Die Kupplerin versprach: „Übermorgen. Ich habe famose Verbindungen." Tilly hatte sich Geld von Ottingers geliehen. Die Zeremonie auf dem Standesamt war rührend. Madame Beatrix Flock und ein Stubenmadchen aus dem Hotel figurierten als Trauzeugen. Der Major sagte, nach der Vermahlung: „KüB die Hand, Gnadigste! Wir werden glücklich miteinander sein." Beatrix erklarte: „Übermorgen haben Sie den Pafi. Inzwischen können Sie sich Budapest ansehen. Wir haben Dinner im Hotel Hungaria, nachher fahren wir auf die MargaretenInsel und besuchen das Nachtlokal, das der Princé of Wales bevorzugt hat." All das muBte Tilly noch bezahlen. Übrigens lohnte sich die Ausgabe. Auf der Margareten-Insel war es reizend, und das Nachtlokal — mit versenkbarem Tanz-Parkett — hatte sicher in Paris nicht seinesgleichen. Tilly — die Gattin des Majors mit dem unaussprechlichen Namen — bewunderte Budapest. Die Stadt zeigte verführerische und tragische Züge. Sie war glanzvoll — und schabig; elegant — und herunter- gekommen; übermütig — und elend; mondan — und trostlos; liebenswürdig — und jammervoll. Am übernachsten Tag lieferte Madame Flock macabre anzusehen und schon halb verwest; aber überraschend zuverlassig —den PaB ab. Tilly konnte reisen. Beatrix und der Major mit dem unaussprechlichen Namen begleiteten sie zum Bahnhof. Die Flock gab ihr einen KuB auf die Stirn und flüsterte: ,,Au revoir, mon enfant!" Sie war in Bukarest geboren und hatte lange in Paris gelebt. Beim Abschied bekam sie feuchte Augen. Tilly hatte groBe Sympathie für sie. Die Alte muBte vor Gerührtheit fast schluchzen, weil Tilly ihr gesagt hatte: „Ihr Hut ist wundervoll, Madame!" Der Major küBte seiner jungen Gattin zum allerletzten Mal die Hand und sprach: „GrüB Sie Gott, Gnadigste, ist mir wirklich ein Vergnügen gewesen." In Zürich gratulierten ihr alle Bekannten. „Du bist fein heraus! Ein guter ungarischer PaB ist mehr wert als ein Haufen Geld." In einem Atelier wurde ein Fest gegeben, um Tillys Hochzeit zu feiern. Übrigens nannte sie sich im Privatleben weiter Tilly von Kammer. Aber in ihrem PaB stand nun das exotische Wort mit den vielen Konsonanten. Sie fand, daB es auf die Dauer nicht anginge, ihrem Freunde Peter Hürlimann das Vorkommnis zu verheimlichen. Er könnte es durch Dritte erfahren; dann würde es noch krankender für ihn sein. Sie erzahlte ihm alles; er nahm es mit Fassung auf. „Ich begreife, daB es sein muBte," meinte er gutmütig. „Und du kannst dich ja scheiden lassen und mich heiraten, wenn ich genug Geld habe, um dich zu erhalten. Vorher hatte ich dich doch nicht genommen. Nur des Passes wegen — nein, das ware für mich nichts gewesen!" Aus seiner Antwort sprachen wowohl SelbstbewuBtsein als auch zartliches Verstandnis für ihre Situation. — „Aber ob sich dieser Major nicht in dich verliebt hat?" Dies war das Einzige, was ihn beunruhigte. Indessen kamen aus Budapest keine Nachrichten. Der Kavalier schien seine junge Gattin geschwind und gründlich vergessen zu haben. Marions erster Pariser Abend fand in einem Saai auf dem linken Ufer statt. Meistens wurden hier Avantgarde-Filme vorgeführt; zuweilen aber vermietete der Besitzer sein Etablissement für literarische und musikalische Darbietungen. Der Abend war nur in den Blattern der deutschen Emigration annonciert worden. Marcel und einige andere Freunde hatten indessen dafür gesorgt, daB es auch Franzosen, die ein wenig deutsch verstanden, im Publikum gab. Madame Rubinstein hatte Russen mitgebracht. Ein stattliches Auditorium — wie die Schwalbe befriedigt feststellte — und sehr bunt zusammen gesetzt. Man hörte auch englisch und italienisch sprechen. Marion, die kaum anderthalb Jahre in Paris lebte, schien doch schon ein Renommée zu haben, das man beinah Ruhm nennen konnte. Sie verdankte es noch nicht ihren Leistungen, sondern ihrer Persönlichkeit. Die Leistung sollte erst jetzt kommen. Alle waren neugierig. In der Mitte des Raums hielt die Schwalbe Cercle. Viele sammelten sich um ihre sowohl ehrwürdige als auch flotte Figur. Sie schüttelte hundert Hande und lachte jeden aus den blauen Kapitansaugen an. — Meisje und Doktor Mathes, ein glückliches Paar, saBen still nebeneinander, und schienen beinah vollkommen zufrieden. Theo Hummler war gefolgt von mehreren Burschen, deren Gesichter den Ausdruck entschlossenen Ernstes zeigten. Es waren wieder einmal solche, die gerade erst aus Deutschland eintrafen und viel Schreckliches zu erzahlen wuBten. Dieses Mal waren ïhre Nachrichten besonders sensationell. Sie bestatigten den emigrierten Freunden, was auch diese ihrerseits schon gehort hatten: daB zwischen den höchsten Spitzen des Regimes — zwischen dem Führer selbst und einigen seiner alten Freunde — bedenklicher Unfriede herrschte. Einer der Machtigsten hatte eine Rede gehalten, die als Sturmzeichen gelten durfte. Die jungen Leute meinten: „Man muB auf allerhand gefaBt sein. Die alten Nationalsozialisten fangen an, dahinter zu kommen, daB man sie beschwindelt hat. SchlieBlich bestehen sie noch auf dem Parteiprogramm und mochten den Sozialismus haben. Dagegen muB von höchster Stelle was unternommen werden . . . Andererseits machen die Konservativen Opposition. Es kann ein nettes Durcheinander geben!" — Ein Gefolge hatte auch Ilse Proskauer; es bestand aus jüdischen Damen und Madchen, die zugleich animiert und angstlich um sich blickten: einerseits angeregt von der Freude auf den literarischen GenuB, der bevorstand; andererseits gequalt vom Gefühl, es könnten auch hier plötzlich Verfolgungen gegen sie einsetzen. — David Deutsch trippelte aufgeregt hin und her, als ware er selbst es, der sich gleich würde produzieren müssen. Er begrüBte Martin und Kikjou, die in dunklen Anzügen bleich und fromm wie zwei Konfirmanden wirkten. — Neben Marcel saB ein groBer Neger, mit dem er eigentlich nur verkehrte, um Madame Poiret zu schokieren. — Ilse 111 wand sich vor Eifersucht wegen des gut besuchten Parketts. Siegfried Bernheim plauderte leutselig. Professor Samuel — weise und sensuell — umarmte junge Damen und junge Herren, wahrend er mit alten, klugen Augen ihre Mienen studierte, als wollte er sie gleich portratieren. Germaine Rubinstein mied den Kreis ihrer Mutter, von dem eine gewisse Düsterkeit ausging, und setzte sich in die Nahe der Schwalbe. Monsieur Rubinstein unterhielt sich mit dem ungarischen Grafen, der sinnend um sich blickte, als dachte er über die Probleme einer Schachpartie nach oder über die Umstande, die ihm die Rückkehr in die Heimat seit so vielen Jahren unmöglich machten. —- Bobby Sedelmayer hielt sich etwas im Hintergrund; er hatte seine Rix-Rax-Bar gerade vorige Woche schlieBen müssen, was eine erhebliche Enttauschung für ihn bedeutete. Indessen dachte er gar nicht daran, schon den Mut zu verlieren. Vielmehr versicherte er dem jungen Kündinger, der bei ihm stand: „Europa wird überhaupt zu eng! Ich habe es gründlich satt. Von meinen neuen Planen darf eigent lich niemand was wissen. Aber Ihnen verrate ich es: ich will nach China . . . Na, was sagen Sie dazu ?" Der unverwüstliche Weiflhaarige strahlte wie ein Knabe, den der Gedanke an unerhörte Abenteuer erregt. „Nach Shanghai," flüsterte er, Glanz in den Augen und die rosige Miene freudig bewegt. „Der ferne Osten ist ein alter Traum von mir. Dort werde ich bestimmt mein Glück machen ..." Zu ihnen gesellten sich Nathan-Morelli und die Sirowitsch, die langst zueinander gehörten. Der Sirowitsch wegen — an die er sich bis zu dem Grade gewöhnt hatte, daB man beinah von Liebe sprechen durfte —- hatte Nathan-Morelli seine Londoner Wohnung aufgegeben und war ganz nach Paris übersiedelt. „Marions Programm verspricht interessant zu werden," sagte er zu Bobby und blickte klug aus den schrag gestellten Mongolen-Augen. Das Programm stand unter dem Motto „ZeitgemaBe Klassik". Angekündigt waren Stücke von Schiller, Lessing, Goethe, Heine, Victor Hugo, Gottfried Keiler, Nietzsche und Walt Whitman. Als Marion das Podium betrat, wurde es still im Saai. Die Schwalbenmutter flüsterte noch: „Wie schön sie aussieht!" Dann verstummte auch sie. Marion begann mit Schillers Gedicht „An die Freunde". Ihre Stimme rief: „Lieben Freunde, es gab schönre Zeiten Als die unsern, das ist nicht zu streiten! Und ein edler Volk hat einst gelebt. Könnte die Geschichte davon schweigen, Tausend Steine würden redend zeugen, Die man aus dem SchoB der Erde grabt. Doch es ist dahin, es ist verschwunden, Dieses hochbegünstigte Geschlecht. Wir, wir leben! Unser sind die Stunden, Und der Lebende hat recht." Sie stand regungslos, wahrend sie sprach — noch sparte sie die Gebarden —; nur die Finger bewegten sich und die lockere Mahne, wenn sie das Haupt ein wenig in den Nacken sinken lieB. Das überanstrengte Leuchten ihres Blickes war sowohl beangstigend als bezaubernd. Durch den gereckten Körper schienen Schauer zu laufen wie elektrische Schlage. Auch die im Saaie unten wurden von ihnen berührt; zuerst und am starksten David Deutsch, der vernehmbar seufzte. — ,,Wir, wir leben ..." Die Schwalbe nickte bedeutungsvoll. Da strömten die Verse schon weiter. Die Verse strömten. Marions Stimme gab die schönsten, überraschendsten Töne her. Sie drohte und lockte, grollte und jubelte, jammerte und sang, wehklagte und triumphierte; sie leuchtete, blendete, rührte, verführte, erschreckte. Sie kam dumpf aus Tiefen, um sich gleich danach zu ungeahnter Höhe empor zu schwingen. Alle saBen gebannt; auf manchen Mienen spiegelte sich sogar Bestürzung. Wie konnte eine einzelne Menschenstimme so beangsti- gend abwechslungsreich sein und so viel Erschütterung bringen ? Gerade hatten noch die meisten feuchte Augen gehabt, und nun lachte der ganze Saai. Auch Marcels französische Freunde, die nur mangelhaft deutsch verstanden, amüsierten sich, und selbst der Neger, dessen Daseinszweck es war, Madame Poiret zu schokieren, lieB ein Grunzen hören. Marion rezitierte aus dem groBen Gedicht Heinrich Heines: „Deutschland, ein Wintermarchen". In jedem Vers und jeder Prosazeile, die sie ausgewahlt hatte, gab es die Beziehung zum Heutigen. Sie war niemals aufdringlich; immer deutlich. Die verewigten Meister schienen an dieses Jahr und an diese Stunde — an dieses Auditorium und seine besonderen Leiden schienen sie gedacht zu haben, als sie gewisse Dinge schrieben, die Marion nun zum Vortrag brachte. Dieim Saaie unten begriffen: Weder unsere Leiden noch unsere Erkentnisse sind so unerhört und so neu, wie wir in der ersten Aufregung oft meinen wollten. Andere vor uns haben schon gelitten und schon nachgedacht, und sind von den gleichen Problemen berührt worden wie wir. Aus ihren Erkenntnissen und Schmerzen aber ist Schönheit geworden. Uns hinterlieBen sie das groBe Erbe ihrer Weisheiten und der gestalteten Schmerzen. Dieses Madchen dort auf dem Podium belebt es neu, mittels ihrer erstaunlichen, sehr abwechslungsreichen und höchst rührenden Stimme. Was für ein GenuB, ihr zuzuhören! Und übrigens ist es auch tröstlich. Es erinnert uns daran, daB wir nicht einsam sind. Erstens haben wir diese Freundin dort oben auf dem Podium — das Madchen, in dessen Blicke und Stimme wir uns alle verlieben — und dann, die erhabenen Toten, die schon so viel durchdacht und ausgestanden haben, langst ehe wir von all dem etwas wuBten. Plötzlich sind sie in unserer Nahe. Wie verklarte 16 Brüder schauen sie uns ernst und freundlich an. Geisterhafte Zusammenhange stellen sich her; aus den groBen Toten sind neue Freunde geworden. Auch die jungen Leute, die aus Deutschland kamen und die Köpfe voll politischer Neuigkeiten hatten, waren ergriffen. Als Marion den ersten Teil ihrer Darbietung mit einem Gedicht von Gottfried Keiler, „Die öffentlichen Verleumder", effektvoll geschlossen hatte, waren es die jungen Deutschen, die am lautesten applaudierten. Wahrend der Pause durfte nur Marcel zu Marion kommen. Er sagte ihr, wie schön es gewesen war; er küBte sie, sie saBen beieinander. In dem kleinen Raum, der hinter der Szene lag, konnten sie nicht horen, wie unruhig es drunten im Saai geworden war. Irgend jemand hatte neue Zeitungen von der StraBe mitgebracht. Die Nachrichten waren wirr. Niemand wuBte noch genau, worum es sich handelte. Aber Unglaubliches schien sich vorzubereiten, in Deutschland drüben, oder war schon im Begriff zu geschehen. Eine Art von Palast-Revolution — so hieB es — war ausgebrochen im Dritten Reich. Hatte es schon Tote gegeben ? Kam es zu einem Massacre ? Und wer würde fallen ? . . . Alles redete durcheinander. Bedeutete dies die groBe Revolte ? Den Zusammenbruch des Regimes ? „Jedenfalls ist es der Anfang vom Ende!" riefen viele. Man hörte den Namen des Hauptmanns Röhm nennen. Er hatte zu den Getreuen des Führers gehort. War er aufgestanden gegen seinen Herrn und Meister ? Auch als Marion wieder auf der Bühne erschien, wollte das Reden und Flüstern noch nicht gleich verstummen. Sie stand vor den Draperien des Hintergrundes, sehr schmal und aufrecht in ihrem langen schwarzen Kleid, und wartete, bis die erregten Stimmen schwiegen. Da sie spürte, daB die Aufmerksam- keit ihr noch nicht völlig gehorte, begann sie den Vortrag mit besonderer Vehemenz. Sie sprach eine Hymne von Walt Whitman an die Demokratie. „Oh Demokratie, ma femme!" Dabei breitete sie ent husiastisch die Arme, und aus ihren Augen leuchtete es starker denn je. Der Zauber ihrer Stimme wirkte wieder; er beruhigte und erschütterte. Besanftigt zugleich und auf schonere Art erregt, lauschten die Menschen, die eben noch besessen gewesen waren von den wirren Neuigkeiten des Tages. Eine Stunde lang vergallen sie den General von Schleicher, den Hauptmann Rohm, und jenen Hitier, der die beiden anderen vielleicht schon hatte umbringen lassen. Sogar der Prasident von Hindenburg sollte ermordet sein, wie manche besonders Eingeweihte wissen wollten — und die Reichswehr stand in offener Rebellion. All dies war beispiellos sensationell; nur schien es plötzlich weniger bedeutsam, da die Klagen und Weisheiten der langst Verstorbenen so nahe heran gebracht wurden und eine so schön beredte Sprache führten, durch das Medium von Marions Stimme, die aufrührerisch oder zartlich war, tödlich betrübt oder überschwenglich hei ter, geilend oder zart. Nach dem Vortrag war der Beifall heftig, aber dauerte nicht sehr lang. Wahrend in den vorderen Parkettreihen noch ein paar Dutzend Menschen standen und leidenschaftlich in die Hande klatschten, wurden hinten schon wieder die Blatter mit den wilden, ungenauen Neuigkeiten herum gereicht und gierig diskutiert. Der General von Schleicher — lautete die Nachricht — marschierte an der Spitze derempörerischen Armee gegen Berlin. Es war zu schön und zu sensationell, um die Wahrscheinlichkeit für sich zu haben. Doch wollten alle es sehr gerne glauben. Niemand erkundigte sich, woherdie Gerüchte kamen. Sie schienen durch die Luft heran zu schwirren, noch unkontrollierbar, noch unbeweisbar, verwirrend, Hoffnung und Entsetzen erweckend . . . Eine schwerhörige alte Dame, die sich im Gefolge der Proskauer bewegte und lange nicht verstand, wovon die Rede war, wurde ganz ausgelassen, als sie endlich begriff. „Aber das ist ja groBartig!" rief sie mit einer Stimme, die vor Munterkeit krahte. „Dann ist ja der ganze Spuk vorüber, und wir können alle nach Berlin zurück!" Ein paar Sekunden lang sagte keiner ein Wort. Jeder starrte auf die alte Dame, die es gewagt hatte, dies auszusprechen. Dann lachten einige — als wollten sie bekunden: Uns kann man nicht bluffen! Wir bleiben skeptisch! Aber in den Augen glitzerte es. Das war am 30. Juni 1934. Martin schrieb. Von dem groBen Roman, den er plante und von dem er sich so viel versprach, war noch nicht viel mehr da als ein paar Notizen. Nun aber wollte er das Vorwort machen. Es war still im Zimmer. Kikjou schlief. Nach den langen Gesprachen und den Liebkosungen ohne Ende waren ihm endlich doch die Augen zugefallen. Schon lichtete sich die Dunkelheit hinter dem grofien Atelierfenster. Die Dunkelheit erbleichte, wurde fahl, hellgraue Töne mischten sich in die Schatten; der neue Tag kam wohl bald. Wenn er heraufgezogen ist, wird Martin sich niederlegen, um ihn fast ganz zu verschlafen. Am besten sind die Stunden der Dammerung. Wahrend Martin sich die Papiere zurecht legte, lachelte er bei dem Gedanken, dafi ihm früher einmal schlecht geworden war, wenn er nach dem GenuB der Droge aufrecht am Tisch saB. Jetzt muBte er schon eine ungewöhnlich groBe Dosis konsumieren, damit Übelkeit sich einstellte. — ,Es wird mir wohl vom Gifte, nicht schlecht.' Er hörte Kikjou atmen. Er sah das lichte Grau der Dammerung sich rosig verfarben. Er schrieb: „Es ist eine groBe Unruhe in der Welt. Nicht nur die, welche ihr Vaterland haben verlassen müssen, irren wie Heimatlose umher. -,$Mit einer Dringlichkeit und einer Angst, mit einer Verzweiflung und einer Hoffnung, wie seit Jahrhunderten nicht mehr, stellt der Mensch sich die Frage nach seiner Bestimmung, seinem Schicksal, seiner Zukunft auf diesem Stern. Zu einem Gott, dessen Antlitz sich uns verhüllt, steigt zu jeder Stunde eines jeden Tages hunderttausend Mal der Schrei: Herr, wohin führst du uns ? Was hast du vor mit uns, Herr ? Welches ist der Weg, den wir gehen sollen ? Siehe: wir sind im Begriffe, uns sehr schlimm zu verirren! Das Herz eines jeden Menschen in dieser Zeit ist berührt und ergriffen von der groBen Unruhe. Mein eigenes Herz ist berührt und ergriffen; es schlagt angstvoll in meiner Brust. Deshalb will ich von den Ruhelosen und Heimatlosen erzahlen. Mein Ehrgeiz ist es, der Chronist zu sein ihrer Abenteuer und Niederlagen, ihrer Aufschwünge und Zusammenbrüche, ihrer Trostlosigkeit und ihrer Zuversicht. Ich wiederhole die ewige Frage: Herr, wohin führst du uns ? Welches ist unser Weg, und wo kommen wir an ? Nicht nur die Verbannten, nicht nur die Heimatlosen fragen so; aber bei ihnen — von denen jede Bindung, jede Sicherheit gefallen ist — hat die Frage den dringlichsten Ernst, die meiste Instandigkeit. Mir ist es aufgetragen, die tausend Formen und Geb arden, in denen diese Frage sich ausdrückt, die Aufschreie und das Gesprach, die Gelachter und das Gebet, das Stöhnen und noch das trostlose Verstummen, aufzuzeichnen und festzuhalten. . . . Für wen schreibe ich diese Chronik der vielen Wanderungen und Verirrungen ? Wer wird mir zuhören ? Wer wird Anteil nehmen ? Wo ist die Gemeinschaft, an die ich mich wenden könnte . . . Unser Ruf geht ins Ungewisse — oder stürzt er gar ins Leere ? Bleibt ein Echo aus ? Irgend etwas wie ein Echo erwarten wir doch — und sei es auch nur ein undeutliches, weit entferntes. Ganz stumm darf es nicht bleiben, wo so heftig gerufen wurde. Und wenn auch noch nicht die Gemeinschaft da ist, von der wir uns verstanden wüBten —: Einzelne sollte es doch geben, hier und dort Verstreute, die helfen — nicht, indem sie auf die Frage Antwort wüBten; aber dadurch, daB sie die Frage horen, und mit uns auf die Antwort warten. Dringt unsere Stimme zu ihnen ? Erreicht sie der Ruf — dieser Angst- und Not-Schrei, den wir ins Ungewisse, vielleicht ins Leere senden ? Für wen schreibe ich ? — Immer haben Dichter sorgenvoll darüber nachgedacht. Und wenn sie es gar nicht wüBten, dann haben sie wohl — hochmütig und resigniert; stolz und verzweifelt — behauptet: Für die Kommenden! Nicht euch, den Zeitgenossen, gehort unser Wort; es gehort der Zukunft, den noch ungeborenen Geschlechtern. Ach, was wei/3 man aber von den Kommenden ? Welches werden ihre Spiele, was ihre Sorgen sein ? Wie fremd sind sie uns! Wir wissen nicht, was sie lieben oder was sie hassen werden. Trotzdem sind sie es, an die wir uns wenden müssen. — Die Horizonte unseres Daseins sind verfinstert. Die drohend geballten Wolken künden schon lange das Gewitter an. Es könnte ein Gewitter ohnegleichen werden. Die Katastrophen aber sind kein Dauerzustand. Die Himmel, die wir heute so tief verschattet sehen, erhellen sich wieder. Werden wir, die wir jetzt kampfen und leiden, von diesem neuen Licht noch beschienen werden ? Es sind Andere unterwegs: jüngere Kameraden, jüngere Brüder — wir horen schon ihren leichten Schritt. Denken wir an diese, wenn wir müde werden wollen! Lieben wir die noch Namenlosen! Ihre Stirnen sind noch blank von einer Unschuld, die wir langst verloren. Unsere jungen Brüder sollen nicht schuldig werden, wie unsere Vater und wie wir es gewesen sind. Sie sollen eine bessere Welt kennen lernen als wir. Sie sollen sich freier entwickeln, besser und schoner, kühner und frommer, klüger und sanfter werden dürfen, als es uns gestattet war. Das Lacheln einer flüchtigen, zerstreuten Dankbarkeit, mit der die jüngeren Kameraden unserer vielleicht-gedenken werden, muB des Lohnes genug für uns sein. Irgendwo werden sie — von denen wir uns so gerne vorstellen, daB sie glücklicher sind als wir — auf Spuren stoBen, die von unseren Leiden und Kampfen zeugen — diesen Kampfen, die uns heute ganz in Anspruch nehmen, von deren Gewicht und Bitterkeit jenen Knaben aber wahrscheinlich die Vorstellung fehlen wird. Dann werden sie, für eine ganz kurze Weile, innehalten in ihren Spielen und in ihrem Werk. Ein paar gerührte Sekunden lang beschattet Nachdenklichkeit ihre Stirne, einer Wolke gleich, die schnell vorüber ist. Sie blattern, nicht ohne Mitleid und vielleicht nicht ganz ohne Achtung, in dieser Chronik von den vielen Wanderungen und den vielen Fragen. Dann kommt ihnen wohl eine Ahnung, was von uns gesündigt und bereut, durchkampft, gelitten worden ist — und wir sind nicht vergessen." Ende des Ersten Teiles. ZWEITER TEIL 1936/1937 ,,Wer das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt". Nietzsche „Vereinsamt". ERSTES KAPITEL Hans Schütte und sein Freund Ernst durften in Prag nicht bleiben. Schon seit langerem lebten sie illegal in der Tschechoslowakischen Republik. Sie hatten keine Papiere. AuBerdem wurde bekannt, dafi sie immer wieder „schwarz" gearbeitet hatten. Die Unterstützungen waren schmal geworden, und zeitweise blieben sie völlig aus. SchlieBlich hatten sie es auch nicht lassen können, sich politisch bemerkbar zu machen. Weil ihm jetzt schon alles gleich war, und weil er doch das Ganze für „eine groBe ScheiBe" hielt, hatte Hans in einer öffentlichen Versammlung das Wort ergriffen und das „ Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes" mit derben Worten beleidigt. Auch Ernst hatte sich in die Diskussion gemischt, und seinerseits manch saftige Grobheit über die hohen Herren in Berlin laut werden lassen. Die Spitzel im Saai wuBten natürlich genau, daB diese beiden unverschamten Redner Deutsche waren, die sich ohne Erlaubnis in der Republik aufhielten. Die diplomatische Vertretung des Dritten Reiches beschwerte sich bei den Prager Behörden über Hans Schütte und seinen Freund Ernst. Die Zwei erkannten: Es gibt dicke Luft! — ,,Wir machen uns dünn!" beschloB Hans. Es fiel ihnen gar nicht leicht, sich von den Stuben zu trennen, die sie nun seit drei Jahren miteinander geteilt hatten. Aber gerade dort waren sie gleich geschnappt worden. Sie zogen es vor, bei einem Kameraden zu übernachten. Der verschaffte ihnen auch die falschen Passé. Übrigens wollten sie diese nur im auBersten Notfall benutzen. Was sie für die nachste Zeit vorhatten, war eine Art von FuB-Tour durch Europa. Über die Grenzen hofften sie ohne Papiere heimlich zu gelangen — ohne echte Passé und ohne Benutzung der gefahrlichen falschen. „Irgendwo werden wir schon bleiben dürfen," meinten sie Beide — immer noch zuversichtlich, trotz allem, was an trüben Erfahrungen schon hinter ihnen lag. Sie verabschiedeten sich von den Kollegen, die ihnen manchmal Arbeit verschafft hatten oder ein biBchen Geld oder ein warmes Abendessen. Wahrend all der Jahre war man wöchentlich mindestens einmal in dem kleinen Bierlokal zusammen gekommen, um Gesprache über Politik zu führen. Man hatte sich oft gezankt; aber schlieBlich war man doch beinah immer irgendwie einig geworden. Es trafen sich Deutsche, die Sozialdemokraten waren, mit solchen, die zu den Kommunisten gehörten, und auch Tschechen aus den beiden Lagern fanden sich ein. Die Meinungen gingen auseinder; Sozialdemokraten und Kommunisten, Deutsche und Tschechen gerieten sich in die Haare. Am Ende aber steilte sich heraus, daB zwischen allen diesen das Gemeinsame starker war als das Trennende. Die Tschechen raumten den Deutschen ein: „Natürlich, wir haben auch Fehler gemacht, bei der Behandlung von den Minoritaten. Man versteht das, wenn man weiB, was wir früher auszustehen hatten. — Fehler lassen sich aber korrigieren." — Die Deutschen erklarten: „Wenn bei uns zu Hause anstandige Kerle regierten, dann würde alles in Ordnung kommen, auch zwischen eurem Land und dem unsern. Alles eine Frage des guten Willens! Aber den Nazis ist es doch gar nicht um die Sudeten-Deutschen zu tun. Es kommt ihnen nur drauf an, eure Republik kaputt zu machen." Die Tschechen nickten drohend. „Gerade das aber werden wir ihnen nicht erlauben." Über so viel Entschlossenheit freuten sich auch die Deutschen. Man vertrug sich, und die Streitigkeiten, die es zwischendurch gab, wurden vergessen. Fast drei Jahre lang hatte man debattiert — welch. eine lange Zeit, wieviel Ereignisse, wieviel groBen Gesprachsstoff hatte sie gebracht! Im Februar 1934 waren die Flüchtlinge aus Wien gekommen; dort hatte der Bundeskanzler DollfuB auf die Arbeiter schieBen lassen. Noch nicht ein halbes Jahr spater lieBen die Nazis auf den Bundeskanzler schieBen; er verblutete, nicht einmal ein Priester ward zu ihm gelassen. Die Nazis wollten Österreich haben. Mussolini mobilisierte am Brenner. Die Nazis zuckten zurück. — Viel Gesprachsstoff für die Manner am Prager Stammtisch, von denen die meisten beinah nichts besaBen; aber alle hatten sie doch das Recht, frei zu reden und nach Kraften nachzudenken. Von diesem Rechte machten sie Gebrauch, und sie wuBten es hoch zu schatzen. Das Jahr 1935 war noch nicht alt, da trafen schon wieder neue Flüchtlinge ein. Es waren solche, die an der Saar gegen den Anschlufl des Gebietes ans Dritte Reich agitiert hatten. Die Saar wurde deutsch. Hitier hatte seinen Triumph — der auch jeder anderen Reichs-Regierung zugefallen, aber von keiner so dröhnend ausgenutzt worden ware. Kurze Zeit danach führte das Dritte Reich die allgemeine Wehrpflicht ein. Erst war die Aufregung kolossal und am Stammtisch schien man auf das AuBerste gefaBt; dann steilte sich heraus: die groBen Demokratien lieBen es sich gefallen. Nun fragte man sich besorgt: Wie weit sollen die Nazis gehen, damit England und Frankreich die Geduld verlieren ? — Irgendwo aber muB eine Grenze sein — empfanden sie alle. Wird Hitier vor ihr zurückscheuen ? Kannerdas Letzte und GraBlichste wagen ? — Manche meinten: Die Grenze ist Österreich. Wien bekommt er nicht. Andere blieben skeptisch: England würde auch Wien opfern, um des lieben Friedens willen. — Aber Mussolini ? — Antwort: Dem bleibt nichts anderes übrig. — Da erklarten die Tschechen: Wenn es keine andere Grenze gibt — unsere ist unüberschreitbar. Wenn er uns angreift, ist es der europaische Krieg. Der Weltkrieg ist es, wenn er sich an uns wagt. — Die Leute, die aus Deutschland kamen, berichteten von der Unzufriedenheit, die dort wuchs. Kein Amüsement, das man den Massen bot — weder die allgemeine Wehrpflicht noch die Judenhatz, noch die hübschen Feiern anlaBlich des Saarplebiszits — konnten darüber hinwegtauschen, daB viele verbittert waren. Auch fürchteten alle den Krieg. Man suchte, die Arbeiter mittels „Kraft durch Freude" bei Stimmung zu halten; aber am SchluB sollten sie doch nur Kanonenfutter sein, damit Deutschland die Ukraine und das ElsaB bekam; für den Augenblick gab es wenig Butter. Alle Nachrichten aus deutschen Stadten sagten das Gleiche: die Stimmung ist miserabel. Viele sind in der Opposition — Christen und Sozialisten, bürgerliche Intellektuelle und Proletariër. ■— Man hörte es gerne, und es ward eifrig besprochen. Übrigens gehörten viele von denen, die sich am Stammtisch trafen, selber zu den politisch Aktiven und Organisierten. Sie fuhren nach Deutschland, arbeiteten mit der illegalen Opposition. Sie hatten Freunde, Verbindungsleute, Mitverschworene in den groBen deutschen Betrieben. Sie kannten die Gefahren und die Möglichkeiten dieses unterirdischen, geheimen Kampfes. Sie wuBten auch: Man gewinnt ihn nur, wenn man ihn gemeinsam kampft. In Deutschland, wo es keine Parteien mehr gab, nur noch Unterdrückte, wurde die Einheitsfront aller Antifascisten fast zur Selbstverstandlichkeit. . . . Jetzt war man im Januar des Jahres 1936. Seit einigen Monaten besprach man die Entwicklung des italienischen Zuges gegen Abessinien. Man breitete afrikanische Karten aus auf dem Holztisch des Prager Bierlokales. Wie weit waren die Rauber schon vorgedrungen ? Welche Ortschaften würden jetzt bombardiert werden ? Wie lange konnte der Negus sich halten ? Würde England ernst machen mit den Sanktionen gegen die Angreifer ? Und kam dann der europaische Krieg ? Kommt der Krieg ? Dies blieb immer die letzte Frage. — Werden die Diktaturen stürzen können ohne den Krieg ? Und werden sie sich nicht ihrerseits zum Kriege eines Tages gezwungen finden, sogar wenn sie eigentlich viel lieber immer nur erpressen wollten, statt zu kampfen ? — Manche am Stammtisch wünschten sie schon fast, die finale Katastrophe, und waren für das blutige Aufraumen —: „damit nur endlich SchluB ware!" Andererseits fürchteten sich alle. Sie erzahlten sich Schauerliches über die neuen Erfindungen auf dem Gebiete der Giftgas-Technik. „Die Deutschen würden Typhusund Cholera-Bazillen aus ihren Flugzeugen werfen," wuBte Hans. ,,Wir gehen alle kaputt." Dies war das letzte Wort in ihren Diskussionen. ... In Österreich hielten Hans und Ernst sich nicht lange auf. Dort war man gerade jetzt besonders unliebenswürdig mit verdachtigen Gesellen ihrer Art: paBlosem Gesindel, Emigranten-Pack, dem die aufsassige Gesinnung, die revolutioneren Vorsatze und Ideen auf den ungewaschenen Gesichtern geschrieben standen. — Ein paar Tage blieben sie bei Wiener Kameraden versteekt. Sie bekamen Auftrage für Genossen in der Schweiz. Der Post wagte man wichtige Nachrichten nicht mehr anzuvertrauen. Man verstandigte sich durch Parolen, die vertrauenswürdige Boten überbrachten — wie in Zeiten des Krieges. Dann ging die Wanderung weiter. Manchmal nahm ein freundlicher Automobilist 1 sie ein Stück Weges mit; aber es geschah ziemlich selten. Die meisten fuhren hochmütig vorüber und lieBen die zwei Vagabunden auf der LandstraBe stehen. Wenn ein Gendarm in die Nahe kam, muBte man sich unsichtbar machen. Es war kein gutes Leben. Manchmal hatten sie sich genug Geld erbettelt oder verdient, um eine kleine Strecke im Zug zu fahren. In Basel trennten sie sich. Sie waren beide relativ guter Dinge. Schweizer Freunde hatten ihnen zu essen gegeben und etwas anzuziehen; denn die Anzüge, die sie unterwegs getragen hatten, sahen schon unerlaubt aus. Hans wollte nach Frankreich. — „Und wenn sie dich dort erwischen ?" fragte Ernst. Hans gab zurück: „Und wenn sie dich hier erwischen ? — Nach Deutschland können sie uns doch nicht schicken, wir sind politische Flüchtlinge, sowas laBt sich beweisen. Sie befördern uns bei Nacht ünd Nebel über die nachste Grenze. Dann sind wir wieder in einem Land, wo wir eigentlich nicht sein dürften — und so wird das wohl ewig mit uns weiter gehen." Hans brachte es fast mit Munterkeit vor. Er war guter Laune; denn er hatte Bier und Wurst im Leib, und ein frisches Hemd darüber. Die Schweizer Freunde waren nettzu ihm gewesen, obwohl er kein Parteigenosse von ihnen war.— „Europa ist ein gastlicher Erdteil!" riefer aus — halb wirklich dankbar wegen Wurst und Bier; halb bitter im Gedanken an die Schikanen, die wahrscheinlich bevorstanden. „Irgendwo wird man schon Verwendung für mich finden," meinte er. „Ich habe an die Fremdenlegion gedacht . . . Aber erstens soll das so eine gemeine Schinderei sein; zweitens würden die mich wahrscheinlich auch nicht nehmen — und drittens hat es überhaupt keinen Sinn. Vielleicht wird es bald mal eine bessere Gelegenheit geben, sich totschieflen zu lassen ..." — Ernst hoffte, noch eine Weile in der Schweiz blei- ben zu können. Er hatte ein paar Empfehlungen nach Zürich, und genug Geld, um im Zug dorthin zu fahren. Nun hieB es Abschied nehmen von Hans. Sie waren fast drei Jahre lang miteinander gewesen. Sie dachten beide an ihr enges Zimmer in Prag, und an die Madchen, die sie mitgenommen hatten, und an die ersten schonen Spaziergange durch die Stadt, und an all das weniger Schone, das gefolgt war, im Laufe dieser Monate, dieser Jahre. Sie hatten so viel, woran sie sich jetzt erinnerten, dafi sie lieber nicht davon sprachen. Sie sagten nur: „Machs gut, Hans." Und: „Machs gut, Ernst. Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder." — Als sie sich die Hande schüttelten, sahen sie sich nicht dabei an. Drei Jahre sind eine lange Zeit. Dann fiel dem Hans noch was ein: ,,Wenn du schon in Zürich bist, könntest du eigentlich dieses Madel anrufen, das mir seit 1933 Briefe schreibt. Sie heiBt Tilly Kammer. Warte, ich weiB ihre Adresse auswendig . . . GrüBe sie schön von mir und sag ihr, es tut mir leid, daB ich sie jetzt nicht kennen lerne. Vielleicht besuche ich sie ein anderes Mal — sag ihr das von mir." — Ernst notierte sich die Adresse. Dann gaben sie sich nochmals die Hand. „Und schreib mir mal 'ne Ansichtskarte!" — „Wohin ?" fragte der Andere. — „An Hans Schütte, Europa." Zum SchluB ein Gelachter — damit man die Tranen nicht sah. In Zürich meldete sich Ernst telephonisch bei Tilly von Kammer. „Ich bin namlich ein Freund von Hans Schütte," erklarte er. „Der hat mir GrüBe an Sie aufgetragen." — Ein Freund von wem? Tilly verstand nicht gleich. Sie hatte ja immer nur an H. S., Poste Restante geschrieben. WeiB Gott, warum Schütte wahrend all der Zeit, auf das romantische Geheimnis um seinen Namen nicht hatte verzichten wollen . . . Als Tilly dann begriff, wurde sie ziemlich aufgeregt. „Aber H. S. selber — ich meine Hans Schütte, kommt nicht hieher?" fragte sie. — Ernst, ein biBchen beleidigt: „Entschuldigen Sie, daf3 nur ich es bin!" Da Tilly lachte, sagte er noch, gleich wieder munter: „Na, wir werden uns schon vertragen, Fraulein!" Sie trafen sich in einer Teestube, nahe dem Hauptbahnhof. Ernst erklarte: „Von Ihnen habe ich schon kolossal viel gehort!" Tilly wurde ein biBchen rot. Dann erkundigte sie sich heuchlerisch: „Von wem denn ? — In Prag kennt mich doch niemand ..." — „Na, vom Hans doch," erklarte er gutmütig. „Vom Schütte. Er hat immer Freude mit Ihren Briefen gehabt." — „Ich habe mit seinen Briefen auch viel Freude gehabt," sagte sie. Und Ernst: „Er ist ein feiner Kerl! Sie müssen ihn unbedingt kennen lernen! Einen feineren gibt es gar nicht!" — Tilly, mit züchtig niedergeschlagenen Augen, — als sprache sie etwas Unpassendes aus —: „Ich habe mir schon lange gewünscht, ihn mal kennen zu lernen." — „Aber zunachst dürfte keine Gelegenheit dazu sein!" Ernst sagte es nicht ganz ohne Schadenfreude. „Er ist nach Frankreich. Von dort will er wohl nach Belgien und Holland weiter, und spater vielleicht nach Skandinavien, wenns geht ..." Tilly erwiderte eine Weile nichts. Dann bat sie den Ernst, er solle ihr etwas von seinem Prager Leben mit Hans erzahlen. Er wurde verlegen. Wenn man plötzlich etwas erzahlen soll, fallt einem natürlich nichts ein. „Wir hatten ein recht nettes kleines Zimmer, Hans und ich," fing er umstandlich an. „Manchmal kam auch Besuch." Da stockte er schon. „Was für Besuch ?' wollte Tilly wissen. Ernst, anstatt auf diese Frage naher einzugehen, schilderte in möglichst schön gewahlten Worten die Reize und Kuriositaten der Stadt Prag. Er kam auf den Stammtisch zu sprechen, wo mit den Kameraden politische Diskussionen geführt worden waren. Er berichtete auch von den vielen und sonderbaren Arbeiten, mit denen sie sich ein biBchen Geld verdient hatten. „Das ist ja eigentlich nicht erlaubt gewesen," sagte Ernst. „Es war uns auch nie so richtig wohl zu Mute dabei. Denn, schlieBlich — die Regierung bei den Tschechen ist doch ganz anstandig; anstandiger jedenfalls als in den meisten andern Landern. Und auBerdem waren wir nur geduldet. Da hatten wir wohl nichts machen sollen, was gegen die Gesetze ist. — Aber was blieb uns übrig ?" Ernst gefiel Tilly. Sie mochte sein Gesicht: die gespannte, etwas fleckig angegriffene Haut auf den slawisch breiten Wangenknochen; die hellen und engen Augen; das blonde Haar, preuBisch kurz geschoren am Nacken und an den Schlafen. Sogar von seiner Kleidung war sie gerührt. Die Sachen, die er in Basel geschenkt bekommen hatte, waren keineswegs so neu und hübsch, wie er im ersten Vergnügen hatte meinen wollen. Der graue Anzug war recht dünn und abgeschabt, er glanzte speckig, und die Farbe spielte trüb ins Gelbliche. Auch mit den Schuhen war kaum viel Staat zu machen. Am besten war noch das dicke, rote Wollhemd. Er trug es ohne Krawatte; unter dem breiten geöffneten Kragen baumelte ziemlich melancholisch eine kleine gedrehte Kordel. Das Hemd war schon zu lange im Dienst, man sah es ihm an. Der Verdacht drangte sich auf, daB es unfrisch roch. — Einen Überzieher besaB Ernst nicht. Als sie auf die StraBe traten, bemerkte Tilly: „Aber Sie müssen frieren!" Und sie nahm seinen Arm. r Sie afien miteinander zu Abend; dann gingen sie eine Stunde ins Kino. Die Nacht war schön; Tilly hatte Lust, zu Fufl nach Rüschlikon zu gehen. Ernst begleitete sie. Beim Abschied verabredeten sie etwas für den nachsten Abend. Als Tilly schon in der Haustüre stand, sagte sie plötzlich, mit einem auffallend weichen, schrag abgleitenden Bliek: „Sie sind also der H.S." Es schien, daB sie alles durcheinander brachte. Vielleicht hatte sie ein Glas Wein zu viel getrunken, vielleicht war sie nur müde. Er fand es taktvoll, sie nicht zu korrigieren. „Gute Nacht, Tilly," sagte er. Wahrend sie sich auszog, fiel ihr ein, daB für morgen Abend Peter Hürlimann sie in ein Konzert eingeladen hatte. ,Ich muB ihm absagen,' beschloB sie. .Morgen Abend bin ich besetzt. Konnis Freund, der H. S. ist ja hier . . Wahrend sie schon einschlief, dachte sie noch: .Komisch, diese kurz geschorenen Haare am Nacken und an den Schlafen . . . Die müssen aber ziemlich stark kitzeln, wenn man das Gesicht an sie legt. . . Hat er mir nicht erzahlt, daB er in Berlin ein Schupo war ? Ich kann ihn mir recht gut vorstellen, in der grünen Uniform . . Es regnete in Stromen. An Spazierengehen war nicht zu denken. Zum Kino hatten Tilly und Ernst keine Lust. Sie waren überhaupt bei weitem nicht so lustig wie den Abend zuvor. Beide schauten viel vor sich hin, oder der eine dem anderen ins Gesicht, ohne zu reden. Wenn die Gier in ihren Blieken zu deutlich wurde, senkten sie die Augen, wie beschamt. Aber bald ertappten sie sich wieder dabei, daB der eine versunken saB in das Bild des anderen. Nach dem Essen blieben sie noch eine Weile in der halbdunklen Wirtsstube sitzen. Endlich war es Tilly, die sagte: „Wir sollten gehen." Er antwortete nicht gleich. Unersattlich lieB er die Blicke über ihr Antlitz wandern. ,Sowas Hübsches habe ich lange nicht gesehen,' dachte er. ,Sowas Schönes sehe ich lange nicht wieder. Merke dir, was du siehst, damit du es nicht gleich wieder vergiBt, dummer Kerl! — Ihre Stirn, alabasterweiB, ernst gerahmt vom schlichten, rötlichen Haar. Wie brav und fromm ihr Haar in der Mitte gescheitelt ist — und dazu der groBe, weiche, schlampige Mund, und die langen, schraggestellten, feuchten Augen. Und dieses schlichte dunkle Kleidchen, das sie heute tragt —: die nackten Arme kommen so reizend unterm dunklen, leichten Tuch hervor, und die Form ihrer Brüste hebt sich so deutlich ab.' — Er merkte, daB sie sich zusammenzog, weil er sie anstarrte. Es war ihm peinlich, er sagte, gleichsam um Entschuldigung bittend: „Ja, es wird wirklich Zeit..." Keiner von beiden wuBte, wofür es Zeit war und wohin sie gehen wollten. Auf der StraBe war wieder sie es, die zu reden begann. „Es regnet immer noch." Ihre Stimme klang traurig. Er sagte tröstlich: „Aber nur noch ein biBchen. Und es wird wohl bald aufhören." — Tilly, mit einem betrübten Bliek nach oben: „Der Himmel ist dochso schwarz." Dann schwiegen sie wieder und gingen. Nach einer Pause fragte sie ihn: „Wo wohnen Sie eigentlich ?" „Bei einem Kameraden," antwortete er, nicht ganz ohne Stolz. „Drüben im Niederdorf — das ist wohl der alteste Teil von der Stadt. Sehr nettes Zimmer; aber ein biBchen eng. Dorthin kann ich keinen Besuch mitbringen. Sie dürfen wohl bei sich auch keinen Besuch haben ?" „Natürlich nicht," sagte Tilly. Daraufhin schlug er vor: „Wir könnten ja in ein kleines Hotel gehen." Nun meinte Tilly doch, sich ein wenig entrüsten und die empfindliche Dame spielen zu müssen. „Was fallt Ihnen ein!" Sie versuchte, ihre Stimme spitz zu machen. Es mifilang. Sie lachelte. Er nahm ihren Arm. „Ich dachte nur —, weil es so regnet..." Sie wurde gleich wieder mitleidig. „Und Siehaben gar keinen Mantel! Mein Gott, Sie werden ja pudelnafi!" — Er trippelte vorsichtig unter dem aufgespannten Regenschirm, den sie hielt. Mit seinem hochgeschlagenen Rockkragen, das triefende Haar in der Stirne, sah er ziemlich erbarmungswürdig aus. Aber er lachte. „Ich fühle mich wohl . . . Sauwohl fühle ich mich!" Er drangte den Körper an sie, sein nasses Gesicht war nahe an ihrem. Sie sprach nachdenklich: „Ich weifi ein kleines Hotel, gar nicht weit von hier. Die Besitzer kennen mich dort. . . Aber dürfen Sie denn überhaupt in einem Hotel übernachten ?" fiel ihr plötzlich ein. „Sie haben mir doch erzahlt, daB Ihre Papiere nicht in Ordnung sind." Er lachte wieder. „Nein, die sind allerdings ganz und gar nicht in Ordnung. Aber niemand wird sie zu sehen verlangen." Sie blieb angstlich. „Man kann Pech haben, es könnte eine Kontrolle geben. Sie sind hier neuerdings furchtbar scharf hinter den Fremden her." „Wenn man nur eine Nacht in einem Hotel ist, wird man nie kontrolliert," erklarte er zuversichtlich. „Erst die zweite Nacht ist gefahrlich." „Mir scheint doch, es ist schrecklich gewagt, was wir tun — ganz abgesehen von allem anderen, was es sonst noch ist." — Sie waren vor dem Hotel stehen geblieben. Es regnete wieder starker. Tilly schaute in das gleichmaOig niederfallende, stromende, rauschende Wasser. „Es ist wie eine Sintflut," sagte sie leise. Und Ernst: „Sie sollte alles wegwaschen — alles wegspülen, das sollte sie. Ersaufen müfite das ganze Pack, etwas anderes verdient es nicht mehr..." Und, plötzlich lachend, fügte er hinzu: „Nur wir dürfen übrig bleiben — nur wir zwei!" Er wandte ihr das vergnügte, vom Regen gebadete Gesicht zu. Sie blieben noch eine Weile nebeneinander unter dem offenen Schirm stehen, als wagten sie sich nicht ins Hotel, oder als fühlten sie sich hier draufien sicherer. SchlieBlich traten sie ein. Die Wirtin musterte sie etwas miBtrauisch; steilte jedoch keine Fragen, weder nach den Passen noch nach dem Gepack, sondern sperrte ihnen schweigsam ein Zimmer auf. „Numero 7 ist das einzige, das ich heute Abend frei habe," sagte sie mürrisch. Es war ein langer und schmaler Raum, mehr einem Korridor als einer Schlafstube ahnlich. Die beiden Betten standen mit den Kopfenden gegeneinander gerückt; eines neben dem anderen hatte kaum Platz gehabt. Als die Wirtin hinaus war, bemerkte Ernst: „Das sieht auch nicht übermaBig sauber hier aus . . . Die Flecke an den Wanden stammen von zerdrückten Wanzen," steilte er sachverstandig fest. „Hoffentlich ist keine übrig geblieben. — Wie heiBt denn die schone Wirtin?" — „Ich weifi es nicht, wie sie heifit," sagte Tilly. — „Hast du mir nicht erzahlt, dafi du sie kennst ?" — „Ja, ich kenne sie. Aber ich habe ihren Namen vergessen." — „Das scheint ja keine sehr intime Bekanntschaft zu sein." Ernst war etwas enttauscht. Er stand vorm Spiegel und trocknete sich den Kopf mit einem Handtuch. Sie bemerkte, dafi seine Haare dünn wurden — schütteres Haar, und die Farbe war wie ausgebleicht von vielen Wettern: ein fahles Blond, Stürme und Regengüsse schienen ihm den Glanz genommen und es fast entfarbt zu haben. „Mir gefallt das Zimmer ganz gut," sagte Tilly, die hinter ihm stand. „ Aber kalt ist es!" Sie schauderte. Ernst hörte, daB ihre Zahne aufeinander schlugen. Er wandte sich um. Ihr Gesicht war blafi, rötlich glühte nur die Nasenspitze. „Du hast einen Schnupfen." Er legte ihr die Arme auf die Schultern. Sie zitterte und wuBte, daB es nicht vor Kalte war. Hilflos sagte sie: , Jetzt gehe ich wohl besser nach Hause . . Er antwortete gar nicht, sondern zog sie an sich. Sie versuchte, sich frei zu machen. „Aber ich habe keine Zahnbürste mit, und kein Pyjama ..." — „Ich auch nicht!" Er hielt sie fest. „Wozu brauchen wir eine Zahnbürste ? . . . Kannst du mir vielleicht verraten, wozu wir eine Zahnbürste und ein Pyjama brauchen ?" „Aber es geht nicht ... Es geht nicht ..." Sie zitterte starker. Nun fürchtete sie auch, es könnte ein Asthma-Anfall kommen. Er hatte die Arme fester um sie geschlossen. Da gestand sie: „Ich war schon so lange nicht mit einem Mann zusammen . . ." Er blieb stumm. Sprachlos und lachelnd legte er seine Stirne an ihre. Es vergingen Sekunden, — oder viele Minuten, sie wuBten es nicht. Das Schweigen hatte schon zu lange gedauert, als er mit gedampfter Stimme wieder zu sprechen begann. „Komisch sehen die Augen von einem anderen Menschen aus, wenn man sie so dicht vor den eigenen Augen hat! Sie scheinen ganz nah beieinander zu liegen, und ganz groB zu werden — wie Eulenaugen . . . Genau wie Eulenaugen!" wiederholte er erstaunt — und sie muBte plötzlich lachen über dieses Wort. Sie lachte heftig und krampfhaft, ohne aber ihre Stirn dabei von seiner zu lösen. Sie blieben stehen, mit herabhangen- den Armen jetzt, und es schien, als waren ihre Stirnen aneinander gewachsen. „Eulenaugen!" kicherte Tilly. „Ist doch zu idiotisch! Warum sollte ich denn Eulenaugen haben ? — Du hast übrigens auch welche . . . Aber helle Eulenaugen. Helle Eulenaugen sind auch nicht feiner." Immer noch lachend zog sie endlich ihre Stirn zurück. Sie tat es mit einer Geste, als müBte sie ihre Stirne wegreiBen von seiner, an der sie festgewachsen war. Dabei schrie sie ganz leise und berührte mit dem Zeigefinger ihre Stirn, gerade zwischen den Augenbrauen, als gabe es dort eine blutige Stelle. Ihr lachender Mund bekam einen klagenden Zug. Es war, als liefe Blut von ihrer Stirn zu den Lippen. Vielleicht schmeckten ihre Lippen das Blut. Vielleicht verzogen sie sich deshalb so schmerzlich und angewidert. Aber sie hörte nicht auf zu lachen. Rückwarts gehend tat sie ein paar Schritte, die taumelig waren — als ware sie nicht nur verwundet, sondern auch betrunken. Sie setzte sich auf das Bett, ohne es anzusehen oder den Kopf zu wenden; ihre Augen blieben auf den Mann fixiert. „Eulenaugen . . wiederholte sie, und ihr kleines Gelachter klang einem Schluchzen sehr ahnlich. ,,Zu dumm . . ." Aber plötzlich wurde sie ernst. Eine leichte Röte lief, wie der Widerschein eines vorbeiziehenden Lichtes, über ihr weiBes Gesicht. Mit einer merkwürdig trockenen Stimme — als ware ihre Kehle ausgedörrt und sie hatte keinen Speichel mehr im Munde — sagte sie: „Ich glaube überhaupt, daB ich es gar nicht mehr kann." Ernst, der noch immer mitten im Zimmer stand, fragte, seinerseits plötzlich heiser: „Was solltest du nicht mehr können ?" — Da erwiderte sie, schamlos und sanft, mit einer zugleich traurigen und verlockenden Gebarde zu dem nicht sehr sauberen Bett: „Das . . . Ich habe es sicher schon ganz verlernt..." Er lachelte nicht; sein Gesicht blieb ernst, und es gab einen beinah zornigen, brutalen Zug um seinen Mund, als er sagte: „Das verlernt man nicht." Er war bei ihr und bog ih ren Oberkörper nach hinten. Sie lieB es geschehen, Angst und Krampf waren fort. Sie bekam den Bliek eines Kindes, das sich verirrt und sehr viel Schrecken ausgestanden hat — nun aber ist es dort angekommen, wo es keine Gefahren mehr gibt: keine Gefahren mehr für diesen schonen Moment. Es darf die Glieder lockern, den Mund hinhalten, auch die Augen dürfen sich endlich schlieBen. Nachgeben dürfen, stillhalten dürfen, diese Liebkosungen annehmen und erwidern dürfen. Dies ist die Stunde, liebe arme Tilly, die dich entschadigen und trosten soll für viele Monate und mehrere Jahre, da du einsam warst und wenig Freude kanntest. Nun entschadigt und tröstet sich dein atmender, erbarmungswürdiger, hilfloser, schoner Körper. Es trosten und entschadigen sich dein Mund, dein Haar, in dem seine Finger spielen, deine FüBe, die so müd gewesen sind, deine Hande, die auf den Tasten der Schreibmaschine oft nicht weiter konnten; dein ganzer Leib, den er nimmt. — Nun hat er dich einmal geliebt, er wird dich noch zweimal oder viermal lieben; denn die Nacht ist lang, und er hat lange keine Frau gehabt. Eine so Hübsche wie dich wird er auch zunachst nicht mehr finden. Er liebt dich sehr, er begehrt dich mit starker Gier, er ist dir dankbar, daB du ihm dies gewahrst; aus der Dankbarkeit könnte Zartlichkeit werden. — Halte stille, sogar wenn es schon ein wenig wehe tut! Dieses ist deine schone Stunde, die Nacht des Trostes und der Entschadigung. Unsere Welt aber ist so eingerichtet, daB selbst Trost und Entschadigung nicht ganz schmerzlos bleiben, etwas Schmerz ist in alles gemischt — halte still, arme Tilly. Du weiCt es ja, dein Freund hat keine Aufenthaltserlaubnis in diesem Lande, morgen kann er schon ausgewiesen sein, vielleicht siehst du ihn nie mehr. Noch ist er bei dir, halte still! Für den Augenblick ruht er aus—: sieh, sein mageres, etwas fleckiges und etwas ramponiertes Gesicht auf dem Kissen! Aber gleich wird er dich wieder packen, die Nacht ist lang — ungewiB, was der Morgen bringt; wir leben in wirren Verhaltnissen, allerlei mifiliche Überraschungen sind an der Tagesordnung, hübsche arme Tilly! Ernst atmete tiefer. Schlief er schon ? Tilly liebkoste ihn mit den Augen, weil die Hande müde waren. — ,Bleibe bei mir! Bitte, geh nicht weg! Ich habe mich so lang nach dir gesehnt! Nicht nach dir eigent lich, sondern nach dem Konni oder nach seinem Freund H. S. Die sind nicht gekommen, aber du bist hier, und du bist beiden verwandt, bist der Bruder von beiden — ich umarme den verlorenen Konni und den anderen, fremden, den ich nie gesehen habe, da ich dich umarme. Du weiBt ja nicht, wie schlimm und arg alles gewesen ist, ehe du kamst. Du kannst es dir gar nicht vorstellen.' ,Warum soll ich es mir denn nicht vorstellen können ?' antwortete er stumm. ,Ich habe es doch keineswegs besser gehabt. Glaubst du vielleicht, es ist ein Vergnügen, ohne PaB durch die Lander zu ziehen, immer in Angst vor der Polizei, wie ein Verbrecher? — Und ich habe eigentlich nichts besonders Schlimmes getan, auBer dem biBchen Schwarzarbeit in Prag. In Berlin war ich ein Schupo, sehr respektabel in der schonen grünen Uniform. Ich gehorte zum Staat, ich war ein Teil seiner Macht, einer seiner vielen Representanten, und alle sahen mich achtungsvoll an. Meine ganze Schuld war, daB ich diesen Staat verteidigen wollte, und daB ich mich nicht abgefunden habe mit dem Neuen . . . Warum sollte ich mir nicht vorstellen können, wie dreckig es dir ergangen ist ? Da müBte ich aber beschamend wenig Phantasie haben!' Und sie darauf: ,Keiner weiB doch, was der andere auszustehen hat. Das kann niemand ermessen, es bleibt das Geheimnis, welches jeder mitnimmt. Immerhin gibt es manchmal die Stunden des Trostes und der Entschadigung.' Da war er wieder bei Kr aften und zog sie an sich heran. — . . . Erst gegen Morgen schliefen sie ein. Sie blieben im gleichen Bett, obwohl es viel zu schmal für sie beide war. Sie schliefen aneinander geschmiegt, als es an die Tür klopfte. Da mochte es halb sechs Uhr morgens sein. Beim ersten Klopfen erwachte keiner von beiden. Tilly fabrizierte sich aus dem klopfenden Gerausch an der Türe ganz schnell einen Traum. So leicht werden ja groBe Traume aus kleinen Gerauschen: nur ein Klopfen ist da, aber im Traum vollzieht sich blitzschnell eine lange Geschichte, in die das Klopfen paBt, zu der es gehort. Eine Mauer wird gebaut, das verursacht Larm. Tilly traumte, daB eine hohe rote Mauer gebaut wurde — vielleicht war es die Mauer zu dem Gefangnis, in das man Ernst sperren würde, zur Strafe, weil er ohne PaB in der Schweiz war und weil er hier mit ihr geschlafen hatte. Die Mauer wuchs, das Gerausch steigerte sich tobend. Tilly fuhr auf; es hatte starker geklopft. Auch Ernst war inzwischen erwacht. „Es hat geklopft," sagte Tilly, mit den Handrücken vor ihren verschlafenen Augen. — „Das merke ich," versetzte Ernst ziemlich unfreundlich. Wahrend es noch immer klopfte, sagte er, mit einer vor Müdigkeit ganz heiseren Stimme: „Man muB wohl aufmachen." Sein Gesicht sah alt und verfallen aus — fahl, mit hangenden Zügen—, und er hatte einen angewiderten Zug um den Mund, wahrend er das Bett verlieB und langsam durchs Zimmer ging. „Ich komme schon," sagte er zu dem Unbekannten, der sich drauBen immer heftiger bemerkbar machte. Aber Ernst sprach so leise, daB die Person vor der Türe ihn keinesfalls verstehen konnte. „Du solltest dir etwas überziehen," mahnte Tilly, denn er stand nackt da — nackt und ein wenig zitternd vor dieser verschlossenen Türe, die zu öffnen er noch ein paar Sekunden lang zögerte. „Du wirst dich erkalten," sagte das Madchen im Bett. So verschlafen sie war — daB er zitterte, bemerkte sie doch, und sie sah auch die Gansehaut auf seinen Armen und auf seinem Rücken. Aber da hatte er die Türe schon aufgemacht. Vor ihm stand ein Herr in dunklem Überzieher, mit steifem schwarzen Hut, einen hohen, blendend weiBen Kragen und schwarzen, blankgewichsten Stiefeln, die unter hellen Beinkleidern sichtbar wurden. Er trug eine gelbe Aktentasche unter dem Arm und sah aus wie ein übelgelaunter Geschaftsreisender. Der Herr musterte, mit einem kalten, feindlichen Bliek durch den Zwicker, den nackten jungen Menschen, der ihm gegenüber stand. Die korrekte Figur des Herrn drückte von den Stiefelspitzen bis zum Scheitel MiBbilligung aus. Er stand einige Sekunden lang unbeweglich, und auch Ernst, der Zitternde, rührte sich nicht. Der Herr betrachtete, ausführlich und unbarmherzig, diese frierende Nacktheit. Er schien die Rippen zahlen zu wollen, die sich abzeichneten unter der gespannten Haut. Er miBbilligte das zerzauste Haar und das verstörte Gesicht des jungen Menschen; er nahm AnstoB an den gar zu sichtbaren Rippen, dem totalen Mangel an Bauch —: Menschen, die in einer anstandigen Beziehung zur bürgerlichen Weltordnung leben, müssen einen etwas gepolsterten Bauch zeigen —, und er empfand Ekel sowohl als Entrüstung angesichts der provokanten EntblöBung des Geschlechts. ,,Fremdenpolizei," steilte er sich unheilverkündend vor. „Ziehen Sie sich bitte sofort etwas an!" Wahrend Ernst stumm zu seinen Sachen ging, sprach der Mann mit der Aktentasche — wobei sein ungnadiger Bliek an dem benutzten und dem unbenutzten Bett vorbei zum Fenster ging —: „Zeigen Sie Ihre Passé!" Tilly erschrak so sehr, daB sie einen stechenden Schmerz in der Magengegend empfand und meinte, ihr Herz müBte aussetzen zu schlagen. Sie spürte, daB ihr der Atem Sekunden lang wegblieb. Ein Asthma-Anfall bereitete sich wohl vor . . . Trotzdem war ihr klar, daB sie sich nun auBern und in Aktion treten müsse, um Ernst zu retten — oder doch, um die Katastrophe, die ihn bedrohte, aufzuschieben. Sie lieB eine kokette Piepsstimme hören, die sie immer dann verwendete, wenn sie Herren von der Polizei oder Ladenbesitzer, bei denen sie Schulden hatte, rühren und versöhnen wollte. „Ach, wie dumm!" machte sie, töricht lachelnd. „Ich habe meinen PaB nicht bei mir!" Der Herr von der Fremdenpolizei vermied es, sie genau anzusehen. Er hatte schon festgestellt, daB sie hübsch war, und er wollte sich keineswegs durch ihre Reize bestechen lassen. „Wo wohnen Sie ?" fragte er barsch. „In Rüschlikon," plapperte sie, eifrig wie ein Schulmadchen. Und sie redete weiter: „Meine Mama, Frau von Kammer, hat eine kleine Wohnung dort. Ja, ich bin polizeilich gemeldet. . ." Der Herr unterbrach sie: ,,Sind Sie mit diesem Mann hier verheiratet ?" Tilly lieB nicht von ihren traurigen kleinen Versuchen, mit dem Beamten zu kokettieren. „GewiB," sagte sie, wobei sie die Schultern hochzog und sich zu allerlei niedlichen Grimassen zwang, die ihrem Gesicht weh taten. „Das heiBt: beinah verheiratet — so gut wie verehelicht ... Er ist ein Vetter von mir . . . Ein Jugendfreund auBerdem . . . Wir sind schon seit langem verlobt ..." „Also nicht verheiratet," steilte unerbittlich der Beamte fest, und er machte sich Notizen in ein dickes schwarzes Wachstuchheft, welches er aus seiner Aktentasche geholt hatte. „Haben Sie keinerlei Ausweispapiere bei sich ?" ,,Oh doch," schwatzte sie. „Es wird sich schon etwas finden — dies und das, eine Visitenkarten oder so. Wenn Sie nur so freundlich waren, mir dieses Taschen herüber zu reichen ..." Der Beamte gab ihr stumm die Tasche, auf die sie gedeutet hatte. Tilly kramte aufgeregt; lieB eine alte kleine Puderdose auf den FuBboden fallen — der Beamte überlegte sich eine Sekunde, ob er sich bücken solle, um sie aufzuheben, unterlieB es dann aber. Tilly muBte schlieBlich betrübt konstatieren: „Nicht einmal eine Visitenkarte ist da! — Aber hier!" rief sie mit klaglicher Munterkeit, „hier — eine kleine Tischkarte! Sie stammt von einem Dinner bei Herrn und Frau Ottinger Entschuldigen Sie, es ist kein recht seriöses Ausweispapier; aber immerhin, Sie sehen doch meinen Namen ..." Der Beamte betrachtete mit ungerührter Miene die kleine Karte. Auf ihr war abgebildet ein junges Madchen, das an einer Schreibmaschine sitzt; man sah nur den Rücken. Das alberne Bildchen war umrahmt von einem Kranz aus Rosen und VergiBmeinnicht. 18 Darunter stand Tillys Name in verschnörkelten Buchstaben. „Sie waren bei Herrn Ottinger eingeladen?" erkundigte sich der Herr, um eine Nuance freundlicher. „Natürlich," bestatigte Tilly geschwind. „Ich bin sehr oft dort, beinahe jeden Tag. Frau Ottinger ist immer sehr freundlich zu mir. Auf keinem ihrer musikalischen Jours darf ich fehlen ..." Der Beamte schnitt ihr das Wort ab. „Das gehort nicht zur Sache!" — obwohl ihn doch gerade dieser Klatsch aus den besseren Kreisen lebhaft interessierte. Das Verhör, das Tilly über sich ergehen lassen muBte, zog sich noch eine Weile hin. Der Beamte erledigte es mit Gewissenhaftigkeit; trotzdem war von Anfang an deutlich, daB er mit dem jungen Madchen milde verfahren würde. Sein geübter Instinkt hatte begriffen, daB ihre Angaben mindestens zum gröBten Teil der Wahrheit entsprachen. Er notierte sich ihre Geburtsdaten, den Namen ihrer Mutter und die Adresse. Als sie ihm gestand, daB sie mit einem Ungarn verheiratet war, ward sein Gesicht noch ernster und fast ein wenig verwirrt. Er erinnerte sich wohl der heuchlerischen Angaben, die sie vorhin über Jugendfreundschaft und Verlobung mit dem nackten jungen Mann gemacht hatte. AuBerdem fand er ihren exotischen Namen übertrieben schwer auszusprechen. AbschlieBend sprach er, tadelnd, aber nicht ganz ohne vaterliches Wohlwollen: ,,Es macht immerhin einen merkwürdigen Eindruck —: eine verheiratete junge Frau, mit einem Fremden im Zimmer ..." Dann zuckte er die Achseln, als wollte er sagen: Was geht es mich schlieBlich an ? —, und wendete sich an Ernst. Der hatte sich inzwischen in das zweite, unbenutzte Bett gelegt. Das Peinliche war, daB er sich steilte, als ware er schon wieder eingeschlafen. Eine hoffnungs- lose, absurde kleine Komödie — da er ja gerade noch, nackt und wach, durchs Zimmer geschritten war. Der Beamte lieB sich überhaupt nicht auf sie ein. Zwischen ihm und Ernst begann der schreckliche Dialog. „Ihren PaB, bitte!" — Ernst, den Schlaftrunkenen mimend: „Wie beliebt ?"— Der Beamte, entschieden scharfer: „Ihren PaB!" — „Den habe ich nicht bei mir." — „Wo haben Sie ihn!" — „Bei . . . bei Bekannten ..." — Der Beamte, sehr höhnisch: „Bei Bekannten, aha!" Plötzlich auf ihn losfahrend: „Sie besitzen wohl gar kein gültiges Ausweispapier ?!" Nun versuchte Ernst sein Glück mit einer wehleidigen Miene und mit einer etwas künstlich' pathetischen Sprechweise. „Herr Kommissar — jetzt sage ich Ihnen die ganze Wahrheit. Mein PaB ist abgelaufen. Ich habe auch keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Ich bin ein politischer Flüchtling."—Daraufhin der Beamte, höflich aber bestimmt: „Stehen Sie auf und kommen Sie mit mir!" Ernst sagte noch, völlig sinnloser Weise: „In Berlin bin ich eine Art von Kollege von Ihnen gewesen — auch von der Polizei . . . Ich bin unschuldig in diese Lage gekommen ..." — Der Herr blieb unnahbar. „Das können Sie alles auf der Wache erzahlen. Ziehen Sie sich an!" Tilly mischte sich ein. „Wenn ich vielleicht für meinen Freund irgendwie garantieren könnte . . ." Auf diesen Vorschlag hin hatte der Beamte nur eine abwinkende Gebarde und einen Bliek, der mehr gelangweilt als böse war. Ernst hatte damit begonnen, sich anzuziehen. Wahrend er in die Socken fuhr —- dicke, gestrickte Wollsocken, mit Löchern an den beiden Stellen, wo die groBen Zehen sitzen — wollte er wissen: „MuB ich gleich wieder über die Grenze ?" Seine Stimme kam schleppend, sein Ge- sicht sah sehr grau und müde aus. — „Das werden Sie alles erfahren," sagte der Beamte. Ernst stand schon in seinen Kleidern da. Der Beamte erkundigte sich — mehr der Form halber und sehr verachtlich: „Gepack ist wohl nicht vorhanden ?" Ernst schüttelte trübe den Kopf. Er schien nicht verzweifelt, nicht einmal erregt; nur angewidert und traurig. Was ihm jetzt widerfuhr, war keine Sensation, war kein Abenteuer. Er muBte stets damit rechnen, und es war schon gar zu haufig erlebt worden. Mehr erschüttert war Tilly. Wahrend Ernst schon von ihr fort und zur Türe ging, rief sie ihm flehend zu: „Wenn ich dir nur irgendwie behilflich sein könnte! Bitte, ruf mich an, sowie du weiBt, was mit dir geschieht, oder laB mich anrufen!" Er nickte schweigend. Der Beamte deutete durch strenges Rauspern seine Ungeduld an. Tilly — um Ernst nur noch einen Augenblick zurückzuhalten — brachte hervor: „LaB mich bitte nicht ohne Nachricht! Ich warte auf eine Nachricht von dir!" Der Beamte hatte die Türe geöffnet. Da rief Ernst und versuchte ein Lacheln: „Adieu, Madchen! Es ist hübsch gewesen! Adieu!" Er hob die Hand, um zu winken. So hebt sie einer, der schon nicht mehr in diesem Zimmer steht, sondern weit entfernt... Der Beamte lieB ihm mit einer etwas schauerlichen Höflichkeit den Vortritt. Hinter ihnen schloB sich die Türe. Und Tilly, die leise aufschrie, begriff: ,Den sehe ich nicht mehr wieder. Auch Nachrichten kommen nicht mehr von ihm. Der ist weg. Den sehe ich nicht mehr.' Die Tranen liefen ihr übers Gesicht. Dabei kampfte sie gegen den Asthma-Anfall. — ,Bleibe bei mir! Bitte, geh nicht fort! Ich habe mich so lang nach dir gesehnt — nun darf es nicht so schnell vorüber sein!' Ein paar Minuten spater ertappte sie sich dabei, da!3 sie an sich selbst und ihre Zukunft dachte. .Wahrscheinlich werde ich nun auch ausgewiesen. Nur dem Umstand, dafl ich die Ottingers kenne, verdanke ich es, daB er mich nicht sofort mitgenommen hat. . . Wohin gehe ich dann ? Nirgends kriege ich doch Aufenthaltserlaubnis . . . Meinst du, es ist ein Vergnügen, ohne Pal3 durch Europa zu ziehen ?' — Da hörte sie wieder die Stimme ihres Geliebten, der jetzt dem Beamten auf die Wache folgen muBte. Als sie daran dachte, konnte sie sich nicht rühren, vor Erbarmen, Traurigkeit und Liebe. Eine halbe Stunde spater war sie angezogen und verlieB das Zimmer, um hinunter zu gehen. Mitten auf der Treppe blieb sie stehen. Beinah ware sie umgesunken. Ihr war übel, alles drehte sich vor den Augen. ,Hoffentlich bekomme ich einen Kaffee', war alles, was sie noch denken konnte. In der Schankstube sah es traurig aus. Alle Stühle waren auf die Tische gestellt, mit den Beinen nach oben. Ein unfrisiertes Madchen hantierte mit Besen und Tuch. Die Fenster waren weit aufgerissen; eisige, graue Morgenluft kam herein. Trotzdem blieb der Geruch nach altem Zigarrenrauch und vergossenem Bier zah im Raum. Nein, sagte die Unfrisierte — der Kaffee war noch nicht gemacht. „Um sieben Uhr wird er fertig sein. Sie können ja warten." Vor sieben Uhr hatte Tilly ohnedies keinen Zug nach Rüschlikon. Sie setzte sich hin, um zu warten. ,Was wird die Mutter sagen, wenn ich früh morgens ankomme? Ich muB mir irgendeine gute Ausrede einfallen lassen, um sie zu beruhigen . . .' Jetzt war sie aber viel zu müde, um die gute Ausrede zu finden. Das Madchen, wahrend sie den Staub von den Schranken wischte, bemerkte: „Die Polizei war ja hier." — Tilly, die Stirn in den Handen, murmelte: „Das habe ich bemerkt." Ihr war furchtbar krank und elend zu Mute. Das Madchen, den Besen zornig erhoben wie eine Waffe, erklarte: ,,Sie erwischen immer die Falschen. Unsereiner muB immer dran glauben. Den groBen Halunken geschieht nichts. Die kommen durch." Sie schwang den Besen, als ware er eine Lanze — ein leichter, tödlicher Pfeil, den die Zürnende der ungerechten Welt ins Antlitz schleudern wollte. Das Leben hat viele Inhalte, und es bringt mit sich mancherlei Erschütterungen. Niemals wird es nur von einem Ereignis, von einem Umstand bestimmt. Die Emigranten denken nicht immer, nicht ohne Unterbrechung daran, dafi sie sich im Exil befinden und ein gewisses Regime in der Heimat hassen oder sogar bekampfen. Nicht stets und pausenlos können sie „Emigranten im Hauptberuf" sein —: es ware gar zu qualend und übrigens einfach langweilig. Zwar ist ihr Leben weitgehend beherrscht von der einen groBen, alles verandernden Tatsache: dem Exil. Indessen hören einige grosse Gefühle nicht auf, das Menschenherz zu beschaftigen: Ehrgeiz und Liebe, Einsamkeit und Hunger, Freundschaft und die Angst vorm Tode — oder die Sehnsucht nach ihm . . . Die Zeit vergeht, im Exil wie zu Hause. Menschen finden sich und verlieren sich; haben Erfolge oder MiBerfolge; werden krank, verfallen Lastern, werden wieder gesund oder sterben; verwelken oder blühen auf. Meisje, zum Beispiel — das ahrenblonde Kind halb hollandischer, halb deutscher Abkunft; erst als Gartnerin, dann als Krankenschwester ausgebildet — war aufs erfreulichste erblüht und jeden Tag immer noch ein wenig schoner geworden. Sie hieB nun Frau Doktor Mathes und hatte eine Stellung als Nurse in einem Englischen Krankenhaus, zu Paris. Dort war auch Mathes als Arzt tatig. Beide hatten kolossales Glück gehabt, sie wurden von allen beneidet. DaB solcher Neid der Freunde und Kollegen sich in durchaus gutmütigen Grenzen hielt, lag daran, daB dies junge Paar sich weiter als besonders brav und hilfsbereit erwies. Auch der Doktor hatte sich entschieden zu seinem Vorteil geandert, unter Meisjens energisch-weiblichem EinfluB. Er sah nun viel adretter und zivilisierter aus; sein Bliek war fast nie mehr glasig, und der rotblonde Schnurrbart hing ihm nicht mehr feucht und fransig auf die Oberlippe. Doktor Mathes und sein Meisje hatten bei der Schwalbe Hochzeit gefeiert; Fraulein Sirowitsch und Nathan-Morelli saBen dabei und tauschten Blicke voll Wehmut. Auch zwischen ihnen war seit Langerem von EheschlieBung die Rede. NathanMorelli — einst spöttisch und beinah unzugangig — hatte sich derartig an die kluge, ernste Dame gewöhnt, daB er nun seinerseits Wert darauf legte, die Liaison mit ihr zu legalisieren. Nun aber hielt sie es für passend, sich ein wenig rar zu machen und noch etwas zu zieren. Sie stand auf eigenen Füflen, sorgte für sich selber, war auf niemanden angewiesen. Seit dem Frühling 1935 leitete sie einen groBen PresseVertrieb — ein Bureau, in dem auBer ihr zwei Madchen und ein junger Mann beschaftigt waren und dessen Funktion darin bestand, die hollandischen, französischen, englischen, schweizerischen Zeitungen mit journalistischem oder photographischem Material zu versorgen. Einer der Autoren, mit dem die Sirowitsch regelmaBig zu tun hatte, durch den sie gut verdiente und den sie ihrerseits nicht schlecht verdienen lieB, war Helmuth Kündinger. An der deutschen Tageszeitung, die in Paris er- schien, hatte er einen guten Posten. Man schatzte seine gewandte Feder, seinen zugleich soliden und beweglichen Geist; die Artikel, die von ihm stammten, waren beliebt. Besonders wurde Kündingers Ansehen bei den Kollegen dadurch gesteigert, daB auch französische Blatter sich für seine Beitrage interessierten. Nicht nur in Provinz-Blattern, sondern auch in Pariser Zeitungen tauchte ab und zu sein Name auf. So weit hatten es nur wenige exilierte deutsche Journalisten gebracht. Übrigens war Kündinger nun auch politisch tatig und galt als Verfasser oder Mitverfasser zahlreicher Broschüren und Manifeste, die entweder im Ausland oder, illegal, im Reiche wirken sollten. Hier war es vor allem Theo Hummler, mit dem er zusammen arbeitete. Der wurde immer energischer und immer geübter, was die politisch propagandistische Aktivitat betraf. Ein groBer Teil der aufklarenden, warnenden, zum Widerstand rufenden Texte, die den geheimen, schwierigen, gefahrvollen Weg nach Deutschland fanden, stammte von ihm. Ein geheimnisvoller Nimbus begann, sich um seine Person zu bilden. Niemand wuBte im Grunde genau, was er alles organisierte; wie viel wichtige und unsichtbare Faden in seinen Hande zusammenliefen. Er trat haufig kleine Reisen an, deren Ziele unbekannt blieben. War er nach Prag unterwegs, oder nach Kopenhagen, oder gar nach Berlin ? Richtete er einen Schwarzsender in StraBburg ein, dessen aufrührerische Verlautbarungen von deutschen Proleten, nachts und unter Lebensgefahr, abgehört wurden, oder konspirierte er mit Gesinnungsgenossen in Wien ? . . . Theo Hummler redete nicht viel. Seine Miene wurde immer verschlossener, fast unheilverkündend vor lauter Energie und Geheimnis. Bei anderen war es deutlicher, was sie taten und womit sie etwas erreichten. Ilse 111, zum Beispiel, die Kabarettistin, hatte plötzlich einfach Erfolg — in allen Zeitungen stand es zu lesen. Monate und Jahre lang war sie arbeitslos umhergegangen, fast verzweifelt und schon halb zerlumpt, und jedem, der nicht davon lief, hatte sie es erzahlt: „Schon wieder hat ein Direktor zu mir gesagt, ich sei ihm zu haBlich. Dabei hat er mir zugegeben, ich hatte Talent. Wenn ich aber Talent habe, dann habe ich ein Gesicht. Und wenn ich ein Gesicht habe, dann bin ich doch nicht haBlich . . Gleichsam über Nacht hatte man es entdeckt, ïhr Gesicht, und nun leuchtete ïhre Photographie aus den Illustrierten. Sie hatte es geschafft, freilich unter Verwendung radikaler Mittel. Der Einfall war ihr gekommen, sich das Haar grasgrün zu farben. Dazu schminkte sie sich die Lippen schwarzlich, die Wangen violett, und wahlte zu einem schwarzen engen Kleid eine scharlachrote Pierrot-Krause. Es fiel immerhin auf. AuBerdem hatte sie sich ein Programm einstudiert, daB an fürchterlicher KraBheit nichts zu wünschen übrig lieB. Zunachst durfte sie es nur in einem sehr bescheidenen Nachtlokal zum Vortrag bringen. Dort fanden sich Leute, die es interessant fanden; daraufhin machte sie einen Selbstmordversuch. Die Pariser wurden neugieng. Die Direktion eines groBen Montmartre-Kabaretts bot ihr einen Vertrag an. Sie wand sich schlangenhaft zwischen den Tischen, an denen Sekt getrunken ward, warf die schwarzen Arme gen Himmel, verzerrte das blauliche Gesicht über dem macabren Putz der Scharlach-Krause und schrie tragische Obszönitaten. Dieses war der Erfolg. Auch Bobby Sedelmayer hatte es noch einmal geschafft. Dem charmanten, unverwüstlichen und gutmütigen Burschen zeigte sich in Shanghai das Glück wieder treu, das ihn an der Avenue de 1' Opéra vorübergehend verlassen hatte. Seine Berichte aus China hatten begeisterten Ton. „Meine Bar ist die schönste des Fernen Ostens!" meldete er enthusiastisch — und alle, die dort gewesen waren, bestatigten es. „Nur Ihr fehlt mir!" versicherte Bobby den alten Freunden. „Sonst ware ich restlos froh." — Er hatte sein Lokal in einem der ersten Hotels der Stadt etablieren können. Es war ein geselliges Zentrum dieser Weltgegend. Bobby verdiente in so hübschen Mengen, daB er dem jüdischen Comité, für das Ilse Proskauer arbeitete, eine runde Summe überweisen konnte. An den Bankier Bernheim schrieb er, nicht ganz ohne Spott: „Wenn Sie in dieses Unternehmen Geld investiert hatten, verehrter Freund, waren Sie fein heraus!" Übrigens hatte der Financier die Verluste, die seine Beteiligung an der Rix-Rax-Bar für ihn bedeutet hatte, leicht verschmerzen können. Ihm ging es vortrefflich; sein geschaftliches Genie bewies sich auch unter den abnorm erschwerten Umstanden seiner jetzigen Existenz. Die prachtvolle Wohnung in Passy hatte schon wieder fast ebenso viel mondane Anziehungskraft wie einst die Grunewald-Villa. Die Elite der Emigration — Künstler, Politiker und die Herren von der Börse — begegneten sich dort mit dem höheren Personal der Botschaften, Pariser Zeitungsbesitzern und den halb deklassierten Mitgliedern des Faubourg St. Germain. Bernheim genoB die allgemeine Achtung. Einen Teil des Jahres verbrachte er in einem kleinen Ort bei Palma, auf der Insel Mallorca, wo er eine Villa gekauft hatte. Dort hielt sich Professor Samuel auf, auch wahrend der Hausherr abwesend war. Samuel hatte sich verliebt in Mallorca, in die Landschaft und in die Menschen. AuBerdem hatte er dort ein sorgenloses Leben. Der Bankier schatzte ihn als Künstler wie als Causeur: groBzügig und ohne gar zu viel Wesens davon zu machen, steilte er ihm Haus und Garten, Dienerschaft und Weinkeller, Küche und Bibliothek zur Verfügung. Wenn Samuel sich bedanken und die Grofimut seines Freundes preisen wollte, sprach Bernheim schlicht: „Ich bin stolz darauf, mein Lieber, dafi in meinem Hause Meisterwerke entstehen." — Wirklich gerieten dem Maler auf Mallorca Bilder von ungewöhnlicher Qualitat: Ansichten von Meer und Bergen in starken, hart leuchtenden Farben, und reizende Portraits von Fischerknaben, Stierkampfern oder Bauernfrauen. Eine kleine Gruppe von Künstlem — Schriftstellern oder Malern — begann sich um das Mallorcanische Idyll von Samuel und Bernheim zu bilden. Man verbrachte unschuldsvolle, blaue Tage am Strande und wilde Nachte in Palma. In Bernheims Villa war der Tisch stets für viele gedeckt. Wenn der Bankier in Paris weilte, vertrat ihn Samuel: schalkhaft und würdig, mit Grandezza, milder Klugheit und gepfeffertem Witz. . . . Die Zeit verging, auch für die Emigranten. Schriftsteller schrieben Bücher — manche davon waren gut, andere lieBen zu wünschen übrig ; Politiker entwarfen ihr Programm und stritten mit den Kollegen darüber; Zeitschriften wurden gegründet und gingen ein; Frauen gaben sich hin, erwarteten ein Kind, lieBen es abtreiben oder bekamen es; Geschaftsleute spekulierten; Arzte und Rechtsanwalte hatten keine Praxis, aber doch ab und zu Klienten; Schauspieler hatten kein Engagement, aber durften sich doch hier oder dort öffentlich zeigen. Das Leben stagniert nicht, geht weiter, bringt Überraschungen, Veranderungen, Sensationen, Schmerzen, kleines Glück, heftigen Kummer, Langeweile, Lust, Müdigkeit, Hunger, Schreck, Enttauschung. Sogar für die arme Friederike Markus sollten schliefilich Abenteuer kommen. Wie lange Zeit hatte sie nun, einsam und abgetrennt von allen übrigen, in ihrer tristen Wahnwelt gelebt ? Jahre waren vergangen ... Sie ging immer noch mit ihrem gelben Handtaschchen umher, in dem die Parfümflaschen an die Tuben mit Zahnpasta klapperten, und immer noch verfaBte sie ihre endlosen Epistel an Britische Politiker, italienische Dirigenten oder deutscheDichter. Tag und Nacht aber, ob sie schrieb oder Eau de Cologne verkaufte, traumte sie von jenem Gabriel, der sie verlassen hatte. Da erschien er ihr. Als sie wieder einmal in einem Bistrot saB und im Begriffe war, eine ausführliche Klage an Frau Lagerlöf abzuschlieBen, muBte sie plötzlich aufschauen vom Papier. Ein Windhauch hatte sie angerührt; aber diesmal war er nicht frostig böse, vielmehr tröstlich mild: Hauch, Glanz und Wohlgeruch in einem. Friederike, die ihren Bliek sehnsüchtig ausschickte, erkannte Gabriel; in höchst anmutiger Pose stand er gegen die Theke gelehnt. Er trug einen grauen Sportanzug mit weiten Pumphosen; von den Schultern aber wuchsen ihm silbrig-blaue Flügel, starr und leuchtend, wie angefertigt aus einem biegsamen, starren und spröden Metall. Unter einer schicken englischen Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen trug, glanzten die Augen des huldreichen Engels derartig stark, daB Frau Viola sich zugleich entsetzt und beseligt fühlte. Ach, ihr Gabriel war wiedergekommen, alles konnte gut werden. Siehe — er hielt ein kleines Glas, gefüllt mit golden braunlicher Flüssigkeit, auf kokette Art in der Hand. Den rechten FuB hatte er lassig vorgestellt, wie ein Tanzer, der ausruht von seinen herrlichen Sprüngen, und der, noch in der Ruhe, den hohen Anstand, die spielerische Grandezza des Tanzes bewahrt. Strahlenglanz umfloB ihn; die arme Viola zitterte davor, es könnte jene Rosenwolke wieder herbei geschwebt kommen, auf der die Götter ihre Lieblinge entführen.,, Gabriel !" rief sie schluchzend und reckte die hageren Hande nach ihm. Ein mürrischer alter Kellner wunderte sich darüber, daB die eifrig schreibende Dame plötzlich mit so weinerlich-schriller Stimme einen Herren anrief, den sie vorher gar nicht beachtet hatte. Er befand sich schon seit einer Viertelstunde im Lokal und trank gerade seinen dritten Cognac. Als die Dame unvermittelt: „Gabriel!" schrie, wandte er sich ihr zu und lachelte wie jemand, der dergleichen gewohnt ist. „Wie beliebt, bitte ?" fragte er mit einer Stimme, die sowohl kraftig als auch einschmeichelnd war. Die Frau am Tisch schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. „Entschuldigen Sie!" brachte sie mühsam hervor. „Ich habe Sie . . . mit einem Bekannten verwechselt ..." Die Hande und die Lippen zitterten ihr. ,Sie sieht ja besorgniserregend aus,' dachte der junge Mann. Wahrend er federnden Schrittes auf sie zutrat, sprach er mit einer galanten Neigung des Oberkörpers: „So etwas kann passieren!" Und er fügte hinzu — wobei er sich ein geübtes Don Juan-Lacheln wie eine feine seidene Maske übers Gesicht zog —: „Mein Name ist Walter Konradi. Sind Gnadigste auch Emigrantin?" . . . Monoton zugleich und dramatisch bewegt verlief das Leben der beiden Knaben, Martin und Kikjou. Immer noch bewohnten sie miteinander das zu teure Atelier, rue Jacob, mit dem schonen Bliek aus dem groBen Fenster über die Dacher und in die winkligen StraBen des Quartiers. Immer noch vergingen ihnen die langen Nachte mit den Gesprachen und den Liebkosungen; die kurzen Tage aber verschliefen sie beinah ganz. Dazwischen gab es Szenen; Auftritte mit Tranen, Schreien und wilden Worten. Manchmal trennten sie sich; aber niemals langer als für einige Wochen. Es war immer Kikjou, der abreiste: zu den Verwandten, nach Belgien oder Lausanne, oder mit einer alteren Dame, die ihm nachstellte, nach London, oder mit einem jungen Amerikaner nach Biarritz. Martin blieb — und eines Tages trat auch Kikjou wieder ein, das lieblich-bleiche Affen-Gesichtchen starr vor Zartlichkeit, Hysterie und einer Freude des Wiedersehens, in die sich Verzweiflung mischte: „Me voila, da bin ich wieder, alles kann von vorne anfangen — wir kommen voneinander nicht los." Und alles fing wieder von vorne an. Ewig wiederholten sich Martins Vorwürfe: ,,Du betrügst mich! Wie eine kleine Hure bist du, im Gesicht und am ganzen Körper, auch deine Frömmigkeit ist nur eine besonders unappetitliche Form deiner maBlosen Geilheit." Darauf Kikjou: „Du bist es, der mich taglich und stündlich betrügt — mit dem Gift, mit dem Teufelszeug!" — Und Martin, nicht ohne Hohn: „Du nimmst es ja selber! Heuchler du! Du kannst ja selbst gar nicht mehr auskommen ohne deine chose infernale!" — Kikjou: „Spotte auch noch! Triumphiere auch noch! Du hast mich zum Morphinisten gemacht!" Er hatte nicht widerstehen können. Die Zeiten, da er mit einer etwas grausamen Neugierde Martins Exzesse beobachtet hatte, waren dahin. DieFremdheit, in die ihm Martin entglitt, wenn die Droge sein Gesicht und seinen Bliek veranderte, hatte anfangs für Kikjou einen Reiz bedeutet. SchlieBlich wurde es unertraglich. Zwei Menschen, von denen der eine intoxikiert ist, der andere nicht, können auf die Dauer nicht zusammen sein. Sie leben in verschiedenen Weiten: Kikjou begriff dies bald. Eines Nachts verlangte er danach, la chose infernale zu kosten. Wie geschwind gewöhnte man sich! Er konsumierte sie in kleineren Dosen als Martin, auch noch nicht mit der gleichen Regelmafiigkeit. Aber er spürte doch schon, wie er verfiel. Er beichtete, sowohl dem Onkel in Belgien als auch dem Priester. Aber er konnte nicht aufhören. Der Teufel hatte ihn fest in den Krallen. Der Teufel vermag mannigfache Gestalt anzunehmen. In einem winzigen Paketchen aus festem roten Papier findet er Platz . . . Die Beiden magerten ab. Ihre Gesichtsfarbe wurde grau, die Haltung schlaff, der Appetit lieB nach, auch die sexuelle Potenz. Es gab Zei ten, da Kikjou beinah gar nichts mehr bei sich behalten konnte; er übergab sich fast nach jeder Mahlzeit. Oft blieb er den ganzen Tag im Bett liegen, wahrend Martin wenigstens abends sich für einige Stunden erhob. Er ging zur Schwalbe und plauderte mit David Deutsch oder den anderen Freunden. Nach einer gewissen Weile freilich begann er zu gahnen, apathisch, schlapp und melancholisch zu werden. Dann zog er sich auf die Toilette zurück — um nach einer Viertelstunde frisch und munter wieder zu erscheinen. Mit neuen Kraften mischte er sich ins Gesprach, das er bald beherrschte. Er war amüsanter denn je; auf seine kokett gedehnte, zugleich pedantische und brillante Art formulierte er Apergus über Politik, Menschen oder Literatur. Alle Blicke hingen an seinem schonen, tragen und bleichen Gesicht. Seine grau-grün verschleierten Augen, in denen die Pupillen hart und winzig klein waren, hatten eine neue Macht, eine geheimnisvoll starke Beredsamkeit bekommen. David liebte und bewunderte ihn. Er war seinerseits tief versponnen in seine soziologisch-philosophischen Arbeiten; Martin war fast der einzige Mensch, für den er noch ein echt lebendiges Interesse fühlte. Mit keinem war das Gesprach so anregend — fand David —, wie mit diesem jungen Poeten, der fast nichts schrieb und sich seibst mahlich zu Grunde richtete. David arbeitete an einem Institut für soziale Forschung und war Mitherausgeber einer wissenschaftlichen Monatsrevue. „Wie gut könnten wir dich dort brauchen!" sagte er Martin oft. „Dir fallt mehr ein als den meisten Professoren." — ,,Ich kann nicht." Martin hob nur müde die Schulter. „Du muBt mir ein biBchen Geld leihen, David. Pépé will nicht langer warten. Morgen oder übermorgen bekommst du es ganz bestimmt wieder." Pépé war die groBe, herrschende Figur in Martins Leben geworden. Der Handier hatte inzwischen haufig sein Stammlokal wechseln müssen. Auch verhaftet war er einmal gewesen. In dieser Zeit hatte sein Cousin „das Geschaft" geführt. Aber mit dem war nicht auszukommen; statt Morphine zu nehmen, trank er Schnaps — was viel unbekömmlicher war und ihn jahzornig machte. Pépé hingegen war ein Gentleman; in seiner Art fast ein Weiser. Übrigens hatte er für Martin und Kikjou die zartlichste Sympathie; er nannte sie „meine Lieblingskinder" und raumte ihnen langere Kredite ein als den übrigen Kunden. Trotzdem gab es standig finanzielle Schwierigkeiten — nicht nur mit Pépé, sondern auch mit der Patronne des Hotels. Alte Korellas schickten immer weniger und immer unregelmafiiger: die komplizierten und strengen Devisen-Bestimmungen waren schuld, wie sie behaupteten. Martin glaubte es nicht; er sagte, es fehle an gutem Willen: „sie lassen ihren kranken Sohn glatt verhungern." Kikjou seinerseits war mit dem Papa, der seinen Lebenswandel permanent miBbilligte, immer noch nicht versöhnt. Die Verwandten in Lausanne lieBen ihn zappeln, wenn sie irgend Lust dazu hatten. Der belgische Oheim kam einzig und allein als Spender geistlichen Trostes in Frage. Oft waren die beiden Knaben in der rue Jacob ganz verzweifelt. Wenn David Deutsch und der hilfsbereite Marcel nicht gewesen waren, hatte man sie langst aus dem Hotel gewiesen. Martin versuchte zu arbeiten. Der groBe Roman, von dem er sich so viel versprochen hatte, kam nicht zu Stande. Hingegen plante er nun eine kleine Serie von Prosa-Stücken, teils hymnischer teils analytischer Art—: Tagebuchseiten, Bekenntnis, politische Aphorismen, philosophische Lyrik. Als Motto hatte er eine Stelle von André Gide gewahlt: ,,I1 y a dans tout aveu profond plus d'éloquence et d'enseignement qu'on peut croire tout d'abord." Veröffentlicht hatte er in all der Zeit nichts, auBer eine kritische Studie über den „verruchten Lieblingsdichter", den deutschen Lyriker, Arzt und Denker, der, in einer Mischung aus irrationaler Berauschtheit, Hysterie und Opportunismus, ein Mitlaufer des NaziRegimes geworden war. Martins Artikel, dem die intime Kenntnis des Gegenstandes, LiebeshaB, Gram und Enttauschung eine gewisse intellektuelle Beschwingtheit, einen zornig-zartlichen Impetus verliehen, war in einer der neu gegründeten literarischen Monatshefte erschienen und hatte in Kennerkreisen Aufsehen gemacht. Nun erst recht sagte man allgemein, wenn man von Martin sprach: ,,Es ist schade um den Jungen." Im Februar 1936 waren die Beiden gerade in einem besonderes deplorablen Zustand. Sie beschlossen, für einige Wochen nach Südfrankreich zu fahren; Kikjou hatte eine gröBere Überweisung aus Lausanne erhalten. Pépé lieferte ihnen den Heroin-Vorrat, mit dem sie auskommen wollten. Denn ein Zweck der Reise war, mit den Dosen „herunter zu gehen". Der kleine Ort Villefranche liegt in der Nahe von Nice. Sie wohnten in einem Hotel am Hafen. Ihr 19 F Zimmer hatte hellblau getünchte Wande und den hübschen Bliek auf die Bucht. Die Tage waren sehr milde, Himmel und Wasser schimmerten, vor dem blauen Hintergrund lieBen Boote das starke Braun ihrer Segel leuchten. Martin und Kikjou waren ein paar Tage lang glücklich. Sie liebten den Ort mit seinen engen und stillen Gassen, die steil zum Berg hinauf stiegen und deren Schlafrigkeit sich festlich belebte, wenn ein amerikanisches Schiff anlegte. Dann füllten sich die Pfade, die Bars und die Platze mit den Matrosen; sonst gab es aber hier nur bleiche Kinder, die schwermütig in der Nase bohrten, und fahle Katzen, die lautlos durch die gehauften Abfalle huschten. — Martin und Kikjou liebten einander. Sie versprachen, daB sie sich niemals verlassen wollten. Sie waren nicht „heruntergegangen" mit den Dosen, sondern konsumierten reichlicher denn je. Nach acht Tagen war ihr Vorrat zu Ende. Sie telegraphierten an Pépé; er antwortete nicht. Sie versuchten ihn telephonisch zu erreichen; umsonst. Vielleicht war er wieder einmal verhaftet worden. Sie liefen zum Apotheker in Villefranche und bettelten um einige Ampullen Morphine. Der Apotheker wurde grob, schrie sie an, mit solchem Gesindel wolle er nichts zu tun haben, und schmiB sie aus seinem Laden. In Nice fanden sie einen, der höflicher war; er verkaufte ihnen aber nur eine kleine Dosis Eucodal und ein paar Pantopon-Tabletten. Das stillte nur den ersten, gierigsten Hunger. Nach ein paar Stunden fing der Jammer wieder an. Es war beinah nicht auszuhalten. Sie stürzten wie die Irrsinnigen durch das Zimmer; schrien sich Beleidigungen zu. Beide aufs auBerste gereizt, beide furchtbar erbittert; den halben Tag verbrachten sie in einer Wanne voll heiBem Wasser, weil es dort noch am ertraglichsten war. Im warmen NaB hilflos aneinander geschmiegt, schluchzten sie lange. Wie wir leiden! Armer Kikjou! Armster Martin! Wie wir leiden müssen! — Abends setzte sich Martin in den Zug nach Marseille. Am nachsten Vormittag kam er mit neuem Vorrat zurück. Sie labten sich Beide; Kikjou zog das Zeug durch die Nase hoch — er hatte eine nervöse Angst vor dem Einstich der Spritze —, wahrend Martin sich die Injektion „intravenös" — nicht „subkutan" — in den Arm applizierte. Dazu bedurfte man eines gewissen Talentes und langer Übung. Der Arm wurde abgebunden, wie zu einer Operation. Das Instrument, dessen Nadel in der Ader steckte, füllte sich mit schaumend-trüber, roter Flüssigkeit: es war Blut, Martins Blut — Kikjou beobachtete den Vorgang mit Ekel und Interesse. Die Wirkung war, dank der intravenösen Injektion, wesentlich starker und schockhafter. Martin, übermüdet von der nachtlichen Reise, betaubt von der Droge, verfiel in sehr schweren Schlaf. Auch Kikjou, der mehr als gewöhnlich durch die Nase hochgezogen hatte, schlief ein. Als er Stunden spater erwachte, fand er den Freund neben sich, weifi im Gesicht und ganz leblos. Er hielt ihn für tot und schrie leise auf. Kurz entschlossen schrieb er einen Zettel — ,,Ohne dich kann ich nicht leben! Niemals!" —, und schluckte neun VeronalTabletten, um möglichst schnell seinerseits zu sterben. Pathetische MiBverstandnisse, wie im letzten Akt von Romeo und Julia — dem armen Kikjou hatten sie leicht das Leben kosten können. Er wurde gerettet; ein Arzt kam herbei, es war vier Uhr morgens, der Doktor schimpfte, aber er pumpte Kikjou den Magen aus. Nun hatte Kikjou genug. Er hatte dem Tod ins Auge geblickt, um Martins willen, seine Geduld war am Ende, er rief aus: „Alles was wir tun, ist Greul und Schande. Ich verlasse dich, Martin. Morgen beginne ich eine Entziehungskur, die ich durchzuführen gedenke. Dich schaue ich nicht mehr an, ehe auch du völlig los bist von der chose infernale. Dies ist Teufelsdreck!" Er schleuderte ein Paketchen mit dem kostbaren Heroin aus dem Fenster. Martin raste, teils wegen der vergeudeten Droge, teils weil der Geliebte ihn verlassen wollte. „Das kannst du nicht tun!" heulte er auf; unklar blieb, worauf es sich bezog. Sie standen sich vor der hellblau getünchten Wand gegenüber, zwei kampfbereite Jünglinge, beide zitternd, beide mit weiBen Lippen. „Ich kann es!" schrie Kikjou. „Denn ich will leben. Gott hat mich nicht dazu geschaffen, daB ich mich zu Grunde richte. Was wir treiben, das ist die Sünde wider den Heiligen Geist." „Unsinn!" Martin war aufs auBerste erregt und zornig. „Gesteh doch gleich, daB du mich nicht mehr liebst! Habe doch den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen! Ich aber liebe dich noch." Es klang schrecklich, wie eine Kampfansage. „Und ich lasse dich nicht. Du kannst mich nicht toten." Kikjou, etwas leiser: „Ehe ich mich von dir töten lasse . . ." Dann scheuchte er Martin, der sich ihm nahern wollte, von sich, wie man einen bösen Geist verscheucht. Beide fühlten: diesmal war es ernst. Sie hatten sich mancherlei dramatischen SpaB und viel hysterisches Amüsement gegönnt. Diesmal ging es ums Ganze. Die Pantomime ihres bitteren Abschiedes hatte sich vom Hintergrund der hellblauen Wand gelost. Nun wurde sie vor dem geöffneten Fenster zu Ende gespielt; dahinter leuchtete das Meer mit den braunen Segeln. — Keine Umarmung mehr; kein GruB mehr; stummes, blindes Auseinandergehen. Martin kehrte alleine nach Paris zurück. ZWEITES KAPITEL Marion setzte sich durch. Es war nicht leicht gewesen; mit dem Erfolg ihres ersten Pariser Abends war keineswegs schon etwas Wesentliches erreicht. Applaus von ein paar hundert Freunden oder Gesinnungsgenossen — das bedeutet nicht viel. Eine literarische Rezitatorin findet auf die Dauer kein Publikum; dies bekam Marion immer wieder zu hören. Die Leute gehen ins Kino; kaum sind sie in ein Theater zu bringen; ganz gewiB nicht in einen Saai, wo eine Schauspielerin ohne Engagement Verse von Goethe oder Hölderlin spricht. ,,Und überhaupt: welches Wirkungsgebiet kommt für Sie in Frage, da Sie in Deutschland selber nicht auftreten dürfen ? Die paar tausend Emigranten werden Ihre Sale nicht füllen ..." — „Es gibt Lander, wo man mich verstehen wird," sagte Marion zuversichtlich. „Es gibt die Schweiz, Holland, Osterreich, Skandinavien, die Tschechoslowakei ..." Sie lieB sich nicht einschüchtern oder mutlos machen. Zunachst veranstaltete sie noch einige Abende in Paris, trat auch in politischen Versammlungen auf. Dann wurde in StraBburg ein literarisches Kabarett eröffnet, dessen Attraktion sie zwei Monate lang war. Von dort aus fuhr sie nach Zürich, wo sie im Rahmen einer politisch-satirischen Revue vier Gedichte rezitierte, zwei klassische und zwei moderne. Sie war beim Publikum bald so beliebt, daB drei eigene Abende, die sie selbst riskierte, starken Zulauf hatten. Daraufhin bewarben sich um sie die Bühnen verschiedener Schweizer Stadte. Auch aus Osterreich und der Tschechoslowakei kamen Angebote. Sie lehnte ab. Es lockte sie nicht mehr, schien ihr kaum noch lohnend, Ehebruchskomödien oder die Maria Stuart zu spielen. Das Repertoir d.er Stadttheater oder privaten Bühnen interessierte sie nicht; es hatte zu wenig Zusammenhang mit den Dingen, die ihr Herz und ihren Geist beschaftigten. Ihr Ehrgeiz war in anderer Richtung fixiert. Sie wollte politisch wirken. Sie glaubte eine Sendung zu haben, und mit stolzem Glück spürte sie: Ich bin ihr gewachsen. Am meisten war ihr an den eigenen Abenden gelegen, deren Programm sie allein bestimmte. Mit einem Kabarett oder einem Revuetheater schloB sie nur dann ab, wenn man ihr die Auswahl der Gedichte, die sie bringen wollte, ohne Vorbehalt überlieB. Viele der Direktoren machten anfangs Einwande. Bald aber steilte sich heraus, daB sie „zog"; daB um ihretwillen die Leute kamen und das Haus immer voll war, wenn Marion von Kammer angekündigt wurde. Man raumte ihr also die Freiheiten ein, auf denen sie bestand. Sie gab Abende in Zürich, Basel, Bern, St. Gallen, Luzern, Olten und anderen Orten der Schweiz. Ihre starksten Erfolge hatte sie in der Tschechoslowakei. In Prag, Brünn und PreBburg, Karlsbad und Marienbad wurde sie vom Publikum und von der Presse gefeiert. „Die antifascistische Jungfrau von Orléans am Vortragspult!" schrieb ein Prager Literat über sie. Zunachst meinte er es wohl ironisch; aber Marions Bewunderer griffen die Wendung auf, und schlieBlich benutzte sie sogar ihr Manager in seinen Annoncen. — lm Sommer 1935 arbeitete sie in den Böhmischen Badeorten; dann wieder in der Schweiz, in Davos, Arosa, St. Moritz. Zum SchluB der Sommersaison steilte sie sich noch dem internationalen Publikum der Salzburger Festspiele vor. Für die Herbst-Monate hatte der Agent ihr eine groBe Tournée in Holland eingerichtet. Daran schlossen sich Engagements in Belgien und Luxembourg; dann wieder in der Schweiz und der Tschechoslowakei. Es war ein anstrengender Winter. In Wien durfte sie nicht auftreten, weil die österreichische Regierung auf die Empfindlichkeit des Dritten Reiches Rücksicht nahm. In Zürich machten fascistische Studenten Skandal, als sie das Gedicht eines Autors sprach, der in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden war. Die Polizei warf die Ruhestörer — von denen sich spater herausstellte, da/3 sie Geld vom Deutschen Konsulat bekommen hatten — aus dem Saai. Seit diesem Zwischenfall hatte Marion Schwierigkeiten, die Arbeitserlaubnis in der Schweiz zu bekommen; von einigen besonders vorsichtigen Kantonen wurde sie ihr verweigert. Nicht nur in der Schweiz, auch in der Tschechoslowakei und in Holland interessierten sich nun die Behörden für die Auswahl der Verse, die sie sprechen wollte. Überall vermied man gerne Schwierigkeiten mit den reizbaren deutschen Gesandtschaften oder Konsulaten. Marion kampfte wie eine Löwin um jede Zeile ihres Programms. Manches muBte sie opfern. Was stehen blieb, war immer noch genug, um den Nazi-Spionen, die von ihren Vorgesetzten in den Saai geschickt worden waren, den kalten SchweiB auf die Stirnen zu treiben. Deutsche Dichter im Exil schrieben Verse, eigens für die Vortragskünstlerin Marion von Kammer. Oft waren es nur gereimte Leitartikel, politische Manifeste in „freien Rhythmen", denen Marion durch ihre Stimme, durch das Pathos ihrer Haltung und ihres Blickes erst die Würde und das Gewicht verlieh. Aber inniger war sie bei der Sache, wenn sie Gedicht oder Prosa der Klassiker sprach. Am popularsten war der Heinrich Heine-Abend. Alle im Saai erschauerten, wenn die Zürnende rief: „Nicht gedacht soll seiner werden . . . Ausgelöscht sein aus der Menschen Angedenken hier auf Erden, Ist die Blume der Verwünschung — Nicht gedacht soll seiner werden! Herz, mein Herz, ström aus die Fluten Deiner Klagen und Beschwerden, Doch von ihm sei nie die Rede — Nicht gedacht soll seiner werden! Nicht gedacht soll seiner werden, Nicht im Liede, nicht im Buche — Dunkier Hund im dunklen Grabe, Du verfaulst mit meinem Fluche! Selbst am Auferstehungstage, Wenn, geweckt von den Fanfaren Der Posaunen, schlotternd wallen Zum Gericht die Totenscharen Und alldort der Engel abliest Vor den göttlichen Behörden Alle Namen der Geladenen — Nicht gedacht soll seiner werden." Jeder begriff, wen diese fürchterliche und schone Stimme, die jetzt wie eine groBe Glocke drohend lautete, meinte und verdammte. Marions Gesicht war sehr starr, wenn sie diese schauerliche Formel des Fluches sprach. Aber unter der lockeren Purpurfülle des Haars brannten grausam die schrag gestellten Katzenaugen. Ihre Stimme wurde berühmt in Europa. Junge Schauspielerinnen begannen, ihre stürmischen und zartlichen, zormgen und schmelzenden, aufrührerischen und süflen Akzente zu kopieren. Sie wurde viel bewundert und viel geliebt. Ihr Bliek erschreckte, aber es verführte ihr groBer, leuchtender Mund, und Lyriker oder hysterische junge Madchen schrieben Hymnen auf ihre mageren, nervösen und kraftvollen Hande. — Sie wurde sehr geliebt, und bitterlich gehaBt. Die Zeitungen im Reich brachten Schmahartikel gegen sie. In den Witzblattern von Berlin und München erschien ihre Karikatur: das kurze Gesicht unter dem wilden Haar, die gespreizten Hande, die mageren Glieder im eng anliegenden schwarzen Kleid. Hatte man Angst vor ihr und vor ihrer Stimme, daB man sich so viel und zornig mit ihr beschaftigte ? Die Nazi-Regierung entzog ihr die deutsche Staatsbürgerschaft: sie ward ,,ausgebürgert" — was wiederum nur eine Reklame für sie bedeutete. Schon ehe ihre Feinde sie mit dieser hilflosen und etwas komischen Geste zu züchtigen und erniedrigen meinten, hatte sie ihrerseits öffentlich erklart, daB sie ihren deutschen PaB nicht mehr benutzen wolle. Sie reiste mit einem provisorischen tschechischen Papier, einem „FremdenpaB", den man ihr in Prag zur Verfügung gestellt hatte. Ihre Populariteit in den Kreisen, auf die sie wirken wollte, steigerte sich noch dank den Beleidigungen, mit denen die Herren aus Berlin sie verfolgten. Niemals war Marion so gefeiert worden wie in den ersten Wochen nach der „Ausbürgerung". Damals kam sie gerade in die Tschechoslowakei zurück. Es war im Januar des Jahres 1936. Immer zahlreicher, immer inniger wurden die dankbaren, enthusiastischen Briefe. Haufig kamen sie von Deutschen — Feinden des Nazi-Regimes, die es aber im Reiche aushalten muBten und nur für kurzen Aufenthalt im Ausland waren. ,,Wir hatten angefangen, unsere Heimat zu hassen," schrieben sie. „Das Deutschland, in dem wir leben müssen, ist hassenswert. Sie haben uns wieder an ein anderes erinnert, haben ein besseres Deutschland für uns lebendig werden lassen. Das vergessen wir Ihnen nie." Marion beantwortete viele Briefe; vermied es aber, halb aus Scham, halb aus Tragheit, mit ihren Bewunderern persönlich in Berührung zu kommen. Manche waren von bemerkenswerter Insistenz. Als sie einen Monat lang in einem Prager Kabarett auftrat, gab es eine Dame, die ihr jeden Abend Blumen schickte: dreiBig kleine rote RosenstrauBe. Als das Engagement zu Ende ging, am 31. Januar endlich, schickte Marion dieser zahen Verehrerin einen Zettel ins Parkett: es würde ihr eine Freude sein, sich persönlich für die vielen schonen Blumen bei ihr zu bedanken. Drei Minuten spater war die Dame da und sah düster aus. Sie trug ein streng geschnittenes dunkles Kostüm und das glatte schwarze Haar sehr kurz geschoren. „Ich heiBe Emma von Barlow," sprach sie und verneigte sich knapp. „Von Beruf bin ich Bildhauerin. Ich möchte Sie modellieren, Marion von Kammer." Ihre Stimme tönte sonor und tief; auf der Oberlippe lag ein starker Flaum von brünettem Schnurrbart. „Ich möchte Sie modellieren," fuhr sie fort, ohne auf Marions Antwort zu warten, „ehe ich Europa verlasse. Denn hier bleibe ich nicht!" versicherte sie, fast zornig, als hatte jemand sie zurückhalten wollen. „Was soll ich noch in Europa ? Niemand interessiert sich mehr für Skulpturen. Europa ist fertig, aus, zu Ende — das weiB ich schon lang. Ich gehe nach Ekuador." Dies erklarte sie nicht ohne einen düsteren Triumph, und sie fügte leiser hinzu: „— Ganz allein." Geld habe sie gerade genug für die Reise und um ein paar Monate drüben auszuhalten, erklarte sie noch. „Dann wird man weitersehen." Das Leben in jener Gegend sei billig — hatte man ihr berichtet. „Ein reiches Land; keine Staatsschulden." Sie sprach fast drohend vor Sachlichkeit. „Ölschatze!" rief sie, als ob dies alles für sie bedeutete. „Und ein schoner Menschenschlag — was mich übrigens kaum noch zu interessieren braucht; denn ich wechsle meinen Beruf. Sie, Marion von Kammer, sollen mein letztes Modell sein! Vielieicht werde ich nun Pianistin in einer Jazz-Kapelle. Ich spiele recht gut Klavier." Als Marion endlich zu Worte kommen durfte, suchte sie der Besucherin plausibel zu machen, daB es ihr leider nicht möglich sei, sie im Atelier aufzusuchen. „Ichhabemorgeneinen Abend in Bratislawa; übermorgen einen in Brünn. Wenn man nur etwas mehr Zeit hatte . . Es tat ihr wirklich leid, Emma von Barlow enttauschen zu müssen. Die stand einen Augenblick sprachlos; blieb indessen gefaBt. ,,Es macht nichts." Die Stimme klang etwas heiser. „Es macht wirklich gar nichts. Denn ich kenne Sie ja. Ich habe Sie lange genug beobachtet, um Ihr Portrait aus dem Kopf zu schaffen. Ich weiB jede Linie an Ihrem Körper." Dabei funkelte es in ihren Augen, die dunkel waren und sehr nah beieinander lagen, unter einer trotzig vorspringenden, niedrigen Stirn. Marion, etwas beunruhigt, zog sich einen Schritt von ihr zurück. "Jetzt muB ich wirklich gehen," sagte sie. „Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Reise." Wahrend sie dies vorbrachte, schnürte ihr plötzlich ein groBes Mitleid die Kehle zu. Sie meinte, schluchzen zu müssen. Sie sah diese Frau — diese einsame Frau, die vielieicht eine echte Künstlerin war — auf dem Deck eines kleinen Schiffes, das sie Wochen lang über den Ozean trug. SchlieBlich würde es sie absetzen in einem Lande, wo sie niemanden kannte. Wen hatte sie in Deutschland zurückgelassen ? Eine alte Mutter ? Einen Mann ? Eine Freundin? — Eine Freundin, taxierte Marion. Und ■warum muBte diese Dame, Emma von Barlow, in die Einsamkeit und in die Fremde ? Warum hatte sie es in der Heimat nicht aushalten können ? Durch was wurde sie so empört und so abgestoBen ? „Danke!" sagte sie nun, und dies war der Abschied. Sie neigte sich über Marions Hand Kavalier vom pomadisierten Scheitel bis zu den dicken Gummisohlen ihrer breiten Halbschuhe. „Danke! Nun nehme ich doch eine gute Erinnerung an Europa mit, da ich Sie gehort — und gesehen habe, Marion von Kammer!" Dann war sie hinaus, eiligen, festen Ganges, und ohne sich noch einmal umgedreht zu haben. Ein anderes Madchen, das von Marion ausnahmsweise empfangen wurde, eine junge Kommunistin, kam direkt aus einem deutschen Gefangnis. Dort hatte sie sich zwei Jahre lang aufhalten müssen. Zwei Jahre! —: welch eine Zeit! Und wie überstand man dergleichen ? Diese hatte es in guter Form überstanden. In der Tat, sie schien beinah munter. Ihr Gesicht, das Marion mit Angst und Neugier prüfte, war nicht entstellt; nicht einmal besonders mager sah es aus. Das Madchen war sogar etwas verachtlich, weil Marion sich bestürzt zeigte. „Zwei Jahre ? Was ist denn das ?" Sie zuckte die Achseln. „Ich hatte noch Glück, daB ich nicht ins Lager gekommen bin." Das Geld, das Marion ihr schenkte, nahm sie wie etwas Selbstverstandliches hin. Sie war nicht sehr liebenswürdig, wirkte aber vertrauenerweckend. „Sie tun gute Arbeit," lobte sie Marion, ohne Enthusiasmus, fast erstaunt, wie eine Lehrerm, die schwer zufrieden zu stellen ist und nun sagt: Die Leistung ist besser, als ich sie von dir erwartet hatte, mein Kind. „Gerade daB Sie den Leuten so klassisch kommen, ist geschickt. Damit fangen Sie das bürgerüche Publikum." Sie tat, als ware es nur natürlich und angebracht, daB Marion nach kalten Berechnungen und politischem Kalkül ihr Programm zusammenstellte. „Gegen Goethe und Schiller laBt sich kaum etwas einwenden," sagte sie noch. „Man muB eben jetzt mit solchen Tricks arbeiten." Marion argerte sich; übrigens war ihr das Madchen nicht unsympathisch. Sie hatte ein intelligentes, offenes Gesicht; sie wuBte, wofür sie kampfte; meinte, unbedingt im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, und ware, wenn es sein muBte, bereit gewesen, für diese Wahrheit zu sterben, ohne von ihrem Martyrium viel Aufhebens zu machen. — Es wechselte um Marion die Szenerie der Stadte; es wechselten die Menschen, die ihr Briefe schrieben oder an den Theaterausgangen auf sie warteten: „Wir müssen Ihnen die Hand drücken, Fraulein von Kammer, es ist wieder gar zu schön gewesen!" Aber die Schlafwagen waren immer die gleichen, auch die Hotelzimmer blieben sich überall ahnlich — oft wuBte Marion nicht, wenn sie am Morgen aufwachte, ob sie in Rotterdam oder in Basel, in Antwerpen oder Graz geschlafen hatte —, und schlieBlich waren auch die Menschen, die sich überall zu ihr drangten, nicht so sehr voneinander verschieden. Viele kamen traurig und hoffnungslos; andere hatten Plane, Vorschlage, ein politisches Programm. Einer erwartete sich alles Heil von Paneuropa; der Nachste war anspruchsvoller und wollte den Weltstaat gründen: eine ganze Nacht lang erklarte er Marion, wie der Weltstaat auszusehen habe. Er war früher Professor an einer deutschen Universitat gewesen —: ein gescheiter Mann. Marion hörte ihm achtungsvoll zu. Er hatte die Insistenz des Fanatikers. „Der Weltstaat!" rief er immer wieder, und seine Faust, die auf den Tisch schlug, zitterte. „Nur er kann uns retten, und sonst nichts. Der ganze Begriff der Nation ist ein Schwindel — gar nichts dran, lauter Trick und Lüge. So lange die Menschen dahinter nicht gekommen sind, ist für sie nichts zu hoffen . . ." In Salzburg war es ein bayrisch-österreichischer Graf, der Marion Stunden lang unterhielt. Er sah ziemlich leichtfertig aus, mit schwarzem Schnurrbart in einem fetten, lustigen Gesicht. „Meine Freunde nennen mich Count Bubi," erklarte er gleich, mit kokettem Lachen, und bat darum, auch Marion möge ihn so anreden. Er war Katholik, Royalist, haBte die Nazis, und wollte eine neue Partei gegen sie gründen, eine „Partei der Jugend", Marion sollte zu den Führern gehören. „Dann machen wir eine kleine Revolution!" rief er animiert, mit seiner naselnden süddeutschen Aristokraten-Stimme. „Eine kleine antipreuBische Revolution in Bayern — das ist gar nicht so schwer! Ich brauche nur etwas Geld dazu, mit einer halben Million Pfund ist es zu schaffen, wir müssen handeln, Verehrteste, eine halbe Million Pfund müBte schlieBlich aufzutreiben sein, wir gründen einen katholischsozialistischen Staat, der Vatikan gibt uns seinen Segen, es kann eigentlich gar nicht schiefgehen ..." Count Bubi war nicht beleidigt, daB Marion lachte. „Natürlich lachen Sie!" bemerkte er ohne Bitterkeit. „Alle lachen zunachst. Sie werden es aber erleben: ich komme zum Ziel." Merkwürdigerweise hielt sie dies wirklich nicht für ausgeschlossen. Der Graf mit seinem schlauen Kindergesicht schien besessen von Energien, die unter Umstanden kostbar und selbst entscheidend sein mochten. Marion plauderte lang mit ihm. Die Idee, dafl „eine kleine Revolution in Bayern" das Gesicht Europas verandern könnte, amüsierte sie und wirkte ermutigend. Sie brauchte Ermutigung. Denn wahrend sie vor ihrem Publikum oder im Verkehr mit Menschen stets zuversichtlich und beinah munter schien, kannte sie in Wahrheit die Stunden der Anfechtung, der verzweifelten Müdigkeit. Oft kam es ihr sinnlos vor, durch die Lander zu reisen — eine pathetische Missionarin — und schone Verse zu deklamieren. Was soll es ? — fragte sie sich, so oft die Stunde der Anfechtung kam. Wenn sie abends mit ihren Handkoffern und Blumenstrauflen zum Zug fahren muBte, fühlte sie sich manchmal derart matt und zerbrochen, daB sie erwog, den Rest der Tournee telegraphisch abzusagen und einfach zu bleiben, wo sie gerade war; in irgendeinem Hotelbett liegen zu bleiben, keine Zeitung mehr anzuschauen, keinen Telephonanruf mehr zu beantworten, die Augen geschlossen zu halten, zu schlafen . . . Die D-Zug-Nachte konnten auf die Dauer kaum bekömmlich sein. Marion traumte zu viel, und fast immer waren es arge Traume. Früher hatte es so schlimme nicht gegeben. Damals hatte sie nur getraumt, daB sie wieder auf der Schulbank sitzen müsse und eine gar zu schwere Prüfung zu bestehen habe; oder sie stand auf der Bühne, ohne ein Wort Text zu wissen; oder sie muBte nackt über den Potsdamer Platz. Jetzt traumte sie einfach, daB sie sich in Deutschland befinde, und es war tausend Mal beangstigender. Sie schlenderte über eine Berliner StraBe; zunachst fiel ihr nichts daran auf. Allmahlich kamen Bedenken: Warum bin ich eigentlich so lang nicht hier gewesen ? Das muB doch einen Grund gehabt haben . . . Mit dieser Frage setzte die dumpfe, qualende Beunruhigung ein; der eigentliche Alptraum begann. „Ich habe wohl Feinde hier, sehr grausame Feinde, wahrscheinlich verfolgen sie mich — ich muB ein recht sicheres, unauffalliges Wesen zur Schau tragen und langsam gehen, dann bleibe ich vielleicht unbemerkt. Warum schauen mir denn die Leute so nach ? Mein Gott, ich habe ja eine von diesen Emigranten-Zeitungen in meiner Tasche, die sind hier doch verboten, es gilt als ein Verbrecher, sie mit sich zu führen — ich kann die Zeitung nicht mehr ver- stecken, alle haben sie schon bemerkt. Jetzt muB ich aber machen, daB ich davonkomme — wohin fliehe ich nur ? Da steht ein S.A.-Mann, und dort noch einer — ich bin umzingelt. . . Man weist mit Fingern auf mich . . Keuchend und in SchweiB gebadet wachte sie auf. Kikjou ist fort. In Martins Zimmer mit den schonen, groBen Fenstern ist es stille geworden. Keine Wutausbrüche mehr, keine Versöhnungs-Szenen mit endlosen Tranen und Schwüren. Kikjou hat versprochen zurück zu kommen — wenn Martin frei sein wird von der Droge. Sich befreien von der Droge — Martin verspricht esjeden T ag sich selbst und den drangenden Freunden: Es muB sein! David Deutsch, liebevoll und besorgt, hat einen ganzen Kriegsplan ausgearbeitet. Martin soll zur Entziehungskur nach Zürich fahren; dort kennt David einen guten Schweizer Arzt, mit dem er schon seit langem befreundet ist und zu dem er unbedingtes Vertrauen hat. Der ist bereit, die Kur in einem kleinen Privat-Sanatorium vorzunehmen. Es soll relativ wenig kosten. Wann wird Martin reisen ? Die Tage vergehen, es vergehen die Wochen — er bemerkt es fast nicht. Der Heroin-Konsum steigert sich: ein Gramm, anderthalb Gramm, fast zwei Gramm pro Tag . . . Die Zeit hat keine Realitat, wenn man sie nur noch mit Traumen füllt. Zuweilen erschrickt Martin, tief im Herzen, wenn er konstatieren muB, bis zu welchem Grade er sich von der Wirklichkeit schon entfernt hat. ,Ich bin der Welt abhanden gekommen,' denkt er entsetzt. ,Fehle ich ihr ? Sie kommt ohne mich aus . . . Das Entscheidende aber für mich ist, daB sie mir kaum fehlt und daB ich sehr leicht ohne sie auszukommen weiB Bei der Schwalbe kann es ihm geschehen, daB er mitten in einer politischen Diskussion — an der er übrigens mit Intelligenz und Lebhaftigkeit teilnimmt — mit einem Schauder, in dem Hochmut und Grauen sich mischen, empfindet: Wovon sprechen die guten Leute ? Warum regen sie sich so auf ? Illegale Arbeit in Deutschland . . . Interne Schwierigkeiten der Spanischen Republik . . . Italiens Raubzug gegen Abessinien: Was ist dies alles? Wie berührt es uns ? — Warum schreien sie so ? — Der wackere Theo Hummler schwitzt ja schon wieder vor Enthusiasmus, und nun schlagt er mit der Faust auf den Tisch, das ist komisch. . . . Ich will zurück in mein Zimmer. Dort ist es friedlich. Ich will heim zu meiner süBen Sache . . Aber dann nimmt Martin sich mit einem Ruck zusammen und spricht seinerseits, mit Schwung, Witz und Temperament, über die englisch-italienische Spannung, über die Sanktionen gegen Mussolini, die hysterische Angst vorm „Bolschewismus" in London, und schlieBlich erzahlt er sogar einen neuen Witz über den Fliegergeneral Göring. . . . Daheim in seinem Zimmer ists friedlich. Oh, süBe Seligkeit der Stunden von ein Uhr nachts bis sechs Uhr morgens! Oh, Rausch der einsamen, der belebten Nacht! Ob man ein Buch aufschlagt — etwa das, in dem die Verse des verruchten Lieblingspoeten stehen —, ob man aus dem Fenster blickt, oder in einen Spiegel, oder einfach ins Leere: von überall her kommen die reizenden, verlockenden, verdachtigen Gestalten. Es müBte doch möglich sein — so meint der Benommene, zugleich Betaubte und fiebrig Angeregte —, ach, es sollte gelingen, wenigstens einen Teil der zartlichen und originellen, tiefen und überraschenden, wahrscheinlich ungeheuer wichtigen Einfalle, die jetzt wie eine Schar von wundersamen Vögeln durch mein Haupt ziehen, auf dem Papiere fest zu halten. Es sollte gelingen. Hier ist weiBes 20 Papier . . . Martin bedeckt es mit Zeichen. Seine Hand zittert. Er schreibt mit zitternder Hand. Und am nachsten Nachmittag, wenn er aus abgrundtiefem Schlaf erwacht, weiB er selber nichts mehr anzufangen mit den mystischen Chiffern, die er nachtens, oder zur frühen Morgenstunde, aufs Papier geworfen hat. Aber gahnend erinnert er sich, wie schön und köstlich es gewesen ist, als das sanfte Grau im groBen Fenster sich allmahlig rosig verfarbte. Weniger reizend als die verschwommenen Reminiszenzen sind die realen Andenken, die ihm an die nachtliche Verzauberung bleiben. In den Schenkeln und Armen tun die Einstich- Stellen weh; einige sind entzündet — es wird doch nicht wieder ein Furunkel geben ? Neulich hat Martin lange an einem garstigen AbszeB zu laborieren gehabt. Doch ertappt er sich dabei, daB er die schmerzenden Male liebkost, die er dem Gift zu verdanken hat. Sie sind wie die kleinen Wunden, die man von einer wilden Liebesnacht zurückbehalt. Hier hat ein Mund sich gierig festgesaugt, und dort sind noch die Spuren der Zahne. Auf Schultern, Armen und Brust brennen die Zeichen, wie die neuen Tatowierungen eines jungen Matrosen . . . Argerlicher findet Martin es schon, daB er wieder mehrere Löcher ins Leintuch, in die Kopfkissen und die Bettdecke gebrannt hat. Es sind ziemlich groBe Löcher, haBlich braun umrandet. ,Man soll eben nicht Zigaretten rauchen, wenn man nicht den Willen und die Kraft hat, sie festzuhalten. Sie schmecken ja ganz besonders gut, im selig benommenen Zustand. Aber man vergiBt sie; man laBt die Hand sinken, die sie eben noch zum Munde führen wollte; die Zigarette ist ein Teil der Hand geworden, ein elfter Finger. Man meint, mit dem Finger das Bett zu berühren, aber die Flamme liegt auf dem Kissen, sie friBt sich ein, hat ihr eigenes Leben — so ent- stehen im weiBen Zeug die groBen Löcher mit den braunen Randern. Jean, der gute Jean, wird schimpfen, wenn er es bemerkt. Und die Patronne wird einen saftigen Schadenersatz verlangen. Der Teufel soll die Zigaretten, die Leintücher, das Heroin und das Leben holen!' Wie fahl der Tag heute ist! Welche Zeit haben wir denn ? Mein Gott, schon beinah fünf Uhr nachmittags ... Er greift zur Spritze. Nach fünf Minuten hat der trübe Tag sich bis zu einem Grade verschönt, der es ertraglich scheinen laBt, ihn zu überleben. So geht es nicht weiter — sagten die Freunde. David Deutsch, der sich jeden Tag um Martin kümmerte, sagte es mit Instandigkeit. Zuweilen erschien auch Marcel; der wilde Vogelschrei, das jauchzendklagende: „Uhuu . . ." auf dem Korridor meldete ihn an. „Was du treibst, das sind gefahrliche Kindereien," schalt er, die vielfarbigen, wunderbaren Augen drohend aufgerissen. „Der SpaB geht zu weit — tu comprends, mon vieux ? So weit darf man sich nicht gehen lassen, es ist unwürdig. SchluB damit!" — Schlufi damit! riet und verlangte mit dem starksten Nachdruck Marion, als sie wieder einmal nach Paris kam. „In Zürich ist alles vorbereitet. Dieser brave Doktor Rüteli erwartet dich langst. Nimm dich zusammen! Fahre endlich hin!" Martin schaute die warnenden, beschwörenden, zornigen, manchmal sogar angewiderten Freunde schlafrig, zartlich und verhangen an — und er blieb. Eines Morgens aber kam ein Telegramm von Kikjou: „Wenn du nicht in dieser Woche nach Zürich zur Kur fahrst, sehen wir uns nie wieder." Da entschloB sich endlich der Vergiftete. Ubrigens waren auch die Geldschwierigkeiten inzwischen fast unleidlich geworden. Der kleine Wechsel, den der Pariser Geschaftsfreund des alten Korella immer noch monatlich ausbezahlte, langte knapp für die Hotelrechnung. Es gab Schulden bei der Schwalbe und, was schlimmer war, bei Pépé, der sich immer haufiger weigerte, die Droge auf Kredit zu liefern. — Marcel und David finanzierten gemeinsam die Reise nach Zürich. Doktor Rüteli, der von Paris aus benachrichtigt worden war, holte Martin vom Zuge ab. Er hatte ein groBes, rasiertes Gesicht, mit etwas hangenden Wangen und nachdenklichen braunen Augen. Stimme, Bliek und Antlitz wirkten weichlich; der Handedruck aber war überraschend fest und herzlich. „Ich denke, wir fahren gleich zum Haus Sonnenruh," sagte der Arzt. Martin hatte noch gar nicht gewuBt, daB der Ort, wo die Entziehungs-Kur durchgeführt werden sollte, einen so idyllischen Namen trug. Ubrigens kam er sich vor wie ein Schüler, der in einer fremden Stadt ankommt, wo er vom Leiter eines sehr strengen Internats — einer Art von Strafanstalt für Jugendliche — erwartet wird. Für den Anfang ist der Herr Lehrer freundlich, um es dem Jungen nicht gar zu schwer zu machen. ,,Wann haben Sie sich die letzte Injektion appliziert ?" erkundigte sich Doktor Rüteli im Taxi. „Vor einer Stunde etwa, im Zug." Martin erklarte es nicht ohne einen gewissen Trotz, als wollte er sagen: Damals war ich noch ein freier Mann und niemand hatte mir etwas drein zu reden! Doktor Rüteli nickte düster. „Man kann es Ihren Augen ansehen. — Übrigens hatte ich Sie schon vor vierzehn Tagen erwartet. Vor genau vierzehn Tagen hatte mir unser Freund, Doktor Deutsch, Ihren Besuch angekündigt." Es klangziemlichdrohend. Martin sagte schlafrig: „Ich war in Paris durch wichtige Arbeiten festgehalten." Doktor Rüteli machte höhnisch: „Aha." Martin argerte sich. Der Arzt merkte es; schien es gut machen zu wollen und bot Zigaretten an. Martin hatte wieder das Gefühl, ein Strafling zu sein, dem man aus Mitleid — oder vielleicht zum Spott — unbedeutende kleine Vergünstigungen gewahrt, ehe die eigentliche Bitterkeit des Strafvollzuges beginnt. Wahrend der Wagen in einer stillen, recht soigniert wirkenden StraBe hielt, sagte Doktor Rüteli noch, mit freundlich-ernster Nachdrücklichkeit: „Haus Sonnenruh ist keine geschlossene Anstalt, Herr Korella; sondern ein privates, fast wie ein Hotel geführtes Erholungsheim. Ich persönlich ziehe geschlossene Hauser für Entziehungskuren ganz entschieden vor. Ja, ich mufi gestehen, daB ich zunachst die starksten Bedenken hatte, dem Rate Ihres Freundes Deutsch zu folgen, der dahin ging, Ihnen jede irgendwie überflüssige Kontrolle, alle Peinlichkeiten eines vorübergehenden Freiheitsentzuges zu ersparen. — Nun ist es freilich höchst fragwürdig," fuhr der Doktor pedantisch fort — der Chauffeur hatte schon den Motor abgestellt; aber Rüteli schien entschlossen, seinen kleinen Vortrag im Wagen sitzend zu beenden —, „bis zuki welchem Grade der Freiheitsentzug bei einer Kur, wie sie Ihnen bevorsteht, als entbehrlich zu bezeichnen ist. — Jedenfalls, von einer regularen Entziehung kann unter diesen Umstanden natürlich gar nicht die Rede sein," erklarte er, plötzlich fast zornig. Dann fügte er sanfter hinzu: „Der Erfolg des Experimentes hangt durchaus von Ihrem eigenen guten Willen ab, lieber Herr Korella!" Er versuchte, seinem Gesicht einen ermunternden Ausdruck zu geben. Martin bezahlte das Taxi, wahrend Doktor Rüteli zerstreut in die Luft blickte. An der Haustüre erwartete eine hübsche junge Person in Pflegerinnen-Tracht den neuen Patienten. Der Arzt steilte vor: „Schwester Rosa." Sie wirkte sowohl mild als adrett; das Lacheln ihres sehr kleinen und roten Mundes war keusch und sanft, doch nicht ohne Koketterie. In der Dammerung des Korridors, durch den Schwester Rosa die Ankömmlinge geleitete, tauchte noch ein zweites weibliches Wesen auf: Fraulein Bürstel, die Direktrize des Hauses. Sie hatte auffallend rote Backen und hellblaue, wasserige Augen. Martin konstatierte sofort, daB sie ungewöhnlich dumm war. „Mogen Sie sich recht wohl bei uns fühlen!" rief sie, beide Hande innig ausgestreckt. Martin erwiderte eisig: „Ich danke Ihnen, gnadige Frau." DaB er sie gnadige Frau titulierte, war die pure Bosheit, da Rüteli die Dame ja soeben als „Fraulein" vorgestellt hatte. Die Bürstel schickte denn auch einen halb pikierten, halb nachsichtigen Bliek über ihn hin, als fande sie sich einem Irrsinnigen gegenüber, dessen Unarten zwar lastig sind; jedoch bleibt nichts übrig, als sich gütig mit ihnen abzufinden. „Ich denke, wir geben dem Herrn Zimmer Vier," wisperte die Direktrize dem Doktor zu, als handelte es sich um ein Geheimnis, in das eingeweiht zu sein für den Kranken gefahrlich, ja, verhangnisvoll werden müBte. Das Zimmer — mit dunkier Tapete, rundem, Teppich-belegten Tisch in der Mitte, blendend weiBem Bett — schien zu einer bescheidenen, aber peinlich sauberen Familienpension zu gehören. Doktor Rüteli — jetzt schon entschieden um eine Nuance strenger und gravitatischer als vorhin im Taxi — sagte: „Ich schlage vor, Herr Korella, daB Sie zunachst ein warmes Bad nehmen. Schwester Rosa wird die Freundlichkeit haben, inzwischen Ihren Koffer auszupacken — und ich hoffe Sie damit einverstanden, daB ich bei dieser Gelegenheit ein wenig Ihre Sachen untersuche, ob Sie nicht vielleicht versehentlich etwas von der Droge mitgenommen haben. Bitte, lassen Sie auch Ihre Kleider hier zurück. Schwester Rosa bringt Ihnen einen Bademantel." Martin, der übrigens wirklich den Rest seines Heroin-Vorrates wahrend der Reise verbraucht hatte, sagte ziemlich gekrankt: „Wie Sie wünschen, Herr Doktor. Sehen Sie nur sorgfaltig nach! Sie werden nichts finden." Die Nurse lachelte, milde und verführerisch. Fraulein Bürstel, die in der offenen Türe stehen geblieben war, sagte mit dumm krahender Stimme: „Das Badezimmer ist im ersten Stock, Herr Korella." — Der Doktor, schon über den offenen Koffer geneigt, konstatierte, nicht ohne Ekel: „Sie haben ja Ihre Injektionsspritze eingepackt! Kein gutes Zeichen . . . Sie erlauben wohl, dafl ich sie an mich nehme." Nach dem Bade gab es noch eine langere Konversation mit Rüteli zu bestehen. Der Arzt erkundigte sich nach verschiedenen Details, Martins Laster betreffend. Die Antworten notierte er sich in ein kleines Buch. Martin gab genaue und wahrheitsgetreue Auskünfte; Rüteli indessgn blieb miBtrauisch. „Süchtige lügen immer," konstatierte er mit einer gewissen Bitterkeit, „wenn es sich um ihre Sucht handelt. Zum Beispiel kommt es haufig vor, daB sie die Dosis ihres taglichen Konsums übertreiben, um dem Arzt noch eine Weile etwas abzulocken." Er schien die Feststellung mehr für sich selber zu machen, als ware es geboten, daB er diesen Umstand stets im Auge behalte, um sich die nötige Skepsis allen Behauptungen des Patienten gegenüber zu bewahren. Martin verstummte gekrankt. Doktor Rüteli schien zu begreifen, daB er einen taktischen Fehler gemacht hatte; er wurde herzlich, fast vaterlich. Wieso, warum, unter was für Umstanden Martin zu der Droge gekommen sei ? — wollte der Arzt plötzlich wissen. „Ein so junger 3ii Mensch!" rief er beschwörend. „Und ein begabter Mensch —: man sieht es Ihnen ja an; auBerdem versichert es mir unser Freund, Doktor Deutsch. Warum ruinieren Siesich ?" Rüteli rief es fast flehend, mit erhobenen Armen. Martin versetzte trotzig: „Vermutlich weil es mir Vergnügen macht." Hierüber muBte Rüteli bitter lachen. Vergnügen! Die Selbstzerstörung — ein Vergnügen! ,,Sie sind ein Zyniker, Herr Korella," steilte er bedauernd fest. „Gehen Sie in sich!" riet er ihm mit salbungsvoller Dringlichkeit. „Denken Sie nach über sich selber! Wahrend der Tage, die Ihnen nun bevorstehen, haben Sie Zeit dazu . . . Steigen Sie mal gründlich in die Tiefen Ihrer eigensten Problematik! Eine gründliche SelbstAnalyse: das ist es, was Siejetzt brauchen!" — ,,Meinen Sie, ich würde einen netten kleinen OedipusKomplex bei mir finden?" erkundigte Martin sich, höhnisch und müde. „Oder einen KastrationsKomplex ? . . . Die Droge reduziert die sexuelle Potenz —, wie Sie gewiB schon gehort haben, Herr Doktor. Vielleicht drogiere ich mich, um mich impotent zu machen? Kastrations-Komplex ist gar keine üble Theorie ..." Rüteli war sich nicht ganz im Klaren darüber, ob Martin im Ernst sprach oder als Spott. Übrigens fand er die Idee mit dem Kastrations-Komplex keineswegs uninteressant. „Ich bemerke, daB Sie sich über Ihre höchst gefahrdete innere Situation schon ernsthafte Gedanken gemacht haben." Dazu nickte er anerkennend. „Sie sind aber immer noch nicht genug in die Tiefen gestiegen, lieber Freund. Vergessen Sie doch nicht: die Sexualitat ist ein VordergrundsProblem, ein Symptom — möchte ich beinah sagen •, und nicht mehr. Die gefahrliche Überschatzung der Sexualitat ist nicht mehr unsere Sache. Wir Jüngeren sind weiter vorgedrungen, tiefer hinabgestiegen. Doktor Rüteli sagte es geheimnisvollen Tones und wies dabei mit einem langen, faltigen Zeigefinger nach unten, als lagen dort, schaurig geöffnet, die Abgründe, durch deren finsteres Labyrinth die jüngere Schule der Psychiatrie den Leitfaden besitzt. „Wie sind Ihre Beziehungen zur GroBen Mutter?" erkundigte der Doktor sich, etwas lauernd und immer noch in die imaginaren Schlünde weisend. Martin verstand nicht gleich, was er meinte, wodurch Rüteli enerviert wurde. „Nun ja doch," machte er, und zuckte ungeduldig die Achseln, „Ihre Beziehungen zum Anfang aller Dinge, meine ich; zur GroBen Gea; zum Kosmischen MutterschoB ..." — Martin hatte keine Lust, sich darüber auszusprechen. Er fragte, ob er heute noch Morphine bekommen solle. „Ich fange namlich schon an zu schwitzen," sagte er, ziemlich böse. — „Sie sollen gegen vier Uhr nachmittags eine nette Injektion haben," verhieB Rüteli onkelhaft. „Und eine zweite abends, vor dem Einschlafen." — Martin empfand plötzlich ein gerührtes Wohlwollen für den Psychiater. ,Der brave Mann meint es gut. Ich will ihm das Leben nicht zu sauer machen.' Der Patiënt und der Arzt verabschiedeten sich mit Herzlichkeit voneinander. Rüteli versprach, gegen Abend noch einmal vorbei zu schauen. „Wahrscheinlich werde ich Sie schon schlafend finden," sagte er. Martin verbrachte die Zeit bis vier Uhr nachmittags — die Stunde, für die ihm das kleine Labsal des Pantopons versprochen war — ziemlich ruhig. Die Heroin-Dosis, die er im Zuge zu sich genommen, war stark genug gewesen, um ihm für den ganzen Tag gar zu groBes Unbehagen zu ersparen. Er las; machte Notizen und schrieb zwei zuversichtlich gestimmte Briefe: einen an Kikjou, den andren an David Deutsch. Pünktlich um vier Uhr erschien Schwester Rosa mit der Spritze, einem kleinen Watte-Bausch und einem Flaschen mit Alkohol. Wahrend sie dem Patienten die Injektion in den Oberschenkel machte, blieb ihr rosiges, hübsches Gesicht ernst, beinah streng. Erst nach getaner Arbeit setzte sie das verheiBungsvolle, mild-kokette Lacheln wieder auf. Die emsige Person schien gerade eine freie Viertelstunde zu haben, und übrigens in der Laune zu plaudern. Sie sprach plötzlich von ihrem Brautigam, der Schullehrer in der Stadt Luzern war —: Martin, mit halb geschlossenen Augen der Wirkung nachspürend, wuöte gar nicht, wie sie auf dieses Thema gekommen wan „Ein prachtvoller Mensch," versicherte Schwester Rosa, „etwa in Ihrem Alter. Ich fand gleich, daB Sie eine gewisse Ahnlichkeit mit ihm haben, Herr Korella. — Freilich," fügte sie nicht ohne Bosheit hinzu, „mein Brautigam ist ein gesunder, einfacher Mensch ..." „Das werde ich auch wieder werden," versprach Martin heuchlerisch und schloB die Augen nun ganz. Die Stimme der milden Schwester schien ihm nun aus sehr weiter Ferne zu kommen. ,,Seine Schüler verehren ihn," hörte er sie noch sagen. „Es gibt Jungens, die einen richtigen Kult mit ihm treiben." Martin schlief bis in den Abend hinein. Schwester Rosa weckte ihn mit dem Essen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er Appetit. Nach der Mahlzeit sprach Rüteli noch einmal vor. Um zehn Uhr erschien die Nurse mit dem Instrument; Martin hatte schon gierig auf sie gewartet. Als er die wohlvertraute und höchstgeliebte Wirkung des Opiats wieder spürte, beschloB er: Ich will noch nicht sofort schlafen — obwohl es sicherlich nicht das reine Morphium gewesen ist, was die milde Schwester mir verabfolgt hat. Übrigens hatte die sanfte Rosa verheiBen, daB sie in einer Stunde nochmals erscheinen werde: „um Ihnen noch einen Leckerbissen für die Nacht zu bringen" —, wie sie sich, neckisch und geheimnisvoll, ausdrückte. ,Wahrscheinlich meint sie irgendein harmloses Schlafmittel,' vermutete Martin etwas verachtlich. Im Augenblick interessierte er sich nicht sehr für die chemischen Überraschungen, die Schwester Rosa für ihn in Bereitschaft hatte. Die Wirkung des Medikaments war erfreulich. Seine Gedanken arbeiteten beinah mit der gleichen traumhaft-beschwingten Leichtigkeit, wie nach den groBen Heroin-Injektionen. .Natürlich darf ich mich nicht tauschen lassen,' dachte er, als er alleine war. ,Heute ist noch einguter Tag. Die eigentliche Entziehung hat gar nicht angefangen. Es wird scheuBlich werden, ich weiB es. Es wird ekelhaft sein. Indessen bin ich fest entschlossen, durchzuhalten — und wenn es noch so grauenvoll wird. SchlieBlich weiB ich, für was ich leiden muB. Ich muB leiden, um gesund zu werden. Ich muB gesund werden —: erstens, um ein paar gute Sachen schreiben zu können. Es ist in der Tat meine Absicht, noch ein paar vorzügliche Sachen zu schreiben, sowohl in Versen als auch in einer strengen, rhythmisch prazisen, tadellosen Prosa. Zweitens muB ich gesund werden, um mit Kikjou leben zu können. Ich liebe Kikjou. Ich brauche Kikjou. Ich verliere ihn, wenn ich von der süBen Sache, dem gar-zu-holden Teufels-Dreck nicht lasse. Ich habe die Wahl zwischen Kikjou und der infernalischen SüBigkeit. Kikjou ist es, den ich vorziehe — da kann gar kein Zweifel sein. Kikjou, le petit frère de Marcel . . . Ich liebe sie alle Beide, meine lieben Brüder . . . Das weiBe Pülverchen — in aqua destillata aufgelöst — würde mich von Beiden entfernen. Um ihretwillen, und um Marions willen, und am Davids willen, muB ich es loswerden. Ich muB es los- werden — drittens: weil ich das Ende der groBen Schweinerei in Deutschland erleben möchte, und sogar mein kleines Teil dazu beitragen will, daB sie endigt. Abzukratzen, solange dieser degoutante Schwindel mitten in Europa triumphiert: nein — das ist entschieden eine peinliche Vorstellung. Um der Liebe willen und um des Hasses willen, lohnt es sich, zu leben. —... Lohnt es sich, zu leben ?' — fragte er sich, ein paar Sekunden spater. ,Mein verruchter Lieblingsdichter sagt: Nein. Er ist ein Unhold und ein Anarchist, und mit diabolischem Grinsen ist er zum Todfeind der Gesittung übergelaufen. Übrigens gibt es in Deutschland wohl fast niemanden mehr, der empfanglich ware für den Zauber seiner brutalen und morbiden Romantik. Was für ein gefahrlicher Charme! Von welch macabren Wonnen er zu berichten und zu beichten weiB! Ich bin empfanglich für seine schaurig exakt formulierte Todes-Mystik . . . Mir scheint leider, ich bin, immer noch, zu empfanglich für sie . . . Neben ihm, auf dem Nachttisch, lag der kleine schwarze Band mit den „Ausgewahlten Gedichten" des infamen Lieblings-Poeten. Nun griff Martin nach ihm, mit der gleichen gierigen und etwas schuldbewuBten Geste, mit der er sonst nach der Spritze langte. Und er las: „Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, solist du gehn, eine neue Götterkohorte wirst du nicht mehr sehn, nicht ihre Euphratthrone, nicht ihre Schrift und Wand — gieBe, Myrmidone, den dunklem Wein ins Land. Wie dann die Stunden auch hiefien, Qual und Tranen des Seins, alles blüht im VerflieBen dieses nachtigen Weins, schweigend strömt die Aone, kaum noch von Ufern ein Stück, gib nun dem Boten die Krone, Traum und Götter zurück." Wie schön! — empfand Martin auf seinem Lager — wie fürchterlich — ach, wie betaubend schön! Wie viel Stolz in seinen Worten, neben der unermeBlichen Traurigkeit! Ubrigens hat er recht: Wir sind an einem Ende. Eine groBe Periode ist abgelaufen. Kommt eine neue ? Es ist nicht die unsere — die meine ist es nicht mehr. Wozu teilnehmen an Kampfen, deren Entscheidung wir nicht erleben werden? Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, solist du gehn — eine neue Götterkohorte wirst du nicht mehr sehn . . . Wirst du nicht mehr sehn . . . Wozu der ungeheure Aufwand an Kraft, wenn es dir doch nicht bestimmt ist, die Hieroglyphen der neuen Gesetzestafeln zu begreifen ? Wozu — ach, wozu ? Warum ist es mir nicht gestattet, mit geschlossenen Augen ins Dunkel zu stürzen, wenn ich in der Helligkeit doch nichts auszurichten vermag — auBer dem Einen: meine Hilflosigkeit, meine Ratlosigkeit, meine Angst, die Melancholie des Umstandes, daB ich zu früh oder zu spat auf diese Welt gekommen bin, immer wieder leidend zu erkennen ? Mein heruntergekommener Poet ist ein moralisch suspekter, aber gescheiter Mann. — Gib nun dem Boten die Krone — Traum und Götter zurück . . . Statt des Boten, der Schmuck und Waffen des Abdankenden hatte an sich nehmen können, um sie I den alten oder den neuen oder den ewigen Göttern als Opfergabe zu FüBen zu legen, war es Schwester Rosa, die eintrat. Auf einem kleinen Silber-Tablett prasentierte sie die Schlafmittel wie eine Delikatesse. Es waren drei runde, weiBe Tabletten; Martin schluckte sie mit ein wenig Wasser. Schwester Rosa, die ihrerseits müde schien, zwang sich dazu, noch einen kleinen Trost durch Lacheln zu spenden, und entschwand — ein überanstrengter, aber noch in der Erschöpftheit hilfsbereiter und adretter Engel. Sie hatte die Lampe verdunkelt. ,Ich werde schlafen können' empfand Martin mit einer Dankbarkeit, die zu kleinen Teilen Schwester Rosa galt, vor allem aber jenem enormen, immer nur sehr undeutlich zu erkennendem Wesen, das der kleine Kikjou mit sanftem Augenaufschlag, vertraulich und beinah zartlich, ,,le Bon Dieu" nannte. — Der nachste Tag war ertraglich. Dokter Rüteli verabreichte schwere Schlafmittel. Martin wachte fast nur zu den Mahlzeiten auf. Schwester Rosa behandelte ihn mit teils nonnenhaft ernster, teils koketter Aufmerksamkeit; zuweilen konnte sie nicht umhin, der Ahnlichkeit ihres Patienten mit dem ihr anverlobten Padagogen in Luzern nachdenklich und gerührt Erwahnung zu tun. Übrigens fand der Arzt Martins Zustand relativ so vorzüglich, daB er schon für diese Nacht mit den Morphine-Dosen aufzuhören beschlofi. Es war nur noch Luminal und Phanodorm, was Schwester Rosa, abends um zehn Uhr, auf ihrem Tablett lockend herantrug. Martin erwachte gegen vier Uhr morgens mit heftigen Schmerzen in den Beinen, besonders in der Knie-Gegend. Er war in SchweiB gebadet; auch lief ihm die Nase, als hatte er sich über Nacht einen starken Schnupfen geholt. Er muBte viele Male hinter- einander kramphaft niesen. Gleichzeitig spürte er wildes Bauchgrimmen. Er stand zitternd auf; hüllte sich, zugleich fröstelnd und schwitzend, in seinen Schlafrock und verlieB das Zimmer, um durch den dunklen Korridor zur Toilette zu eilen. Er fand die Türe nicht gleich. Er beschmutzte sich das Pyjama, ehe er die Toilette erreichte. Der Zustand seines Unbehagens war unbeschreiblich. Er legte sich wieder aufs Bett; aber er war nicht dazu im Stande, seine Glieder auch nur eine Minute lang still zu halten. Alles an ihm zuckte; FüBe und Hande bewegten sich wie in einem Krampf. Er warf den gepeinigten Kopf hin und her. Niemals hatte er für möglich gehalten, daB man gleichzeitig bis zu diesem Grade erschöpft und erregt sein konnte. Er war zu schwach, um das Bett zu verlassen; aber sein nasser, bebender Leib hielt es keine dreiBig Sekunden in der gleichen Lage aus. — Keine Krankheit war je annahernd so schlimm gewesen. Fieber und ein solider, kontrollierbarer Schmerz waren positive Gefühle, verglichen mit dieser kolossalen Unannehmlichkeit. ,So muB sich ein Fisch fühlen, der aufs Land geworfen wird,' dachte Martin. ,So wie ich jetzt zappele, zappelt ein Fisch auf dem Trockenen! Mein Gott, mein Gott: Was habe ich getan, daB ich wie ein armes Fischlein zappeln muB ?!. . .' Seine Hande krampften sich ins Leintuch, vor dessen lauer Warme ihn ekelte. Er reckte den Körper nach oben. Den Hinterkopf ins Kissen gepreBt, schrie er. Er erschrak vor der Unmenschlichkeit des eigenen Schreis. ,Ich habe wie ein Tier geschrien,' spürte er mit Entsetzen. Er schrie nochmals. Schwester Rosa erschien in der Türe. Sie trug einen grauen Schlafrock mit bescheiden-schmalem rosa Besatz am Hals und an den Manschetten. Ihr Haar war ein wenig zerzaust; die Augen blickten sowohl schlafrig als erschrocken. „Was gibt es denn, Herr Korella ?" fragte sie mit einer merkwürdig leisen Stimme. Martin sah, daB ihre Hande etwas zitterten. Endlich konnte er weinen. Martin weinte; es war, seit seiner Kindheit, zum ersten Mal. Er warf den Körper herum und preBte das nasse Gesicht in die Kissen. Es war ein sonderbares Gefühl, die Tranen-Nasse auf den Wangen und Lippen zu spüren. „Das ist gut," hörte er Schwester Rosa sagen, „weinen Sie sich nur aus, Herr Korella!" Er schamte sich, dem Madchen sein verzerrtes, nasses Gesicht zu zeigen; deshalb behielt er die Stirne gegen das Kissen gepreBt. Das Weinen war zugleich eine Entspannung und ein neuer Krampf. Es schüttelte den Körper, und nun tat es weh im Gesicht: die Augen schmerzten, und es schmerzte der verzerrte, klagend geöffnete Mund. ,Ich werde niemals mehr aufhören können zu weinen,' fühlte Martin. ,Mein Leben — alles was ich bin und je war, vergeht in diesen unendlichen Tranen.. Schwester Rosa, in ihrer Angst, verabreichte ihm mehrere beruhigende Tabletten — wozu Doktor Rüteli sie, für den Notfall, ermachtigt hatte. Martin, tranennassen Gesichtes, fiel in einen Dammerschlaf, der freilich nicht tief genug war, um seine Qualen ganz aufzuheben. Er spürte noch die Schmerzen und die groBe Traurigkeit — abgemildert; wie durch einen Nebel hindurch. Als Rüteli um elf Uhr zur Visite erschien, fand er den Patiënt in festem Schlaf. Er untersuchte ihn flüchtig, und steilte, zu der aufmerksam, ja, devot lauschenden Nurse gewendet, fest: „Die somatischen Ausfallserscheinungen sind erstaunlich gering. Auch die Diarrhöe hat ja, vorlaufig, schon wieder aufgehört. — Ich gebe kein Opiat mehr," beschloB er streng. „Der Fall ist in moralischer Hinsicht schwieriger und beunruhigender als in physiologischer." Dabei rieb er sich sinnend das rasierte Kinn und die etwas hangenden Wangen. „Ein merkwürdiger Mensch." Er schaute mitleidig und interessiert in das Antlitz des Schlafenden, um dessen Lippen sich ein bitterer und gequalter Zug gelegt hatte. „ Vielleicht ein begabter Mensch. Aber von einer moralischen Schwache, die ans Klinische grenzt. . . Sehr bedauerlich. Sehr sehr schade." — „Herr Doktor haben ganz recht: ein sehr seltsamer Mensch," nickte Schwester Rosa. Sie hatte ihre nonnenhafte Haltung angenommen: die Hande hielt sie auf dem Magen gefaltet, und das hübsche kleine Gesicht war etwas heuchlerisch schief gestellt. Der Bliek aber, den sie über das weiBe, schone, leidende Antlitz des Kranken hinsandte, war blank und verheiBungsvoll: Doktor Rüteli bemerkte es nicht ohne Indignation. Er hatte seinerseits eine kleine Schwache für die niedliche Pflegerin. Martin begann plötzlich, aus seinem Dammerschlaf heraus, zu sprechen. „Wo ist meine süBe kleine Sache ?" brachte er mit schwerer, lallender Zunge hervor. „Ich hatte doch einen recht stattlichen Vorrat... Ist denn alles aufgebraucht ? Oh weh — ist der kleine Vorrat denn ganz zu Ende . . . ?" Der Schlafende weinte. Dicke, leuchtende Tranen kamen unter seinen geschlossenen Lidern hervor; rannen langsam über die weiBen Wangen und blieben trage in den Mundwinkeln hangen. Schwester Rosa neigte sich über ihn und trocknete ihm, sehr zart und behutsam, mit ihrem eigenen Taschentüchlein das Gesicht. — Als Martin aufwachte, war es spater Nachmittag. Seine erste Empfindung war: Ich bin in der Hölle. Solche Zustande kommen nur in der Hölle vor . . . Dann beschloB er: Ich halte es nicht mehr aus. Ich 21 bin am Ende. Die nachste halbe Stunde überlebe ich nicht. Ich bringe mich um. Ich bin entschlossen, mich umzubringen. Aber wie ? Aber wie? —: überdiese Frage dachte er mehrere Minuten lang angestrengt nach. Das Zimmer lag im Parterre; der Sprung aus dem Fenster würde sinnlos sein. Weder Gift noch Revolver waren zur Hand. ,Ich habe gehort, dafl man sich an einer Krawatte oder an einem Gürtel aufhangen kann,' dachte Martin. ,Aber dazu muB man sicherlich geschickter sein, als ich es bin. Wahrscheinlich würde die Schlinge mir reiBen: das ware dann eine Blamage und eine Peinlichkeit. — Wenn ich ein gutes, starkes Rasiermesser hatte, könnte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Ich habe aber nur einen Gilette-Apparat. Kann man sich mit Rasierklingen die Adern öffnen ? Vielleicht. Aber es ist eine Schweinerei. Wie umstandlich so ein Selbstmord zu sein scheint!' Er stürzte durchs Zimmer, wie von Furiën gejagt. Obwohl die Kniee ihm schwankten und sein schweiBgebadeter Körper am Zusammenbrechen war, rannte er mindestens ein Dutzend Male hin und her. Er zündete sich eine Zigarette an; drückte sie wieder aus; griff nach einer neuen. Jedesmal wenn er am Spiegel vorüber kam, erschrak er über sein Aussehen. Auf dem weiBen Gesicht lag ein beinah irrsinniger Ausdruck von Angst: als ware ein Raubtier oder ein Feuerbrand hinter ihm her. Er fand den Bliek der eigenen Augen entsetzlich. Die Pupillen waren unnatürlich erweitert. Der Ausdruck von Verzweiflung, Durst und Gier, mit dem diese Augen ihn anschauten, war unertraglich. „Genug!" sagte Martin laut und deutlich zu sich selber. „Es ist genug!" Er öffnete den Schrank, in den Schwester Rosa seine Kleider gehangt hatte. In zwei Minuten war er angezogen. Taumelnd, keuchend und zitternd machte er sich daran, seine Handtasche zu packen. Wahrend er Toilettesachen, Socken, Hemden, Bücher und Pyjamas in den Koffer warf, setzte plötzlich eine strenge und zarte Musik ein. Im Nebenzimmer wurde Geige gespielt. ,Welch zarte Aufmerksamkeit!' dachte Martin, halb gehassig, halb wirklich gerührt. ,Man bringt mir ein AbschiedsStandchen! — Wer mag da wohl musizieren ? Freilich, es gibt ja noch andere Bewohner, auBer mir, in diesem Etablissement, das zugleich wie eine Familien-Pension und wie ein intimes Privat-Irrenhaus wirkt. . . An diese anderen Kranken habe ich noch gar nicht gedacht . . . Müssen die auch so grauenhaft leiden wie ich ? . . . Der Geisteskranke in der benachbarten Stube — denn wahrscheinlich handelt es sich doch um einen Geisteskranken: um einen manisch Depressiven, denke ich mir — versteht es übrigens ganz artig, auf der Violine zu spielen . . . Habe ich nichts vergessen? Ich will noch einen Zettel für Schwester Rosa schreiben: Adieu. Vielen Dank. Schicken Sie mir die Rechnung nach Paris. Sie wird bezahlt.' Er schrieb den Zettel, wobei er sich redliche Mühe gab, mit seiner zitternden Hand leserliche Zeichen aufs Papier zu bringen. Er zog sich den Mantel an. Dann öffnete er — vorsichtig, wie jemand, der einen Mord vorbereitet — die Türe zum Flur, um zu hören, ob es draufien stille war. Schwester Rosa hatte wohl im oberen Stockwerk zu tun. ,Sie hat kein leichtes Leben,' dachte Martin, wahrend er auf Zehenspitzen sein Zimmer verlieB. ,Fraulein Bürstel ist vermutlich ausgegangen. Sie sitzt mit einer Bekannten in der Konditorei. Wie ich Fraulein Bürstel kenne, mag sie gerne heiBe Chokolade und Torte ..." Auf dem Korridor, dessen etwas muffiger Geruch ihm schon recht vertraut geworden war, blieb Martin ein paar Sekunden lang stehen, um der Geigenmusik zu lauschen. ,Der manisch Depressive spielt Bach,' konstatierte er mit einer gewissen Ergriffenheit.' Ich würde gerne wissen, wie der Mensch aussieht, der dort hinter der geschlossenen Türe spielt. Ist es eine Frau oder ein Mann ? Ich glaube, daG es ein alterer Mann ist . . . Mein Gott, wie ich zittere! Wie meine Kniee schwanken! Und wie nafi meine Hande sind . . . Ich schleiche durch den dammrigen Korridor: vorsichtig wie ein Mörder. Vorsichtig wie ein Mörder, öffne ich jetzt diese Haustür. Das Gefangnis liegt hinter mir. Arme Schwester Rosa — wie wirst du erschrecken, wenn du das Zimmer leer findest! Du wirst einen bestürzten Brief an deinen Brautigam nach Luzern schreiben . . . Da ist die StraBe. Aber wie kalt es ist! Es ist scheuBlich kalt.' Ein Taxi kam vorüber, Martin winkte dem Chauffeur. „Fahren Sie mich zur nachsten Apotheke!" sagte er ihm. Die Fahrt dauerte ziemlich lang. Martin fühlte sich im Wagen ein wenig besser. Unangenehm war, daB er so bitterlich fror. Er muBte wieder fünf Mal hintereinander niesen. Als der Nies-Krampf vorbei war, setzte ein Gahn-Krampf ein. Er spürte plötzlich eine lahmende Müdigkeit. Die Beine taten sehr weh. Es war eine groBe, stattliche Apotheke, vor welcher das Taxi hielt. Martin bat den Chauffeur, ein paar Minuten auf ihn zu warten; er sprach — aus Angst, in seiner Not hastig oder unhöflich zu sein — besonders ausführlich und artig. Drinnen, in der Apotheke, gab es mehrere Kunden: zwei alte Damen, denen eine Verkauferin kleine Packungen mit Krauter-Tee vorlegte; eine jüngere Frau mit einem kleinen Buben, der lacherlich runde und rote Backen hatte; einen alteren Herren, der auf einer Wage stand, um sein Gewicht zu prüfen — übrigens schüttelte er erstaunt und betrübt den Kopf über das Resultat: es steilte sich wohl heraus, dafi er entweder viel schwerer oder viel leichter war, als er angenommen und gehofft hatte. Martin ging, etwas schwankenden aber entschlossenen Schrittes um den Ladentisch herum und sagte zu dem Fraulein, das mit den beiden Alten und den Krautertee-Packungen beschaftigt war: ,,Ich möchte Ihren Chef sprechen." Das Fraulein lachelte erschrocken — sie fürchtete wohl, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben —; da kam der Chef schon herbei. Mit weiBem Vollbart, hoher Stirn und gold gerandeter Brille wirkte er stattlich, fast majestatisch. „Was wünscht der Herr ?" erkundigte er sich drohend. Der nachste Augenblick entscheidet über Leben und Tod — empfand Martin, dessen Kniee immer heftiger zitterten. — Wenn der stattliche Alte mir die Droge nicht gibt, falie ich hin, schreie noch ein wenig und sterbe. Er gab sich Mühe, ein gefaBtes Gesicht zu machen. „Ich bin auf der Durchreise hier," bemerkte er und versuchte es mit einem einschmeichelnden Lacheln. Der Apotheker sagte: „Aha!" — wobei er lauernd den Kopf senkte und seinen schonen Bart gegen die Brust drückte. — „Es ist dumm," plauderte Martin mit verzerrter Miene — er fürchtete, im nachsten Augenblick wieder weinen zu müssen — „es ist wirklich recht lastig. Ich benötige namlich ein Medikament — mein Hausarzt hat es mir gegen die bösen Gallenschmerzen verschrieben. . . Es heiOt Eucodal," gestand er, und wurde ein wenig rot. „Ein ganz leichtes Mittel . . .," fügte er, sinnloser Weise, hinzu. Der Apotheker sagte schnell und sehr kalt: „Dafür benötige ich das Rezept eines hiesigen Arztes." Martin begriff die totale Hoffnungslosigkeit der Situation. „Ich dachte — ein paar Ampullen . . sagte er noch, von Schmerzen und Kalte gebeutelt wie von einer riesigen Hand. Der Apotheker steilte feindlich fest: „Nichts zu machen." Martin fühlte nur: Jetzt falie ich hin, und sterbe. Indessen blieb er hübsch aufrecht stehen, lachelte unter Qualen und fragte, ob der Herr Apotheker ihm vielleicht die Adresse eines tüchtigen Arztes nennen könnte. „Mit solchen Gallenschmerzen, wie ich sie habe, kann man einen Menschen nicht herumlaufen lassen," sagte Martin, nicht ohne gekrankte Würde. Diese Bemerkung schien dem strengen Apotheker bis zum gewissen Grade einzuleuchten; er lieB sich von seinem Fraulein Papier und Bleistift reichen und notierte, mit zugleich schwungvollen und klaren Lettern, die Adresse des Doktors. An der Haustür des Arztes — der um die Ecke wohnte — gab es ein Messingschild mit der Inschrift: „Doktor Fritz Kohlhaas. Spezialist für Kinderkrankheiten." — Doktor Kohlhaas war hochbetagt und recht schwerhörig. Martin schrie ihm etwas zu über die fatalen Nieren-Koliken, die ihm zu schaffen machten, und daB er ein gewisses leichtes Medikament benötige, „es heiBt Eucodal." — „Wie heiBt diese Medizin ?" fragte Doktor Kohlhaas, der schon seinen Rezept-Block gezogen hatte. „Euradom?" Martin, der von einem nervösen kleinen Lachen geschüttelt wurde, wiederholte den richtigen Namen. Dokter Kohlhaas schrieb mit gichtigen Fingern das Rezept. „Vielleicht sind Sie so nett, mir gleich zwanzig Ampullen a 0,02 zu genehmigen," sprach Martin lachend und mit Donnerstimme an seinem Ohr. „Das genügt mir dann für die nachsten vier bis fünf Monate." Er fuhr zum Apotheker zurück, der das Rezept mit gerunzelter Stirne musterte. SchlieBlich han- digte er Martin die beiden Schachteln mit den Eucodal-Ampullen aus. Martin griff mit einer unbeherrscht-gierigen Bewegung nach den langlichen, blauen Packungen, die er in der Innentasche seines Mantels hastig versch winden lieB. „Ich brauche noch eine Injektions-Spritze und Nadeln," sagte er keek. „Ziemlich dünne, wenn ich bitten darf. Numero 16 dürften die richtigen sein . . Er verlieB die Apotheke. DrauGen bat er den Chauffeur, das Taxi noch eine Minute lang still stehen zu lassen. Im Wagen öffnete er seine Kleidung ein wenig und — schamlos, fast besinnungslos vor Gier — machte er sich, auf den Polstern des Wagens sitzend, die Injektion in den Schenkel. Ein kleines Madchen, das vorüberschlenderte, beobachtete ihn mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen. Die Wohltat war riesenhaft. Innerhalb von Sekunden war von ihm genommen die Erniedrigung der physischen Qual, die Last der Traurigkeit. Aufatmen ohnegleichen! . . . „Fahren Sie mich zum Bahnhof!" rief er dem Chauffeur mit fast lustiger Stimme zu. Der nachste Zug nach Paris ging in anderthalb Stunden. Es war reichlich viel, was Marion sich zumutete. Sie magerte ab; ihr Arzt machte ein besorgtes Gesicht und erklarte, hundert Pfund Gewicht sei entschieden zu wenig für ihre GröBe. Übrigens hustete sie ziemlich viel. Zu den eigenen und den politischen Sorgen kamen die um Menschen, die ihr nahe standen. Von Marion erwarteten alle Trost. Würdesie auf die Dauer stark genug sein, um ihn zu spenden ? Nur Frau von Kammer, die Mutter, schien immer noch zu hochmütig starr, um sich trosten zu lassen. Sie haBte und verachtete, mit trotziger Konsequenz, „das Pack", das in Deutschland regierte; aber sie hielt sich in stolzer Distanz vor denen, die mit ihr haBten und ohne sie kampften. Seitdem Tilla Tibori nach Hollywood abgereist war, wo sie endlich einen Vertrag bekommen hatte, schien Marie-Luise ganz allein. Sie saB in Rüschlikon, machte Handarbeiten und zeigte jedem, der es sich etwa einfallen lieB, sie aufzusuchen, eine strenge Miene. Auch mit ihren Töchtern verkehrte sie weiter auf die zeremoniösgemessene Art. Tilly hatte sich damit abgefunden; Marion tat es immer noch weh. In ihr war das innige Bedürfnis, der armen Mutter zu helfen; aber die lieB es nicht zu. Tilly hingegen vertraute sich unter Tranen der Schwester an. ,, Was soll ich tun ? Ich muB immer an diesen Mann, diesen Ernst denken, und ich höre nichts mehr von ihm. Wo ist er hingekommen ? Er darf sich ja nirgends aufhalten . . . Vielleicht ist er aus lauter Verzweiflung nach Deutschland zurück, und sitzt schon in einem Lager — das ware zu grauenhaft, dann sehe ich ihn nie mehr. Und der Peter Hürlimann will, ich soll mich von meinem Ungarn scheiden lassen und ihn heiraten, er bekommt jetzt bald eine Stellung. Aber das kann ich doch nicht, ich liebe ihn nicht genug, was soll ich nur tun, wenn ich nur wüBte, wo der Ernst steekt, dann würde ich gleich zu ihm hin fahren ..." So redete und schluchzte Tilly — die hübsche kleine Tilly mit dem schlampigen Mund. WuBte Marion, die groBe Schwester, Rat ? Sie konnte ihr nur das Haar streicheln und ihr die Stirn küssen, und immer wieder versichern, es wird schon noch alles gut werden, vielleicht finde ich deinen Ernst, ich könnte in Paris ein paar Leute darum bitten, sich nach ihm umzusehen . . . Und Tillys hilfloses Weinen: Ach bitte, tu das, Marion — ach, wenn du das für mich tun wolltest —: als brauchte die groBe Schwester sich nur zu entschlieBen, und gleich ware die Adresse des Verschollenen bekannt. In Paris sprach Marion mit Theo Hummler und mit der Proskauer über den Fall. Beide bemühten sich, aber ohne Erfolg. Marion muBte viel an Tilly denken; sie schrieb ihr lange Briefe, telephonierte mit ihr. Aber sie konnte nicht ihre ganze Sorge auf die kleine Schwester konzentrieren. Es gab andere Hilfsbedürftige, zum Beispiel Martin. Ihn fand Marion in einem erschreckenden Zustand. Den Freunden gegenüber schwindelte er, die Kur in Zürich sei von ihm bis zum Ende glücklich durchgeführt worden; seit Wochen rühre er kein Morphium mehr an, und sein miserables Aussehen sei noch „Ausfallserscheinung." Marion aber hatte gute Augen. Als sie zum ersten Mal allein mit Martin war, sagte sie ihm ins Gesicht: ,,Vor mir brauchst du dich doch nicht zu verstellen und keine Geschichten zu machen! Du spritzt lustig weiter. Pfui — ich fïnde das ekelhaft!" — Martin leugnete erst; gab aber dann alles zu und schien sich nicht einmal sehr zu schamen. „Wenn schon!" rief er herausfordernd. „Es ist doch wohl meine Sache, wenn ich mich kaputt machen will! Mon corps est a moi!" . . . Marion schaute ihn eine Weile prüfend an, ehe sie ihn fragte: „Warum tust du es eigentlich ? Es muB doch einen Grund haben ..." — Daraufhin er, mit gesenkter Stirn: „Wenn ich nur einen guten Grund wüBte, um es nicht zu tun..." Nach einer Pause fügte er, viel leiser, hinzu: „Kikjou ware ein Grund gewesen." Marion gab noch nicht nach. „Kikjou wird nur dann wieder zu dir kommen, wenn du mit dem Teufelszeug endgültig SchluB machst — das weiB ich. Ich muB dir aber gestehen: mir scheint, es ist recht traurig um dich bestellt, wenn du nur seinetwegen damit aufhörst, dich langsam zu vergiften. Wenn du das wolltest, hattest du in Berlin bleiben sollen. Inmitten der allgemeinen Verkommenheit dort drüben ware es nicht weiter aufgefallen, und übrigens soll unter prominenten Nazis deine Droge ja recht beliebt sein. Wir hier drauBen aber haben Verantwortung und Verpflichtung; wir reprasentieren etwas —: die Opposition gegen die Barbarei. Wir müssen uns in guter Form halten, um kampfen zu können. Verstehst du das nicht ? Natürlich verstehst du es, du bist ja gescheit." Er bewegte gequalt das Gesicht. „Ich weiB . . . Das weiB ich ja alles . . . .Kampfen' — es klingt sehr schön. Aber kampfen ohne Hoffnung geht über menschliche Kraft. Ich habe die Kraft nicht. Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr." Er verstummte; hob den Kopf auch nicht, da ihre zornige Stimme ihn wieder anrief. „Du machst es dir leicht! Es muB verdammt bequem sein, dazusitzen, die Hande im SchoB, und zu murmeln: Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr ..." — Er lachelte müde. ,,Du meinst, das ist so besonders bequem?" Sein verschleierter Bliek streifte spöttisch ihre empörte Miene. „Aber herumzugehen mit Geb arden wie ein Fahnenschwinger und immerfort zu erzahlen: Der Sieg ist unser! — wahrend man doch aufs Haupt geschlagen ist und sich kaum noch rühren kann — das ist wohl das Richtige, wie ? Das ist wohl das Wahre ?" Marion hatte als Antwort: „Es ist immer noch besser als der billige Trost in den künstlichen Paradiesen. Das ist etwas für ausgediente Fliegeroffiziere, die Ersatz- Sensationen brauchen, oder für bourgeoise Damen, die in ihrer Ehe unbefriedigt bleiben und sich nun entschadigen mit morbiden kleinen Amüsements. Es ist so feige, so langweilig, so kleinbürgerlich!" Nun anderte Martin plötzlich Bliek und Haltung. „Ich weiB übrigens gar nicht, wovon du sprichst." Er sagte es schlafrig und kokett; in den verhangenen Augen blitzten tückische kleine Lichter. „Schliefllich habe ich gerade eine schwere Entziehungskur hinter mir. Ich nehme fast gar nichts mehr — und daB ich noch ab und zu eine Kleinigheit brauche, ist nur natürlich, wenn man bedenkt, was für Dosen ich konsumiert habe. Aber auch mit diesen Bagatellen höre ich nun bald auf. Es ist nur eine Frage von Tagen oder Wochen, dann bin ich vollstandig frei. Ich werde mich mit Kikjou versöhnen. Wahrscheinlich verlasse ich mit ihm zusammen Europa. Wir fahren nach Brasilien, dort hat er ja groBe Möglichkeiten, wir gründen etwas, machen irgendetwas auf, eine Zeitschrift oder dergleichen ..." Glaubte er selbst, was er sprach ? Seine Augen schimmerten vor Verlogenheit. Er zog sich in die Lüge zurück wie in eine Festung, die ihn vor jeder zudringlichen Frage beschützte. Er log sanft und pedantisch, er schwindelte mit Würde und Gelassenheit; er sagte: „Der Arzt inZürichwar sehr zufrieden mit mir — weiBt du . . und neigte sein groBes, schönes, bleiches, von der Lüge gleichsam verklartes Antlitz geheimnisvoll lachelnd Marion ent- gegen. Die bekam Angst. Sie mahnte und tröstete. Wer aber war da, um sie zu ermuntern und aufzurichten ? — Marcel war da, und er sagte ihr, daB er sie liebe. Sie indessen konstatierte vor dem Spiegel: „Abscheulich sehe ich aus. Ich gefalle mir nicht. So mager darf ein Mensch gar nicht sein. Mein Gesicht ist winzig — ganz zusammengeschrumpft; nur noch Augen. Und einen Hals habe ich — wie eine Sechzigjahrige." Marcel widersprach: ,,Tu es plus belle que jamais . . .," womit er übrigens recht hatte. In ihrem abgezehrten Gesicht, das dramatisch gerahmt war von der lockeren Purpurfülle des Haars, gab es beunruhigend schone Farben. Er küBte sie. Er legte sein verwildertes Kinderantlitz mit den tragisch aufgerissenen Augen zartlich an ihre Wange. Ach, es war gut, wenn sein Vogelruf— sein singendes, klagend-jubelndes „Uhu!" — durch das Treppenhaus tönte. Dann trat er ein, schleuderte den leichten Hut in die Ecke, lieB sich aufs Bett fallen und redete. Marcel redet. Worte schieBen hervor, so wie das Blut stürzt aus dem Munde des Kranken. Worte Worte Worte —: sie verwirren sich, steigern sich, überschlagen sich; sie jammern, prahlen, untersuchen; sie klagen an, spotten, verdammen; sie wollen nicht aufhören, können nicht verstummen: Marcel scheint verdammt zum Sprechen, wie der Ewige Jude zum Wandern. SchlieBlich preBt er sich die Fauste gegen die Schlafen und schreit auf: „Mich ekelt so vor den Worten! Ach Marion, wenn du ahnen könntest, wie widerlich mir die Worte sind! Es ist mir, als müBte ich schmutziges Wasser saufen und wieder ausspucken. Die groBen Begriffe sind schal geworden, abgenutzt — und keine neuen in Sicht, an die wir uns halten, an denen wir uns aufrichten könnten! Alles ist schon gesagt, alles ist schon verbraucht. Das Neunzehnte Jahrhundert war enorm redselig, durchaus rhetorisch, ins Wort verliebt, ihm vertrauend wie einem Fetisch. Nun ist alles entleert. Die Krise des Zwanzigsten Jahrhunderts — die ich wie eine Krankheit in meinem Leibe spüre —, ist die Krise der groBen Worte. Die Demokratie ist fertig, weil sie sich an die verbrauchten, groBen Worte klammert. Der Fascismus, die neue Barbarei, hat leicht siegen: er köpft Leichen. Wir müssen eine neue Unschuld lernen. Zu der kommen wir nicht durch Worte; nur durch die Tat. Die groBen Worte hangen an uns wie Schmutz, machen unsere Stirnen klebrig und unsre Hande. Nur eine Flüssigkeit wascht dies ab: Blut. Soll es unser Blut sein? Dann müssen wir es vergieBen! Besser, es strömt dahin, als daB es uns in den Adern erstarrt wie ein zaher Brei. Wir sollen töten und leiden; nicht mehr reden und schreiben. Genug geredet! Genug geschrieben! Genug gedacht! Vielleicht werden andere Generationen wieder Freude und Gewinn von den Worten und Gedanken haben. Nicht wir — nicht mehr wir! Wir sollen gegen dieRaserei des Rückschrittes nicht mehr Argumente setzen, sondern ein anderes Rasen, eine neue Besessenheit. Wir müssen blind und stumm werden und bereit zum Untergang. Nur so sühnen wir die Schuld unserer Vater . . . Oh Marion — Marion, halte mir den Mund zu! Ich ersticke an meinen Worten . . Und Marion bedeckte ihm die Lippen mit der Innenseite ihrer mageren Hand. lm Frühling bekam Marion eine Einladung von Siegfried Bernheim: er sahe sie gerne in seinem Heim auf der Insel Mallorca; sie möge kommen, einige Abende bei ihm rezitieren und eine Weile sein Gast sein. Ein Scheck für die Reisespesen lag bei. Damals befand sie sich gerade in Nice. Sie ging zum Spanischen Konsulatt, wegen des Visums. Der Beamte blatterte lange in ihrem PaB, von vorne nach hinten und von hinten nach vorn. MiBtrauisch wog er ihn in den Hand. „Sind Sie Tschechoslowakin ?" wollte er schlieBlich wissen. — „Nein," sagte Marion. „Das ist ein FremdenpaB — wie Sie sehen." — ,,Also nicht". Der Beamte machte ein Gesicht, als hatte man ihm die letzte Hoffnung geraubt. ,,Also nicht Tschechoslowakin. — Alors, Madame, je comprends: en somme, vous êtes sans patrie." Es klang sowohl mitleidig als auch tadelnd. Marion war erschrocken. Sie versuchte zu lachen: „C'est juste, Monsieur, c'est exacte ..." — Auf Mallorca hatte sie gute Tage. Der blaue Himmel und die blauen Fluten leuchteten um die Wette. Wunderbar waren die faulen Vormittage am Strand, die langen Spaziergange um Nachmittag durch das hügelige Land. Bernheim — konziliant, munter und stattlich wie immer — war der aufmerksamste Wirt, eifrig darum bemüht, seinen Gasten von den Augen abzulesen, was für Wünsche sie etwa haben mochten. Mit würdig zurückhaltendem Stolz zeigte er seine neuen Erwerbungen: ein Madchenbildnis von Renoir, das Samuel in Paris für ihn eingekauft hatte, und ein Mannerportrait von Greco, das er durch einen Handier erworben hatte und an dessen Echtheit Samuel zweifelte. Man war gesellig und guter Dinge. Abends steilten Freunde sich ein: junge Englander, die viel Whisky tranken und sich beim Kartenspiel zankten; deutsche Maler und Literaten. Samuel, schalkhaft und vaterlich, teilte sich mit Bernheim in die Pflichten und Rechte des Hausherren. Niemand schien hier Sorgen zu haben; jedenfalls entsprach es nicht den Sitten, sie zu zeigen. Die Frauen gingen auch abends in bunten Pyjamas herum; die jungen Leute trugen lustig gestreifte Trikots, wie die Matrosen sie haben. „Dies ist die Insel der Seligen!" proklamierte Bernheim. „Alle lieben sich, alle fühlen sich wohl." Von Politik war möglichst wenig die Rede. Wenn man die Lage einmal diskutierte — etwa die bedrohliche englischitalienische Spannung wegen des Abessynischen Krieges, oder die Unruhen auf dem spanischen Festland — zeigte man eher ein sportliches Interesse als echte Beteiligung. Über Mussolinis Chancen, das Schicksal des Negus, die Zukunft der spanischen Republik redete man kaum anders als über die Details eines Stierkampfes in Palma oder einer grol3en Kartenpartie. Man schien dies alles nicht ganz ernst zu nehmen. Das Schwimmen im Meer, das Bridge- Spielen, der Flirt, die Liebe waren wichtiger. Samuel erklarte Marion: „Man muB den Leutchen ihre Ferien gönnen. Viele von denen, die hier so leichtfertig scheinen, haben in London oder Paris oder sonst irgendwo ein recht schweres Leben. Darum ist ihre Lustigkeit auch oft etwas krampfhaft. Hören Sie, wie diese Dame dort drüben in der Ecke schrill lacht ? Mir tut es weh in den Ohren . . . Kommen Sie mit mir in mein Atelier hinauf! Ich zeige Ihnen mein neues Bild." „Gefallt es Ihnen ?" fragte er dann mit seiner Orgelstimme, wahrend er die Leinwand ins rechte Licht rückte. „Ja, mir scheint, es ist ziemlich gut. Ich bin jetzt wohl so weit, dafi ich alles, was ich empfinde und was wichtig ist, durch Farben ausdrücken kann . . . Menschen interessieren mich kaum noch," behauptete der Meister. „Ihre Angelegenheiten und Probleme langweilen mich meistens. Mich berühren nur noch die Farben. Sie sind echt, da gibt es keine Tricks, sie enthalten das Leben, sie sind Leben . . ." Er prüfte, schrag gehaltenen Kopfes, aus zusammengekniffenen Augen sein Werk. Der Fischerknabe mit dem Korb auf den nackten Knieen war mit so viel raffinierter Zartlichkeit gemalt; die Formen seines Körpers und des braunen jungen Gesichtes schienen mit so viel liebevoller Sorgfalt ausgeführt, daB die Behauptung des Meisters, er interessiere sich nicht für Menschen, durch seine eigene Schöpfung dementiert wurde. Als Marion ihren Vortragsabend in Bernheims Villa gab, fand sich die ganze englische und deutsche Kolonie zusammen; der grofle Saai im Parterre, wo der echte Renoir und der zweifelhafte Greco hingen, war überfüllt. Sogar der berühmte englische Schriftsteller war erschienen, der seine Villa droben in den Bergen hatte und sich sonst niemals sehen lieB. Marion brachte ihre wirkungsvollsten Stücke. Sie war gut in Form. Von den Englandern freilich verstand fast keiner etwas; indessen waren alle entzückt von Marions Stimme und von ihren Augen. Nach dem Vortrag gab es kaltes Buffet mit Champagner. Bernheim hielt eine sowohl launige als auch ergriffene Rede auf „das schone Kammermadchen" — wie er Marion mit eigensinniger Scherzhaftigkeit nannte. ,,So lange Menschen wie Sie unter uns sind, brauchen wir nicht zu verzweifeln!" rief er ihrzu, das Sektglas in der erhobenen Hand. Alle klatschten. Der berühmte Schriftsteller, dessen Augen hinter dicken, sehr scharf geschliffenen Brillenglasern verschwanden, streckte mit einer merkwürdig ungeschickten, rührend befangenen Bewegung die sehr langen, dürren Arme aus, um zu applaudieren. ,Wie Serrenissimus in einem Witzblatt,' muBte Marion denken. Übrigens liebte sie seine Bücher und war neugierig darauf, ihn kennen zu lernen. Durch Samuel lieB sie sich mit ihm bekannt machen. Er war sehr groB und mager, und es schien, daB er nichts Rechtes mit seinen endlosen Armen und Beinen anzufangen wuBte. Das merkwürdig kurze Gesicht, mit dem sehr weichen und grofien Mund, wurde beherrscht von den runden, spiegelnden Brillenglasern. Er versuchte auf eine befangene, zugleich hochmütige und schüchterne Art, zunachst deutsch mit ihr zu reden. Spater sprachen sie englisch. — Sie saBen am offenen Fenster; vor ihnen der Bliek auf das dunkle Meer, den Strand und die schwarzen Palmen, deren Konturen mit schoner Genauigkeit vorm Nachthimmel standen. Der berühmte Schriftsteller schwieg, das Gesicht der Landschaft zugewendet. Marion wagte nicht, das Gesprach zu beginnen. Sie dachte an seine Bücher, die sie bewunderte. ,Was geht jetzt hinter seiner Stirne vor ? ' überlegte sie. .Beobachtet er mich ? Er scheint nicht viel zu sehen, und mufi doch allerlei bemerken, hinter seinen Brillenglasern. Macht er sich nun innerlich Notizen, die recht spöttisch sein dürften ? In seinen Erzahlungen hat er eine seltsam kalte, nicht gerade liebevolle Manier, Menschen zu schildern. Er kennt sie so genau, gerade weil er sich von ihnen distanziert. Ubrigens nimmt er, bei aller Distanziertheit und Ironie, leidenschaftlichen Anteil an unseren Sorgen: das wird deutlich in seinen schonen, klaren Essays. Wie gescheit er ist. . . Ich muB einige seiner groBen Aufsatze unbedingt wiederlesen. Er hat viele höchst vorzügliche Dinge geschrieben . . .' Da sprach er plötzlich — Marion schrak fast, als seine weiche, zögernde Stimme kam. „In Ihrem Vortrag hat mich irgendetwas erschreckt. Sie haben manchmal einen kriegerischen Ton — als wollten Sie zur Schlacht rufen. Das beunruhigt mich. Gewalt wird schon genug gepredigt und angewendet — von den anderen. Wir sollen friedlich sein. Nicht Rache, nicht Kampf — Versöhnung sei unsere Absicht." „Versöhnung?" Marion wiederholte es trotzig. ,,Es gibt Menschen und Prinzipien, mit denen sie nicht in Frage kommt. Wir sind lange genug versöhnlich gewesen — zu lange, wie mir jetzt scheint. Vor einem Gangster, der die Handgranate und den Revolver schwingt, macht man sich lacherlich, wenn man flüstert: Ich bin Pazifist." „Man soll es nicht flüstern; man soll es schreien," sagte der Schriftsteller. „Und wenn der Gangster lacht ? — „Was schadet es. Vielleicht vergiBt er darüber die Handgranate zu werfen. Es ist niemals eine Schande und kann nie ein Irrtum sein sich zum Frieden zu bekennen." Daraufhin Marion — deren langen, mageren Finger gierig nach irgendetwas zu suchen schienen, was sie zerbrechen konnten —: „Es gibt Situationen, in 22 denen die Angst vorm Kampf blamabel und verhangnisvoll wird." Der Schriftsteller, nicht ohne Strenge: „Ich habe nicht von der Angst vorm Kampf, ich habe von der Liebe zum Frieden gesprochen." Sie rückte ungeduldig die Schultern. „Das lauft oft aufs Gleiche hinaus. Die tolerante Haltung dem absolut Schlechten gegenüber erklart sich niemals nur aus edlen Motiven; immer auch aus Feigkeit." Er lachelte, milde und betrübt, über ihre Heftigkeit. „Das absolut Schlechte ? Das kann wohl unter Menschen ebenso wenig vorkommen, wie das vollkommen Gute. Der menschliche Charakter ist immer zusammengesetzt. An die Elemente, die wir die guten nennen, appellieren wir nur, wenn wir selber gut bleiben." Marion wollte auffahren; beherrschte sich, biB sich die Lippen und sagte, ein wenig heiser: „Die deutschen Sozialdemokraten, und die anderen Parteien unserer verstorbenen Republik, versuchten es, ,gut zu bleiben — verhandlungswillig und versöhnungsbereit gegenüber ihren Todfeinden. Schauen Sie es sich an, wohin sies damit gebracht haben! Sollen die europaischen Demokratien diese löbliche Taktik wiederholen ?" „Ich hoffe es," sagte er schlicht. „Die groBen Demokratien sind schuldbeladen, sie haben zu büBen. Alles Unheil in Europa kommt aus dem Vertrag von Versailles." Marion war fast am Ende ihrer Geduld. „Glauben Sie, die Deutschen hatten einen besseren Vertrag diktiert, wenn sie den Krieg gewonnen haben würden ?" fragte sie gereizt. Woraufhin der Brite nur die Achseln zuckte. „Darauf kommt es nicht an." Da Marion nun verfinstert schwieg, legte er sanft die Hand auf ihre Schulter. „Seien Sie mir nicht böse!" bat er, das Gesicht mit den spiegelnden Brillenglasern freundlich nahe an ihres gerückt. „Ich begreife Ihren Schmerz, Ihren HaB, und ich achte ihn. Es gibt aber ein paar sittliche Grundwahrheiten, die man vor HaB und Schmerz leicht vergiBt. Alles Uble kommt aus der Gewalt. Sie steht immer am Anfang des Schlimmen. Man kann die Gewalt durch Gewalt besiegen, aber nicht aus der Welt schaffen. Der verhangnisvolle Irrtum ist, zu meinen, daB der Zweck die Mittel heilige. Das ist falsch. Mit schlechten Mitteln ist kein groBes Ziel zu erreichen; die Kommunisten haben dies nicht verstanden, daher ihr fürchterliches Versagen. Der Friede, die Gerechtigkeit körinen nicht durch Krieg gewonnen werden. — Sind Sie für den antifascistischen Krieg ?" erkundigte er sich, plötzlich mit einem leichteren, konversationsmaBigen Ton. Marion sagte: „Die fascistischen Staaten würden ihn nicht führen können. Diese aufgeblasenen Monstren sind innerlich hohl. Aber es sollte kein Zweifel darüber bestehen, daB die Demokraten bereit und gerüstet sind; dann würden die Aggressiven es mit der Angst bekommen." Der Englander, mild und ein wenig spöttisch: „Warum sind sie denn aggressiv ? Weil sie arm sind, weil sie zu wenig Land haben. Deutschland, Italien, Japan wollen Raum. Sollen wir, die Saturierten, die Satten und Reichen, das Expansionsbedürfnis dieser Proletarier unter den Landern mit Giftgasbomben und Maschinengewehren aufhalten ? Und uns dabei noch als die Moralischen aufspielen, als die Bewahrer der heiligsten Güter, die Retter der Demokratie ?" „Wenn Sie so empfinden, warum haben Sie dann nicht dafür Propaganda gemacht, man solle Deutschland Koloniën, den AnschluB Österreichs und was nicht sonst noch gewahren, als die Politik des Reiches noch von Stresemann gemacht wurde, statt von Hitier, Rosenberg und Goebbels ?" „Hatte ich es nur getan!" Die Reue in seiner Stimme muBte aufrichtig sein. Er gestand: „Damals habe ich die Dinge noch nicht so klar gesehen wie heute." „Erst muBte Deutschland ein groBes Zuchthaus für seine Bewohner und eine schreckliche Gefahr für alle Völker der Erde werden!" Marion lieB sich vom Fensterbrett auf den Boden gleiten. Sie stand aufrecht da, und ihr Gesicht war zürnend, wie wenn sie eines der kampferischen Gedichte sprach. „Könnte man mit der gerechten Verteilung der Erde nicht warten, bis Deutschland wieder ein anstandiges, zivilisiertes Land ist ? Wenn man den deutschen Ansprüchen jetzt entgegen kommt, sieht das verdammt so aus, als geschahe es aus Angst vor der deutschen Macht. Es starkt Hitiers Stellung, und schadet also dem deutschen Volk." Er versetzte, leise aber bestimmt: ,,Mir scheint doch, das deutsche Volk liebt seinen Hitier. Hatte es ihn sonst herbeigeholt ? Würde es ihn sonst dulden ? Marion bewegte zornig den Kopf mit der Purpurmahne. „Sie wissen so gut wie ich, daB Millionen Deutsche ihn hassen und ihn los sein wollen; die anderen aber sind ahnungslos und dumm, es wird unsere Sache sein, sie zu erziehen." Ihre Augen flammten; die des Schriftstellers blieben vorsichtig verborgen hinter den dicken Glasern. Er sagte: „Sicher ist es nicht die Sache der imperialistischen Demokratien. Wir haben vor den eigenen Türen zu kehren. Weder England noch Frankreich oder Amerika haben irgend das Recht, sich vor anderen als moralische Vorbilder aufzuspielen. Was wir tun können, ist nur, das deutsche Volk befreien von dem Minderwertigkeitskomplex, an dem es seit dem Jahre 1918 leidet. Wenn es wieder glücklicher und reicher ist, wird es vermutlich auch wieder verstandiger und weniger reizbar werden." „Oder es wird noch übermütiger und habgieriger werden," warf Marion ein. Woraufhin er nur zu erwidern hatte: „Das wird sich zeigen. — Zunachst kommt es darauf an, einen neuen Krieg zu vermeiden. Denn er ware das Schlimmste." Marion: „Noch schlimmer ware eine Welt, in der die Fascisten diktieren. Und dazu kommt es, wenn die Demokratien den Willen zum Widerstand nicht mehr haben." Er darauf, eigensinnig und milde: „Machen Sie sich eine Vorstellung vom nachsten Krieg ? Gift- und Gas-Bomben über Berlin, Paris und London: ich möchte es nicht erleben . . . Cholera und Hungersnot und zerschossene Hauser und überal die Diktatur einiger bösartiger Generale: das ware die Konsequenz. Die Zivilisation retten, indem man sie vernichtet ? — Wie kann eine kluge Frau dergleichenwünschen!" Er legte ihr wieder die lange, schone Hand auf die Schulter, diesmal mehr vaterlich mahnend. „Wenn in unseren Landern ein neues, starkes sittliches BewuBtsein, eine echte Friedensliebe und Nachstenliebe sich durchsetzen in den Herzen der Menschen, dann werden sie es sein, die schlieBlich die Welt beherrschen und zur allgemeinen Religion werden; nicht die Machtanbetung, wie sie heute von den enttauschten, verführten Deutschen gepredigt wird." „Die Gestapo wird den Englandern und Franzosen die Friedens- und Nachstenliebe schon ausprügeln." Marion sagte es böse. Er aber, zuversichtlich und beinahe heiter: „Gummiknüppel haben keine Gewalt über das menschliche Herz." — „Auf die Dauer doch," sagte sie. Er wiegte sinnend das Haupt. „Wir überschatzen die Macht. Sie ist verganglich, und so lang man sie hat, bringt sie mehr Schaden als Nutzen. Mag das Empire sich auflösen! Mir liegt nichts daran, ich ware ohne das Empire glücklich. Mag doch London eine provinzielle Stadt wie Kopenhagen werden — es ware vielleicht dann nicht mehr so larmend dort, man hatte mehr Ruhe, und ich brauchte nicht auf Mallorca sitzen, um arbeiten zu können. Lassen wir die anderen ihren kindlichen Hunger nach Macht befriedigen und geben wir ihnen das Beispiel der Sanftheit. Sie werden uns nicht überfallen, wenn wir nicht mehr bewaffnet sind. Sie werden unsere Leben verschonen — der Krieg ist es, der uns vernichten würde. Wenn nur ein Teil der Welt — der reifere, bessere Teil — sich zum Verzicht auf die Gewalt entschlösse, folgten die anderen nach. SchlieBlich fande man zueinander. Alle Menschen waren eine Familie, die Staaten waren nicht mehr voneinander abgegrenzt, die Verteilung der Landern hatte keine Wichtigkeit mehr. Das schone Ziel ware erreicht," sprach er traumerisch in die warme Nacht heraus. — Einmal lachte sie über ihn; er nahm es nicht übel, sagte nur: „Lachen Sie nur! Ich habe auch viel gelacht, viel gespottet, immer nur gezweifelt, stets alles besser gewuBt. Ich war Skeptiker. Durch alle Abgründe der Skepsis bin ich gegangen. Die Skepsis führt zur Verzweiflung. Wenn man leben will, muB man auf das Gute im Menschen vertrauen können." — Da war sie schon wieder ernst. Hinter ihnen wurde der weite Salon mahlich leer. Die festlichen Lichter waren ausgegangen; in einer Ecke saB traulich Meister Samuel mit einer hübschen jungen Amerikanerin und trank Whisky. — „Was habt ihr euch eigentlich zu erzahlen — ihr, dort drüben am Fenster?" rief ihnen seine Orgelstimme zu. Marion antwortete nicht; sie sah jetzt müde aus, wie nach einer Anstrengung, die zu lange gedauert hat. Der Schriftsteller — dessen kurzes fahles Ge- sicht im Gegenteil erfrischt und rosig belebt schien — sagte, wobei er nicht zu Samuel hinüber sondern aufs Meer schaute: „Wir streiten über die Mittel; nicht über das Ziel. Sicher nicht über das Ziel." Zu Marion gewendet, meinte er abschlieBend: „Sie übersehen eine grundlegende Tatsache, chère amie — eine ganz einfache, biologische Tatsache, möchte ich beinah sagen. Die Liebe ist starker als der Ha(3. Der HaJ3 nutzt sich ab, erlahmt, laBt die im Stich, die mit ihm zu siegen meinten. Die Liebe aber ist unüberwindlich." Da sie nun verstummten und es auch im Raume hinter ihnen stille war, hörte man plötzlich, mit einer seltsamen Eindringlichkeit, als wollte es sich endlich bemerkbar machen, das Rauschen des Meeres und das seufzend leise Auslaufen der kleinen Wellen auf dem nahen Strand. — Ein paar Tage spater reiste Marion ab, ohne den berühmten Autor noch einmal gesehen zu haben. Alle warnten sie davor, dies friedensvolle Eiland gerade jetzt zu verlassen; am heftigsten redete Siegfried Bernheim ihr zu. „Auch ich sollte eigentlich nach Paris, in Geschaften. Fallt mir aber gar nicht ein, zu fahren. Kein Mensch weiB, was nachstens in Europa geschieht. Morgen kann es zum Krieg zwischen England und Italien — und das heiBt: zur allgemeinen Katastrophe — kommen. In Frankreich herrscht schon jetzt beinah Bürgerkrieg. Die Frage ist, ob man sie in Marseille überhaupt landen laBt. Dort wird jetzt gestreikt, kein Hotel oder Restaurant ist offen, die Hafenarbeiter machen keinen Dienst, es wurde auch schon geschossen — ich flehe Sie an, meine Liebe: bleiben Sie hier! Sie riskieren drauBen Ihr Leben. Hier ist nichts zu fürchten, auf dieser Insel sind wir in Sicherheit." — ,,So viel ich weiB, ist gestern eine Bombe vor dem Gemeindehaus in Palma explodiert," sagte sie. Bernheim nahm dies nicht ernst. „Das sind Kindereien! Die Menschen hier haben ein gutes Herz. Warum sollten sie böse und blutdürstig sein ? Sie haben genug zu essen, und diesen Himmel und dieses Meer! Vielleicht kommt es zu Unruhen in Barcelona. Auf Mallorca ist man wie in Gottes SchoB. — Ich gedenke, mir von hier aus anzusehen, wie sie sich in Europa schlagen", sagte der Bankier. — Und einer der jungen Literaten zitierte lachend die Verse von Jean Cocteau: „A Palma de Majorque Tout le monde est heureux. On mange dans la rue Des sorbets au citron." — Marion lieB sich nicht umstimmen. Alle schüttelten betrübt die Haupter über so viel Eigensinn; Samuel umarmte sie und schalt sie mit bewegter Orgelstimme „kleine Narrin"; sie reiste ab. Am 13. Juni kam sie in Marseille an. Es war nicht gemütlich. Am Hafen gab es weder Koffertrager noch Taxis. Für ein enormes Trinkgeld wollte ihr ein Junge das Gepack zum Bahnhof bringen. Die Hotels und Restaurants waren geschlossen, wie Bernheim es vorausgesagt hatte. Die Strafien waren verstopft von Menschen, die in langen Zügen marschierten, rote Fahnen trugen und die „Internationale" sangen. Die Gesichter schwitzten, waren eingehüllt in Staub, hinter dem Staub aber gab es ein mutiges Leuchten. Man begrüBte sich mit der erhobenen Faust. ,Was ist es?' dachte Marion. ,Ist es die Revolution ?' Sie empfand Freude, hier zu sein. Ergt in der überfüllten Bahnhofshalle bekam sie Angst. Der Zug, der sie nach Paris bringen sollte, verspatete sich. Sie fand auch den Jungen mit ihrem Gepack nicht mehr. Übrigens war sie hungrig. — Am nachsten Morgen erwartete Marcel sie in Paris, an der Gare de Lyon. Er sah glücklicher aus als seit langem. „In unserem alten Frankreich gehen groBe Dinge vor!" erklarte er ihr. — Als Marion ihre Tournee für den Sommer vorbereitete, hatte sie wieder Schwierigkeiten mit ihrem PaB. Verschiedene Konsulate weigerten sich, ihr ein Visum zu geben. Sie erinnerte sich des Spanischen Beamten in Nice und seines grausamen: „En somme, Madame, vous êtes sans patrie." So ging das nicht weiter. Eines Tages sagte sie zu Marcel: „Mir scheint, mein Engel, wir müssen heiraten." Er schien über diese Mitteilung zu erschrecken. Er gestand ihr: „Es ist mir nicht so ganz recht . . . Irgendwie habe ich davor Angst." — „Wieso — Angst ?" wollte sie lachend wissen. Er sagte: „Du hast mich nie heiraten wollen, und das war ein guter Instinkt von dir. Ich eigene mich nicht zum Ehemann. Ich bin krank, neulich habe ich wieder Blut gespuckt, ich bin erblich belastet, ich habe abscheuliche EItern. Wo werde ich enden ?" Er zögerte eine Sekunde, ehe er selbst, sehr leise, die Antwort gab: „lm Irrenhaus — fürchte ich oft. . ." Wahrend Marion eine heftig abwehrende Geste machte, fuhr er fort: „Und nun — nur des Passes wegen ? Irgendwie empfinde ich es doch als unschicklich . . . Das ist wahrscheinlich sehr dumm von mir," entschuldigte er sich gleich. „Bürgerliche Vorurteile . . . Die padagogischen Prinzipien der Madame Poiret scheinen ihren EinfluB auf mich geübt zu haben." Er lachte ein biBchen; wurde aber gleich wieder düster. „Es wird uns Unglück bringen . . Unter den hoch gespannten Bogen der Brauen war sein Bliek verdunkelt von Angsten, die Marion nicht verstand. Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar; es fühlte sich hart und widerspenstig an. „Aber, mon choux! Seit wann sind wir aberglaubisch ? — Wir können uns ja bald wieder scheiden lassen, wenn dir der Ehestand nicht gefallt!" schlug sie lachend vor. Sie küBte ihn; die Gebarde, mit der sie ihn an sich zog, war nicht jene, die eine Liebende für den Geliebten hat; vielmehr glich sie der anderen, mit der die Mutter ein erschrecktes Kind umarmt. Er lachelte zaghaft, wahrend er den Kopf an ihre Schulter legte. „Es wird sehr hübsch sein, wenn wir Mann und Frau sind, meine kleine Marion . . Es klang aber nicht sehr bestimmt, eher fragend, fast flehend. — Ein paar Tage nach der Zferemonie auf dem Standesamt war Marcel es, der vorschlug: „Wir sollten eine kleine Hochzeitsreise unternehmen, das gehort sich doch. Monsieur Poiret und Madame werden für ein paar Wochen miteinander in die Berge fahren." — „Das ware groBartig!" Marion war begeistert „Ich habe noch drei Wochen Zeit vor meiner Tournee durch die böhmischen Bader." Sie entschieden sich für das Engadin. In St. Moritz gefiel es ihnen nicht. Sie fanden ein schönes altes Graubündener Bauernhaus, in der Nahe von Sils Maria. Dort mieteten sie sich zwei Zimmer. — „Eine wunderschöne Hochzeitsreise!" steilten sie, jeden Morgen wieder, befriedigt fest. Sie atmeten freier in dieser dünnen und reinen Luft. Vieles, was drunten, im Tiefland, sie qualend beschaftigt hatte, schien sie hier droben kaum noch anzugehen. Vorübergehend durften sie manches vergessen, was sonst Inhalt ihrer Reden und Gedanken war. Sie sprachen nicht mehr vom Fascismus, der britischen Politik, den deutschen Konzentrationslagern, dem historischen Materialismus und der letzten Rede des Genossen Dimitroff; vielmehr davon, welch unbeschreiblich zarte und starke Farben der Himmel hatte; wie rührend es war, daB auf dem kargen Moos so mannigfach geformte und getönte Blumen gediehen, oder von der fast schmerzenden Klarheit des Lichts, in dem alle Dinge zugleich wirklicher und entrückter standen als drunten, in der feuchteren Athmosphare. Am Abend kam die Bergwand, vor der Sils Baselgia lag, schwarz und drohend nahe heran. „Sie wird auf uns stürzen!" fürchtete sich Marcel. Und Marion: „Ich hatte nichts dagegen. Es würde einen kolossalen Krach geben, und dann ware es still." Stiller, als es nun war, da sie schwiegen, konnte es kaum noch werden. Sie gingen auf der groBen Landstrafie, die nach St. Moritz führt, rechts neben ihnen der verdunkelte See, links die Bergwand. Der starke Wind, den sie im Rücken hatten, kam von Maloja her. Über ihnen, der Himmel, war reingefegt. Nachmittags hatte es Wolken gegeben; aber nun stand jeder Stern in genauer Klarheit. Marion war froh, weil Marcel schweigen konnte. Von ihm genommen schien der unselige Zwang, Worte ohne Ende hervorbringen zu müssen. War er von einer Krankheit genesen ? Er hatte den gleichmaBig ruhigen, kraftvollen Gang des Gesunden. Er schritt wacker aus — wie ein Soldat, fand Marion, die sein Gesicht von der Seite prüfte. Hatte nicht auch dieses Antlitz jetzt soldatische Züge ? Im blassen Licht der feierlichen Nacht sah es harter und entschlossener aus, strenger und dabei zuversichtlicher, als sie es jemals gekannt hatte. Der Bliek ging siegesgewiB gradeaus. So schreitet und so blickt einer, der sich über das Ziel des Weges langer nicht im Ungewissen ist. Der Mund war trotzig etwas vorgeschoben. Die stolze Kurve der Brauen beherrschte eine Stirn, die trotz ihrer Niedrigkeit kühn schien — bereit, sich allen Stürmen auszusetzen; nicht nur dem frischen Wind, der von Maloja kam und den sie jetzt noch in den Rücken hatten. Sie hatten heute in Sils Maria das bescheidene Haus besucht, an dem die Tafel mit der Inschrift hing: „Hier sann und schaffte Friedrich Nietzsche . . Über diesen Text hatten sie etwas lachen müssen; aber sie waren ernst geworden in der engen Stube. Aus dem Fenster gab es keinen Bliek in diese unsagbare Landschaft; man hatte vor sich nur die steil nach oben strebende Wand des Hügels, an den das Haus wie fest gewachsen schien. Bei all seinen inneren Kampfen, enormen Aufschwüngen, katastrophalen Niederlagen, hatte der magenkranke Professor — gemartert von Kopfschmerzen und intellektuellen Ekstasen — sich nicht den Trost der schonen Aussicht gegönnt. Marion und Marcel konstatierten dies mit Ehrfurcht und mit Erbarmen. — ,,Wir wollen umkehren," sagte jetzt Marcel; es war, als könnte ers nicht erwarten, den kalten Bergwind endlich im Gesicht zu spüren. Sie waren nicht darauf gefaBt gewesen, da!3 es sie mit solcher Heftigkeit anwehen würde. Sie erschauerten, froren, schmiegten sich im Gehen enger aneinander. Marion sagte: „Es ist so gut, da!3 wir hergekommen sind!" Er lachelte, ohne sie anzuschauen. „Ja — schoner als hier kann es auf dieser Erde nicht sein." Er blieb stehen. „Dieses Tal. . . dieser Wind . . Er zog tief die Luft ein. „Der Mann in dem abscheulichen Zimmer, wo wir heute gewesen sind — der kannte sich aus. Er wufite, die schönste Landschaft zu finden, und die Probleme, die entscheidend sind. Er hatte alles schon durchgemacht, ehe wir anfingen zu denken. Der ganze Aufruhr unserer Herzen, alle Ratlosigkeit, die schrecklichsten Irrtümer, der Wahnsinn, und noch die kühnsten Hoffnungen waren ihm gegenwartig. Er hat alles schon ausgesprochen — in deiner Sprache, Marion, in deiner schonen Sprache. Jetzt sollten wir schweigsamer sein — und ware es nur aus Ehrfurcht. Da er in Gedanken alles durchgelitten und durchgekampft hat, müssen wir anders leiden und anders kampfen. Hier hat der Prophet seine Wege gemacht. Wir aber sollten handeln. — Warum sagst du nichts, Marion ? Aber du zitterst ja ? Du klapperst ja mit den Zahnen, ma pauvre! Komm naher an mich! Ich will meinen Mantel über deine Schulter legen." DRITTES KAPITEL „Ich kann das Kind nicht bekommen," sagte Tilly, leise und mit bebender Bestimmtheit; woraufhin die Arztin streng und etwas feierlich wurde. „Genug jetzt! Ich will davon nichts mehr hören! Sie sind völlig gesund." — „Abgesehen von meinem Asthma," warf Tilly böse ein. — „Das ist nervös," steilte die Arztin fest. „Nach der Niederkunft wird es bald verschwinden." — ,,Ich kann das Kind nicht bekommen. Sie müssen mir helfen, Fraulein Doktor! Sie müssen!" — ,,Ich darf nicht, und Sie wissen, daB ich nicht darf. Ich würde es aber auch nicht tun, wenn ich dürfte. Sie bringen das Kind zur Welt, werden es lieb haben — und mir dankbar sein, dal3 ich Ihnen Ihre Bitte heute abschlagen mufi." Tilly stöhnte. In ihrem weiBen Gesicht öffnete sich klagend der Mund —: ein dunkles Loch in der hellen Flache dieser verzweifelten Miene. Ihr liebenswürdiges Antlitz wirkte tragisch verandert und sah übrigens ein wenig idiotisch aus, durch seine Starrheit und weil der Mund so trostlos offen blieb. Die Arztin erschrak. ,,Aber mein liebes Kind!" sagte sie angstlich. „Machen Sie doch kein so1 jammervolles Gesicht! Wahrscheinlich sind die Dinge gar nicht so schlimm, wie Sie sich das jetzt einbilden . . . Wollen Sie mir nicht ein wenig erzahlen ? Über den Vater Ihres Babys, und warum Sie so traurig sind ?" — ,,Nein," sagte Tilly; es kam rauh und fast zornig heraus. Die Arztin, etwas pikiert, zuckte die Achseln. „Ich dachte, es würde Ihnen vielleicht gut tun. Aber ganz wie Sie wollen — natürlich, ganz wie Sie es wünschen, mein Kind." — „Entschuldigen Sie!" sagte Tilly; sie war aufgestanden. „Entschuldigen Sie, bitte. — Ja, ich muB wohl jetzt gehen." — Auf der StraBe, in ihrem Zimmer, an der Schrei b- maschine — der Refrain von Tillys Gedanken bleibt: ,Ich kann das Kind nicht bekommen. Alles spricht dagegen, es soll nicht sein. Sein Vater treibt sich irgendwo auf einer LandstraBe herum, oder er sitzt in einem deutschen Gefangnis. Die Nacht, in der ich es empfangen habe, hat mit dem Besuch der Polizei geendigt. Welch entsetzliches Zeichen! Auf mir liegt ein Fluch, auch der Kleine würde etwas von ihm abbekommen. Ich kann das Kind nicht bekommen — ach Ernst, warum bist du nicht da, um mir zu helfen!' Sollte sie mit der Mutter sprechen ? Sie wagte es nicht. Alles muBte sie mit sich selber ausmachen, die Entschlüsse ganz alleine fassen. Manchmal dachte sie: Vielleicht darf ich es doch bekommen, das Kind. Ich könnte den Peter heiraten, er würde meinen, es ist von ihm, er würde es gern haben, spater könnte ich ihm vielleicht die Wahrheit gestehen — aber nein! das ist ja purer Wahnsinn! ihn so anzulügen! Woran denke ich denn! ich verliere den Kopf! — Wenn nur Marion jetzt in Zürich ware! Aber sie war beschaftigt, irgendwo unterwegs. — Und Frau Ottinger ? Die war freundlich und gut. Zehnmal war Tilly entschlossen, der alten Dame alles zu erzahlen; zehnmal brachte sies nicht über die Lippen. Nein, es ging nicht, es lag jenseits der Schicklichkeits-Grenze, so viel durfte man der braven Madame keinesfalls zumuten. Tilly lachelte matt, wenn Frau Ottinger sich besorgt wegen ihres schlechten Aussehens auBerte. „Ich fühle mich oft etwas müde," gestand das Madchen; Frau Ottinger riet ihr zu Lebertran. — Tilly war lange Zeit in tausend Angsten gewesen, der Polizeibeamte, der sie damals im Hotel überrascht hatte, könnte sich mit Ottingers in Verbindung setzen. Nichts dergleichen geschah. Die Polizei hielt sich unheimlich still. Ernst verschwand — wahrscheinlich war er nachts zur französischen Grenze gebracht und dort seinem Schicksal überlassen worden —; mit Tilly indessen schien man gnadig zu verfahren. Mindestens gönnte man ihr eine Bewahrungsfrist —: ,bis man mich zum nachsten Mal mit einem jungen Mann ohne PaB morgens in einer Kammer findet,' dachte sie bitter. ,Dann freilich ware SchluB, man setzte auch mich über die Grenze. — Oder schwebt schon jetzt gegen mich ein Verfahren ? Vielleicht bereitet etwas Fatales sich vor, von dem ich nur noch keine Kenntnis habe . . Ihr war oft zu Mute, als würde sie beobachtet und belauert. Sie hatte sich kompromittiert, man kannte höheren Ortes ihren Lebenswandel, man war miBtrauisch gegen sie, wahrscheinlich schickte man Spione hinter ihr her. Tilly fürchtete sich. Oft, auf der StraBe, fuhr sie plötzlich herum, weil sie die korrekt unnahbare Miene jenes Beamten neben sich zu erkennen meinte. — ,Ich werde verfolgungswahnsinnig,' hielt sie sich vor. ,In was für einem Zustand bin ich ? Pfui, man darf sich nicht so gehen lassen! — Eine schone Frau Mama würde ich abgeben! Mir tate das Wesen leid, das mich als Mutter hatte und den verschollenen Ernst als Papa. — Ich kann das Kind nicht bekommen.' — SchlieBlich sprach sie mit der alten Friseuse, von der sie sich das Haar richten lieB; sie war aus Genf, hatte in Paris und Nordafrika gearbeitet, ihr französischer Akzent wirkte vertrauenerweckend. „Es handelt sich um eine gute Freundin von mir," behauptete Tilly — wozu die Haarkünstlerin nachsichtig lachelte. „Sie kann das Kind nicht bekommen. Kennen Sie einen zuverlassigen Arzt ?" Die Coiffeuse kannte einen, und erbot sich sogar, für „Tillys Freundin" alle nötigen Verabredungen mit ihm zu treffen. „Ich empfehle ihn immer in solchen Fallen," schwatzte sie, wahrend sie mit gewandten Fingern Tillys Frisur arrangierte. „Ein vorzüglicher Mann." — Tilly wurde für den nachsten Sonnabend angemeldet. Sie muBte in einem dumpfen Korridor warten, ehe eine dicke kleine Person in nicht ganz sauberer Schwesterntracht sie in den Empfangsraum geleitete. Dort war es nicht viel heller als im Vestibül. Von dem geraumigen Zimmer waren zwei Ecken durch grüne, fleckige Vorhange abgetrennt. Die Nurse führte sie, unter leicht scherzhaften Reden, in eine der Nischen. Dort brannte eine matte, gelbliche Birne über dem Operationsstuhl, der mit klebrigem Wachstuch bespannt war. „Setzen Sie sich hin, kleines Fraulein!" riet die Schwester, deren pfiffig-munteres Gesicht runde Apfelbackchen von seltsam gesprenkeltem, stellenweis ins Violette spielendem Rot zeigte. „Machen Sie sich frei — nur das Hemd lassen Sie vorlaufig an. Der Herr Doktor wird wohl bald hier sein. Heute, am Samstag, haben wir gerade flotten Betrieb. Die Damen, die am Montag wieder ins Geschaft müssen, lassen sich Samstag Morgen behandeln, und erholen sich übers Weekend." Sie lachte, eigentlich ohne Grund. Es war, als sprache sie von einer neuen, amüsanten Form, das Wochenende zu verbringen. Wenn sie kicherte, leuchteten ihre Apfelbackchen ebenso sehr wie die kleinen Augen. Ihr Deutsch hatte einen stark Wienerischen Akzent. Aus der anderen Zimmerecke, die durch grünen Vorhang verborgen war, kam ein Stöhnen — woraufhin die Pflegerin, zugleich entsetzt und belustigt, die Hande überm Kopf zusammen schlug. , Jesses Maria und Joseph, das Fraulein Liselott wacht schon auf! Die ist grade erst verarztet worden. Ich sags Ihnen ja: heute haben wir GroBbetrieb!" Sie schien in famoser Stimmung. Wahrend Fraulein Liselott aus 23 ihrer Nische Jammertöne hören lieB, plauschte sie weiter. „Die ist namlich ein Stammgast bei uns, jedes halbe Jahr erscheint sie mindestens einmal. Ein hübsches Ding, kann man nicht anders sagen . . . Na, ich muB doch mal nach ihr sehen ..." Ehe sie entschwand, fragte sie noch über die Schulter — wobei sie den grünen Vorhang, in dessen Öffnung sie stand, gefallig um sich drapierte —: „Der Herr Brautigam wird Sie wohl abholen ? Er muB im Vorzimmer warten, dort haben wir sehr bequeme Stühle, auch Zeitschriften, er soll sich nicht bei uns langweilen." — „Es wird mich niemand abholen," sagte Tilly. — Darauf die Nurse, plötzlich etwas miBtrauisch: „Was für einen Beruf haben Sie eigentlich ?" Tilly log müde: „Ich bin Klavierspielerin." Es fiel ihr nichts anderes ein. Als junges Madchen hatte sie nett Klavier gespielt. Die Schwester zeigte sich befriedigt und gleich wieder animiert. „Aha, Künstlerin, das hab ich mir doch gedacht, ja ja, die Damen von der Musik sind oft a biBerl leichtsinnig. — Aber so ein kleines Malheur kann einer jeden passieren," fügte sie tröstlich hinzu. Das Stöhnen aus der anderen Kabine ward starker. Tilly empfand Grauen; sie begann zu zittern, kampfte gegen die Tranen. „Wird der Arzt nun bald kommen ?" fragte sie mühsam. Da hörte sie aus dem Nebenzimmer eine tiefe, rauh belegte Stimme rufen: „Legen Sie die Athermaske auf, Schwester! Ich bin fertig." Die Nurse zuckte zusammen; bekam fahrige Gesten; holte die Maske herbei. „Jetzt halten's nur still, kleines Fraulein! Schenkel auseinander. Zahlen's langsam bis Fünfzig! Tief atmen! Langsam atmen! Nur brav still halten, der Herr Doktor kommt schon, es ist gleich vorbei . . . Eins — zwei — drei — fünf — neun — fünfzehn . . . Nur brav zahlen, bittschön! Und still halten! Wird ja gleich vorüber sein ... Haben ja schon Zartere überstanden als Sie, kleines Fraulein . . Tilly atmete gierig den Ather. Nur das BewuBtsein verlieren, nur einschlafen, nichts mehr hören . . . nur die Stimme dieser Frau nicht mehr hören . . . Die erste Reaktion war Brechreiz. Dann spürte sie Todesangst, wollte hoch fahren, die Schwester drückte sie nieder Nur still halten, kleines Fraulein . . . Nur keine Geschichten machen . . . Haben andere ja auch schon überstanden ..." — ,Das Fraulein Liselott, zum Beispiel,' dachte Tilly, schon halb betaubt. ,Der Stammgast. . . die fesche Person, kann man nicht anders sagen . . . Warum zeigt sich der Doktor eigentlich nicht ? Er will wohl nicht, da/3 ich sein Gesicht sehe; könnte ihn auf der StraBe wieder erkennen; könnte mirs ja einfallen lassen, ihm zuzugrinsen, ihn zu grüBen ..." Da spürte sie schon seine Hande an ihrem Leib. Sie erschauerte unter der kalten Berührung der Instrumente. ,Das kitzelt!' war sie noch fahig zu denken. ,Huh -— das kitzelt aber infam! Gleich werde ich entsetzlich lachen müssen . . . Aber nun tut es weh!' — „Noch nicht anfangen!" schrie sie, und erschrak selber über den dumpfen Klang ihrer Stimme, die von sehr weit her zu kommen schien. „Noch nicht anfangen, bitteü Ich bin ja noch wach!" — „Wollen Sie wohl den Mund halten!" herrschte die rauhe Stimme sie an. Sie zwang sich zu schweigen. Gleichzeitig machte sie sich klar, daB sie zu sprechen gar nicht mehr im Stande ware. Dies war die Besinnungslosigkeit; der Abgrund — sie stürzte hinein. Indessen erwies das Dunkel, von dem sie empfangen ward, sich leider als bevölkert; mehrere verdachtige Gestalten traten daraus hervor und verursachten Schrecken. Stimmen vermischten sich miteinander; eine von ihnen war besonders verhaBt: sie gehorte der Rechtsanwaltin Albertine Schröder, die im Bett telephonierte. „Ist hier der junge Herr Rabbiner Nathansbock ? Hier ist die olie Schröder, von den S.A.-Leuten erst vergewaltigt, dann vermöbelt worden. Hören Sie, Nathansbock: ich habe eine süBe kleine Frau für Sie, prima Ware, möchte geheiratet sein, bietet zehntausend Franken, machen wir das Geschaft ?" Welcher Schrecken, da die Rechtsgelehrte nun das dicke, graue Plumeau von sich schleuderte, mit gewaltigem Satz aus dem Bett sprang und eine riesige Schere ergriff, die auf dem Nachttisch neben ihr gelegen hatte. Mörderisch stumm, drang sie mit der blitzenden Scharfe auf Tilly ein. „Da hast du deinen süfien Rabbiner! Deinen wonnigen kleinen Gatten! Du Hure! Da hast du, verfluchte Hure du!" Das eisige Metall fuhr knirschend in ihre Eingeweide. Der Schmerz war ungeheuer, Tilly fuhr in die Höhe. Sie sah den Arzt, der sich bis jetzt so schlau vor ihr versteekt gehalten. Er stand über sie geneigt, so tief, daB ihm das Blut zu Kopfe stieg. Auf seiner geröteten Stirn trat eine dicke Ader bedrohlich stark hervor. Sein Gesicht, mit hoher Stirn, langer, gerader Nase und kleinem Schnurrbart, schien mannlich edel geschnitten, aber verwüstet: das Gesicht eines Trinkers mit schwimmenden Augen und gedunsenen Lippen. Er war zornig, er raste, stampfte auf, brüllte die Schwester an: „Sie wacht ja auf! Schweinerei! ScheiBe! Wo hast du denn die Athermaske, dumme Gans ? Sie blutet ja! Ich sage es immer, mit dir kann man nicht arbeiten! Verflucht noch mal! Gib die Maske!!" Tilly, in einem Starrkrampf aus Entsetzen und Schmerz, konnte nur denken; ,Er nennt sie Du. Sie ist seine Geliebte.' — Sie sah das Gesicht der Schwe- ster, das höchst sonderbar verandert war. Ihr scheinheiliges Haubchen hatte sie abgelegt und zeigte nun eine etwas zerzauste blonde Dauerwellenfrisur —: ,unsere gemeinsame Freundin, die Coiffeuse, wird sie wohl hergestellt haben,' beschloB Tilly unter Qualen. Auf der kleinen, runden Stirne der Nurse standen dicke SchweiBperlen. Ihr purpurrotes, schamloses, nacktes, nasses Gesicht glich einer aufgeplatzten Tomate. Sie keifte: ,,Kann ich dafür, daB du am hellen Morgen schon besoffen bist ? Es ist ja nicht mehr anzusehen, wie dus treibst — ich gehe auf und davon — du wirst dich noch nach mir sehnen — auf den Knieen rutschen wirst du noch vor mir ! Da ist die Maske. Das dumme Ding schlaft schon wieder ein, rege dich nur nicht auf." Tilly, wieder mit dem Ather vorm Gesicht, begriff: Dieses war die infernalische Szene, der man sich unvermutet gegenüber sieht, wenn man die Tür zu einem Zimmer öffnet und findet ein Mörderpaar bei der Arbeit. Sie haben blutige Hande, sind erhitzt von der makabren Hantierung, rufen sich im Kauderwelsch der Kriminellen Flüche zu, haben aber das Meiste doch wohl schon geleistet, das Opfer ist fast zerlegt, sie schneiden ihm die Finger mit den Ringen ab — ach, ich bin das Opfer, mein Kind ist es, das sie stehlen. . . Ernst, Ernst, wo bist du, die Polizei hat dich abgeführt, ich bin allein mit dem verworfenen Paar . . . Das Schreckensbild verging in Qual und Nacht. Wie ein Labsal kam der Ather, den man erst so gefürchtet hatte. ,Weh mir, ich falie . . . Mit mir stürzt das Kind . . . Niemand da, um uns aufzufangen. Wie tief ist die Tiefe —: bodenlos . . . Niemand halt mich, ich sinke, weh mir, ich sinke hin . . .' Mallorca — höchst liebliches Eiland, mild beglanzt und beschienen von einer gnadigen Sonne; reich gesegnet mit Palmen, Zypressen und allerlei Blütengebüsch; mit Strandpromenaden, Klöstern, Hotels, dekorativ gruppierten Felsen, Grotten, Wasserlaufen, Terrassen; mit schonen Frauen, feurig imposanten Mannern, liebenswerten Knaben; mit Kathedralen, Stierkampftheatern, Bordells, Ginémas, Flughafen, Landungsbrücken, Museen; mit Bergen und Garten, stillen Winkeln und belebten Platzen; Mallorca, reizendste Gegend, seit eh und je bevorzugt von den Feinsten, auf deiner Erde lustwandelte Madame Georges Sand in schmuckem Herrenkostüm; vor dem farbenreichen Panorama, das du bietest, traumte am Pianoforte der lungenkranke Pole Chopin; Mallorca — friedlichste Insel, sorgenloses kleines Paradies, weit entfernt von Larm und Gefahren der Welt; angenehm isoliert, doch nicht abgelegen; idealer Aufenthalt für die Empfindlichen — Landschaftsmaler oder Bankiers —: hier laBt uns bleiben, laBt uns Hütten bauen, eine Villa mieten, mindestens ein Hotelzimmer für den Rest des Jahres! Nur nicht weg von hier, diese Sicherheit ist ja köstlich, wo sonst noch fande man sie ? Überall geht es hart auf hart, nur hier herrscht Heiterkeit ohne Ende, kein schriller Laut stört die perfekte Idylle . . . Aber hat es nicht eben ein dunkel drohendes Gerausch gegeben ? Sind nicht finstere Wolken über diesen Himmel gezogen, dessen Blaue sonst vorbildlich war ? Mallorca, wehe—: was ist mit dir vorgegangen ? Welcher Donnerschlag hat deine holde Szenerie verandert ? Aufschreie plötzlich, wo es nur Lieder und Gelachter gab! Die schwarzen Vogel, die sich vom Meere her nahen, bringen Unheil. In den Villen und am Strande mufl man sichs eingestehen, wie in den engen Gassen von Palma: dies sind Bombenflugzeuge, fabriziert in Italien und gelenkt von italienischen Piloten. Woher kommt die schaurige Invasion ? Die Hölle ist losgelassen; tausend Teufel prasentieren sich in den kleidsamen Uniformen römischer Fascisten, oder in der korrekten Tracht preuBischer Beamter und sachsischer Geheimagenten; das satanische Gesicht hat viele Formen, niemals aber könnte es ihm gelingen, seine Grausamkeit und seine dünkelhafte Dummheit zu verbergen. Nun beginnt der Teufel sein Werk: er schafift „Ruhe und Ordnung". Massenverhaftungen setzen ein, ein preuBischer Beamter oder ein römischer Offizier brauchen nur den fürchterlichen Wink zu geben, und ein Mallorcaner Bürger wird abgeführt. Die Kerker füllen sich; um Platz für neue Opfer zu schaffen — oder einfach, weil man es gern knallen hort — erschieBt man grundlos Verhaftete. Manchmal nimmt man sich nicht die Mühe, die Unglücklichen erst im Gefangnis abzuliefern: man holt sie nachts aus den Betten, fordert sie, grimmig lachelnd, zu einer „ Spazierfahrt" auf; ruft ihnen dann munter zu: Jetzt laufe! — Jetzt spring aber!' — denn man hat Humor — und dann kracht der SchuB. Am Morgen liegt die Leiche im Gras, am Waldessaum, oder auch mitten in der Stadt, es kommt nicht darauf an — in einer kleinen Blutlache, mit dem Gesicht auf dem Pflaster. Der Bischof von Palma findet dies alles christlich, segnet die Mörder und betet öffentlich für ihr Seelenheil. Frauen werden vergewaltigt, Kinder miBhandelt, Manner zerfetzt. Das Meer, das unsere friedliche Insel vom Festland trennt, scheint blutig verfarbt. Drüben, in der groBen Hafenstadt, stehen die Kirchen in Flammen. Dort wird erbittert gekampft. Eine Clique von Generalen, ausgehalten von den reichen Leuten, ist gegen die Regierung aufgestanden und will alle Macht im Lande haben. Das Volk laBt es sich nicht gefallen; empört sich, wehrt sich, racht sich; das Volk steht auf — in ungeordneten Massen zunachst, aber unbesiegbar durch seinen gerechten Zorn, seinen wütenden Willen zur Freiheit. Dieses Volk wird lang zu kampfen haben, groBe Ubermacht steht ihm gegenüber. Dieser Krieg dauert lange, ist ein grofier Krieg, und doch nur Teil von einem gröBeren. — Flieht, ihr Fremde aus den Badeorten: mit der Idylle ist SchluB! Flieht aus San Sebastian! Flieht von der Insel Mallorca! — Der groBe britische Autor, von Grauen geschüttelt, packt seine Koffer. Siegfried Bernheim muB den Kapitan eines fremden Kriegsschiffes mit hoher Summe bestechen, um nur mitgenommen zu werden. Die schone Villa laBt er im Stich, samt dem echten Renoir und dem zweifelhaften Greco: die Fascisten würden ihn nicht verschonen; das deutsche Konsulat ist schon seit langem auf ihn aufmerksam, zwischen den Nazis und den spanischen Phalangisten besteht intimer Kontakt —: er ware seines Lebens nicht sicher, bliebe er nur noch einen Tag. Zum ersten Mal in all den Jahren scheint Bernheim etwas aus der Fassung zu kommen. Schwankenden Ganges bewegt er sich über den Landungssteg, die Gassenjungen johlen hinter ihm drein. Auch Professor Samuel, an seiner Seite, zeigt ein fahles Gesicht. Mit ihm haben sich die witzigen jungen „Hüter der Ordnung" am Tage vorher noch einen ihrer famosen Scherze erlaubt. Ihm wurde mitgeteilt: „Jetzt muBt du sterben, alter Bolschewik! Dein Stündlein hat geschlagen, Judensau!" — woraufhin man ihn an die Wand steilte. Ein halbes Dutzend Kerle stand ihm in Reih und Glied gegenüber, die Gewehrlaufe auf ihn gerichtet. Sie zahlten: Eins — zwei — und drei! Dann brachen sie in tobendes Gelachter aus. Ubrigens waren sie nicht ganz auf ihre Kosten gekommen, weshalb ihr Lachen nicht sehr sehr heiter klang. Samuel hatte nicht gewinselt, nicht um Gnade gefleht, war nicht einmal in Ohnmacht gefallen. Aufrecht und mutig hielt er sein altes Haupt mit dem weiBen Gesicht, dessen gescheiter, sinnlicher Mund freilich nicht mehr lachelte. Er war nicht so sehr entsetzt oder traurig darüber, daJ3 er sterben sollte. ,Es ist idiotisch von den Burschen, mich umzubringen,' dachte er nur verachtlich, ,aber die sind wohl derartig dumm, daB sie es aus irgendwelchen Gründen für ihre Pflicht halten. AuBerdem macht es ihnen wahrscheinlich Vergnügen. Was mich betrifft, ich darf mich kaum beklagen. Mein Leben ist schön gewesen, nun geht es schnell zu Ende, ich habe weiter keine Unannehmlichkeiten mehr. Lieber hier geschwind umgebracht werden, als in ein deutsches Konzentrationslager — denn das ist wohl der Aufenthalt, der viele meiner Freunde erwartet. Hier werden sie auf italienische Schiffe verladen wie das Vieh; in Genua müssen sie umsteigen, und in München holen die Herren von der Gestapo sie am Bahnhof ab. Das ist nicht der Lebensabend, den ich mir wünsche. — Also, schieBt schon zu, dumme Buben!' — Sie schossen indessen nicht; lachten vielmehr wie besessen, wenngleich auf nicht heitere Art. Er dachte: ,Auch gut. So geht dieser Betrieb also weiter. Vielleicht darf ich noch ein paar gute Bilder malen. Aus dieser Szene, zum Beispiel, mit den Burschen und den Gewehren, ware allerlei herauszuholen.' — Bernheim, mittels seines Geldes und der hohen Beziehungen, setzte durch, daB Samuel mit ihm reisen durfte. — Die englischen Herrschaften, die so viel Whisky konsumiert und mit so viel Enthusiasmus Bridge gespielt hatten, wurden von gepanzerten Booten abgeholt, die zu His Majesty's Navy gehörten. Von den deutschen Emigranten, die via Genua nach München geschafft werden sollten, brachten sich mehrere um. Keiner wurde vergessen, trotz aller Aufregung; die schwarzen Listen, welche die deutschen Behörden an die fascistisch-spanischen weiterleiteten, schienen umfassend zu sein; man arbeitete glanzend zusammen, die Regie klappte, alles ging wie am Schnürchen; die Apokalypse war prima organisiert, die Orgie der Sadisten trefflich vorbereitet, in Rom und Berlin hatte man wohl, vor Beginn des Schlachtens, jedes Detail des Programms mit Sorgfalt besprochen: Die roten Untermenschen sollen unsere Macht und kalte Klugheit spüren, die Juden und Pazifisten auch, die aufsassigen Arbeiter, die Literaten, und von den Priestern jene, die es mit dem Christentum ernst meinen — hin müssen sie alle werden, die Nilpferdpeitsche für sie, der Rizinus-Trank, die Handgranate in die Fresse, das Bajonett in den Bauch —: Es lebe die Internationale des Fascismus! — Es lebe die Internationale der Freiheit! Wer Widerstand leistet, bleibt nicht ganz allein. Die Regierungen mögen ihn im Stiche lassen; die „groBen Demokratien" mögen ihre feige Politik, die nur dem Angreifer zugute kommt, „Neutralitat" oder „Nichteinmischung" nennen. Von überall her kommen die Freunde, die Freiwilligen; begeisterter Zulauf aus allen Landern, allen Himmelsstrichen; Proletarier neben Intellektuellen, sie sprechen verschiedene Sprachen und verstehen sich doch —: es formieren sich die internationalen Brigaden. ,,Nun weiB man doch, wohin man gehort!" sagt ein junger Mann, wie Hans Schütte, der in Prag nicht hat bleiben dürfen, und dann nicht in Wien, und in Frankreich nicht, und nicht in der Schweiz, in Holland oder in Skandinavien. Trotzig hat er sich herum getrieben, überall der ungebetene Gast, verfolgt von der Fremdenpolizei, ein Geachteter. Er sieht schon verdachtig aus und recht heruntergekommen. Ein harter, struppiger Bart ist ihm gewachsen, und seine runden, etwas vortretenden Augen, die einst gutmütig schauten, haben oft einen flackernd scheuen Bliek, der nichts Gutes verheiBt. Jetzt aber begreift er: Es gibt irgendwo was zu tun — etwas GroBes. Das lohnt sich, da mache ich mit. In jenem Lande — wo ich noch nie gewesen bin und dessen Sprache ich nicht verstehe — sind die Leute namlich auf eine glanzende Idee gekommen: auf die Idee, sich zu wehren. ,Dorthin gehore ich! Dies ist die Gelegenheit, auf die ich so lang gewartet habe — dies die Stunde: ich erkenne sie, sie ist da!' So empfand Marcel Poiret. Er war müde der groBen Worte, gierig danach, zu handeln; er lechzte nach der Tat, nach dem Opfer; nun war es so weit: man konnte sich anschlieBen, sich zusammentun, gememsam handeln mit den Kameraden. Sie haben nicht verstanden, sie sind stumpf und dumm geblieben, wenn man sich an sie wendete und sie ergreifen wollte durch das geschriebene Wort. Sie werden begreifen, man wird zu ihnen gehören, wenn man mit ihnen kampft. ,Nun hatte es doch sein Gutes, daB der Französische Staat, die brave Dritte Republik mich hat schieBen lehren. — Ich gehe nach Spanien. Ich melde mich zur Internationalen Brigade.' Es werden ihm Abschiedsfeste gegeben; eines veranstaltet die Schwalbe in ihrem Lokal. Ganz vollzahlig ist der kleine Kreis bei dieser Gelegenheit freilich nicht. Einige junge Leute, die man haufig hier sah, sind ihrerseits schon nach Spanien vorausgefahren. Auch Marion und Martin sind nicht erschienen. Martin geht fast gar nicht mehr aus — wie die Schwalbe betrübt berichtet —: er verbringt die Tage im Bett, die Nachte am Fenster, und in den rosig- grauen Stunden der Dammerung kann man ihn ziellos durch die Gassen des Quartier Latin oder drunten, an der Seine, promenieren sehen. Und Marion! — Mit ihr ist Marcel heute den ganzen Tag gewesen, und morgen früh wird sie allein es sein, die ihn zum Zug begleitet. Sie ist sehr erschrocken, als er ihrs gesagt hat: Ich gehe nach Spanien. Marion, die sonst nur tröstet und hilft, zur Besinnung oder zum Kampf ruft — Marion hat geweint. Ihr Mund hat kindlich gezittert, aus den schonen, schragen Katzenaugen flossen Tranen: „Tu es nicht! Ich sehe dich niemals wieder! Bleibe hier, es gibt hier genug zu leisten! Bleibe meinetwegen! Ich bin deine Frau!" — Sie hat sogar dies gesagt: ■— „Ich bin deine Frau!" — hat sich nicht geschamt, das riskante, in solchem Zusammenhang fast abgeschmackte Argument zu benutzen. Noch arger aber war es, als sie plötzlich verlangte: ,,Wenn du gehen muBt — nimm mich mit! Ich will nicht alleine hier bleiben, oder in Mahrisch-Ostrau Gedichte aufsagen —und anderswo wird die Entscheidungsschlacht geschlagen, und du bist dabei! Nimm mich mit! Ich kann auch schieBen lernen, ich bin sehr begabt fürs SchieBen, im Lunapark habe ich immer den ersten Preis gewonnen —; oder ich kann Krankenschwester werden, oder den Soldaten nachts Geschichten erzahlen, wenn sie wach bleiben müssen — und ich kann bei dir sein; denn ich bin deine Frau!" Marcel streichelte sie erst und bat: „Das ist nicht dein Ernst, Marion! Das kannst du nicht wirklich wollen!" Als sie eigensinnig blieb, muBte er streng und beinah drohend werden. „Es gibt Wege, Marion, die man allein zu gehen hat! Du kannst nicht mit mir kommen. Ich will nicht, daB irgendjemand mit mir kommt." — Da verstummte sie und hielt das Gesicht lang gesenkt, wie beschamt. Erst viel spater war es, daB sie leise sagte: „Wahrscheinlich hast du recht. Es gibt Wege — die mu!3 man alleine gehen." Und — wieder nach einer Pause; aufseufzend, von ihm weggewendet: „Ach Marcel — mein Marcel . . . Was ist uns bestimmt? Wohin führt das alles, und wo kommen wir an! — Wie seltsam sind die Dinge, die uns vorbehalten sind ..." — Als sie nachts neben ihm lag, sah sie wieder, vor den fassungslos geöffneten Augen, den feuerspeienden Berg, den Vulkan. Rauchmassen, lodernder Brand, und die Felsbrocken, die tödlich treffen. Wehe — was ist uns bestimmt ? . . . Marion, Martin und Kikjou fehlten auf dem Fest der Schwalbe; hingegen gab es mehrere neue Gesichter, wie auch alt vertraute: Helmut Kündinger war da — fast arriviert nun; ein angesehener Journalist, von würdevoll selbstbewuBtem Betragen—, Doktor Mathes samt seiner schonen Frau, die, mit leuchtendem Haar und blanker Stirn, einem militanten Erzengel glich; Nathan-Morelli, dessen Gesichtsfarbe unheimlich gelblich war und der leidend wirkte — was ihn übrigens keineswges dazu veranlaBte, etwas weniger Zigaretten zu rauchen—; Fraulein Sirowitsch, seine Lebensgefahrtin, Leiterin der groBen PresseAgentur — ihrerseits stattlich erblühend, ganz entschieden üppiger und attraktiver geworden, seit wir ihr, im fernen Jahre 1933, erstmals begegnen durften; Ilse Proskauer — die schrage Nackenlinie belastet von den Sorgen um ihre jüdischen Schützlinge, von denen sich einige angstlich um sie gruppierten; Theo Hummler — eben aus StraBburg, Prag oder Stockholm zurückkehrend, eingeweiht in mancherlei politische Machenschaften und geheime Aktionen, leicht zerstreut und sehr in Anspruch genommen, aber doch jovial, munter trotz allem, ein lustiger Geselle, guter Trink-Kumpan, obwohl so wichtig beschaftigt; Germaine Rubinstein, die ernsten Augen voll Heimweh nach dem unbekannten RuBland; die gefeierte Ilse 111, fast nur noch Französisch sprechend, höchst extravagant und schaurig hergerichtet, mit grünem Haar und violetten Wangen. Sie erzahlte allen, die es horen wollten: „Ich bin wirklich froh darüber, daB ich Erfolg habe — wirklich froh. Denn es ist doch ein gutes Zeichen, wenn ein begabter Mensch sich durchsetzt, ganz ohne Protektion. Mit dem Talent, und mit gar nichts anderem, habe ich es geschafft." Übrigens war sie eher noch miBtrauischer, fast verfolgungswahnsinnig geworden, seitdem sie reüssiert hatte. Es geschah, daB sie irgendeinen von den alten deutschen Bekannten mit heftigen Vorwürfen plötzlich überschüttete. ,,Du grüBt mich nicht mehr — oder nur noch kühl —: weil ich Erfolg habe: das ist der ganze Grund. Du verachtest mich wohl, weil ich Geld verdiene ? Pfui, wie kann man nur so borniert und eifersüchtig sein! Dabei verdanke ich doch alles einzig und allein meinem groBen Talent!" — Sie erbot sich, Marcel zu Ehren ein Lied zu singen, und trug gleich eine graBlich unanstandige Ballade vor — „pour faire plaisir a norte ami Poiret!" David Deutsch aber — das schwarze Haar über dem wachsbleichen Gesicht wie in standigem Entsetzen starr aufgerichtet — sprach mit schiefen Bücklingen: „Ich bin etwas neidisch, Marcel! Wie gerne möchte ich mitkommen. 'Meine soziologischen Arbeiten freuen mich fast nicht mehr, seitdem in Spanien der Entscheidungskampf begonnen hat —: denn es ist ein Entscheidungskampf, das spüren wir alle. Ich fürchte nur, man könnte mich kaum gebrauchen; ich ware kein guter Soldat . . ." Dazu ein kummervoller Bliek auf seine empfindlichen, bleichen Hande. — „Aber vielleicht komme ich nach!" fügte er hinzu und hob, mit einem kleinen Ruck, stolzer das schmale Haupt. „Vielleicht komme ich nach!": Auch Doktor Mathes sagte es, das schone Meisje, Theo Hummler, selbst die Schwalbe lieBen dergleichen horen. — „Vielleicht komme ich nach!" —: sogar Martin verhieB es; Marcel hatte ihn nach SchluB der SchwalbenGesellschaft aufgesucht. Von Martins üppigen und fahl gewordenen Lippen indessen klang es nicht so ganz überzeugend. Er bekam lügnerische Augen und behauptete, mit koketter Pedanterie: „Ich nehme jetzt fast gar nichts mehr — weiBt du. Nur noch ab und zu eine Kleinigkeit — man kann sagen: ich bin vollstandig frei. In ein paar Wochen werde ich ganz gesund — und dann fahre ich wohl nach Spanien . . Wahrend Marcel noch bei ihm saB, rief Pépé, der Drogen-Handler an, und Marcel muBte sich ausführlich bei ihm entschuldigen wegen der hohen Schulden. „Ich erwarte eine gröBere Überweisung von meinen Eltern, aus Deutschland!" rief er beschwörend durchs Telephon. „Sei doch noch ein biBchen geduldig, mein süBer Pépé! Und vor allem, vergiB nicht: morgen muB ich ein neues Packchen haben!" — Neben seinem Bett lagen allerlei rot verfarbte Lappen und Wattebausche. „Die sind vollgesogen mit meinem Blut," erklarte Martin geheimnisvoll, als verrate er etwas Reizendes, Pikantes. „Bei den intravenösen Injektionen gibt es Blutverluste — weiBt du . . Dabei waren seine Augen verhangen, lüstern und trostlos traurig. Ehe Marcel ihn zum Abschied küBte, fragte Martin ihn noch: „Hast du eine Ahnung, wo Kikjou steekt ? Ich glaube, er ist immer noch in Lausanne; aber ich habe schon seit langem keinen Brief bekommen. Er beschaftigt mich nicht mehr so sehr — Gott sei Dank. Aber wenn du seine Adresse zufallig wüBtest, könntest du sie mir doch geben ..." Marcel sagte, er habe keine Ahnung, wo Kikjou sei. Er ging zu ihm, noch in dieser Nacht, es war seine letzte Visite, ehe Marion ihn zum Bahnhof brachte. Kikjou wohnte in einem kleinen Hotel, nah der Madeleine. Dort versteckte er sich vor Martin. Er wollte Martin nicht sehen — um keinen Preis, unter keinen Umstanden —; er hatte Angst vor ihm und vor der chose infernale. In seinem Zimmer hing das Kruzifix; auch die Bücher, auf dem Tisch gehauft, waren wohl fromme Werke. In dieser Nacht aber unterlieB es Marcel, sich mit Kikjou über Gott und die allein-selig-machende Kirche zu streiten. Er sagte nur: „In Spanien kampfen die Priester auf der anderen Seite auf der Seite des Feindes. Sie haben das Volk in der Finsternis halten, unterjochen und ausnutzen wollen. Das Volk haBt sie." Dabei ruhte der Bliek der tragisch aufgerissenen Sternenaugen auf dem Bild des Gekreuzigten. — „Es gibt schlechte Priester," gab Kikjou zu. Marcel, anstatt darauf einzugehen, erwiderte: „Lebe wohl!" — Sie umarmten sich, Marcel et son petit frère, Marcel und Kikjou, einander so ahnlich, von einander so verschieden, wie Brüder es sind; Beide begnadet mit Reiz, Beide verführend mit weit geöffneten, schillernd vielfarbigen Augen unter den hohen, kühn geschwungenen Bogen der Brauen. „Mon petit singe!" sagte Marcel, und Kikjou nahm seine Wange nicht von Marcels Gesicht. Sie wuBten, es war ein Abschied für lange Zeit, der Abschied für immer vielleicht. — ,,Ich werde für dich beten," versprach Kikjou, und Marcel widersprach nicht, lachte nicht, schimpfte nicht, sondern nickte ernst: „Das kann nichts schaden. Bete für mich. Bete für mich, mon petit singe, mon petit frère." — Es war nicht davon die Rede, daB Kikjou nachkommen wollte; beinah alle, von denen Marcel Abschied nahm, steilten dergleichen in Aussieht; nicht aber Kikjou. Nur daB er beten würde, versprach er. — ,,Und sei wieder gut zu Martin!" bat Marcel, ehe er ging. „Er braucht dich. Er ist sehr traurig." — Kikjou darauf, das perlmutterne Affengesichtchen unbewegt: „Er braucht mich nicht, obwohl er traurig scheint. Er hat sich anders entschieden. Nun mu!3 er seinen Weg allein zu Ende gehen." — Marcel dachte plötzlich an die blutgetrankten Lappen und Wattebausche neben Martins Bett.,Auch er verströmt sein Blut — auch er. Sinnlos flieBt es hinjeineverschwendete Kostbarkeit; das vergeudete Opfer. . — Nun gab es nicht viel mehr zu tun, und die Nacht war schon fast zu Ende. Ihren Rest verbrachte Marcel in seiner Wohnung mit dem Ordnen von Papieren und Bildern. Gegen sieben Uhr holte Marion ihn ab. Von seiner Mutter, Madame Poiret, hatte er nicht Abschied genommen. ,Es wird nie mehr ganz gut mit mir werden,' glaubte Tilly. ,Der mörderische Doktor und seine Geliebte haben mich mit ihren unsauberen Instrumenten verdorben. Ich bin ganz kaputt. Richtig verpatzt haben sie mich — das kommt nie mehr in Ordnung. Es tut scheuBlich weh Die Schmerzen im Unterleib wurden beim Gehen am schlimmsten; aber auch beim Sitzen an der Schreibmaschine waren sie oft von solcher Heftigkeit, daB Tilly aufstöhnen muBte. Herr Ottinger, obwohl etwas schwerhörig, vernahm leise Laute, die ihm beunruhigend schienen. „Was ist Ihnen, liebes Kind ?" fragte er, das sanfte, bartige Gesicht zartlich zum Manuskript der „Lebensbeichte eines Eidgenossen" geneigt. Tilly konnte sich zusammennehmen. „Gar nichts," konnte sie sagen. „Wirklich — ich habe nur ein biBchen Kopfweh, Herr Ottinger." — „So so," 24 machte er, und seine freundlichen alten Augen schauten schon wieder an ihr vorbei, durch sie hindurch, in eine Vergangenheit, die zugleich heiterer und würdevoller schien als eine Gegenwart, die Fröhlichkeit und elegante Form verloren hat. — Tilly wuBte ungefahr, was ihr fehlte: in medizinischen Nachschlagewerken hatte sies festgestellt. Was nützten ihr die lateinischen Worte und die einpragsamen, etwas unappetitlichen Bilder ? — ,Ich bin verpatzt worden,' war alles, was sie begriff. ,Man hat mich kaputt gemacht. Ich werde nicht mehr gesund.' — Dann begriff sie auch noch: ,Im Grunde will ich gar nicht gesund werden.' Die Schmerzen im Unterleib waren wohl nur Symptom und Ausdruck eines gröBeren, tieferen Leidens. Seitdem das Kind, welches Tilly nicht hatte bekommen wollen, entfernt war, fühlte sie sich noch viel betrübter als vorher, da sies „unterm Herzen" trug. Sie fühlte sich so betrübt, daB sie beschloB: Jetzt hat es aber wirklich keinen Sinn mehr! Ich muB sterben. — Den Ernst sehe ich niemals wieder, auch den Konni nicht. Beide sind vielleicht schon totgeschlagen worden. Ziemlich viel hatte ich mir von der Bekanntschaft mit H. S. versprochen — diesem unbekannten, mir doch so vertrauten H. S. Aus irgendwelchen Gründen scheint das Schicksal nicht zu wünschen, daB wir uns begegnen . . . Ich sterbe, etwas anderes bleibt gar nicht übrig. Ich habe nichts mehr, was mich halten könnte — nicht einmal ein kleines Kind; denn das durfte ich nicht bekommen. Ich weiB aber, wie ich mir Veronal verschaffen kann. Ich verschaffe mir Veronal. . . Der Mutter sage ich, daB ich auf zwei Tage nach Basel muB zu Bekannten. Ich gehe in das Hotel, wo ich damals mit dem Ernst gewesen bin. In das Hotel, wo die Polizei uns überrascht hat —: dorthin gehe ich ..." Tilly bestand darauf, da/3 sie das gleiche Zimmer bekomme wie damals. Die Wirtin wunderte sich: Aber es hat doch zwei Betten, und ist um einen Franken fünfzig teurer, als die kleinen einbettigen! — Tilly blieb dabei: Ich will Nummero 7. Mit Rührung erkannte sie das klapprige Waschgestell wieder und die Flecken an der Wand, von denen Ernst so sachverstandig gesagt hatte: Hier hat man Wanzen zerdrückt. Damals hatte sie nichts bei sich gehabt, kein Pyjama und keine Zahnbürste. Heute trug sie ein kokettes, übrigens recht billiges Handtaschchen aus rotem Lackleder, in dem alles Notwendige untergebracht war. Durch das sorgfaltige Packen hatte sie die Mutter irreführen wollen. Es war ihr aber auch daran gelegen, gerade an diesem Abend und in diesem Zimmer soigniert und adrett zu sein. Sie verteilte die Flacons, Tuben, Bürsten und Metallgegenstande in hübschem Arrangement auf dem Nachttisch. Neben die Toilettesachen legte sie die beiden Röhrchen mit Veronal, als ob sie nur einen harmlosen Bestandteil der damenhaften kleinen Ausrüstung bedeuteten. Sie zog den schwarzseidenen Hausanzug mit den langen, weiten Hosen an; wahrend sie das Jackchen zuknöpfte, fiel ihr ein, daB dies kleidsame Stück ein Geschenk von Peter war. ,Guter Peter!' dachte sie traumerisch, und sie begann, sich für die Nacht zurecht zu machen. Statt sich aber das Gesicht, nachdem sie es vom Puder sorgfaltig gesaubert hatte, mit fetter Crème einzureiben, wie sie es gewöhnt war, puderte sie sich frisch und schminkte sich Lippen und Augenbrauen. Sie legte sogar ein wenig Rouge auf die obere Wangenpartie, was sie nur vor groBen, festlichen Ausgangen zu tun pflegte. Sie betrachtete sich lange im Spiegel. Ganz sachlich, ohne Stolz und ohne Betrübtheit, steilte sie fest, daB sie auBerordentlich hübsch aussah. Die dunklen Schatten um die langen, schrag gestellten Augen gaben dem sinnlich-schwermütigen Bliek einen noch starkeren Ausdruck. Die sehr weiBe und ebenmaBig gebildete Stirne schimmerte, vom glatten Scheitel des rötlichen Haars ernst und artig gerahmt. Das dunkle Lippenrot, zu dem die Coiffeuse ihr neulich so dringlich-schwatzhaft geraten hatte, machte ïhren weichen, ,, schlampigen Mund erst recht verführerisch. ,Ich hatte diese Farbe schon früher benützen sollen, dachte sie, und dann muBte sie über sich selber lacheln. Lachelnd ging sie die paar Schritte vom Spiegel zum Tisch, auf den sie Briefpapier gelegt hatte. Beim Gehen spürte sie wieder Schmerzen. Wahrend sie sich am Tisch niederlieB, stöhnte sie. Sie saB ein paar Minuten lang gekrümmt; die Kniee hochgezogen, das Gesicht in die Hande gepreBt. ,Wenn nur nicht auch noch ein Asthma-Anfall zu allem iibngen kommt! dachte sie. ,Oh mein Gott — nur kein Asthma! Das ware das Schlimmste, es würde alles verderben! ... Ich glaube aber, das Asthma bleibt mir erspart. Ich atme leichter und freier als seit langem. Dies steilte sie mit Dankbarkeit und nicht ganz ohne Verwunderung bei sich fest. Dann begann sie zu schreiben. Sie hatte vergessen, ihren kleinen Füllfederhalter mitzunehmen. Der Federhalter, den die Wirtin ihr gebracht hatte, war dünn, mit Tintenflecken bedeckt und sehr abgegriffen. Er sah abgenagt aus — fand Tilly, die sich ziemlich vor ihm ekelte —, als hatten viele Kinder ihn benutzt, oder Erwachsene, denen das Schreiben schwerfallt. Alle hatten ihn zum Munde geführt und sorgenvoll an dem langen, dünnen Holz gekaut. Die Stahlfeder war alt und verrostet. Es gab ein haBlich kratzendes Gerausch, wenn man sie übers Papier führte. Zuerst schrieb Tilly ein paar Zeilen für die Wirtin. „Falls Sie mich tot vor finden, benachrichtigen Sie bitte den Herrn Peter Hürlimann." Sie gab seine Adresse und Telephonnummer an. .Hürlimann soll es der Mutter sagen!' — das hatte sie schon vor langem beschlossen. ,Es ist die letzte kleine Gefalligkeit, die der gute Junge mir tut.' — Den Brief an die Wirtin schloB sie: „Entschuldigen Sie, liebe Frau Barli" — zu ihrer Überraschung fiel ihr plötzlich dieser Name ein —„daB ich Ihnen so viel Umstande mache, und daB ich mir gerade Ihr Gasthaus ausgesucht habe für die Sache, die ich tun muB. Hoffentlich haben Sie nicht zu viel Scherereien." Das Wort „Gasthaus" strich sie aus und schrieb „Hotel" darüber. Das ist höflicher, dachte sie. Dann schrieb sie an den Peter Hürlimann und bedankte sich für alles bei ihm, was er für sie getan hatte; ganz besonders auch für die letzte kleine Gefalligkeit, die es nun noch zu erledigen galt: den schlimmen Gang zur Mama. „Aber sie wird es mit Fassung aufnehmen," schrieb Tilly. „Sie bewahrt ihre Haltung, in allen Situationen. — Und du darfst auch nicht zu traurig sein, lieber alter Peter! Wenn du mich gerne hast, solltest du mir die Ruhe gönnen. Ich bin furchtbar müde, und alles tut mir so weh. Verlange keine Erklarungen von mir, lieber alter Peter! Du muBt mir schon glauben und muBt spüren, daB ich recht habe, und daB es so am besten für mich ist. Denke nicht zu viel an mich, aber doch manchmal. Manchmal solist du schon an mich denken. Deine alte Freundin Tilly." Wie ein fleiBiges Schulmadchen saB sie an dem kleinen wackeligen Tisch und lieB die kratzende Feder emsig übers Papier wandern. Ihre Zungenspitze spielte im Mundwinkel; die geschminkten Brauen waren hochgezogen, die Stirne hatte sie in ernsthafte Falten gelegt. Das lange Sitzen strengte sie an. Die Schmerzen im Unterleib wurden starker. Wahrscheinlich hatte sie jetzt auch Fieber. Sie stöhnte. Stöhnend schrieb sie ihre letzten GrüBe. Als sie ihre letzten GrüBe, ihren Dank und ihre Bitte um Verzeihung an die alten Ottingers schrieb, muBte sie weinen. Es war zum ersten Mal, daB ihr die Tranen kamen, seit sie jenen definitiven EntschluB gefaBt hatte, der das Herz einerseits leicht machte, andererseits erstarren lieB. „Sie sind sehr, sehr gut zu mir gewesen." Die rostige Feder wurde immer widerspenstiger; Tilly muBte jeden Buchstaben einzeln malen. „Ich bin Ihnen dankbar, von ganzem Herzen. Hoffentlich finden Sie gleich ein anderes Madchen, das viel schneller tippen kann als ich, und nicht immer so blode Fehler macht. Ich glaube, Herrn Ottingers Erinnerungen sind ein wundervolles Buch; vor allem das Kapitel über die Schweizer Berge hat mir so gut gefallen, es steekt so viel Gefühl darin, ich wollte es dem lieben Herrn Ottinger immer schon gelegentlich sagen." Jetzt waren ihre Augen so naB, daB alles vor ihnen verschwamm. Sie suchte nach einem Taschentuch in allen kleinen Taschen ihres Pyjamas. Sie fand keines und erhob sich stöhnend, um es sich aus dem Handkoffer zu holen. ,Nun muB ich noch an Mama und an Marion schreiben,' dachte sie, wahrend sie sich gründlich schneuzte und die Augen wischte. ,Aber ich mache es kurz. Denn ich kann nicht mehr. Ich kann bald wirklich nicht mehr.' Als sie wieder am Tischchen saB, lieB sie die Hande noch eine Weile im SchoBe liegen. Sie hatte nicht die Kraft, gleich wieder nach dem mageren, abgekauten Federhalter zu greifen. ,Ein Glück, daB ich die Adres- sen von meinen zwei Liebhabern, von Konni und Ernst nicht weifi; sonst müBte ich denen auch noch schreiben,' dachte sie, wie eine kleine Sekretarin, die sich freut, daB ihr Chef eine Adresse verloren hat und sie also um lastige Arbeit herumkommt. Dann aber erschrak sie gleich über den Zynismus ihrer Überlegung. ,Wie kann nur ein fast erwachsenes Madel so faul sein!' Sie benützte in ihren Gedanken die Worte, die früher eine Handarbeitslehrerin so oft mit gerechter Empörung zu ihr gesagt hatte. ,Ich habe in meinem Leben nur Zwei gern gehabt, und nur mit Zweien geschlafen, und von Beiden weiB ich nicht, wo sie sind, vielleicht sind Beide schon tot, und ich weiB es nicht. Den Konni haben sie vielleicht in Deutschland umgebracht, oder sie haben ihn so lang gequalt und geschunden, daB er gar kein richtiger Mensch mehr ist, sondern schon ganz kaputt, und ich würde ihn kaum noch erkennen. Würde ich ihn denn überhaupt noch erkennen, wenn er jetzt hier ins Zimmer trate und sahe noch fast aus wie früher, nur ein biBchen alter natürlich ? Ich habe sein Gesicht ganz vergessen. An seine Stimme erinnere ich mich noch, und auch an die Art, wie er ging. Aber sein Gesicht habe ich vergessen. Alle Züge verwischen sich mir, wenn ich dran denken will. Ach, Konni Konni — und wir hatten glücklich sein können! Wir haben doch so fein zueinander gepaBt! Aber wie der Ernst aussieht, das weiB ich noch ganz genau, ich spüre noch die Berührung von seinem Körper an meinem, und wie seine Hande waren spüre ich noch, ich spüre noch alles. Als ich hier mit dir im Bett lag, Ernst, da wuBte ich wohl noch gar nicht, daB ich dich lieben würde, wenn du nicht mehr da bist, sondern ganz verschwunden . . . DaB ich dich lieben werde . . . DaB ich dich liebe. Ich hatte das Kind gern von dir bekommen, lieber Ernst, das glaubst du mir doch, wenn ich es dir ganz aufrichtig sage in dieser Stunde, die schlieBlich eine ziemlich ernste Stunde für mich ist. Aber was sollten wir mit einem Kind ? Und was soll denn unser Kind auf der Erde ? Schau, so was darf man doch einem Kind nicht antun — es mit solchen Eltern auf die Welt zu bringen! Was für ein hilfloses kleines Geschöpf ist so ein Baby — und waren wir ihm denn eine Hilfe gewesen ? Bist du denn ein Papa, wie er sein soll ? Ich will dich ja nicht kranken, lieber Ernst, und deiner mannlichen Ehre nicht zu nahe treten. Du kannst ja auch nichts dafür, daB du wie ein Verbrecher durch die Lander gejagt wirst, weil du keinen PaB hast. Wenn du mir nur mal geschrieben hattest, dann ware alles anders gewesen, und ich hatte vielleicht sogar den Mut gehabt, das Kleine zu kriegen. Aber nun muB ich denken, du bist vielleicht einfach tot. — Und — das liegt doch auf der Hand — ich bin auch keine Mama, wie sie sein sollte, sicher nicht. Ich habe nicht die Kraft und den Willen, mein eigenes Leben auszuhalten. Wie sollte ich es da verantworten, ein anderes Leben in die Welt zu setzen, und aufzuziehen, und immer zu beschützen ?' — Als sie nun die müden Augen ein wenig schloB, stand gleich vor ihr sein Gesicht, das Gesicht des Geliebten, das in diesem Zimmer, auf diesem Bett eine kurze Nacht lang ihr so nah gewesen war. Ganz deutlich sah sie seine sehr hellen Augen — sogar die blonden Augenwimpern konnte sie unterscheiden — und die breiten, hochsitzenden Wangenknochen, über denen sich die etwas unreine, angestrengte, fleckige Haut spannte; und die kurzgeschorenen Haare an den Schlafen — auch am Hinterkopf war das Haar kurzgeschoren, wie Tilly sich wohl erinnerte; das war der preuBische Haarschnitt; aber den Nacken sah Tilly jetzt nicht, ihr bot sich nur die nackte, weiBe, ernste Flache seines Angesichts. Auch Hals, Schultern und ein Teil der Brust waren noch erkennbar, und sie überlegte sich, was für eine merkwürdige Art von Uniform es sein mochte, die ihr Ernst da trug — war es ein Straflingskittel oder ein Soldatenrock ? Übrigens stand ihm der hohe, steife Kragen der grauen Jacke nicht schlecht; entschieden besser jedenfalls, als ihm damals das zu-lang-getragene, dicke, rote Hemd gestanden hatte. — An die Mutter schrieb Tilly nur ein paar Zeilen —: „Versuche mir zu verzeihen . . . ich konnte nicht anders . . Es war ein konventionelles SelbstmörderAbschieds-Briefchen. Als Tilly ihn durchlas, schamte sie sich ein wenig, so etwa, wie man sich etwas geniert, wenn man einem guten Freund Neujahrs- oder Geburtstags-GrüBe geschrieben hat, und dann konstatieren muB, daB sie zu korrekt und inhaltslos ausgefallen sind. Tilly setzte noch mit groBen Lettern unter den Text: „Ich habe dich immer lieb gehabt, Mama." Und dann, als zweites Postscriptum, in kleinerem Format, „GrüBe bitte meine Schwester Susanne von mir." — Der Brief an Marion wurde der langste; die arme stöhnende, ab und zu weinende, von Unterleibsschmerzen und Todesgier arg geplagte, auch noch unter der kratzenden Stahlfeder leidende Tilly schrieb fast eine ganze Stunde an ihm. In Satzen, die sich haufig verwirrten und nicht immer logisch nebeneinander standen, versuchte sie, der groBen Schwester zu erklaren, wie alles zusammenhing und was sie zu dem erleichternd-schauerlichen EntschluB gebracht hatte, den auszuführen sie nun im Begriffe war. Dabei lieB sie sich auf mancherlei Einzelheiten ein, deren Bedeutung nicht ganz plausibel wurde, die ihr aber jetzt von besonderer Wichtig- keit schienen. Zum Beispiel erwahnte sie ausführlich ihre Besuche bei der grafilichen Anwaltin, die im Bett liegend telephoniert hatte und in deren Augen ein infamer, kalter Glanz gewesen war —: ,,ein teuflischer Glanz" malte Tilly mit der rostigen Feder. Dann schrieb sie von der einen Liebesnacht mit Ernst, und wie der Kriminalbeamte früh morgens an die Tür geklopft hatte, und wie peinlich es gewesen war, als der Ernst sich so ungeschickt schlafend steilte. ,,Aber das Kind konnte ich nicht bekommen, da gibst du mir doch recht, Marion: ich durfte das Kind doch nicht haben, was hatte ich denn mit ihm anfangen sollen!" Sie versuchte zu schildern, wie fürchterlich die Prozedur beim Arzt gewesen war: „Ich glaube, die Instrumente sind nicht sauber gewesen, dieser Doktor war ein ekelhafter Kerl, und jetzt tut es mir immer so weh, es ist wirklich kaum auszuhalten." „Mir ist einfach alles schief gegangen. Ich habe den Konni sehr gern gehabt, und ich hatte sicher gut mit ihm leben können. Aber dann ist in Deutschland die Riesensauerei passiert, und ich habe den Konni verloren, daran ist die grofie Sauerei schuld. Ich habe auch den Ernst sehr gern gehabt — laB es dir sagen, Marion: ich habe ihn noch sehr gern, jetzt, wahrend ich dieses schreibe —, und ihn habe ich auch verloren, es hangt auch mit der Sauerei zusammen, wahrscheinlich hangt mein ganzes Pech und all unser Jammer mit ihr zusammen. Vielleicht habe ich auch sehr Heimweh, aber ich glaube eigentlich nicht, daB ich so besonders stark Heimweh habe, mir liegt gar nicht so viel an Berlin und am Schwarzwald und an den Deutchen Ostseebadern, und an den alten Burgen am Rhein, und an all dem Zeug — mir liegt wirklich gar nicht so kolossal viel daran. Natürlich bleibt es schrecklich, wenn das Land, in dem man geboren ist und dessen Sprache man redet, und an das man hunderttausend Erinnerungen hat — wenn das plötzlich zu stinken beginnt wie ein Misthaufen, und auch gar nicht mehr aufhören will, so zu stinken, als fühlte es sich recht wohlinseinem eigenen Dreck. Für dich ist das etwas ganz anderes, Marion, du bist ein starker Charakter, und du kannst kampfen, du kannst herrlich kampfen, es ist eine Freude, dich kampfen zu sehen. Aber ich kann nicht kampfen. Ich kann kein Kind haben, und kampfen kann ich eigentlich auch nicht. Ich interessiere mich ja im Grunde gar nicht für Politik. Einen einzelnen Menschen hatte ich glücklich machen können, und dann ware ich wohl auch glücklich gewesen. Aber damit ist es nun nichts. Die Zeit ist nicht dazu geeignet, in ihr glücklich zu sein. Das begreife ich mehr und mehr. Es ist also nichts mit dem groBen Glück, von dem wir als Kinder getraumt haben, und mit dem kleinen Glück ist es auch nichts. Nur ein groBer Haufen Schmerz war für uns vorbereitet. Aber mal muB alles seine Grenze haben. Ich bin an der Grenze. Ich kann nicht mehr. Ach Marion: ich muB es dir doch gestehen — ich freue mich sogar etwas darauf, zu sterben. Natürlich habe ich auch Angst, aber es ist eine ziemlich schone Angst, weiBt du, ein biBchen wie die Angst vorm ersten KuB, nur viel heftiger, aber auch viel schoner." Der Brief war schon sechs eng beschriebene Seiten lang. Tilly muBte ein Ende finden. Sie kaute ein wenig an dem dünnen, befleckten Federhalter, wie so viele vor ihr an ihm gekaut hatten. Dann schrieb sie noch: „Du muBt nicht traurig sein, daB ich weggehe, Marion. Es ist nicht so besonders schade um mich. Ich sage das ganz ohne Bitterkeit. Viel wichtiger ist, daB du lebst, und so bleibst, wie du bist. Glaube bitte nicht, daB ich das aus Bitterkeit sage! Ich bin zwar sehr traurig und furchtbar müde, und alles tut mir weh; aber ich bin gar nicht bitter. Du wirst tausend Sachen erleben, die ich nicht mehr erleben kann — oder mag. Du wirst auch sicher mal nach Deutschland zurückkommen, das wird sehr schön und aufregend sein, eine Art von groBem Fest, aber auch viel Arbeit; denn du wirst viel zu tun haben. Du hast viel auf dieser Erde zu tun, Marion. Ich habe nichts mehr auf dieser Erde zu tun — beinah nichts mehr. Deine Schwester Tilly." Als Nachschrift fügte sie hinzu: „Vielleicht hatte ich diesen braven Schweizer, den Peter Hürlimann, heiraten sollen. Das ware noch ein Versuch gewesen, mich am Leben zu halten. Aber es ware kein guter Versuch gewesen. Ich hatte ihm das nicht antun können mit ihm zu leben, ohne ihn zu lieben. Er ist ein guter Mensch." Nun war auch dieser Brief fertig — der letzte. Sie steckte ihn ins Couvert. Sie schichtete die Briefe sorgsam zu einem Haufchen. Der Zettel an die Wirtin lag obenauf. Dann stand sie auf und klingelte. Zu der Wirtin, die gleich erschien — als hatte sie vor der Türe gewartet — sagte sie: „Bringen Sie mir doch bitte eine Tasse Tee, Frau Barli." Sie war stolz darauf, daB sie den Namen der Frau jetzt wuBte. Die Wirtin erwiderte ernst: „Sicher, Fraulein." Das „ch" in „sicher sprach sie mit einem rauhen, langgezoeenen Kehllaut. Die Wirtin ging. Tilly setzte sich aufs Bett und wartete. Sie dachte, wie müde ich bin, ehe ich noch das Veronal genommen habe, und sie schloB die Augen. Ihr fiel ein kleines Gebet ein, das sie als Kind, mit Marion zusammen, vor dem zu-Bett-Gehen hatte aufsagen müssen. „Müde bin ich — geh zur Ruh — schlieBe beide Augen zu. — Vater la!3 die Augen dein — über meinem Bette sein." Dann wuBte sie nicht mehr weiter. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob die Zeilen mit den „Augen dein" und dem „Bette" nicht eigentlich etwas anders gelautet hatten. Plötzlich erinnerte sie sich mit fast erschreckender Deutlichkeit eines Hauses, in dem sie als Kind Jahre lang einen Tag der Woche — den Sonntag — verbracht hatte. Das Haus gehorte einer GroBtante, einer Schwester von Papas Vater. Sonntag mittag versammelte sich dort ein groBer Teil der Familie; man blieb bis zum Tee, an hohen Feiertagen bis zum Abendessen. Es gab gut zu essen; die GroBtante muBte ziemlich reich gewesen sein. Ihr Haus war schön und geraumig. Es lag in einem weiten Garten, der umso kostbarer war, als er sich inmitten der Stadt befand. In dem Garten, so schien es Tilly jetzt, hatten immer die Vogel gesungen, und zwar auf eine sehr besondere, zugleich gedampfte und eindringliche Art. Es war ein reizender und etwas verwunschener Garten. Nie wieder in ihrem Leben hatte Tilly einen Garten gesehen, in dem die Blumenbeete so starke, liebliche Farben hatten und wo die Brunnen so hübsch und einschlafernd rauschten. Es gab zwei Brunnen im Garten der feinen alten GroBtante: eine Fontane, die ihren schlanken Strahl in ein rundes Marmorbecken fallen liefl, und einen Brunnen, der als kleine Grotte zurecht gemacht war; hier floB das Wasser aus dem drohend aufgesperrten Maul eines riesengroBen, fetten, giftiggrünen Frosches, vor dem Tilly Angst hatte. — Ganz im Hintergrund des Gartens stand ein Geratehauschen, angefüllt mit interessan- tem Gerümpel. Zwischen den alten Schubkarren, GieBkannen und Leitern versteckten die beiden kleinen Schwestern, Marion und Tilly, sich manchmal vor den Erwachsenen. Es war lustig, die groBen Leute im Garten drauBen schreien zu hören, wahrend man sich in der warmen, dumpfig eingeschlossenen Luft des Schuppens aneinander preflte und ein Kichern unterdrückte, das einen hatte verraten können. Vom Garten führten ein paar Stufen zur Terrasse hinauf, wo Tee getrunken und im Sommer manchmal gegessen wurde. Hier waren die Wande mit Malereien geschmückt, die nicht nur verblaBt, sondern im Begriffe schienen völlig zu zerbröckeln. Von einem Sankt Sebastian, der die Jünglings-Anmut seines Leibes in stolzer Pose den Pfeilen der Peiniger bot, war nichts übrig geblieben als ein bleicher Schatten, so als ob der Heilige allmahlich seine Unsterblichkeit einbüBte und in schoner Haltung, milde und nur ein klein wenig gekrankt lachelnd, verweste. Wie tief hatte sich dies alles eingepragt in Tillys Gedachtnis! Mit welch schauerlich-süBer Genauigkeit stieg es nun auf, wahrend sie in diesem kalten, trostlosen Hotelzimmer fröstelnd auf ihren Tee wartete. Sie wartete auf den Tee, in dem sie die zwanzig Veronaltabletten auflösen wollte. Stand das schone alte Haus der GroBtante noch? Die alte Dame war wohl schon lange tot Von der Diele führte eine Freitreppe mit reich geschnitztem braunem Mahagoni-Gelander zum ersten Stockwerk hinauf. Etwa auf der Mitte der Treppe gab es einen kleinen Erker oder Balkon, von dem aus man auf die Diele mit ihren Teppichen, Gobelins und bunten Majolika-Krügen schauen konnte, wie in eine dammrige, mit freundlichen Figuren reich belebte Landschaft. Der kleine Treppen-Balkon hatte ein schmiedeeisernes, mit barocken Arabesken üppig verziertes Gitter. Hinter dem Gitter sai3 Tilly gerne stundenlang an den Sonntagnachmittagen, um durch die krausen und phantastischen Windungen des Metalls hindurch auf die Diele zu schauen. Lange wagte sie es nicht, sich umzudrehen; denn hinter ihr stand auf seinem Postament der groBe, bunte, ausgestopfte Pfau. Noch schoner als die grün-goldenen Kreis-Augen auf seinem langen Gefieder war die satt blaue, ins Goldene spielende Farbe seines seidig schimmernden Bauches. In Gegenwart eines Erwachsenen traute die kleine Tilly sich manchmal, diese leuchtende Pracht zu berühren. Alleine brachte sie es nicht über sich. Ihre Lust, das stolze, bunte, schweigende Tier zu liebkosen, war ungeheurer. Aber wuBte man, wie das strahlende Geschöpf es aufnehmen würde ? Vielleicht ware seine Antwort ein graBlicher, rauer Schrei, und es würde rauschend mit den Flügeln schlagen, und die kleinen, schwarzen Augen böse funkeln lassen, und mit dem spitzen, harten Schnabel hacken. Die kleine Tilly riskierte es lieber nicht. Alle Gerüche in dem schonen alten Haus waren ihr gegenwartig, wie sie nun auf ihren Todes-Tee wartete: der Geruch der Garderobe, wo man die Mantel abgab; der Geruch im Speisesaal, der viel zu weitraumig und pompös erschien für den runden Familientisch in der Mitte; in der dammrigen Bibliothek, wo der GroBonkel gearbeitet hatte (er war gestorben zu einer Zeit, von der Tilly nichts wuBte); im groBen Musiksaal, wo es gar nichts gab aufier zwei Flügeln auf einem Podium und, die Wande entlang, schmale Banke mit blau-seidenen Kissen belegt. Früher aber hatten hier die groBen Feste stattgefunden, von denen die GroBtante zuweilen so traumerisch berichtete, als sprache sie von marchenhaften Tournieren, deren wahren Hergang kein Lebender mehr nachprüfen konnte. Sehr eindrucksvoll und unvergeBlich war auch der Geruch in einem weiten, unbenutzten Kellerraum, der einmal als Billard-Zimmer gedient hatte. Die grüne Bespannung des langen Tisches war jetzt von Motten zerfressen. In den Wandschranken verwahrte die GroBtante Teegeback und Chocoladeplatzchen. Tilly liebte es, mit der alten Dame die gewundene, geheimnisvolle Treppe hinunter zu steigen, die vom Speisesaal ins Billard-Zimmer führte. Das kleine Madchen war ganz versessen darauf, den Gang aus der Sphare des Lichts in die Grabkammer der fleckigen Billardkugeln und süBen Kuchen zu tun: teils aus Naschhaftigkeit, teils aber auch, weil das Aroma der kühlen, kellrig dumpfen Luft in diesem Raum unwiderstehlichen Reiz für sie hatte. Wahrend die sich innig Erinnernde im geheimnisvollsten, tiefgelegenen Raum des versunkenen Hauses weilte, klopfte es an der Tür. Tilly sagte: „Herein". Frau Barli prasentierte den Todes-Tee. Tilly lachelte ihr zu: „Danke schön, Frau Barli. Vielen Dank. — Übrigens, ich möchte morgen früh nicht gestort werden. Lassen Sie mich ausschlafen. Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt." — „Sicher," sprach mit rauhem Kehllaut die Wirtin. Sie nickte ernst und zog sich langsam zurück. Tilly schloB die Augen, um nicht die Türe sich hinter ihr schlieBen zu sehen: hinter dem letzten Menschen, mit dem sie auf dieser Erde gesprochen hatte. Hinter dem letzten Menschen. Als sie allein war, stieg gleich der Garten der versunkenen Kindheit wieder auf, als hatte er nur geduldig darauf gewartet, tröstlich wieder da zu sein: der verwunschene Garten mit den bunten Beeten, den Brunnen, dem Gesang der Vogel . . . Tilly brauchte nicht mehr aufzustehen, um sich ihren kleinen Trank zu mischen. Die Veronal - tabletten lagen ja gieich neben ihr, wie ein harmloses Toilettengerat, bei den Flacons und Tuben. Sie lieB langsam die zwanzig Tabletten, eine nach der anderen, in die dampfende, goldbraune Flüssigkeit fallen. Dann zerstieB sie das Veronal mit dem Teelöffel. Die Flüssigkeit in der Tasse farbte sich weiBlich; sie sah nun aus wie ein seltsam flockigesSüppchen. Wahrend Tilly die Tasse zum Munde führte, bewegte sie die dunkel geschminkten Lippen. ,,Müde bin ich — geh zur Ruh — schlieBe beide Augen ..." Ihre Lippen berührten den ziemlich dicken Rand der weiBen Tasse. Das Süppchen hatte einen scharfen, bitteren Geschmack. Nicht-aufgelöste Teile der Tabletten schwammen im lauwarmen NaB. Tilly schüttete den Trank schnell hinunter. Auf dem Grund der Tasse hatte sich eine breiige Substanz festgesetzt. Obwohl Tilly Brechreiz spürte, kratzte sie auch diesen Veronal-Rest noch mit dem Teelöffel zusammen und verschluckte ihn. Nun war es getan. „Vater, laB die Augen Dein — gnadig gnadig über meinem armen Lager sein ..." Am nachsten Tage gab es in dem Gasthaus, wo Tilly ihr Kind empfangen und den Todestee getrunken hatte, groBen Betrieb. Ein Kegelklub beging sein zwanzigjahriges Jubilaum, der Bier-Konsum war bedeutend, Frau Barli hatte alle Hande voll zu tun, sie vergaB die Schlafenn in Zimmer 7» die übngens darum gebeten, hatte, nicht geweckt zu werden. Erst am spaten Abend fiel ihr ein, daB dieser Gast nicht mehr zum Vorschein gekommen war. Sie fand die Türe verschlossen; klopfte; rief, klopfte starker; lieB endlich durch den Hausknecht aufmachen. Tilly gab kein Lebenszeichen mehr. Auf dem Schreibtisch lagen, sauberlich aufeinander geschichtet, die Briefe. 25 Frau Barli weinte — mehr aus Schreck und Nervositat, als weil es ihr besonders nah gegangen ware. Als Peter Hürlimann erschien, war der Arzt schon dagewesen. Auch die Polizei hatte schon alles besichtigt; Peter kam spat, er war in einem Konzert gewesen, nachher in einem Café. Er war weifl im Gesicht, seine Lippen bebten, er sagte immer wieder: „Aber das kann doch nicht sein!" — „Doch," sagte Frau Barli, „der Arzt hat ihren Tod festgestellt. Erst vor ein paar Stunden ist sie gestorben — meint der Arzt — aber vorher muB sie schon lang bewuBtlos gewesen sein. Hoffentlich hat sie nicht viel zu leiden gehabt, ich glaube es eigentlich nicht, sie sieht ja so schön und friedlich aus, wie ein Engelchen, finden Sie nicht, Herr Hürlimann, ganz wie ein Engelchen, das mu!3 ein leichter, sanfter Tod gewesen sein, vielleicht hatte man die Armste doch noch retten können, wenn nur heute nicht gerade diese Wirtschaft mit dem Kegelklub gewesen ware." Fassungslos stand Peter vor ihrem wachsernen Liebreiz. Wie süB und grausig sie sich schon verwandelt hatte! Wie makellos und völlig fremd sie war! „Sie ist ja ganz klein geworden," brachte er hervor. Und immer wieder, als ware dieses das Schlimmste und alles kame drauf an: „Ganz klein ist sie ja geworden . . ." Dann stampfte er auf — aus einem dumpfen, machtlosen Zorn, einem sinnlosen Aufbegehren, oder nur um des Weinens Herr zu werden. Hierüber erschrak Frau Barli. „Das arme junge Blut . . .," sagte sie, und beobachtete angstlich den gedrungenen Burschen mit dem struppigen Haar. Sein gutmütiges, breites Gesicht verzerrte sich. Endlich liefen ihm die Tranen über die runden Backen. Peter muBte zu Frau von Kammer, mit Tillys Brief. Sie erschien selber an der Wohnungstür, in einem schwarzen Négligé, das zu ihrer starren, würdevollen Miene dramatisch witwenhaft wirkte. „Herr Hürlimann ?" Sie war die Dame von Welt: kühl und formvollendet. „Meine Tochter ist noch in Basel." — „Ach nein," sagte Peter. „Ach nein. Nicht in Basel." Da stand er — nicht beschwingt, ach, nicht der Bote mit den Flügelschuhen, ein plumper Herold der Trauer, die braven Augen verweint, und die Zunge, die das Schreckliche sprechen sollte, schien ihm im Munde zu schwellen. In der Faust aber, die er mühsam hob, hielt er Tillys Brief. Da begriff Frau von Kammer, wuBte alles; schrie auf, taumelte und langte nach dem Papier wie nach einem Halt. „Was ist geschehen?" brachte sie hervor; aber dies war wieder nur floskelhaft, nach ihrer konventionellen Art. Sie empfand, bei allem Jammer: eine solche Frage war nun am Platze. Ach, sie wuBte ja, was geschehen war. Den Brief in der Hand, stand sie dem Unglücksboten gegenüber — nun wieder starr, den Mund geöffnet zu einem Jammerlaut, der stumm blieb. Der klagend aufgerissene Mund — schwarze Öffnung in der weiBen Starrheit der entstellten Miene — gab dem Antlitz der Mutter das Aussehen einer tragischen Maske. Peter erinnerte sich, daB Tilly, wenn sie sehr traurig und sehr betroffen war, auf ganz ahnliche Art den Mund geöffnet hatte. Vom Schmerze geschlagen wie von einer Faust, glich Frau von Kammer zum ersten Mal ihrer Tochter. „Kommen Sie!" bat sie heiser — denn sie und der Unglücksbote standen immer noch vor der offenen Türe der Wohnung. Und sie zerrte den jungen Mann, der Tilly geliebt hatte, mit einer Gebarde, die durch ihre Heftigkeit fast unzüchtig wirkte, in den dammrigen Flur. Tilly ist tot, niemand kann ihr mehr helfen, nie- mand hat ihr helfen können, als sie noch umherging oder an der Schreibmaschine saB und Schmerzen ütt und sich Sorgen machte, wegen der Polizei, wegen des verschollenen Geliebten, wegen des Kindes, das sie nicht bekommen wollte. Tilly ist wachsern verklart, schaurig verzaubert, und übrigens unheimlich klein geworden — eine kleine Leiche, wie eine Kinder leiche sieht sie aus. Unnahbar und hold, den Lebenden ganz entfremdet, schlaft ihr kindliches, streng gewordenes Antlitz zwischen den weiBen Rosen. Die Augen, die so viel Tranen vergieBen muflten, geruhen nicht mehr hinzuschauen, da nun die anderen weinen. Denn jetzt wird reichlich geweint. Schluchzend sitzen die alten Ottingers in ihrer stattlichen guten Stube; sie haben das kleine Fraulein von Kammer gern gehabt wie ein Töchterchen. Herrn Ottingers Werk, die „Lebensbeichte eines Eidgenossen", ist fast abgeschlossen — „und das letzte Kapitel kann ich ihr nicht mehr diktieren!" jammert der alte Herr. — Peter Hürlimann weint, vor Kummer, aber auch aus Reue. ,Ich hatte sie heiraten sollen! Warum habe ich es nicht getan ?! Aus lauter dummer Vorsicht und Angstlichkeit! Weil ich erst mein festes Einkommen haben wollte! Ach, ich Narr! Sie ware zu retten gewesen. Ich hatte eine gute Schweizerin aus ihr gemacht; sie hatte das Zeug, eine brave Bürgerin unseres Landes zu werden.' — Peter Hürlimann ist kein maBloser Patriot, oder hat sich doch Gefühle solcher Art niemals eingestanden. Nun aber, da Tilly tot ist, empfindet er: Ich hatte eine gute Schweizerin aus ihr machen können. Denn er liebt sein Land, er ist stolz auf die Heimat. Es ist ein freies, gutes, redliches Land, Tilly hatte hier glücklich sein können, sie hat ja kein eigens Land mehr gehabt — ach, es muB weh tun, ohne Heimat zu leben, auf die Dauer halt es wohl niemand aus. — So denkt Peter, schmerzlich bewegten Herzens, und er schwört sich: Ich würde mein Land tapfer verteidigen, wenn es zum AuBersten kommt. So lange aber Friede ist, will ich schone Musik machen, zu Ehren der Schweiz; gediegene und doch kühne Musik, die der kleinen Schweiz groBe Ehre machen soll in der Welt. Und auch zur Erinnerung an Tilly soll sie klingen, die schone Musik, die ich machen will. Das wird niemand wissen; aber ich weiB es: daB alles, was ich von jetzt ab mache, im Gedanken an sie geschrieben ist, und zu ihrem Gedenken. — Wenn jemand genug hat und Abschied nimmt, weinen die, so zurückbleiben. Warum weinen sie denn ? Wird dieser Mensch, der weggegangen ist, ihnen wirklich so fehlen ? — Sie werden ihn bald vergessen: dies ahnen sie wohl, und deshalb vergieBen sie Tranen. Auch sind sie traurig, weil sie noch ein wenig weiterleben müssen. Wenn von uns einer erlöst und frei geworden ist, wird es den Zurückbleibenden, den noch-zum-Leben-Verdammten ein paar Minuten lang schreckhaft klar, was unser Da-Sein auf diesem Stern bedeutet. Es ist Fluch und Jammer von Anbeginn. Aus Blut und Tranen sind die Spuren, die wir hinter uns lassen; von Blut und Tranen ist das Gesicht des Menschen besudelt: das jammervolle Antlitz der Sterblichen ist an Augen und Lippen, auf Stirne und Wangen mit Blut und Tranen beschmiert. Denn wir werden in Schmerzen geboren, und wir gehen hin unter Qualen. Dazwischen aber ist groBe Traurigkeit und ein langes Entbehren. Auf unseren Mienen stehen die Zeichen des Fluches. Mit Blut und Tranen suchen wir sie abzuwaschen; aber das Zeichen bleibt. — Wir meinen, fliehen zu können, indem wir sterben. Vielleicht ist auch dies noch ein Irrtum, und wir sind fester gebunden, als unsere Unwissenheit es annehmen möchte. Sind uns neue Zustande der Verdammnis vorbehalten, wenn wir uns von diesem frei gemacht haben ? Findet unsere Gier nach dem Nichts sich enttauscht, noch im Tode? Erwarten uns andere Formen der Existenz ? Setzt der Fluch sich fort? Geht es weiter ? — Wir wissen es nicht, tun auch besser daran, nicht zu dringlich zu fragen. Tilly weiB es. Die wachsern Verklarte hat keine Zweifel mehr. Hingegen schluchzen einige andere, die zurückgeblieben sind; sie legen das Gesicht in die Hande, lassen Tranen durch die Finger rinnen oder in ein kleines Taschentuch. Sie bekommen rote, etwas schmerzende Augen; ihr Mund verzerrt sich wie bei kleinen Kindern; vielleicht werfen sie auch die Arme in die Höhe, gleich Schauspielern auf einer Bühne, bewegen tragisch die Haupter und rufen Worte mit ihren dummen, schweren, irdischen Stimmen. ,,Warum hast du uns das getan, liebe Schwester ? Weshalb muBte dies sein, süBe Braut ? Wehe wehe — warum bist du fortgegangen ? Du hast dich aus dem Staube gemacht, das war unfair; denn wir sind noch hier. Als hatten wir nicht schon genügend AnlaB zum weinen gehabt, gibst du uns noch einen neuen — du Schlimme! Du Leichtsinnige! Du LeichtfüBige! Springst uns, mir nichts dir nichts, auf und davon! HinterlaBt ein paar Briefe — meinst wohl, damit sei alles getan — und wir haben das Nachsehen; wir starren hinter dir drein . . . Oh Pfui und Wehe! Wir haben dich doch geliebt, und nun spielst du uns solche Streiche! Wir schleppen uns dahin, und du flatterst —: welche Ungerechtigkeit! Du wurdest klein und hold, eine wachserne Puppe; wir aber sind dick und schwer und voll Flüssigkeit, gar nicht vornehm; müssen trinken und essen, schlafen und sprechen, weinen und bluten, Blut und Tranen vergieBen — und du bist ausgetrocknet, eine reizende Mumie. Oh Pfui und Wehe über dich, unsere kleine Gespielin, kleine Leidensgefahrtin, kleine Gefahrtin der Freuden — wie konntest du unsere Gemeinschaft nur so verraten! Wir gehörten zueinander, und nun hast du dich so fürchterlich distanciert!" Ein Bursche namens Ernst, Vagabund und Berliner Schupo-Mann auBer Dienst, der eine Nacht mit Tilly geschlafen hatte und dann von der Polizei abgeholt worden war, weinte nicht, oder doch nicht über den Tod seiner Geliebten; denn er wuBte nicht, daB sie gestorben war. Er trieb sich irgendwo auf den LandstraBen von Finnland umher und bekam keine Post. Im Laufe der letzten Monate war er aus sechs Landern ausgewiesen worden und hatte sechs Grenzen ohne gültige Ausweispapiere zu nachtlicher Stunde überschritten. Das Problem, wo er etwas zu essen und ein Bett für die nachste Nacht finden könne, beschaftigte ihn weit mehr, als der Gedanke an das kleine Madchen mit den schragen Augen und dem schlampigen Mund, der er ein Kind gemacht hatte — was er übrigens auch nicht wuBte. Wenn Ernst also weinte, dann geschah es aus Hunger oder Müdigkeit, oder aus allgemeinem Ekel vor der Welt; nicht aus Gram über Tilly. Hingegen saBen, die Köpfe nah beieinander über Kinderbildern der Toten, Frau von Kammer und Marion; ihre Tranen benetzten die alten, steifen Photographien. ,,Sieh dir diese Aufnahme an!" rief die Mutter. „Wie sie da lacht! Und diese Grübchen in ihren Backen! Sie ist reizend gewesen — von euch allen die Hübscheste: findest du nicht?" — ,,Ja, Mama," sagte Marion, „von uns allen dieHübscheste!" — „Aber auf diesem Bild muB sie mindestens schon zwölf Jahre alt sein." Welche Zartlichkeit, wie viel wehmutsvolles Entzücken in Frau von Kammers Stimme, die sonst so scharf und trocken geklungen hat. „Wie schmal ihr Gesicht damals war!" Und die Mutter erinnerte sich: „Sie hatte eine schwere Grippe hinter sich. Ihr hattet alle die Grippe, aber bei ihr trat sie am schwersten auf. Das Fieber war schrecklich hoch, ich dachte, sie müBte sterben . . . Mein Gott, ich weifi noch, wie ich sie nachts in mein Bett holte, weil sie in ihrem eigenen nicht schlafen konnte . . — ,,Ja, Mama," sagte Marion wieder, und ihre Finger klammerten sich plötzlich um die Photographie, als ob sie sie in Stücke reiBen wollten. „Was machst du ?" fragte die Mutter. ,,Du zerreiBt ja das Bild!" Da lieB Marion den Kopf nach vorne sinken, fassungslos — und, wahrend die Bilder aus ihren Handen zur Erde glitten, stöhnte sie auf: „Oh Mutter, Mutter — ich kann nicht mehr — ich will nicht mehr — ich mag nicht mehr leben ..." Die Mutter nahm zwischen ihre Hande Marions tranennasses Gesicht. „Sprich nicht so! Sei still! Weine! Sage nicht solche Dinge — bitte nicht! Denke nicht solche Sachen! Sei still!" — Welche Veranderung war vorgegangen mit Frau von Kammer, der geborenen von Seydewitz ? Wohin waren ihre Haltung, die adlige Reserviertheit, die starre Form ? Der Schmerz hatte ihr Antlitz weich gemacht und es menschlich belebt; auch jünger schien es geworden. Wann waren Mutter und Tochter sich je so nahe gewesen ? — Noch niemals. GroBes Leid muBte kommen und eine Erschütterung, von der das Herz sich nicht mehr erholt, damit sie einander schluchzend in die Arme sanken. Schluchzend und eng beisammen saBen sie, als Susanne eintrat — das jüngste Fraulein von Kammer; sie war aus ihrem smarten Madchen-Institut herbei gereist, um der Bestattung ihrer Schwester Tilly beizuwohnen. Da stand sie nun, eine veritable von Seydewitz: hoch aufgeschossen, sportlich trainiert, immer noch etwas zu mager. Das braun gebrannte, straffe Gesicht ware hübsch gewesen, ohne den mürrischen Ausdruck und jene ein wenig bitteren Falten, von denen die Mundwinkel abwarts gezogen wurden. Das dünne, aschblonde Haar trug sie, wie als kleines Madchen, zu steifen Zöpfen frisiert, von denen man den Eindruck bekam, daB sie hart und kühl anzufühlen sein müBten, wie Metall. Sie schaute streng aus wasserblauen Augen; ihr Bliek drückte Tadel aus, über das unpassende Halbdunkel in der Stube, und weil die beiden Damen auf dem Kanapee in so inniger Pose beieinander saBen. „Was treibt ihr denn da?" fragte die junge Susanne scharf — als hatte sie Mutter und Schwester bei etwas Unanstandigem ertappt. „Es ist ja stockfinster. Ihr könnt gar nichts mehr sehen." Marion und die Mutter wandten langsam die Köpfe, ohne sich aus ihrer Umarmung zu lösen. Hinter ihnen stand die junge Susanne — drohend aufgerichtet in der offenen Tür; blank und hart beschienen vom Licht; kühl und ehrgeizig, nicht sehr intelligent; eine Fremde; das Kind einer fremden Zeit. VIERTES KAPITEL Martin ist krank, „eine Lungenentzündung," sagt Doktor Mathes. Und David Deutsch gegenüber erklart er: „Das kommt nicht selten vor, im letzten Stadium des Morphinismus." — Bald scheint eine Besserung zu konstatieren; sie halt nicht an, der Rückfall stellt sich ein. — „Ich möchte die Verantwortung nicht mehr alleine tragen." Das Gesicht des Doktors ist recht düster geworden. „Wir wollen ihn in ein Krankenhaus transportieren. Auch tut man gut daran, seinen Eltern Nachricht zu geben." David hat es Martin beizubringen: „Du mufit in ein Krankenhaus." Der nimmt es aber nicht schwer. „Natürlich, ' meint er nur. „Das ist gewiB vernünftiger." — Woher kommt ihm dieses Vertrauen ? Wie erklart sich solche Euphorie ? Er bekommt kleinere Dosen Morphium als sonst; sein Herz hielte die starken nicht aus. Nicht das Gift also kann es sein, daB seinen Bliek derart leuchten macht; wohl auch nicht nur das Fieber. — „Es ist hübsch hier," sagt er, da man ihn im Hospital gebettet hat. „Ich fühle mich wohl. Ja, rücke mir das Kissen zurecht! Vielen Dank, lieber David." Martin, der den Tod gewollt hat, nun, da er ihm so nahe ist, erkennt er ihn nicht. So lange hatte er ihn herbei gerufen, ihn gelockt, jetzt aber will er seine Zeichen nicht verstehen, und er scheint unempfindlich für die Liebkosung seiner dunklen Hand. „Wenn ich wieder gesund bin," versichert er dem David Deutsch, der fast den ganzen Tag an seinem Krankenbett verbringt, „wenn es mir ein biBchen besser geht, dann reise ich mit Mama in die Schweiz. Soviel Geld wird mein alter Herr schon noch auftreiben. Er ist ja gar nicht so schrecklich arm, wie er immer tut. Eigentlich ist er wohl noch ziemlich wohlhabend, weiBt du . . Das „weiBt du" auf die etwas selbstgefallig-doktrinare Art zerdehnt, die man an ihm kennt. — Das Sprechen macht ihm Schwierigkeiten, er muB husten. „Sicher, Martin, die Schweiz wird dir gut tun." Welche Anstrengung kostet es David Deutsch, zu lacheln! ,,Aber du solist jetzt nicht so viel reden!" — Und Martin behauptet: ,,Ich fühle mich heute viel besser." Ach, er hat Ihn gelockt, er hat sich so tief mit Ihm eingelassen, so zartlich-gründlich hat er sich mit Ihm beschaftigt, und nun erkennt er Ihn nicht. . . Martin liegt in einem billigen Hospital; das Geld, welches sein Vater, auf Davids dringliche Bitten, aus Berlin geschickt hat, reicht nicht aus, um den Aufenthalt in einer guten Privatklinik zu bezahlen. David hat ohnedies seine geringen Ersparnisse angreifen müssen, damit Martin ein Einzelzimmer bekommen konnte. David hatte es nicht ertragen, den Freund in einem Raum mit fremden, kranken, vielleicht übelriechenden, boshaften Leuten zu sehen . . . Ein bescheidenes Zimmer: nur das Bett, zwei Stühle, ein kleiner Nachttisch und Waschgeschirr. Auf dem Nachttisch stehen immer Blumen. David bringt jeden Tag gelbe Rosen oder bunte Tulpen mit, und vielleicht etwas Obst oder ein Buch mit Bildern, in dem der Fiebernde blattern kann. Die Krankheit zieht sich hin; übrigens ist ihr Verlauf ungewöhnlich, gegen die Regeln: eine Lungenentzündung mit Komplikationen. David möchte Einzelheiten wissen, aber der Professor, ein schweigsamer und zurückhaltender Herr, gibt keine Auskunft. Es tritt eine Besserung ein, eine trügerische kleine Erholung; David meint schon aufatmen zu dürfen, aber dieser günstige Zustand halt sich nur wenige Tage, und da das Fieber wieder steigt, wird das Gesicht des Pro- fessors bei der Morgenvisite sehr ernst. „Ich habe beinah keine Hoffnung mehr für Ihren Freund," erklarte er David. LieBe nur Kikjous Adresse sich feststellen! Aber Kikjou scheint vom Erdboden verschwunden, niemand weiB, wo er sich aufhalt. Martin fragt manchmal nach ihm — nicht sehr oft; aber doch mit einer Dring lichkeit, einer Gier, die zu verbergen er sich nicht mehr die Mühe nimmt, oder nicht mehr fahig ist. ,,Hast du nichts von Kikjou gehort?" — „Doch, er ist in Lausanne, bei seinen Verwandten, er hat eine recht unangenehme Grippe, sowie es ihm besser geht, wird er kommen." David Deutsch ist so erfinderisch geworden, es fallt ihm so vieles ein, um Martin nur die schlimme Wahrheit zu ersparen: daB Kikjou völlig unauffindbar ist; daB er sich ganz und gar von Martin und von allen, die mit Martin zusammenhangen, zurückgezogen hat. — „So so, eine Grippe," sagt Martin, der es zu glauben scheint. „Armer Kikjou, er hat immer Pech. Aber warum schreibt er denn nicht ? Das könnte er doch wirklich mal tun." — „Er hat mir eine Karte geschrieben," erzahlt David flink. ,,Er laBt dich schön grüBen, und er verspricht dir einen langen, netten Brief." — „Das ist brav von ihm." Martin lachelt matt und froh zur Decke hinauf. „Wenn ich mit Mama in der Schweiz bin, soll er mitkommen; dafür wird das Geld meines alten Herrn schon noch langen ..." Kikjou halt sich ratselhaft verborgen. Marion reist wohl gerade durch die Böhmischen Bader. Marcel ist in Spanien. Keiner von den nachsten Freunden ist da. Nur aus der „Schwalbe" spricht ab und zu jemand vor: das Meisje oder die Proskauer. Einmal erscheint sogar die Frau Wirtin selbst: energisch, von etwas polternder Munterkeit, dabei gemütvoll — und David kann sie nur mit Mühe daran hindern, sich im Krankenzimmer ihre dicke, kurze Zigarre anzuzünden. „Aber es würde doch gar nichts schaden," meint Martin mit einer Stimme, die so schwach geworden ist. — Es ist gerade wahrend der kurzen Zeit, da sein Zustand sich zu bessern und das Schlimmste überstanden zu sein scheint. „Ich könnte ja auch selber mal wieder eine Zigarette rauchen . . . David, hast du keine Chesterfield da ?" — ,,Der Junge ist richtig!" ruft die aufgeraumte Schwalbe, und kratzt sich mit Behagen das kurze, borstige, graue Haar. Aber ein bittender, fast drohender Bliek Davids bestimmt sie dazu, auf ihre Zigarre dieses Mal zu verzichten. Da Martins Befinden sich noch einmal verschlimmert, telegraphiert David an Frau Korella, Nürnberger StraBe, Berlin — und sechsunddreiBig Stunden spater trifft die Mutter ein. „Ich ware ja noch schneller gekommen," entschuldigt sie sich, gleich auf dem Bahnhof, bei David Deutsch, der sie abgeholt hat. „Aber ich muBte mir erst ein französisches Visum besorgen, das ist alles so umstandlich, heutzutage." Frau Korella bittet immer um Entschuldigung; sie wirkt, als wolle sie bestandig um Pardon ersuchen für die simple Tatsache ihrer Existenz. Herr Korella sagt es ihr oft: „Du muBt mehr SelbstbewuBtsein zeigen, Hedwig. Nur mit SelbstbewuBtsein kommt man durch diese harte Zeit." Aber weder ihr Junge, Martin, noch ihr Gatte haben durch das Benehmen, das sie ihr gegenüber an den Tag legen, dazu beigetragen, Frau Hedwigs innere Sicherheit zu kraftigen und zu stützen. Frau Korella sieht stets verweint aus, sie hat immer etwas verschwollene und gerötete Augenlider. Jetzt erscheint ihr Gesicht ganz verwüstet von wahren Exzessen des Schluchzens; sie hat wahrend der ganzen Reise, vom Bahnhof Zoo, Berlin, bis zu der Pariser Gare du Nord, ohnejede Unterbrechung geschluchzt. Die Tranen haben ihre Züge aufgelöst, sie haben sie weggewaschen, wie ein nasser Schwamm die Kreideschrift von einer schwarzen Tafel wascht. „Aber er lebt noch ?" ruft flehend die Mutter, und sie klammert sich mit einem Griff, der überraschend hart und heftig ist, an Davids Arm. — „Er lebt noch," bestatigt der junge Deutsch, mit einer Stimme, die Frau Hedwig keine Zweifel darüber laBt, daB ihr Sohn nur noch eine kurze Zeit, vielleicht nur noch Stunden wird atmen dürfen. Die Mutter besteht darauf, sofort ins Hospital zu fahren, obwohl David sie dringend dazu auffordert, sich erst im Hotel etwas auszuruhen. „Es gibt keine unmittelbare Gefahr für den Augenblick," versichert er ihr. Aber die Verweinte bleibt hartnackig: „Ich will keine Minute verlieren. Gleich muB ich ihn sehen— Martin ist gar nicht besonders erstaunt, daB die Mutter plötzlich vor ihm steht. „Bist du auch einmal nach Paris gekommen, Mama ?" ist alles, was er sagt, und er lachelt, wahrend erihrseine schrecklich mager gewordene Hand hinhalt. Wie sie glüht, wie heiB und trocken sie ist, die arme schone Hand ihres Sohnes! Frau Korella muB sich ungeheuer beherrschen, um nicht schon wieder in Tranen auszubrechen. Sie nimmt alle Krafte zusammen, und ihr Gesicht bekommt einen harmlos-ruhigen, fast vergnügten Ausdruck. Mit einer Stimme, die wirklich beinah unbefangen klingt, sagt Frau Korella: „Ich wollte doch einmal nach meinem alten Jungen sehen — ob er mir in Paris auch keine Dummheiten macht." Martin geht ein auf das Spiel; er spielt es weiter; er flüstert: „Du siehst doch, ich bin ganz brav ..." — Seit einigen Tagen ist er nicht rasiert worden; ein blonder Bart — der auf der Oberlippe nicht mehr wachst — rahmt seine sanfte, strahlend bleiche Miene. So sind junge Martyrer auf Heiligenbildern dargestellt j— denkt stolz die Mutter. Was muB er alles durchgemacht haben, daB er so schön werden konntel Eine halbe Stunde lang unterhalt Martin sich bei ganz klarem BewuBtsein, fast angeregt, mit seiner lieben Mama. Mühsam flüsternd erkundigt er sich nach allerlei: „Wie sieht es denn aus in Berlin ? — Ich kann es mir schon gar nicht mehr vorstellen . . . Überhaupt", fallt ihm plötzlich ein, „ich weiB ja gar nicht mehr, was los ist; seit Wochen habe ich keine Zeitungen gesehen. Warum bringt man mir eigentlich keine Zeitungen mehr ?" fragt er mit einer gewissen Gereiztheit. David Deutsch lachelt um Verzeihung bittend, wobei er sich seitwarts verneigt. Aber Martin winkt schon wieder ab: „Du hast ja ganz recht. Was soll ich mit Zeitungen ? Steht ja doch immer nur derselbe Schwindel drin. — In Deutschland wird es nie mehr besser werden . . . Du kannst froh sein, dafi du jetzt in Paris bist, Mama . . . Paris ist sehr hübsch, bist du denn schon auf der Place de la Concorde gewesen ? Eine groBartige Sache . . . Ich werde dich nachstens mal hinführen ..." — „Ja ja," sagt die Mutter, „du wirst mich nachstens mal hinführen." Martin verstummt, Schleier scheinen sich vor seine Augen zu senken, ihr Bliek gleitet ab, ins Leere. Nach einer lange Pause sagt er noch: „Früher konnte es in Berlin sehr nett sein . . . Reizend . . . Warum bin ich eigentlich so lang nicht dort gewesen? Zu dumm, so lang von zu Hause fort sein . . . Ich möchte Kikjou einmal Berlin zeigen. . . Wo ist Kikjou?!" schreit er plötzlich.,, Ich will Kikjou suchen! Ich muB nach Berlin, mit dem kleinen Kikjou!!" Er wirftdie Decken von sich, David muB ihn halten, damit er nicht aus dem Bette springt. Die Mutter legt die Arme um seinen Hals. Er wird ruhiger. „Kikjou glaubt an Gott," erzahlt er der Mutter, die gar nicht weiB, wer das Wesen, das diesen sonderbaren Namen — Kikjou — tragt, eigentlich ist. „Er glaubt ganz fest an Gott, und an die Erzengel, und an alle Heiligen . . . Kikjou hat jetzt Grippe, ich weiB, deshalb kann er nicht hier sein. Aber sowie er wieder gesund ist, und mich wieder besuchen kommt, muB ich alle diese Dinge ausführlich mit ihm besprechen, alle diese Dinge vom lieben Gott ..." Es dauerte noch mehrere Stunden lang. Der Kranke kam nicht mehr zu einem klaren BewuBtsein. Er phantasierte ohne Unterbrechung. Seine wirren Reden kreisten um Kikjou und den lieben Gott; auch gewisse Verse des verruchten Lieblingsdichters kamen vor. Einmal schrie er: „Kikjou hat den lieben Gott entdeckt — eine enorme Entdeckung! Aber ich stehe nicht in Gunst bei Ihm. Kein Lichtstrahl trifft mich aus Seinen groBen schonen, fürchterlichen Augen. Ich gehe. Ich gehe ja schon . . . Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, solist du gehen . . . Niemand wird weinen, wenn du verschwunden bist... Der liebe Gott, den Kikjou entdeckt hat, kennt keine Tranen.. Der letzte Kampf war sehr schwer. Martin saB starr aufgerichtet im Bett, mit gereckten Armen. Er bewegte die Arme —: nach was griff er denn ? Wen wollte er denn berühren ? Erschauernd fiel die Mutter über sein Lager. Ihr graute; denn Martin, ihr armer Sohn, ward geschüttelt von Fausten, die unsichtbar sind. Auch schien es ihr, daB er strahlte. Von seinem Gesicht, das gleich erstarren würde — die Mutter wuBte es: nun würde sein Gesicht gleich erstarren — kam Glanz. Um sein immer noch aufgerichtetes Haupt, so schien ihr, zuckte ein Glorienschein wie von Blitzen, ein elektrisches Diadem, eine tötliche Krone. Die feurige Zierde um seine Stirn erlosch, seine Hande sanken: sei es, weil sie nun berührt hatten, was zu berühren sie so gierig gewesen; sei es, weil sie es für immer unerreichbar gefunden —, und wahrend sein Bliek brach, sanken seine Glieder und das endiich erlöste Haupt in die Kissen zurück. Es kostete groBe Mühe, Frau Korella vom Lager ihres Sohnes zu entfernen. David Deutsch begleitete sie in ein Hotel, wo er ihre Koffer schon hatte unterbringen lassen. Er übernahm es auch, an Martins Vater nach Berlin zu telegraphieren. Ihm war es angenehm, daB er noch irgend etwas zu tun hatte, und wenn es auch melancholische Kleinigkeiten waren —, ehe er nach Hause gehen muBte, wo nur die furchtbaren Gedanken, die Erinnerungen und die Einsamkeit ihn erwarteten. Als er, eine Stunde spater, sein Zimmer betrat, saB im Halbdunkel ein Mensch auf dem Sessel am Fenster. ,,Wer ist das ?" rief David, der sehr erschrak. Eine leise, glockenhaft reine Stimme antwortete: ,,Ich bin es, verzeihen Sie bitte." Es war Kikjou. Als er ihn erkannte, brach David in Tranen aus. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht weinen können. Kikjou fragte schnell: „Er ist also tot?" Da der Schluchzende nickte, faltete Kikjou die Hande. „Gott sei seiner armen Seele gnadig." Auf diese Worte hin, die Kikjou mit wunderbarer Glockenstimme, leise, aber innig akzentuiert vorbrachte, machte David eine ungeheure Kraftanstrengung, um seinen Weinkrampf zu unterdrücken. Er ballte die Fauste, biB die Zahne aufeinander, daB sie knirschten, und bog den Rumpf in heftiger Verrenkung nach rechts, wobei er die Schenkel beinah bis zu den Schultern hochzog, und sogar etwas hüpfte. Ja, die ungeheure physische Mühe, die es ihn kostete, des Weinens Herr zu werden, brachte 26 ihn dazu, mit geschlossenen FüBen, etwa zwei Zentimeter hoch in die Luft zu springen. Es war ein grotesker und erschreckender Anblick. Erschreckend war auch das Zornesfunkeln in Davids Augen, als er jetzt Kikjou anschrie: „Sparen Sie sich Ihre frommen Wünsche und Gebete! Wenn es Ihren lieben Gott überhaupt geben sollte, dann ist Martin ihm naher gewesen als Sie, mit allen Ihren Sprüchen und Litaneien!" Kikjou schwieg, sein fahles, liebliches Gesicht blieb starr. Die Augen, in denen Grün, Hellblau, Goldbraun, Violett und Schwarz sich in einer zugleich undurchdringlichen und strahlend hellen Tiefe mischten, schauten an David vorbei. Nach einer groBen Pause sagte er: „Wahrscheinlich haben Sie recht. Wir wissen nicht, wen der Herr liebt und bevorzugt." Er verstummte noch einmal; in seinen Augen wurden alle Farben von dem Schwarz verschlungen; sein Bliek war in Finsternis getaucht wie ein Gewasser, über das finstere Wolken ziehen. ,,Ich bringe Unglück," sagte er noch, wieder nach groBer Pause. Und er stand schön und trostlos da —: ,Wie ein Todesengel,' dachte David, der seine Heftigkeit von vorhin bereute. Da Kikjou immer noch schwieg, fragte David nach einer Weile mit etwas bebender Stimme; „Warum sind Sie nicht bei ihm gewesen ? Ich werde es niemals verstehen, warum Sie nicht gekommen sind. Er hat immer wieder nach Ihnen gefragt — nur nach Ihnen. Haben denn all meine Nachrichten Sie nicht erreicht ? Die Briefe, und die drei Telegramme?" „Nein," antwortete Kikjou, „ich habe nichts bekommen." Nach einer Pause fügte er hinzu: „Aber ich ware wohl auch in Belgien geblieben, wenn alle Ihre Botschaften mich erreicht hatten. — Martin brauchte mich nicht, er wollte mich nicht mehr. Er hat etwas anderes mehr geliebt als mich. Er hat dem Dunklen Engel Stirn und Lippen zum KuB geboten. Der Dunkle Engel zog ihn innig an sich. Gott sei Martins armer Seele gnadig." Der kleine Kikjou hatte wieder die Hande gefaltet. Aber er neigte das Gesicht nicht, wie man es zum Gebet neigt. Er hielt es aufrecht, und er lachelte. David Deutsch erschrak. .Warum lachelt er ? Er sieht fast aus, als habe er den Verstand verloren; aber ein Wahnsinniger ist er nicht. In was für Geheimnisse ist er eingeweiht, und was für Bilder schauen nun seine Augen ? — Spielt er Komödie ? Heuchelt er ? Aber Heuchler haben nicht diese Flamme im Aug, und nicht dies bleiche Leuchten über Stirn, Haar und Mund Zur Beisetzung von Martins Asche ist Herr Korella in Paris eingetroffen — ein ziemlich gebrochener Mann. Es ist zu viel für ihn gewesen in denletzten Jahren: erst der Verlust seines Notariats, dann seiner Praxis, und nun diese Tragödie mit dem Jungen. Was hat Herr Korella denn getan, womit hat er sich denn versündigt, daB ihm so viel Entsetzliches zugemutet, so viel Schreckliches über ihn verhangt wird, von einer Instanz, die Herr Korella, Atheist und Freimaurer, niemals „Gott" nennen würde, aber deren unbegreifliche und unbarmherzige Macht er erschauernd spürt. Er halt sich sehr aufrecht, Herr Korella, der Vater. Aber eben durch diese kramphaft steife Haltung wirkt es besonders zusammengebrochen; alle haben den Eindruck, daB es diesem Mann natürlicher ware, gebückt zu gehen, ja, vielleicht auf allen Vieren zu kriechen, die Stirn in den Staub gepreBt. Über den Lippen, die immer ein wenig zittern, hat der Vater ein kleines Schnurrbartchen, welches wie bereift aussieht: kein graues Schnurrbartchen, sondern ein schwarzes, auf das Reif gefallen ist. Unter den Augen, die glasig blieken, gibt es traurige Sackchen: rötliche Verdickungen, wahrscheinlich tun sie immer ein wenig weh. Herr Korella tragt einen abgeschabten schwarzen Paletot mit speckigem Samtkragen, dazu weiBe Gamaschen, runden steifen Hut, und einen dicken, schwarz lackierten Spazierstock mit Silberkrücke. Zur schabig-altvaterichen Eleganze solchen Aufzuges paBt die mühsame Grandezza seines Benehmens. Er bietet Frau Korella den Arm — arme Frau Korella, die buchstablich in Tranen zu zerfliefien droht und deren Gesichtszüge auf eine beangstigende Art weggewischt und abgewaschen scheinen —; er führt Frau Korella zum Eingang des Friedhofes wie zum Portal eines Ballhauses; seine Gesten, sein Gang sind marionettenhaft zuckend, ach, eigentlich möchte er auf allen Vieren kriechen, zerfurchte Stirne und bereiftes Schnurrbartchen im Staube, zu dem wir alle zerfallen werden . . . Nicht sehr viele Leidtragende sind auf dem Friedhof erschienen; einige Stammgaste aus der „Schwalbe": Kikjou, David Deutsch, die Proskauer, Doktor Mathes, und eine hagere Dame, die nur wenigen bekannt ist. Sie halt ein helles Lederköfferchen, in dem es klappert, unter dem Arm; es ist Friederike Markus — war sie denn befreundet mit dem Verstorbenen ? Stand sie denn auch mit ihm in Korrespondenz ? Martin ist doch ein so fauler Briefschreiber gewesen, aber Frau Viola ist es ja gewohnt, auf lange Ergüsse nur kargliche Antwort zu erhalten. Wie dem auch sein möge: sie ist anwesend, und sie drückt als Erste der aufgelösten Mutter Korella stumm die Hand. Übrigens befindet sie sich in Begleitung eines blonden jungen Mannes, der gleichfalls allen unbekannt ist und sich im Hintergrund halt. — Wahrend die Schwalbe mit groBen, gleichsam zornigen Schritten breitbeinig auf- und abgeht, wie ein Kapitan auf Deck seines Schiffes bei bewegter See, sagt Doktor Mathes zu Ilse Proskauer: „Martins Lungenentzündung war von sehr besonderer Art. Da er nun tot ist, darf man wohi davon reden. Er war durch und durch infiziert. Ich möchte annehmen, daB er sich die intravenösen Injektionen mit einem nicht desinfizierten Instrument gemacht hat. Daher bildeten sich die Abszesse in seinem Inneren." Die Proskauer sagte leise — ohne jeden Affekt, wie es schien, aber doch energisch —: „Hören Sie bitte auf." Übrigens regnet es, zu Beisetzungen gehören Regen, nasse Parapluies und der Geruch feuchter Mantel. David Deutsch hat vorgehabt, eine kleine Rede zu halten — damit doch etwasgesprochenwerde;denn es ist ja kein Geistlicher zugegen. Martin hat keiner Religionsgemeinschaft angehört, weder der israelitischen, deren Mitglied sein Vater ehemals gewesen ist, noch der protestantischen, zu der sich Frau Korella bekennt. Aber David versagt, er hat seine Kraft überschatzt. In verzweifelt schiefer Haltung steht er da; er verneigt sich seitwarts, lachelt verzerrt, eine ganze kleine Pantomime von hilflosen und narrischen Höflichkeitsbezeugungen führt er auf; aber über seine Lippen kommt kein Wort. Die rüstige alte Schwalbe ist es, die die Situation halbwegs rettet; sie schiebt David resolut bei Seite — ihr zerzaustes, borstiges Grauhaar ist naB vom Regen, ihr energisch gutmütiges Kapitansgesicht nafi von Tranen, und ihre Stimme ist rauh, zittert wohl auch ein wenig, gibt aber doch markige Töne her, da sie nun ausruft: „Martins Vater und Martins Mutter! Meine lieben Kinder! Ich kann keine Worte machen, und das hatte unser Kamerad auch nicht von mir verlangt, unser Freund, von dem jetzt nur noch dieses biBchen Asche übrig sein soll. Aber seine Gedanken und die Anmut seines Wesens, und alles, was er gewesen ist, das darf doch nicht einfach so verloren gehen, das muB doch nachwirken — in uns, in uns nachwirken, meine ich; wir bewahren es doch. Er hat ja auch ein Dutzend sehr schoner Gedichte geschrieben, schlimm genug, da!3 es nicht mehr gewesen sind." Hier hört man, wie Herr Korella sich gramvoll und ein wenig indigniert rauspert, und wie Frau Korellas .Schluchzen heftiger wird — es ist erstaunlich, wieviel Tranen sie herzugeben hat, es scheint, als sei der Brunnen ihrer Tranen unerschöpfüch, nun flieBt das salzige NaB wieder so reichlich, als beginne die arme Frau gerade jetzt erst zu weinen, wahrend sie doch in Wahrheit seit so vielen Stunden ohne jegliche Unterbrechung schluchzt. — Leichte Bestürztheit bei der kleinen Zuhörerschaft; manche deuten sogar durch Stirnerunzeln und Kopfschütteln eine gewisse Empörung an. Die alte Schwalbe aber — unbeirrbar, immer aufrichtig, das Herz auf dem rechten Fleck, weder durch Tranenbache noch durch Stirnrunzeln irgend aus dem Konzept zu bringen —, alte Schwalbe, angesichts der kleinen schwarzen Urne eben so natürlich und ungeniert wie hinter ihrer Theke im Lokal — fahrt fort: ,,Schrecklich oft habe ich ihn auszanken müssen wegen seiner sündhaften Faulheit. Was hatte der nicht alles schaffen können! Aber es lag ihm wohl nichts daran. Er hat viel zu früh aufgehört. Was hatte er noch alles bringen und bedeuten können, für ihn selber und für die Freunde! Er war ja so reich, — so reichlich ausgestattet mit schonen Gaben. Aber er hat sich nicht schonen und nicht aufsparen können; er hat furchtbar mit sich gewüstet. ,Auf was soll man denn warten, für welch kostbare Gelegenheit soll man sich denn aufheben ? hat er mir oft gesagt. Ich habe ihn dann zurecht gewiesen: Aber du willst doch Deutschland wiedersehen, Martin, und du wirst in Deutschland noch viel zu tun haben. — Dann hat er nur so sonderbar gelacht, und hat vielleicht mit einer schonen, traurigen Bewegung gesagt — mit einer Bewegung, wie sie ihm niemand nachmachen kann —: Ach, Deutschland! . . . Unser Freund hat furchtbar unter allem gelitten, was dort geschieht; es hat ihn beinah verzehrt — von innen verzehrt —, ich weiB es —, und es hat sicher seinen Tod beschleunigt. — Diese Mörder!'' ruft, plötzlich sehr zornig, die alte Schwalbe, und sie hebt die Faust — sie reckt ihre sehnige alte Faust über diesem kleinen, schwarzen Behalter, der die Asche ihres liebsten Gastes birgt —: „Diese Mörder da drüben! Sie bringen nicht nur die um die Ecke, die sie totschieBen oder zertrampeln oder erschlagen; sondern auch die vielen andern, denen sie die Freude am Leben und das Leben selber kaputt machen; die sie erledigen, die sie zerstören: einfach, weil für empfindliche Lungen die Luft nicht zu atmen ist, die von diesen Ungeheuern vergiftet wird\" — Neues Rauspern des Herrn Korella, diesmal heftiger. Ist das eine passende Grabrede ? Diese merkwürdige Person namens Schwalbe irrt sich augenscheinlich im Ort: sie ist hier auf keiner Volksversammlung. Das scheint ja eine rechte Hetzerin zu sein. Schon die Anspielung auf Martins Faulheit vorhin ist eine horrende Taktlosigkeit gewesen. Der Junge war ja recht trage, zugegeben; aber man erwahnt es doch nicht am Grabe. Und nun, diese Entgleisung, unerhört, das ist doch geradezu eine Rücksichtslosigkeit. SchlieBlich muB ich morgen nach Berlin zurück, denkt Herr Korella, und er spürt eine Beklemmung in der Magengegend bei dieser Idee. Wer weiB, ob nicht unter den Trauergasten ein Spitzel ist, man muB immer mit sowas rechnen. Und überhaupt, es ist ja Unsinn, was sie da redet, es ist doch der schiere Quatsch. Die Nazis sollen schuld sein an Martins traurigem Ende ? Alles was recht ist, aber man kann die Leute doch nicht für jedes Unglück verantwortlich machen. Ich, als Vater, habe immer gewufit, dafl es mit dem Jungen nicht gut ausgehen wird, trotz seinen schonen Talenten . . . Die kleine Trauergemeinde laBt deutlich merken, dafi man zum zweiten Mal peinlich berührt ist von der seltsamen Unbeherrschtheit der alten Schwalbe. Natürlich gibt man ihr recht und unterschreibt innerlich ohne Vorbehalt die wilden Worte, die sie vorgebracht hat. Aber — so empfindet man allgemein — eine gewisse Rücksicht auf die alten Herrschaften aus Berlin ware doch ratsam und am Platze gewesen. — Betretene Gesichter im ganzen Kreise; nur der fremde junge Mann, den die gleichfalls ziemlich fremde Friederike, genannt Frau Viola, mitgebracht hat, wirkt ganzlich unbeteiligt; etwas gelangweilt, und als interessiere ihn nichts von dem, was hier geredet oder getan wird, spielt er mit seinen Handschuhen. Ubrigens scheint die alte Schwalbe zu spüren, daB sie MiBfallen, oder doch Verwunderung erregt hat. Sie beifit sich die Lippen; schüttelt den Kopf, als wolle sie sich selber zurechtweisen: Dummes Ding, kannst du dich denn gar nicht ein biBchen zusammen nehmen! — und sie wird sogar etwas rot; es macht einen sonderbaren und recht rührenden Eindruck, wenn ein verwittertes, von allen Winden und Wettern gegerbtes Kapitansgesicht, wie das der Mutter Schwalbe, sich schamhaft verfarbt. Ihre Stimme ist weich und leise, da sie nun fortfahrt: „Hoffentlich hast du jetzt die Ruhe, lieber Martin, nach der du dich so gesehnt hast. Uns wirst du sehr fehlen, es wird schwer und bitter sein, sich daran zu gewöhnen, daB du nicht mehr da bist. Wir sind doch eine Familie — nicht wahr, Kinder, ich übertreibe nicht und ich mache keine sentimentale Redensart, wenn ich uns so bezeichne ?" Dies sagt sie bittend, fast flehend, und ihr Bliek wandert in einer angstlichen Frage von einem zum anderen. Alle nicken ihr zu. Die leichte MiBtimmung ist schon wieder verflogen. Sie ist eben doch eine prachtvolle alte Person, unsere Schwalbe, freilich sind wir eine Familie, und dir, alte Schwalbe, haben wir dankbar dafür zu sein; denn du haltst uns zusammen, du bist der Kapitan und die Mutter, die Ernahrerin und der General. „Ja ja," ruft die alte Frau, jetzt beinah freudig, und aus ihrem angstlich forschenden Bliek ist ein zuversichtlich leuchtender geworden. „Eine Familie — das sind wir —, und das sollt ihr auch in Berlin erzahlen!" Dabei wendet sie sich triumphierend Herrn und Frau Korella zu, die nicht wissen, ob sie gerührt oder empört sein sollen, und in Wahrheit beides gleichzeitig sind. „Davon sprecht in Berlin!" verlangt die Schwalbe von ihnen. Aber dann schaut sie wieder weg von Martins krampfhaft steif aufgerichtetem Vaterund vonder tranennassen Mama, und ihre Augen bleiben noch einmal an dem schwarzen kleinen Behalter hangen, an dem bescheiden verzierten GefaB, in dem das graue Aschenhaufchen aufgehoben ist. ,,Nun ist unsere Familie plötzlich viel armer geworden" —: dieses wird von ihr vorgebracht, als spreche sie zu sich selbst und habe vergessen, daB es hier Zuhörer gibt. „Viel armer geworden," wiederholt sie mit betrübter Nachdenklichkeit. „Der Beste ist weg." Sie zuckt die Achseln, mit einer bitteren und gar nicht pathetischen Resignation. „Ja, er ist wohl so ziemlich der Beste gewesen ..." Dabei hat ihr Gesicht etwa den Ausdruck, welchen es bekommt, wenn Frau Schwalbe die Geschaftsbücher prüft: es ist, als lieBe sie in Eile samtliche Mitglieder ihrer grofien Familie Revue passieren, und als prüfe sie, hastig aber genau, die Valeurs jedes Einzelnen, um festzustellen, ob Martin wirklich der Wertvollste gewesen ist. Und sie kommt zum Ergebnis: „Ich behaupte gar nicht, daB er der Tüchtigste war, oder der Nützlichste, oder der Tapferste, oder der Klügste; aber in einem gewissen Sinn ist er der Kostbarste von uns gewesen; er war vom Kopf bis zu den FüBen aus einem sehr feinen, seltenen, edlen, leicht zerstörbaren Material gemacht. — Von allen meinen Kindern habe ich dieses am liebsten gehabt." GroBes, zartlichschmerzliches Lacheln — mütterliches Lacheln auf dem Kapitansgesicht. „Das darf nun keiner von euch anderen übel nehmen," bittet sie sanft. „Einen muB man doch am liebsten haben — so ein Herz ist ungerecht." Mit einer weit ausholenden, ungeschickt groBartigen Gebarde deutet sie auf ihr Herz, das unter dem dunklen Regenmantel, unter der streng zugeknöpften grauen Bluse so stark, so innig, so jugendlich klopft. „Diesen also hat mein Herz bevorzugt," verkündigt die alte Schwalbe, fürstlich-eigensinnig, einer Königin ahnlich, die dem Günstling in majestatischer Laune einen höheren Orden verleiht, als er ihm wohl eigentlich zukame. — „Schlafe in Frieden!" — Wieder eine unbeholfen-pathetische Geste; ein weites Breiten der Arme, das eigentlich gar nicht zu den Worten paBt, die sie spricht. „Vielleicht gibt es einen Ort, von dem aus du uns zuschauen und beobachten kannst. Nun, wir wollen jedenfalls so leben, als wachtest du über uns, und wenn wir einmal etwas Gutes erreichen und einen tüchtigen Schritt weiterkommen — dann werden wir an dich denken, und eine Stimme, ganz tief drinnen in uns, wird sagen: Bist du jetzt zufrieden, lieber Martin ? Freust du dich etwas mit uns, an dem unbekannten, wahrscheinlich sehr weit entfernten und vielleicht sehr schonen Ort deines Aufenthaltes ? — Wie schade, wie jammerjammer-schade, daB du nicht mehr mit uns sein kannst ..." Dieses war die höchst überraschende, teilweise anstöBige und teilweise ergreifende Trauerrede der alten Schwalbe. Sie hat geendigt, nun tritt sie zurück und wischt sich die Augen mit einem groBen, nicht ganz sauberen Mannertaschentuch. Viele weinen im Kreise; andere schauen starr und gramvoll vor sich hin. Jemand aber stöBt einen kleinen,durchdringenden Klagelaut aus — es klingt wie das Heulen eines fremdartigen Tieres in der Nacht. Dieser Jammerruf kommt von Kikjou; er hat sich bis jetzt ganz still im Hintergrund gehalten, nun aber taumelt er, er scheint niedersinken zu wollen, ja, er ware gestürzt, wenn nicht David Deutsch ihn aufgefangen hatte. David ist mit elastisch-behenden Sprüngen herbei gehüpft; er lachelt verzerrt, mit verzweifelter Höflichkeit, und in den Armen halt er den Knaben, an dem Martins Herz mit so unglücklicher und zaher Leidenschaft hing; den problematischen kleinen Vagabunden, den grüblerischen Aventurier —: eine wie leichte Last ist er an Davids Brust, David ist doch gewiB nicht sehr stark, sicherlich ist er kein Riese, aber der kleine Kikjou wiegt so gut wie nichts. Und wie bleich Kikjous Gesicht ist — buchstablich alle Farbe ist aus ihm gewichen, auch die Lippen sind weiB, nur auf den geschlossenen Lidern und unterhalb der Augen gibt es dunkle Töne; schwarzlich-graue, blaue und violette Schatten sind wie mit einem Pinsel in die kranke Helligkeit dieses leidenden Gesichts getupft. — Ein paar Sekunden spater nimmt Kikjou sich wieder zusammen; er lachelt mühsam: Danke; er drückt David die Hand, und nun kann er schon ohne Hilfe stehen. In traurigem Défilé ziehen die Stammgaste der „Schwalbe" und die paar Fremden an Martins Eltern, an Herrn und Frau Korella aus Berlin, vorbei. Handeschütteln und gemurmelte Phrasen des Beileids. Frau Schwalbe umarmt Mutter Korella, die sich mit dem triefend nassen Tüchlein die geschwollenen Augen wischt; alte Schwalbe küBt Mutter Korella auf beide Wangen, Herr Korella sieht mit MiBbilligung zu. Er hat der temperamentvollen Dame ihre unkonventionelle und in vieler Hinsicht schokierende Grabrede ganz entschieden übel genommen. Zu David Deutsch, der nun seinerseits den schiefen Bückling vor ihm macht, sagt er deutlich und nicht ohne Scharfe — obwohl die Schwalbe sich ganz in der Nahe befindet und seine Worte verstehen kann —: ,,Ich bedaure es aufrichtig, lieber Herr Doktor, dafi Sie die Ansprache nicht halten konnten. Denn Sie sind es doch wohl, dermeinem Sohn von allen hier Anwesenden am nachsten gewesen ist.'' Er sieht mit einem strengen Bliek erst an Frau Schwalbe vorbei, dannan Kikjou, dem er demonstrativ nicht die Hand gereichthat. Der Einzige, dem Vater Korella hier ein gewisses Vertrauen entgegenbringt, ist David Deutsch; nun wird es deutlich, denn der alte Herr legt diesem Freund seines Sohnes einen Arm um die Schulter, und er führt ihn ein wenig bei Seite. David, in besonders schiefer Haltung — den Oberkörper verrenkt, im überhöflichen Eifer des Lauschens — nickt erregt mit dem Kopf und scharrt mit den FüBen die Erde wie ein nervöses RoB. Herr Korella — ein total gebrochener Mann, der sich unter schier übermenschlichen Mühen steif und gerade halt, als hatte er einen Stock im Rücken —, Herr Korella bringt mit bebenden Lippen sein kleines Anliegen vor: Ob der junge Herr Deutsch ihm, dem Vater, bei der genauen Durchsicht von Martins Papieren behilflich sein möchte ? „Vielleicht finden wir wertvolle Dinge unter diesen Niederschriften," sagt der Vater, und in seinen Augen, die sonst über den schweren, entzündeten Tranensacken einen so stumpfen Bliek haben, gibt es plötzlich ein stolzes kleines Aufleuchten. „Geistige Kostbarkeiten," fahrt er erhobenen Hauptes fort, „literarische LeckerbiBen," sagt er, und laBt die Zunge über seine Lippen gleiten, als sei dort etwas SüBes abzulecken, „kurzum, Werke, auf welche die Offentlichkeit einen Anspruch hat." David halt dies für sehr wohl möglich, und steht Herrn Korella, selbstverstandlich und ohne Vorbehalt, zur Verfügung. — ,,Wir begeben uns dann wohi am besten sofort in Martins Hotel und machen uns an die Arbeit," schlagt Herr Korella unternehmungslustig vor. „Meine Zeit hier in Paris ist sehr knapp bemessen." Herr Korella sieht auf die Uhr, als komme es auf jede Minute an und es sei kein Augenblick zu verlieren. „Morgen früh — morgen früh muB ich ja zurück nach Berlin . . Wahrend er das Wort „Berlin" spricht, wird sein Bliek wieder stumpf und glasig. Herr Korella senkt langsam den Kopf; er halt den Nacken hin, als erwarte er einen Schlag. Frau Korella inzwischen ist von dem fremden jungen Mann, der als Kavalier der Friederike Markus auftritt, ins Gesprach gezogen worden. Der junge Mann stellt sich selber vor, er heiBt Walter Konradi — ein fein empfindender Mensch, wie es scheint; er hat viel Verstandnis für die bittere Lage der Mutter Korella; in schlichten, aber gut gewahlten Worten drückt er sein Beileid aus. „Und nun werden gnadige Frau sich wohl eine Zeit lang in Frankreich auf halten, zur Erholung ?" — Walter Konradi erkundigt sich respektvoll und beinah zartlich. Nein, Frau Korella muB morgen früh nach Berlin. — Nach Deutschland zurück ? In dieses Hölle ? Walter Konradi ist ganz Bedauern. Aber Mutter Korella sagt einfach: Nun, es ist doch mein Vaterland — und sie meint es ehrlich, ja, sie freut sich fast auf ihre Wohnung in der Nürnberger StraBe. — GewiB gewiB, unser Vaterland. Der junge Herr deutet durch Lacheln ein geheimes Einverstandnis zwischen sich und Frau Korella an. Unser Vaterland, sicher, das klingt sehr hübsch. „Aber schlieBlich," bemerkt Konradi, nun vertraulich-leise, „schlieBlich, nach allem, was man uns dort angetan hat! Ich bin auch in einem Konzentrationslager gewesen . . betont er, nicht ohne Stolz. Und erberichtet, immer mit dem vertraulich-gedampften Ton, aus was für Gründen er hinein geraten sei und unter welch phantastischen Umstanden er es verlassen habe. — Freilich, solche Dinge sind schrecklich, Frau Korella gibt es gerne zu; in ihrem Bekanntenkreis hat sich ja auch so manches ereignet, und was hat man ihrem armen Gatten nicht alles angetan! Konradi schüttelt voller Mitgefühl den Kopf. Dann meint er abschlieBend: „Nun, was mich betrifft, ich habe die Nase voll. Ich bleibe im Ausland; da darf man doch wenigstens den Mund aufmachen." — ,,In Ihrem Fall ist das auch etwas ganz anderes: Sie sind jung." Frau Korella stellt es ohne Bitterkeit fest. „Aber ich — eine alte Frau — wo soll ich denn hin ?" Madame Schwalbe, die ein paar gute Worte zu dem todesbleichen Kikjou gesagt hat, wendet sich wieder an Frau Korella und erkundigt sich, ob die beiden Herrschaften ihr das Vergnügen machen wollen, einen ImbiB in ihrem Lokal zu nehmen. „Es ist sehr bescheiden bei uns," versichert sie, „kein Luxusrestaurant, das dürfen Sie nicht erwarten. Aber vielleicht interessiert es Sie, den Platz kennen zu lernen, wo unser Martin in den letzten Monaten seines Lebens so viele Stunden taglich verbracht hat." — Ja, das würde Frau Korella natürlich ungemein interessieren: sie bestatigt es mit eifrigen Worten. Übrigens hat sie nun zu weinen aufgehört, das Gesprach mit Walter Konradi scheint sie erfrischt und fast getröstet zu haben: ein sympathischer junger Mann, es geht etwas Vertrauenerweckendes von ihm aus. — Doch, Frau Korella hatte entschieden Lust, nocheine kleine Weile im Kreis von Martins Freunden zu verbringen, und das berühmte Etablissement, die „Schwalbe", zu besichtigen. Jedoch tritt Herr Korella hinzu und mahnt seine Gattin — wobei er wieder eisig an der Schwalbenwirtin vorbei sieht —: ,,Wir haben keine Zeit zu verlieren, meine liebe Hedwig. Es gibt noch manches zu erledigen. Der junge Herr Deutsch wird so freundlich sein, uns bei der Durchsicht von Martins Papieren behilflich zu sein." Frau Korella nickt gehorsam, dabei sieht sie bedauernd Konradi an: Schade, ich ware gern noch ein biBchen mit Ihnen und den anderen zusammen geblieben. Aber wahrscheinlich hat Korella recht. . . Herr Korella findet, daB er sogar ganz entschieden recht hat. Nichts könnte ihn dazu bewegen, sich auch noch in dieses Emigrantenlokal zu setzen. Es handelt sich doch um einen verrufenen Platz, und vielleicht wird Herr Korella beobachtet. Abgesehen aber von vorsichtigen Erwagungen solcher Art: Herr Korella spürt, daB er in dieses Milieu überhaupt nicht paBt. Er hat in Deutschland manches durchgemacht, und vieles ist ihm von den Nazis angetan worden — mehr vielleicht, als all den jungen Leuten hier im Kreise, und als dieser Madame Schwalbe, die den Mund so voll nimmt —; aber Herr Korella, ein deutscher Bürger —• obwohl die Deutschen ihn als ihresgleichen nicht mehr anerkennen — findet doch eine tiefe Kluft zwischen sich und den Vaterlandslosen. ,Keinesfalls möchte ich zu denen gehören, die im Ausland sitzen und ihre Heimat beschimpfen' — so denkt er. ,Denn im Schimpfen auf die Heimat besteht doch wohl die Tatigkeit der Emigranten vor allem.' Herr Korella hat für sein Vaterland im groBen Weltkrieg gekampft; es ist ein Jammer und eine bittere Schmach, daB seine Landsleute dies nun ihrerseits vergessen zu haben scheinen. Aber ein Mann von seinem Schlage ist nicht gesonnen, das schlimme Unrecht, das die Deutschen ihm zufügen, nachtraglich gleichsam zu rechtfertigen, indem er sich zu den Feinden des Reiches, zu den internationalistischen Hetzern gesellt. Herr Korella bedankt sich bei Mutter Schwalbe mit einer knappen Neigung des Kopfes für die freundliche Einladung; bietet Frau Korella den Arm, und entfernt sich -— würdevoll, von etwas schabiger Eleganz. David Deutsch folgt dem Elternpaar, mit schiefen, gleichsam um Verzeihung bittenden Verneigungen von Mutter Schwalbe und den Freunden Abschied nehmend. Kikjou, die schonen Augen von undefinierbarer Farbe im weiBen Gesicht klagend aufgerissen, bleibt zurück, unter der kraftigen Obhut der Schwalbenwirtin, die ihn an sich zieht wie ein Muttertier sein Junges. Bis zum SchluB der Zeremonie ist er von Herrn Korella auf ungeheuer verletzende Art geschnitten worden. ,Sehr verdachtige Gestalt,' ist Herrn Korellas Eindruck von dem bleichen Knaben. , Wirkt kolossal ungesund. Ich bezweifle, ob seine Beziehungen zu meinem Martin sich überhaupt noch im Rahmen des GesetzmaBigen gehalten haben . . .' Nach Herrn Korellas Abgang gibt es ein erleichtertes Aufatmen unter den jungen Leuten. Die alte Schwalbe macht: Uff! — womit sie dem allgemeinen Empfinden Ausdruck verleiht. Man hat es sich — vielleicht aus einer Art von Pietat, die sich auf Martin bezieht; vielleicht aus Mitleid angesichts der Tranen, die Frau Korella so beangstigend reichlich hat flieBen lassen — zunachst nicht eingestehen und nicht recht zugeben wollen; aber von Anfang an ist Herr Korella bei Martins Kameraden Gegenstand eines gewissen MiBtrauens und sogar von Antipathie gewesen. Wer ienseits des feurigen Kreises, wer innerhalb der unüberschreitbaren Reichsgrenzen seinen Aufenthalt hat, muB sich vor den Losgelösten, den Emigranten auf eine besondere Art rechtfertigen und beweisen, um sich ihr Vertrauen zu gewinnen oder gar ihre Freundschaft. Die Losgelösten sind argwöhnisch, und wer aus dem Lande kommt, das für sie die unbetretbare Gegend ist — die verlorene Landschaft, der zugleich ihr ganzer HaB und ihre ganze Sehnsucht gelten —, der hat sich ihren scheelen Bliek, ihr prüfendes, überlegendes Schauen wohl gefallen zu lassen. Zwischen jenen, die sich über die StraBen deutscher Stadte noch mit Selbstverstandlichkeit bewegen, und zwischen den anderen, denen diese Gassen und Platze höchstens noch in nachtlichen Gesichten erscheinen, die halb Alptraume, halb Wunschtraume sind, — zwischen den Daheimgebliebenen und den Ausgewanderten springt ein Abgrund auf, wenn sie durch Zufall irgendwo einander begegnen. Es gibt Worte, es gibt vielleicht sogar Blicke und Erkennungszeichen, die geeignet sind, solchen Abgrund zu überbrücken oder ganz zu schlieBen und die Athmosphare des Vertrauens zwischen den sich-Entfremdeten herzustellen. Herr Korella hat dieses Wort, diesen Bliek, dieses Zeichen nicht gesucht, oder doch nicht gefunden. Der Abgrund blieb, und er vertiefte sich noch durch des Vaters würdevoll-steifen Abgang. Uff! machte Mutter Schwalbe. Dann forderte sie die ganze Gesellschaft auf, im Lokal bei ihr „einen Happen" zu essen. Friederike Markus, die schon seit geraumer Weile in einen Zustand völliger Geistesabwesenheit versunken schien und, mit zugleich starrem und ruhelosem Bliek, seltsamlachelnd ins Leere traumte, wollte 27 sich hastig verabschieden; doch ihr sympathischer Kavalier — sportliche und vertrauenerweckend saloppe Figur im gegürteten hellen Regenmantel — bettelte schulbubenhaft: „Aber Viola! Sei doch nicht langweilig! Es tut dir so put, einmal unter Leute zu kommen!" Woraufhin das abgestorbene Lacheln der Markus sich zartlich belebte. „Wenn es dir Freude macht, Gabriel," sagte sie, und ihr trostlos wandernder Bliek blieb liebevoll an seinem hübschen, harten Gesicht hangen. — Frau Schwalbe, die Friederike flüchtig kannte und viel über sie gehort hatte, sagte besonders herzlich: „Das ist recht, daB Sie auch mal mit uns sein wollen, Frau Markus!" Auf ihre resolute Art machte sie sich selber mit Friederikens jungem Begleiter bekannt: „Ich bin Mutter Schwalbe." Und er, korrekt sowohl als sonnig, ein HackenZusammenschlagen mit eleganter Nachlassigkeit andeutend: „Walter Konradi mein Name." — „Warum nennt Frau Markus Sie dann Gabriel ?" wollte die Schwalbe wissen, die Unklarheiten nicht ausstehen konnte. Statt seiner antwortete Friederike, schwarmerisch und hastig: „Weil er für mich — nur für mich — Gabriel heiBt!" — ,,Aha, ich verstehe," lachte behaglich die Wirtin. „Und Sie heiBen, nur für ihn, Viola." Genosse Konradi wurde auch mit den jungen Leuten bekannt; „sonderbar eigentlich, daB man sich noch nie begegnet ist," bemerkte einer von ihnen. Konradi erzahlte, daB er wahrend der letzten Monate in der Schweiz gewesen sei. Übrigens war er allen sympathisch durch sein offenes, frisches und intelligentes Wesen, das, dem Ernst der Stunde entsprechend, gleichzeitig auf eine dezente Art beschattet schien. Nur der Proskauer fiel die erschreckende Harte seiner stahlblauen Augen unter den blonden, dicken Brauen auf. Sie tadelte sich aber selbst wegen des leichten Widerwillens, den sie spürte. ,Das sind unkontrollierte AfFekte,' sagte sie sich. ,Er ist sicher ein anstandiger, brauchbarer Mensch.' In der Métro, auf der Fahrt vom Friedhof nach Montparnasse, berichtete er von seinen Abenteuern im Konzentrationslager. „Lustig war es auch manchmal!" Dabei hatte er ein trotziges kleines Auflachen, und was folgte, war eine umstandliche Anekdote von der humoristischen Sorte, in der heimliches Zigarettenrauchen, die Dummheit eines SA.-Führers und die schlauen Einfalle eines „jüdischen Kameraden" die Hauptrolle spielten. Jemand erkundigte sich, wann er denn ins K. Z. gekommen sei — worauf er munter erwiderte: „Na, doch natürlich schon im Frühling 33, ist ja Ehrensache. Mich haben die Hunde doch besonders auf dem Strich gehabt, wegen meiner Tatigkeit an den Universitaten. Hat denn keiner davon gehort, was ich da alles angestellt habe ?" Jemand glaubte sich zu erinnern. Konradi kramte in seiner Brieftasche und holte Papiere hervor, die seine Einlieferung ins Konzentrationslager bestatigten. „Ein offizielles Abgangszeugnis habe ich nicht," lachte er geheimnisvoll. Er sprach gedampft und schickte angstliche Blicke durch den Waggon. „Man weiB doch nie, wer einem gegenüber sitzt," raunte er, wobei er die Stahlaugen miBtrauisch zusammen kniff. „Hier in Paris wimmelt es ja von Spitzeln .. ." Die Patronne des Hotels hatte das Ehepar Korella und Monsieur David Deutsch selber nach oben geleitet. Es bedeutete einen heftigen und qualendrührenden Eindruck für David, den Raum wieder zu sehen, in dem er Martin so unzahlige Male besucht hatte —: das stattliche Atelier mit dem hübschen Bliek aus dem groBen Fenster; das komfortable Studio mit breitem Divan und eigenem Bad, das eigentlich im- mer über Martins Verhaltnisse gewesen war und auf dem er so eigensinnig bestanden hatte. Nun hielt sich Herr Korella über das „luxuriöse Appartement" auf, in dem sein Junge logiert hatte. ,,Wir sparen in Berlin mit jeder Briefmarke und jedem Trambahnbillet," sagte der Vater gekrankt, „damit wir dem Jungen was schicken können — und er etabliert sich hier wie ein Millionar!" Dann kam Herr Korella wieder auf die hohen Begrabniskosten zurück, von denen er schon unterwegs ausführlich geredet hatte. Was ihn jedoch am allermeisten krankte und erregte, das waren gewisse anstöBige und mysteriöse Posten auf Martins Hotelrechnung. „Warum hat er denn so oft Löcher in die Bettbezüge gebrannt ?" wollte Herr Korella erbittert wissen. „Immer wieder ist etwas für verbrannte Leintücher und Kissen zu bezahlen. Ich kann mir das gar nicht erklaren; es sieht geradezu nach böser Absicht aus — als hatte es ihm Vergnügen gemacht, das gute weiBe Zeug zu ruinieren —: auf meine Kosten, natürlich!" Für David wareseinfastkörperlicher Schmerz, sich das alles anhören zu müssen. Alles an ihm zuckte; dabei gab er sich die gröBte Mühe, ein liebenswürdiges Gesicht zu machen. Das Lacheln aber, das er produzierte, ward immer verzerrter. Übrigens hatte er den besten Willen, innerlich nicht ungerecht gegen Martins Vater zu sein. ,Sicherlich gab es für den Alten Grund genug, sich Martins wegen Sorgen zu machen,' dachte er. .Martin verhielt sich dem Vater gegenüber oft merkwürdig brutal. ,,Der Alte ist reicher, als er zugibt; der Alte soll zahlen. . ." Vielleicht ist dieser Alte eher noch etwas armer, als er es gerne zeigen möchte . . .' Inzwischen war Herr Korella in eine Art von nervösschimpfendem Lamentieren geraten. „Der Junge wuBte eben überhaupt nicht, was das bedeutet: Geld!" rief er weinerlich. „Diese ganze sogenannte Emigration war doch nur ein ungeheurer Luxus, und ich muI3te ihn zahlen! Der Junge hatte ja immer schon die fixe Idee, dai3 er nur in Paris leben könne — wie oft muBte ich ihm diese verrückte Bitte abschlagen: ihn nach Paris übersiedeln zu lassen! Nun, und dann kam Hitier, und unser Martin hatte endlich seinen Vorwand, zu behaupten, es sei in Deutschland nicht mehr auszuhalten! Andere haben es auch ausgehalten!" rief der Vater mit bitterer Miene. „Aber unser Martin tat sich ja immer so viel auf seine Sensibilitat zugute — diese elegante Empfindsamkeit auf meine Kosten!" Herr Korella hatte sich sehr in Zorn geredet; das WeiBe seiner Augapfel farbte sich rötlich. Hier war es die verweinte Frau Hedwig, die eingriff. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um auszurufen: „Aber Felix! VergiB doch nicht, wo wir sind! Hast du denn kein fühlendes Herz im Leibe ?" Der Alte, halb noch argerlich, halb schon beschamt und besanftigt, murrte: „Der Junge muBte ja seinen Willen immer durchsetzen. Du wirst wohl selbst zugeben, liebe Hedwig, daB es besser für ihn gewesen ware, wenn man ihm diese sogenannte Emigration einfach verboten hatte, wie einen dummen Streich." David, der vor qualvoller Verlegenheit völlig schief wurde die rechte Schulter schien nach oben zu wachsen, wahrend die linke melancholisch herabsank - schlug zitternd vor: „Es scheint mir ratsam, die Durchsicht der Papiere in Angriff zu nehmen." Die Schreibtischlade war nicht zugesperrt. Der Vater öffnete sie; Frau Korella griff gierig nach dem Blatt, das zuoberst lag. Aber der Gatte nahm es ihr aus der Hand. „LaB mich, bitte! " bat er streng, wobei er sich schon die Brille aufsetzte. „Ein Gedicht," steilte er fest, beinah triumphierend, als hatte er überraschend einen kleinen Schatz entdeckt. ,,Es ist betitelt Sterbestunde," sagte er, etwas miBbilligend. Dann versuchte er, die Strophen zu deklamieren, die David so gut kannte und so innig liebte. ,Wunderlich,' dachte David Deutsch, ,sehr sehr wunderlich, daB dieser fremde Herr mit der Brille, dort am Tisch, Martins Vater sein soll. Wie jammerlich schlecht er die Verse liest — er hat nicht die entfernteste Ahnung, was sie bedeuten. Er hat keine Ahnung ... Was weifl er von seinem Sohn ? Und was wuBte Martin von ihm ? Er ware so leicht zu gewinnen gewesen, dieser arme Vater. Aber was lag Martin daran ? Er war hochmütig. Wieviel MiBverstandnisse! Wieviel Traurigkeiten!' Plötzlich lieB Frau Korella einen leisen Schrei hören. Sie hatte auf dem Nachttisch Martins Injektionsspritze entdeckt. Das Instrument sah verwahrlost aus. Das kleine Messing-Etui blitzte nicht mehr, sondern hatte haBlich grüne Flecken angesetzt. „Was ist das ?" fragte Herr Korella miBtrauisch, mit gerunzelter Stirne, wahrend er, die Papiere in der Hand, herbei trat. Aber Frau Hedwig schluchzte nur: „Oh Gott. . . mein Gott. . ." Das alte Ehepaar und David Deutsch standen nun dicht neben einander. Ihre betrübten Stirnen berührten sich fast über dem rostigen kleinen Gegenstand, dem ihr lieber Martin so viel Trost und Wonne zu verdanken hatte, auch so viel Qualen, und schlieBlich, nach allen Entzückungen, allen Martern, den Untergang. Als die kleine Trauergesellschaft — Frau Schwalbe mit ihren Stammgasten, samt Kikjou, Friederike Markus und Walter Konradi — im Lokal eintraf, fanden sie dort schon eine andere Gruppe vor: etwa fünf oder sechs Menschen, lauter Deutsche, die sich im Kreis um einen jungen Hollander gruppiert hatten. Sie kannten ihn alle, er hatte ein paar gute Bücher geschrieben; aber seit einigen Monaten schrieb er nicht mehr, sondern kampfte an der spanischen Front. Vor ein paar Tagen war er im Flugzeug, über Barcelona, in Paris angekommen. Es schien, daB er einen politischen Auftrag hier zu erledigen hatte, den streng geheim zu halten er streng verpflichtet war. Gleich am ersten Tage seines kurzen Pariser Aufenthaltes war er hierher gekommen, um GrüBe auszurichten von deutschen Freunden, mit denen er dort unten zusammen gewesen war. Alle lauschten andachtig, wenn dieser junge Hollander sprach. Um sein Haupt gab es etwas wie eine Gloriole: er würde ja schon morgen oder übermorgen an die Front zurückkehren, wo sich so Grofles entschied. Übrigens war der jungé Mann, seit etlichen Tagen, streng und juristisch betrachtet, eigentlich gar kein Hollander mehr. Er hatte seine Zugehörigkeit zum Niederlandischen Staatsverband verloren; er war „ausgebürgert": so geschah es, nach dem Gesetze der hollandischen Monarchie, jedem, der sich der Armee einer fremden Macht zur Verfügung stellt. Er war ein Vaterlandsloser, ein „SansPatrie , wie auch jene, an die er sich nun so enthusiastisch wendete. „Wenn wir da unten siegen!" rief er gerade aus, als die Gesellschaft vom Friedhof das Lokal betrat.' ,, Wenn wir mit der Bande erst fertig geworden sind — das gibt ein Festü Ganz Madrid wird tanzen - was sage ich: ganz Spamen wird in einen Freudentaumel rallen und die Spanier können sich freuen, die verstehen es!! Da wird es Blumen regnen, und Wein wird in Stromen da sein, und überall Blumen . Uberall Blumen," wiederholte er, und schaute vor sich hin, auf das beschmutzte Holz der Tischplatte mit einem Bliek, als sahe er all die Blüten, mit denen die Straften und Platze von Madrid sich schmücken würden — „wenn wir da unten gesiegt haben. Auf den ersten Bliek sah er aus wie ein flamischer Bauernbursche, mit seinem langen, starkknochigen, kraftig gebraunten Gesicht, dessen untere Halfte von dicken Bartstoppeln bedeckt war und überdem das dichte, dunkle Haar recht verwildert stand. Erst beim genaueren Hinschauen war festzustellen, daB dies Antlitz doch nicht dem eines gewöhnlichèn Burschen vom Lande glich; es gab in ihm jene Zeichen und Male, die nur der Geist einem Menschengesicht aufpragt. Die tief eingeschnittenen Furchen, die von den Nasenflügeln zu den Winkeln eines breiten, sinnlichen Mundes laufen, verraten, daB dieser Mann alter ist, als er zunachst erscheint. Auch über die Stirn sind Falten gezogen, die eine lange Geschichte, die groBe Chronik vieler Abenteuer erzahlen mochten. Sein Enthusiasmus hatte angesteckt: alle lachten, da seine beinah frevlerische SiegesgewiBheit den Festesglanz der Stadt Madrid beschwor. Die Gesichter wurden aber ernst beim Eintritt der Schwalbenmutter und der jungen Leute. Man wuBte, von welchem Ort und von welch melancholischer Veranstaltung sie kamen. Es gab herzliches Handeschütteln, bewegte Blicke wurden getauscht. Mutter Schwalbe machte den jungen Hollander mit Kikjou, der Markus und Walter Konradi bekannt. Dann band sie sich eine groBe weiBe Schürze um und verschwand in der Küche. Sie wollte etwas Anstandiges kochen — wie sie vielversprechend versicherte. „Und heute soll es nichts kosten!" — Sie hatte schon wieder die unvermeidliche Zigarre zwischen den Zahnen. Mutter Schwalbe kochte meistens mit der Zigarre im Mund. Der junge Hollander — in dessen sehr lebhaftem und geschwind vorgetragenem Deutsch der niederlandische Akzent kaum spürbar war — erzahlte schon wieder von Spanien. Sein Publikum hatte sich vergröBert; die Gruppe, die gerade vom Friedhof kam, lauschte ihm mit derselben gespannten Anteilnahme wie die anderen, die schon vorher im Lokal gewesen waren. „Es gibt ja so viel Wunderbares von da unten zu berichten!" Der Bursche, in seiner rauhen Lederjacke, hatte Haltung und Mimik des Seefahrers, der, aus weit entfernten Landern zurück kommend, den Daheimgebliebenen, die Mund und Augen aufsperren, von den wilden, schonen Abenteuern meldet, die hinter ihm liegen. — ,,Ich habe so viel echtes Heldenturn gesehen, bei den spanischen Kameraden und bei denen von den Internationalen Brigaden! Ich bin Zeuge von so viel rührenden, einfachen und groBen Taten gewesen, daB ich jetzt nie mehr ganz am Menschen verzweifeln kann, was auch immer geschehe. — Was auch immer geschehe!" wiederholte der junge Hollander, wobei er mit der Faust beinah zornig auf den Tisch schlug — und es leuchteten ihm die Augen — „Da war zum Beispiel dieser Bursche aus Valencia — achtzehn Jahre war er alt, fast noch ein Kind —, der in der Siudad Universitaria einen verwundeten französischen Kameraden aus dem dichtesten Feuer holte. Er wurde selber ziemlich arg dabei zugerichtet, und als er, mit dem halbtoten Franzosen in den Armen, keuchend auf dem Verbandsplatz ankam, brach er zusammen. Ein paar Leute eilten ihm zu Hilfe — und ich sehe noch, wie der Junge lachelte, als er hervor brachte: .Blessure, nada. Frère frangais sauvé." Der junge Hollander schaute sich strahlend im Kreise um. Alle schienen gerührt und begeistert. Nur das „Meisje" — die schone Blonde mit dem Gesicht eines militanten Erzengels — schüttelte ein wenig den Kopf, wahrend sie leise, mehr zu sich selber als zu den anderen, sagte: „Es kommt mir oft so sonder- bar vor . . . Ich erinnere mich doch noch ganz genau, wie bei uns zu Hause ahnliche Geschichten erzahlt worden sind, wahrend des Weltkrieges. Mein Vater und alle Erwachsenen fanden sie wunderbar, und auch wir sollten begeistert sein. Aber wir lernten diese Geschichten hassen, als wir anfingen, selbstandig denken zu können. Denn wir lernten den Krieg hassen. Revolutionar wurden wir gerade aus Abscheu vorm Krieg ..." Die Blonde verstummte nachdenklich. „Aus Abscheu vorm imperialistischen Krieg!" rief ihr jemand vom anderen Ende des Tisches zu. „Diesmal handelt es sich um den groBen Befreiungskampf, um die heroische Abwehr des fascistischenUberfalls ..." „Das weiB ich doch selber," sagte das Meisje, deren schönes, sinnend in die Hand gestütztes Gesicht plötzlich müde aussah. „Du brauchst hier nicht zu reden wie in einem Massenmeeting . . . Aber sonderbar ist es doch," schloB sie, nach einer Pause, mit sanfter Hartnackigkeit. „Unter neuen Voraussetzungen müssen wir plötzlich alles herrlich finden, was wir damals, 1917 und 1918, grauenhaft gefunden haben . . ." Der junge Hollander — der die Betrachtung des Madchens gar nicht gehort hatte oder nicht hatte hören wollen -— war schon bei neuen heroischen Anekdoten. „Aller Enthusiasmus ist auf unserer Seite," erklarte er. „Die besseren Menschen sind auf unserer Seite. Wenn diese Rebellen nicht von Deutschland und Italien offen gestützt würden, waren sie langst schon fertig. Und wir werden sie fertig machen, trotz all den Flugzeugen und Bomben und all dem vielen Geld, das sie bekommen!" Man sprach weiter über die Sieges-Chancen. Die Meisten in der Runde auBerten sich optimistisch. Einige lieBen auch Befürchtungen hören. Plötzlich sagte die Proskauer, mit ihrer sonor murmelnden Stimme: „Und Martin soll also nicht mehr erfahren, wie dieser groBe Kampf ausgehen wird ... Es ist so schwer, sich daran zu gewöhnen ..." Alle schwiegen. Kikjou, der stumm und ein wenig zitternd, als friere er, in eine Ecke gekauert saB, legte die kindlichen, mageren Hande vor sein weiBes Gesicht. Walter Konradi rausperte sich respektvoll, als wollte er ausdrücken: Ein Gesinnungsgenosse, viel zu früh verschieden, hier im Kreise allgemein beliebt gewesen, gewiB sehr traurig, sehr bedauerlich, drücke werten Hinterbliebenen meine Teilnahme aus . . . In diesem Augenblick brachte Mutter Schwalbe das Essen. „Sprecht ihr schon wieder von Deutschland ?" fragte sie, und prasentierte die groBe Platte mit den Koteletts und den grünen Bohnen. Sie lachelte nachsichtig, als hatte sie ihre Kinder bei einer harmlosen Marotte, einem oft verwehrten, wenngleich keineswegs bösartigen oder gefahrlichen Unfug ertappt. Dabei gab es keinen Gegenstand, über den die brave Frau ihrerseits derartig viel zu reden und zu klagen, zu grübeln und zu lamentieren, zu jubeln und zu schelten wuBte, als über diesen. „Wir haben über Spanien geredet," versetzte jemand am Tisch. „Aber das hat auch mit Deutschland zu tun." Sie aBen, die meisten von ihnen mit einem heftigen Appetit; nur Kikjou rührte nichts an, und Frau Markus verschlang zwar mit nervöser Gier ein paar BiBen, schob dann aber den Teller von sich, wobei sie angewidert den Mund verzog. Sie aBen, und wahrend sie Kartoffeln, Gemüse und gebratenes Fleisch zum Munde führten — langst nicht taglich gab es solchen Schmaus, und dieser war obendrein gratis —, wahrend sie sich also genuBvoll sattigten, kreisten ihre Reden um die Heimat. Alle durcheinander auBerten sie ihre Hoffnungen und Befürchtungen, ihre Gefühle, Be- rechnungen und Forderungen, die Gegenwart wie die Zukunft betreffend. Jeder hatte etwas Besonderes beizusteuern zu dem ewig erregenden, höchst komplexen Thema. Dem einen waren gerade gestern sehr bedeutsame Mitteilungen über die Stimmung bei den Industriearbeitern im Ruhrgebiet zugekommen; der andere hatte die Cousine eines Diplomaten getroffen, der seinerseits den französischen Botschafter in Berlin kannte und diesen eingeweihten Herrn unlangst ausführlich gesprochen hatte. „Eines steht fest," wurde behauptet, „die Unzufriedenheit nimmt überall zu, besonders bei den Arbeitern, auf die es schlieBlich ankommt." — „Beinah Hungersnot, mitten im Frieden!" lieB sich ein anderer hören. „Auf die Dauer kann keine Regierung das aushalten." Und ein Dritter: „Die ganze Schweinerei ist innerlich morsch, unterhöhlt, reif zum Sturz — da kann keine Frage sein. Aber niemand weiB, was nachfolgen soll. Den Nazis ist es gelungen, den Deutschen und der ganzen Welt einzureden, daI3 nach Hitier ,das Chaos' hereinbrechen wird." Bei dem Wort „Chaos" wurde allgemein gelacht. Nur Friederike und Kikjou, eingesponnen in eigene und andere Gedanken, waren es, die ernst blieben. Die Schwalben-Mutter, die sich zu ihren Gasten gesetzt hatte, rief — nun schon ganz bei der Sache, enthusiasmiert wie je —: „Freilich, das Entscheidende ist: daB die aktive Opposition es ganz genau weiB und unzweideutig formuliert was nachher kommen soll." Der junge Hollander, der aB, wie ein Knecht nach der Arbeit eines langen Tages zu Abend iBt, nickte leidenschaftlich. Alle bewegten mit ihm die Köpfe. Sogar Friederike und der kleine Kikjou schienen plötzlich beteiligt. Kikjou lieB die vielfarbigen Augen gleichsam flehend von einem zum anderen wandern, als erbateer Auskunft: Sagt es mir, was nachher kommen soll! Hier war es, das groBe Problem, die dringlichste Frage, mit der ihre Gedanken und ihr Herz so tief beschaftigt waren. Was soll kommen, nach dem Sturz des verhaBten Regimes ? Wie wollen wir Deutschland ? Da saBen sie, in ihrem etwas schmutzigen kleinen Lokal; mitten in dieser groBen, mit allen Reizen reich begnadeten Stadt — und doch weiter von Paris entfernt als vom Monde. Denn für sie war Paris versunken, ins Nichts gestürzt, samt seinen Avenuen und Quais, den Boulevards, Brunnen, Kirchen und Palasten. Was ging all diese Schönheit sie an ? Sie wuBten beinah nichts von den fremden Lieblichkeiten. Sie saBen in ihrer Kneipe, nahe der Gare de Montparnasse, dem Café du Dóme; nicht weit entfernt vom Jardin du Luxembourg, dem Panthéon, demDömedes Invalides —: unbeteiligt am belebten Treiben auf diesen Bahnhöfen, diesen StraBen, und übrigens ziemlich unwissend in der Historie dieser Baulichkeiten, in denen Frankreichs Ruhm sich versammelt. Um sie hatten auch die Wolkenkratzer von New-York sich in den Himmel heben oder eine südliche Landschaft sich freundlich breiten können: diese Menschen würden immer die gleichen Gedanken im Kopfe haben und immer denselben faszinierten, verzauberten Bliek auf die Eine Frage, das Eine Thema: Wie wollen wir Deutschland ? Und wie erreichen wir, daB es so wird, wie wir es wollen ? „Oh Deutschland, bleiche Mutter . . hatte einer ihrer Dichter geklagt. Oh Deutschland, bleiche Mutter . . . Alle hier im Kreise wollen die groBe Veranderung der sozialen Struktur, der Besitzverhaltnisse — da gibt es kaum eine Meinungsverschiedenheit. Aufteilung des Grofigrundbesitzes, Sozialisierung der Schwerindustrie — es mufl kommen, so rufen sie sich zu, es kann nicht ausbleiben, da es notwendig ist. Übrigens wird mit einem bösen und ironischen Triumph festgestellt, daB die Nazis selber, durch die kriegswirtschaftliche Staatskontrolle der Produktion, den Sozialismus, gegen ihren eigenen Willen, vorbereiten. „Wenn wir heimkehren," erklart einer von ihnen," werden wir manches schon fast in unserem Sinne eingerichtet finden. Man wird nur gleichsam die Vorzeichen umkehren müssen, damit die Sache stimmt und ins richtige Geleise kommt". Es wird Gewalt nötig sein, da ist gar keine Frage. Die jetzt so schamlos herrschende Schicht tritt keinesfalls freiwillig ab; man darf BlutvergieBen nicht scheuen. „Ihr werdet ein paar Dutzend an die Wand stellen müssen!" Der junge Hollander ruft es aus, es klingt wie ein Kriegsschrei. „Oder ein paar Hundert!" korrigiert ihn ein anderer. „Ich könnte dir leicht ein paar Hundert aufzahlen, die weg müssen". Sanft wird es keinesfalls zugehen können, wenn die Schuldbeladenen zur Hölle geschickt werden — wo sie hingehören. Keiner in diesem Kreise verlangt oder hofft, daB man Sanftheit walten lasse. Und wenn die groBen Mörder erst abgetreten und weggefegt sind — die regierenden Kriminellen, die man heute so machtlos haBt: wird dann die ,Freiheit' zu etablieren sein, oder eine neue Diktatur — die Diktatur der revolutioneren Sieger ? Ein junger Mensch, der den Kommunisten immer ferne gestanden hat, aber heute für die politische Zusammenarbeit mit ihnen ist, fragt einen anderen, der seinerseits seit Jahren zur „Partei" gehort: ,,Ihr erklart jetzt, daB es die Demokratie ist, für die ihr kampft. Wollt ihr sie wirklich ? In Manifesten setzt ihr euch ein für die Pressefreiheit. Werdet ihr sie dulden?" Statt des jungen Kommunisten, der noch bedenkt, was er zu antworten hat, rief das Meisje: „Werden wir sie ganz dulden können ? Soll der neue Staat sich wieder begeifern und beschimpfen lassen, wie die Weimarer Republik höchst unseliger Weise dies geduldet hat ? Unsere neue, echte Demokratie, muB vor allem eine Eigenschaft haben, die der vorigen, falschen fehlte: Selbsterhaltungstrieb. Ihren geschworenen Feinden muB sie zeigen und beweisen, daB sie ausgespielt haben. Es wird in Deutschland immer geschworene Feinde der Demokratie geben." Der Erste: „Eine Demokratie, die irgend jemandem das Wort verbietet, ihn in seiner Meinungs- und Rede-Freiheit beschrankt, verdient den Namen nicht mehr, den sie sich selber gibt". Und das Madchen: „Eine autoritative Demokratie muB möglich sein. Die Demokratie, die nicht mehr mit sich spaBen laBt, bedeutet noch nicht den .totalen Staat', noch nicht die Diktatur." Andere vertreten mit Emphase die Meinung: Für eine Periode des Übergangs sei die Diktatur unvermeidlich. Die reaktionaren, selbstsüchtigen, dem sozialen Fortschritt feindlich gesinnten Krafte würden jede Freiheit ausnutzen, miBbrauchen in ihrem Interesse — was bedeutet: zum Schaden der Allgemeinheit. Es ist der junge Kommunist, der erklart: „Dasdeutsche Volk wird selber zu entscheiden haben über die Regierungsform, die es sich geben will, wenn die Tyrannen endlich abgetreten sind. Es ist nicht anzunehmen, daB dann noch viel Sympathien und Stimmen da sein werden für die Machte, Gruppen und Personen, die jetzt das Land zur Katastrophe treiben. Wir müssen darauf vertrauen, daB die Deutschen, nach den fürchterlichen Erfahrungen, durch die sie jetzt gehen, mehr politischen Instinkt haben werden als 1918 . . . Wir brauchen und wollen die Demokratie — und sei es nur als ein Übergangsstadium. Unter Demokratie verstehen wir aber: die Zusammenarbeit aller antifascistischen Krafte. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen muB antifascistisch sein, wenn unser Tag da ist." — GroBes, wirres, tief erregtes Gesprach. Die Begriffe fliegen durcheinander, sie kreuzen sich in der Luft, die mit dem Zigarettenrauch und dem Geruch der Mahlzeit gesattigt ist. Der Wert der Freiheit wird diskutiert, und die Planwirtschaft; der Begriff der Nation, der Klassenkampf, die Stellung der Kirche. Wird ein Krieg nötig sein, damit das Regime stürze ? Und wie werden die verschiedenen Machte sich verhalten im Falie des Krieges ? Was erwartet man von den Vereinigten Staaten ? Was geht in London vor ? Und was wird aus Österreich ? . . . Die Mienen roten sich, auf den Tisch schlagen Fauste. — Wie wollen wir Deutschland ? . . . Fragen ohne Ende; prinzipielle Probleme oder solche der Taktik — und an jedem scheint das ganze Schicksal dieses Dutzends von Menschen zu hangen. Übrigens ereifern sie sich, aber sie streiten nicht eigentlich. Einmal laBt jemand einen bösen, gereizten Ton hören: ,,Was du da zum Besten gibst, ist kleinbürgerlicher Idealismus, jeder marxistisch geschulte Arbeiter lacht dir ins Gesicht, wenn du ihm mit sowas kommst. . Aber ein anderer mischt sich versöhnlich ein: „Zankt euch nicht, haltet Frieden! Hat es denn Sinn, jetzt über Probleme, die noch nicht aktuell sind, aneinander zu geraten ? Erst müssen wir siegen?" Es ist der junge Walter Konradi, der so vorzüglichen Ratschlag erteilt. Alle schauen ihn an: Freilich, der Mann hat recht. Nur hat leider seine Stimme etwas ölig geklungen. Auch der scheinheilig sanfte und kluge Ausdruck seiner Miene wirkt plötzlich auf alle unangenehm. Man will sich aber den fatalen Eindruck nicht zugeben und versucht, möglichst schnell darüber hinwegzukommen. Jemand erkundigt sich: „Wo ist denn der kleine Kikjou?" Wahrend der Debatte über Einheitsfront und den Begriff der Freiheit ist er weggegangen — so leise, dafi niemand es gemerkt hat, auBer Friederike Markus. Diese berichtet es nun, mit ihrer schrillen und geborstenen Stimme, die den Klang einer schwer ladierten alten Türglocke hat. Kikjou irrte durch StraBen, Stunden lang. Alle Wege wollte er wieder gehen, die er mit Martin je gegangen war. Boulevard Montparnasse, Jardin du Luxembourg, Boulevard St. Germain, Boulevard St. Michel, und die Seine entlang, und über die Place de la Concorde, und die Grands Boulevards hinunter, und zurück, und wieder über die Place de la Concorde, und die groBe Strecke der Champs Elysées: da war er schon am Zusammenbrechen. Nun muBte er eigentlich noch nach Montmartre. Aber das schaffte er nicht mehr. Und würde er denn Martin auf dem Boulevard Clichy, auf der Place Blanche begegnen, da er ihn an all den anderen Orten vergeblich gesucht hatte ? II n'est nul part. . . il n'est nul part. . . Am Are de Triomphe nahm sich Kikjou ein Taxi. Er wollte in dem Hotel übernachten, wo er mit Martin so viele Monate logiert hatte — so viele strahlende, finstere, unendlich bittere, unsagbar schone Wochen lang . . . Er muBte weinen, als er die rue Jacob wieder sah —: enge, dunkle rue Jacob. Und da war die kleine „Bar Tabac", wo man die zu teuren Camel-Zigaretten gekauft, und, zu unpassenden Tageszeiten, den Apéritif genommen hatte. Es ist ein Uhr morgens. Kikjou ist so müde, daB er sich kaum aufrecht halten kann. Ihm schwindelt, und die FuBsohlen brennen ihm. Er hat geklingelt und wartet darauf, daB die Haustüre aufspringt. — ,Wie oft bin ich neben Martin durch 28 diese Türe gegangen .... II n'est nul part . . . Die Patronne öffnet; sie scheint erstaunt, Monsieur Kikjou zu sehen. GewiB, ein Zimmer ist frei, ob Monsieur kein Gepack habe ? Nein, Monsieur hat überhaupt nichts, keine Zahnbürste, kein Hemd, kein Stück Seife; er hat vergessen, wo er seinen Handkoffer gelassen hat, vielleicht auf dem Bahnhof. — Die Eltern des armen Monsieur Korella sind auch im Hotel, weiB die Patronne zu berichten. Ja, sie haben die Hotelrechnung für den armen jungen Herrn bezahlt —: sehr liebenswürdige und korrekte Herrschaften! Und nach der Beerdigung, bis spat in die Nacht hinein, haben sie die Sachen und Papiere des Verblichenen aufgeraumt. Quelle histoire! Wer hatte das gedacht! Monsieur Martin war doch noch so jung! — Ob Monsieur Kikjou auf der Beerdigung war ? Sie, die Patronne, hatte die feste Absicht gehabt, hinzugehen, schon um den Eltern, die sich so korrekt in finanziellen Dingen benahmen, ihren Respekt zu beweisen. Aber dieses Wetter! —, und sie war erkaltet; gerade auf Beerdigungen konnte man sich so leicht den Tod holen. Kikjou nickte gequalt. Danke, er hatte nun keine Wünsche mehr. Es war ziemlich kalt im Zimmer, aber das lieB sich nicht andern. Er überlegte, ob er den Versuch machen sollte, Martins Eltern noch ein paar Minuten zu sehen und sich von ihnen zu verabschieden. Aber wahrscheinlich schliefen die schon. Übrigens erinnerte er sich auch der eisigen Blicke, mit denen Herr Korella an ihm vorbei gesehen hatte. Er sank angezogen aufs Bett. Ob Martins Eltern im Zimmer ihres Sohnes wohnten —: ,In unserem Atelier . . . Ich will jedenfalls morgen früh gleich hinaufgehen,' beschloB er. .Wahrscheinlich sind auch noch irgendwelche Sachen von mir dort ..." Kikjou dachte an die Gesprache von Martins Freunden in der „Schwalbe". Wie heftig sie sich bemühten, all diese Menschen, von denen einige Kikjou nie besonders sympathisch gewesen waren! Wenn man von auBen, als ein Fremder, Unbeteiligter, in ihren Kreis trat, wirkte der ungeheure Ernst, die Aufgeregtheit, mit der sie ihre theoretischen Gesprache führten, fast etwas komisch. — ,Nein, nicht komisch,' — Kikjou nahm innerlich diesen lieblosen Ausdruck gleich zurück — ,aber rührend wirkt ihr gespannter Eifer. Sie streiten sich darüber, welches MaB von Freiheit der Opposition zu gewahren sein wird, wenn „der Tag" erst da ist —; welcher Tag? Nun, der Tag des Umsturzes, auf den sie warten; der Tag der groBen Veranderung An den hat auch Martin geglaubt, von ganzem Herzen. Aber er war zu müde, zu hochmütig und zu traurig, um ihn abzuwarten. Er hatte es eilig, sich davon zu machen . . . Für die anderen aber, für die, welche geduldig genug sind, auszuharren, und wohl auch zu kampfen —: wird es wirklich ein so groBartiger Tag sein, wenn er dann schlieBlich kommt ? Wird er dann einen so schonen Trost, eine so herrliche Erlösung bringen ? Für den Augenblick scheinen diese Menschen gründlich ausgespielt zu haben; wie nach einem verlorenen Kampf liegen sie auf der Erde. Hilfe für sie scheint es jetzt nicht zu geben; von der Welt bekommen sie keine, und die Hilfe des Höchsten nehmen sie nicht in Anspruch. Sie beten nicht. Sie behaupten, nicht an Gott zu glauben . . . Wie schwer es sein muB, nicht an Gott zu glauben! Sein Dasein ist evident. Es zeugt die ganze Schöpfung für Seine gewaltige Existenz ... Vielleicht ist Gott aber bei ihnen, obwohl sie sich darin gefallen, ihn zu leugnen. Man weiB ja nie, wem Er gerade den Bliek Seiner Gunst oder Seines Zornes zuwendet. . . Sie erkundigen sich wohl spöttisch bei mir, wie mein lieber Gott eigentlich aussehe; ob er einen langen weiBen Bart habe. Dann sitze ich da als der Dumme. Natürlich hat er keinen langen weiBen Bart. Er ist ja furchtbar schwer zu beschreiben. Es ist schon heikel genug, jemandem eine unbekannte Person zu schildern und halbwegs anschaulich zu machen. Meistens kommt etwas total Falsches dabei heraus, wenn man das unternimmt. Jede Individualitat ist tausendfach zusammengesetzt, ihr eigentliches Wesen ist mit Worten kaum anzudeuten. Und nun erst der liebe Gott! Er hat so ungeheuer viele Eigenschaften! Er hat unendlich zahlreiche Charakterzüge: alle Adjektive, alle beschreibenden Worte aller Idiome passen auf ihn. Denn er ist beladen mit allen Tugenden und Lastern, Schönheiten und Monstrositaten, allen reizenden, fürchterlichen, komischen und erhabenen Zügen, die wir uns irgend ausdenken können. Und wenn wir uns alle ausgedacht und zusammengestellt haben, dann ist es uns immer noch nicht gelungen, den ersten Schleier von den unendlich vielen Verhüllungen zu lüften, hinter denen Er Sein Angesicht verbirgt. Aber das mit den Schleiern ist natürlich auch wieder eine fafon-de-parler und ein sprachlicher Notbehelf; denn Sein Gesicht ist nicht nur das verhüllteste, sondern auch das nackteste — und Er ist nicht nur der Geheimnisvollste, sondern auch der Klarste, Einfachste. Seine Existenz ist nicht nur das Mysterium aller Mysterien; es ist auch das Selbstverstandlichste vom Selbstverstandlichen. — Wie Gott ist ? Was Gott ist ? Wo Gott ist ? Kindische Fragerei! Gott ist — da gibt es nichts zu beweisen oder zu untersuchen. Er ist der Ausgangspunkt und das Ziel; das Vergangene, das Gegenwartige und das Zukünftige. Alles, was wir tun oder lassen, tun oder lassen wir nach Seinem Plan. Auch die, die Ihn leugnen, streben auf Ihn zu. Andererseits gibt es viele, die Seinen Namen oft im Munde führen und Ihm doch ein Argernis sind. Es ist ja erstaunlich, daB überhaupt Dinge in der Schöpfung vorkommen dürfen, die Ihm zum Argernis werden, da Er doch mit Seiner Schöpfung identisch ist, oder die Schöpfung einen Teil Seines Wesens ausmacht. Aber dies ist, höchst ratselhafter Weise, eben doch möglich. Vielleicht haben wir es uns ungefahr so vorzustellen, daB Er, in solchen F allen, AnstoB an eigenen Charakterzügen nimmt. Eine so enorm vielfaltige und komplexe Individualitat wie Gott hat natürlich auch grausame, selbstsüchtige, tückische und selbst ordinare Züge —, die er in sich bekampft . .. Die ganze Frage, wie das Böse in die Schöpfung, und besonders in den Menschen kommt, obwohl Gott doch sicherlich in Seiner eigenen Schöpfung steekt — diese Frage könnte uns ungeheuer weit führen. Keinesfalls dürfte es von Gott so gemeint sein, daB wir uns durch diese Frage ablenken sollten lassen von einem sehr notwendigen Kampf gegen das Böse. Da haben wir das Wort: ablenken. Wir sollen uns durch Gott nicht ablenken lassen. Deshalb sind die ,,Schwalben"-Leute, — und nicht nur die — so ungeheuer gegen Gott eingenommen, wollen nichts von Ihm horen, und blinzeln sich höhnisch zu, wenn ich Seiner Erwahnung tue: —weil sie alles, was mit Ihm zusammen hangt, für ein kolossales Ablenkungsmanöver halten — für eine Art von Trick der herrschenden Klasse, des ausbeuterischen Kapitalismus „Religion — das Opium fürs Volk". Ach, meine alte Streitigkeit mit Marcel — und Martin saB dabei, als ginge es ihn schon nichts mehr an . . . Gott — ein Ablenkungsmanöver der Bourgeoisie. Wie dumm und peinlich das klingt! Wie falsch das ist! — Aber ist es nur falsch ?' — Ich begreife immer besser den Sinn von Marcels Warnungen und von den spöttischen Blieken der ,, Schwalben'' - Leute. Die heilige und lebendige Wahrheit, die Gotteswahrheit, kann miBbraucht werden. Sie ist miBbraucht worden. Eine Klasse, der nur an ihrem Geld und an der politischen Macht liegt — sicherlich nicht an Gott — bediente sich des Heiligsten Namens, um die Armen abzulenken von ihrem Zorn — dessen Ausbruch der Untergang dieser Privilegierten ware. Vielleicht will aber Gott diesen Untergang. Ich habe mich selber ablenken lassen. Verzeih mir, lieber Gott, ich habe zuviel an Dich gedacht. Ich habe mich mit Dir mehr beschaftigt, als es in Deinem Interesse liegt: namlich im Interesse Deiner Schöpfung, in der das Böse wuchert. Ich habe Deinen Namen zu viel im Munde geführt. Es steht aber geschrieben, daB wir ihn nicht miBbrauchen sollen. Verzeih mir. Wahrend ich mich am schonen Klang Deines Namens berauschte, habe ich ein dummes, weichliches und verfehltes Leben geführt. Es wird heute viel Unfug mit Deines Namens Majestat getrieben. Mir wird ganz heiB vor Zorn, wenn ich daran denke. Vielleicht ist es wirklich schon so weit gekommen, daB man Dich vor Deinen eigenen Priestern schützen muB — oder doch vor einigen von ihnen. — Kümmert es Dich viel, ob Dich die Menschen anerkennen ? Du bist der Herrscher, der gerne auf Bezeugungen der Unterwürfigkeit verzichtet, wenn nur gehandelt wird im Sinn Deines Willens. Wenn nur gehandelt wird . . . Ich will handeln. So ehre ich auch am besten Martins Andenken. Er ist zu früh müde gewesen — auch dieses hast Du gewollt und so eingerichtet. Du hast ihn aus unserer Mitte entführt, wie der Zeus den Ganymed —: mit furchtbaren und strahlenden Handen hast Du ihn zu Dir empor gerissen. ,Lieber Gott', dachte der Liegende, dem nun endlich die Augen zufielen — denn seine Gedanken waren am Ziel—, ,lieber, ratselhafter, schrecklicher Gott: ich will mich ungeheuer zusammennehmen, auf daB ich nicht ermatte und möglichst stark werde. Habe ich Deinen Willen erraten ? — Ach nein, wohl immer noch nicht. Wer kannte je Deinen Willen ? . . . Ich erinnere mich eines frommen Wortes: „Wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnadig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben ?" Wahrlich, ich glaube an Dich. Bitte, laB mich jetzt schlafen!' Wal ter Konradi war ein aktiver Antifascist. Er stand in lebhafter Beziehung zu den Illegalen im Reiche und zu verschiedenen Zirkeln der politischen Emigration. Durch seine Freundschaft mit der armen Friederike Markus, genannt Frau Viola, war er nun mit dem Kreis der Schwalbe in Kontakt gekommen; besonders schloB er sich an Ilse Proskauer an. Als er sich mit ihr verabredete, sprach er so leise, daB Frau Viola es nicht hören konnte. Er lud die Proskauer in ein Kino ein; spazierte auch mit ihr durch den Bois de Boulogne. Sie war erst etwas erschrocken, weil er ihr so intensiv den Hof machte. SchlieBlich glaubte sie ihm, daB er sie reizend fand. „Sie sind schön, Ilse — schön von innen heraus ..." flüsterte er ihr in den schragen Nacken. Dergleichen hatte sie noch selten zu hören bekommen; umso angenehmer klang es ihr nun. Er war ein perfekter Don Juan —: seine Stimme, kraftig sowohl als auch einschmeichelnd; seine Hande, wohl geübt in allen Zartlichkeiten. Sie lieB sich küssen; er bog, leidenschaftlich aber gewandt, ihren Kopf nach hinten: — „Du bist wundervoll — von innen heraus . . hauchte er ihr zu —; seine Lippen glitten über ihre groBe, gebogene Nase. Er fragte sie: „Darf ich zu dir kommen — heut nacht ?" Sie nickte selig. Er kam. Es fiel ihr auf, daB er nach Cognac roch — er hatte sich Mut angetrunken —; sie vergaB es. Er liebte sie, es gab keinen Zweifel. Sie war nie geliebt worden. Sie hatte nie geglaubt, daB sie begehrenswert sei. Es war köstlich, in seinen Armen zu liegen. Er erzahlte ihr aus dem Konzentrationslager. „Mein SüBer — was muBt du gelitten haben!" Und er gestand ihr: „Wie oft habe ich mich damals nach einer Frau, wie du es bist, gesehnt." Sie war glücklich; er schien es auch zu sein. Ehe sie sich am Morgen trennten, erfuhr sie: er muBte nach Deutschland, ,,in geheimer Mission". — „Aber das ist gefahrlich!" Ilse war entsetzt. Er versicherte: „Ich komme schon heil zurück." Ein paar Tage spater war er wieder da; ein dicker Haufen illegaler anti-Nazi-Literatur — in Deutschland gedruckte Flugblatter und Broschüren — bewies, daB er nicht untatig gewesen war und die richtigen Leute gesehen hatte. Er gab sich wieder ziemlich viel mit der Proskauer ab, schlief auch noch einmal mit ihr, und lieB sich von ihr Details über ihre Arbeit für das Jüdische Hilfscomité erzahlen. Sie berichtete gerne, weil er beeindruckt schien. Eigentlich war sie diskret; ihm aber vertraute sie, er hatte sie ganz gewonnen. „Es ist eine wunderbare Arbeit," versicherte sie. „Ich bekomme Einblick in so viel menschliches Schicksal. Auch in Deutschland haben wir Freunde. Sie liefern uns Material über die Greuel der Judenverfolgungen, das wir in die französische Presse bringen." Grade für diesen Punkt schien er sich besonders zu interessieren. Er küBte sie innig, gleichsam als Belohnung für ihre lobenswerte Gesprachigkeit. — Sie bekam ein weiches, dankbares Lacheln, als er ihr sagte: „Du bist eine herrliche Frau! Was du alles leistest! — Und doch — ich habe mirs überlegt: es ist schade, daB du deine Krafte ganz für diese humanitare Organisation verwendest. Es gibt andres zu tun . . Sie fragte gierig: „Was meinst du? Worauf willst du hinaus ?" — „Ach, laB nur!" Er winkte ab. Endlich aber rückte er heraus: Diesmal sollte Ilse nach Deutschland fahren. „Ich kann es nicht mehr riskieren," bedauerte er. „Schon diesmal bin ich verdammt aufgefallen; beinah ware es mir an den Kragen gegangen." Sie erschauerte bei der Idee. — „Dich kennt doch niemand," meinte Walter Konradi. „Aber andererseits — gefahrlich bleibt es natürlich immer. Ich weiB doch nicht, ob man dir so viel zumuten darf. Mindestens müflte ich erst mal mit meinen Genossen Rücksprache nehmen. Du hast nicht viel politische Erfahrung — wenngleich euer Comité nicht ohne politischen Charakter ist —, und es handelt sich um enorm wichtige Dinge." Sie zeigte sich etwas gekrankt. „Natürlich — wenn du mir nicht vertraust ..." — „Ich kenne dich ja . . ." Er legte ihr den Arm um die Schulter. „Aber die Kameraden ..." — „Was für Leute sind das ?" wollte sie wissen — woraufhin er etwas verachtlich grinste: „Gute Leute — das kannst du mir glauben, mein Kind!" — Sie drang weiter in ihn; aber er blieb wortkarg; nahm ihr nur das Versprechen ab, mit keinem Menschen über seinen Vorschlag zu reden. Am nachsten Abend fing er wieder davon an. Es sei ihm gelungen, die „Kameraden" von Ilses Zuverlassigkeit und Tapferkeit zu überzeugen. Es handle sich um eine kurze Reise nach Köln: „eigentlich nur um ein einziges Gesprach mit einer bestimmten Person," gab er ihr zu verstehen. „Es ist der Mann, der die illegale Arbeit im Rheinland leitet. Die Instruktionen für ihn müBtest du dir merken; Schriftliches bekommst du nicht mit." Ilse war, alles in allem, von der Idee entzückt. Es lockte sie, sich vor Walter tapfer zu bewahren und ihr Leben aufs Spiel zu setzen für eine Sache, die ihm so wichtig schien. Übrigens empfand sie selber mit Begeisterung Ernst und Pathos eines solchen Unternehmens. Wie fast alle Menschen ihrer Generation war sie im Innersten besessen vom Bedürfnis nach dem Heroischen; von dem Drang, sich zu opfern. Die Arbeit im Jüdischen Comité genügte ihr langst nicht mehr. Sie wollte mehr leisten, mehr wagen —: das AuBerste. Und nun kam dieses Angebot, aus geliebtem Munde. Es kamen Instruktionen, der falsche PaB, das verschwörerische Gebot, absolutes Schweigen zu bewahren. Sie war eine politische Dilettantin; auBerdem war sie verliebt. Verliebt nicht nur in den schonen Mann — Walter Konradi, den aktiven Antifascisten —, sondern auch in das Abenteuer. Ihr Leben, bis zu diesem Tage, war langweilig gewesen. Die Begegnung mit Walter hatte es schoner gemacht; jetzt aber erhielt es Sinn und Würde durch die Verantwortung, die Gefahr. „Die Verbindung mit der Opposition im Lande; der Kontakt zu den Illegalen" —: die Proskauer wuBte, wie bedeutungsvoll dies war. Alle Emigranten bewunderten „die Illegalen" und erzahlten sich Anekdoten über ihre Listen, ihren Opfermut, ihre Ausdauer. Was leisteten nicht alles die Illegalen! Sie beeinfluBten die Arbeiter in den deutschen Betrieben, durch Flugblatter oder Flüster-Parolen; geheime Radio-Sender legten sie an, und auf den StraBen der deutschen Stadte verkauften sie Grammophonplatten, die erst einen Marsch horen lieBen: nach einigen Takten aber begann eine zornig bewegte Stimme zum Kampfe gegen Hitier aufzurufen. Dünne Heftchen mit bunten Bildern sahen aus, als wollten sie harmlose Reklame für Zahnpasta, Füllfederhalter, landwirtschaftliche Gerate oder Damenwasche machen; in Wirklichkeit enthielten sie antifascistische Manifeste, trockene Daten, die zeigten, wie unter den Nazis die Wirtschaft verkam, oder andere, die bewiesen, mit welch infernalischem Eifer zum Kriege gerüstet ward. Für die Verteilung einer PropagandaSchrift, für den Sabotage-Akt in einer Fabrik oder in einer Kaserne riskierten die Illegalen ihr Leben. Dergleichen flöBte Ehrfurcht ein, und es wurde zum Ehrgeiz der politischen Emigranten, diesen Helden — den über Deutschland verstreuten Martyrern ihres Glaubens und ihres Hasses — behilflich zu sein, sie mit Material oder Geld zu versorgen. Ilse Proskauer nahm von den „Kameraden" — zwei düsteren Mannern, vom Typ der nihilistischen Verschwörer aus dem Zaristischen RuBland — Instruktionen, Reisegeld und falschen PaB entgegen. Walter Konradi begleitete sie zur Gare de 1'Est. Er war ernst, wie es der Stunde entsprach; doch gab es in seinen Worten wie in seiner Miene eine Zuversicht, an der Ilse sich starkte. „Du wirst es schon schaffen!" sagte er immer wieder, und drückte ihr im Taxi die Hand. Als er sie auf dem Bahnsteig küBte, kamen ihm plötzlich noch Zweifel. ,,Ich hatte es dir doch nicht zumuten sollen . . Die Proskauer stand mit schragem Nacken, blickte sorgenvoll an der enormen Zacke ihrer Nase vorbei und sprach mit platschernd sonorer Stimme. „Aber Konrad — was andere gewagt haben, ist für mich nicht zu viel ... Es ist furchtbar aufregend, Deutschland wiederzusehen . . . Die tapferen Illegalen . . . Unerhörtes Erlebnis . . . Ich zittere — spürst du es? — aber nicht aus Angst!" — „Tapferes Madel!" Er konstatierte es innig, dabei forsch. Noch ein KuB, dann muBte sie ins Abteil. Die Proskauer kehrte nicht wieder. Ehe man in Paris erfuhr, dafi sie verhaftet war, wurde, durch Berliner Freunde, bei der Schwalbe bekannt, daB der alte Herr Korella, Martins Vater, in einem Konzentrationslager saB. Gleich nach seiner Rückkehr hatten die Gestapo-Beamten ihn abgeholt. Frau Korella war in ein Krankenhaus überführt worden. „Man hat die beiden alten Leute denunziert," berichteten die Berliner Freunde. „Sie sollen in Pariser Emigrantenkreisen kraB staatsfeindliche Reden mitangehört und sogar selbst geführt haben." — Da begriffen alle: Auf dem Friedhof, als die Schwalbe an Martins Urne etwas unbeherrscht war, ist ein Spitzel unter uns gewesen. Sie ahnten, um wen es sich handeln muBte. Dieser Walter Konradi . . .: den Meisten war er gleich nicht sympathisch gewesen, nun betonten sie es. Theo Hummler stellt Nachforschungen an. Konradi war abgereist —:,,nach Belgien", wie der Concierge seines Hotels versicherte. Bei der Schwalbe hatte man keine Zweifel mehr: „Von dort aus ist er weiter nach Berlin gefahren ..." Theo Hummler hatte seine Relationen im Reich. Er war es, dem die Nachricht zugetragen ward, daB die arme Proskauer — mit einer Naivitat, einer Dummheit, die unglaublich schienen — dem Spitzel und Agent-provocateur auf den Leim gegangen war. An der deutschen Grenze war sie festgenommen worden; Name und Nummer des falschen Passes, auf den sie reiste, waren der Kontrolle bekannt. „Man wird ihr in Berlin den Hochverrats-Prozess machen," wuBte Theo Hummler. Bei der Schwalbe saBen sie wie versteinert. Ein paar Sekunden lang sagte niemand ein Wort; dann erschraken alle; denn die Schwalben-Mutter hatte furchtbar auf den Tisch geschlagen, und nun brüllte sie: ,,Dieser Hund! Dieser Hundü" Ein anderes Wort schien ihr nicht einzufallen. Sie bekam keinen Atem mehr; ihr Gesicht wurde blau. Niemals hatte man sie je so gesehen. Ihre Faust fiel noch einmal, schwer wie ein Stück Eisen, auf die Tischplatte nieder. „Wann holt diese Hunde der Teufel ?" fragte die alte Frau. Ihre Kapitans-Augen, mit denen sie drohend von unten schaute, waren blutunterlaufen. SchlieBlich sagte das Meisje: „Ich verstehe das nicht . . . Ich kann so etwas nicht verstehen . . . Ein Spitzel — jemand, der von den Nazis doch wahrscheinlich ziemlich viel Geld bekommt — sollte gröBere Dinge zu tun haben, als ein paar arme Emigranten ins Unglück zu bringen. Militarische Geheimnisse, diplomatische Intrigen —: so was müBte er herausbekommen. Was für ein Vergnügen kann es ihm machen, die arme Proskauer zu ruinieren?" — Ein anderer erklarte: „Solche Sachen macht er nebenbei, als FleiBaufgabe. Sicher wird er in Berlin besonders belobigt, wenn er nicht nur Pariser Staatsgeheimnisse mitbringt, sondern auch noch ein paar Emigranten ans Messer liefert. AuBerdem weiB die Proskauer vielleicht Adressen von ein paar Sympathisierenden in Deutschland: die will man von ihr erpressen." — Das Meisje blieb fassungslos. „Und die alten Korellas ? Die waren doch an keinem Comité angestellt, wuBten keine Geheimnisse, waren brave, reaktionare SpieBer . . Theo Hummler — mehr nachdenklich als empört —: „Man gewöhnt sich nicht so leicht an den Gedanken, daB menschliche Wesen Dinge aus purer Gemeinheit tun; — aus keinem anderen Grund. Gemeinheiten um eines Vorteils willen — das nimmt man ja schon fast als Selbstverstandlichkeit hin. Die Gemeinheit um der Gemeinheit willen hat etwas Überraschendes ..." Sollte man sich mit der französischen Polizei in Verbindung setzen ? Sicherlich; die Proskauer aber wurde dadurch keineswegs frei. — WuBte Friederike Markus, genannt Frau Viola, über die Machenschaften ihres Liebsten Bescheid ? Man hielt dies für unwahrscheinlich; immerhin schien es ratsam, mit ihr Fühlung zu nehmen: um sie aufzuklaren, wenn sie ahnungslos war; um sie unschadlich zu machen, sollte ihre Mitschuld an den Tag kommen. Niemand zeigte Lust zu so delikater Visite; schlieBlich erklarte David Deutsch sich bereit. „Wenn es sein muB," sagte er, und verneigte sich schief, das Haar wie in standigem Entsetzen gestraubt über dem wachsern zarten Gesicht. Eine Stunde spater saB er bei Friederiken, die ein wunderliches Hauskostüm trug und ihn zunachst herzlich bat: „Nennen Sie mich Frau Viola! Ich bin es nicht anders gewöhnt, auch mein Gabriel nennt mich so". — ,,Ihr Gabriel," bemerkte David Deutsch — wobei er gequalt die Schultern bewegte und ganz bucklig aussah vor Verlegenheit —, ,, — er ist abgereist." Frau Viola schien es nicht zu begreifen — jedenfalls nicht zu realisieren, was es für sie bedeutete. „Ei, ei," sagte sie nur und spielte sinnend mit den fahlen, steif gedrehten Löckchen über ihrer Stirn. David erganzte: „Und so bald wird er wohl auch nicht wieder kommen. — WuBten Sie denn, daB er reisen wird ?" — „Ich ? — Wieso ?" fragte Friederike. Und, mit einem plötzlichen Flackern von Angst im Bliek: „Er ist doch in Paris!" Es dauerte lange, ehe die Armste alles verstand — und als sie verstanden hatte, wollte sie noch nicht glauben. „Ein Spitzel?!" Sie kicherte schrill. „Mein Gabriel, mein SüBer — ein Spion ? — hi hi hi! Verzeihen Sie, dafi ich mich amüsiere!" Sie barg den verzerrten Mund hinter der Hand, wie etwas HaBüches oder Obszönes. „Ein Spitzel! Das könnte Ihnen so passen, Herr Deutsch! Mein Gatte hat Sie wohl geschickt — er spinnt Intrigen, er bezahlt die Hascher, er finanziert ganze Bureaus, die mich und Gabriel auseinander bringen sollen. Vor keinerlei Unkosten scheut er zurück, nun hat er also auch Sie bestochen. Pfui, Herr Deutsch, das hatte ich nicht von Ihnen erwartet!" Sie schüttelte tadelnd den Kopf, zeigte bittere Gekranktheit — bis ihr ein anderer Einfall kam, der sie eher heiter stimmte und ihr Mienenspiel neckisch machte. „Oder geht der ganze Scherz von Ihnen aus ?" Sie blinzelte anzüglich, spitzte auch die Lippen, wie zum Pfeifen oder zum Küssen. „Herr Doktor — Sie Böser! Haben Sie es darauf abgesehen, Gabriels Nachfolger bei mir zu werden ? Sind Sie in mich verliebt ?" Endlich glaubte sie es: ihr Gabriel war fort, und er würde nicht wieder kommen. Sollte er es aber wagen, noch einmal zu erscheinen, so muBte sie ihm ins Gesicht spucken; denn er hatte sie miBbraucht und betrogen, von Anfang an. Da warf sie die Arme gen Himmel und schrie. Der Schreikrampf dauerte Minuten lang. Sie stand mit hochgereckten Armen mitten im Zimmer, das fahle Madonnen-Gesicht etwas schief gestellt, die Löckchen, steif und zierlich gedreht, hingen ihr in die Stirne, und aus dem Mund, der klagend offen stand, kam das Geilen. Für David Deutsch war es eine graBliche Situation. Er sagte: „Aber gnadige Frau! Ich bitte Sie, liebste Frau Markus! So beruhigen Sie sich doch, Frau Viola!" Sie schrie noch ein wenig weiter, als lage ihr daran, zu beweisen, da!3 sie erst dann aufhören werde, Larm zu machen, wenn es ihr gefiel, keinen Augenblick früher. David meinte schon, sie werde ewig weiter kreischen — und er werde immer dazu verurteilt sein, ihr zuzuhören —, da schloB sie plötzlich den Mund. Schon war er im Begriff, erleichtert aufzuatmen — als Friederike erst recht schaurig wurde. Sie stolzierte, die Arme vor der Brust gekreuzt, gravitatisch-langsam im Zimmer auf und ab, wobei sie sich in einem gleichmaBigen Rhythmus unaufhörlich verneigte. In ihren Augen phosphoriszierte es grünlich; sie schüttelte die starren Löckchen, grinste und murmelte: „Herr Erzengel Gabriel — sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen! Jetzt erkenne ich Sie erst, mein Herr Erzengel: Sie sind ja der Teufel. Mes respects, Monsieur le Diable! Sehr geschmeichelt, Exzellenz Gottseibeiuns!" — Dazu Vemeigungen und stolze Schritte. ,Sie ist endgültig wahnsinnig geworden.' David beobachtete, an die Wand gepreBt, das makabre Schauspiel. ,Was soll ich tun? Ich muB einen Arzt kommen lassen. Aber sie darf doch keinen Augenblick allein im Zimmer bleiben . . . Kann ich in ihrer Gegenwart telephonieren ? Vielleicht würde sie gar nichts merken. Vielleicht würde sie miBtrauisch werden und sich auf mich stürzen . . . Ich fürchte mich. Was für schlimme Lichter sie in den Augen hat! Wie sie selber satanisch wird, da sie sich vor dem Satan verneigt! Ich habe Angst. Das Böse ist stark — starker als wir es ahnten; furchtbar stark in unserer erschütterten Zeit ... Wie komme ich von hier weg ? Wenn sie nur aufhören wollte, zu grinsen! . . . Oh — sie hat den Teufel im Leib!' FÜNFTES KAPITEL Die Freunde in Paris überlegten sich: Wo ist Kikjou ? Niemand kannte seinen Aufenthalt. In Wahrheit wuBte er selber kaum, wo er sich befand — so sehr war er der Welt abhanden gekommen. Er wohnte irgendwo auf dem Lande. Gehorte dieses triste Dorf noch zu Frankreich ? Oder war er weiter, bis nach Belgien, nach Holland gefahren ? Er verlieB sein Zimmer fast nie; es war kahl und eng, eine Zelle. Morgens ging er zur Kirche und beichtete. „Ich habe gesündigt — immer nur gesündigt. . . Ich muB furchtbar büBen..." Der fromme Vater wollte Einzelheiten. „Was hast du Böses getan, lieber Sohn ?" — „Nur Böses, mein Vater, nur Böses! Ich habe nicht genug geliebt. Ich habe einen Menschen getötet — oder bin doch mit-schuldig an seinem Tode. Den schwarzen Machten habe ich ihn überlassen, weil es meine Neugier reizte und mich scheuBlich lüstern machte, seine Verzauberung, seinen Verfall und Absturz zu beobachten. Es gibt keine Sünde, die ich nicht begangen hatte. Ich muB furchtbar büfien ..." — „Das überlasse mir!" Der fromme Vater unterbrach ihn nicht ohne Strenge. Er fügte sanfter hinzu: „Du verwirrst dich! Was du sprichts, scheint phantastisch — auch klingt es nach Prahlerei. Es gibt eine Manier, sich selbst anzuklagen, welche an Prahlerei grenzt. Beichte deine Sünden der Reihe nach: dies kann ich dir nicht ersparen! Übertreibe sie nicht ins MaBlose — was nur eine andere Form ist, sie zu verkleinern und zu verwischen. Sei bescheidener! Der Teufel des Hochmutes sitzt dir im Leibe — wenngleich du erst wie ein Zerknirschter wirkst." — „Ich will ins Kloster gehen," brachte der Sünder hervor. „Ich will der Welt entsagen . . . mein Leben ganz dem Dienst des Herren weihen . . Auf diese 29 neue Unbescheidenheit hatte der Priester keine Antwort. Vielmehr bestimmte er trocken: „Komme morgen wieder! Heute bist du nicht in der Verfassung, eine ordentlich Beichte abzulegen. Gehe in dich! Bete! Sammle deine Gedanken! Komm morgen wieder!" — DrauBen schien es schon beinah Winter geworden. Das öd gebreitete Land verhüllte sich düster. Ein schwarz-grauer Himmel senkte sich betrübt zu den nassen Feldern. Auf den Wiesen, Pfaden und Büschen schmolz ein dünner, miBfarbener Schnee. Kikjou fror in seiner Kammer, er dachte: ,Die alte Patronne — diese verfluchte Hexe —, sie könnte besser einheizen . . .' Aber dann beschloB er: ,Nein, ich beschwere mich nicht; es ist besser so. In einer Klosterzelle wird es auch nicht komfortabler sein. Mit nackten FüBen will ich über diesen eisigen Steinboden gehen — und wenn ich mir eine Erkaltung hole, was tuts ? Ich muB büBen . . . Beten will ich und in mich gehen; der Priester hat recht: mir sitzt der Teufel des Hochmuts noch im Leibe. Herr Jesus, du kennst alle meine Sünden! Dein Gesicht ist menschlich — als des Menschen Sohn hast du unter uns gelebt und gelitten —; du bist auch mit den Sünden der Menschen vertraut. Mein Herr Jesus — vor deinem Jammerbilde sink' ich hin. Erbarme dich meiner! Habe Mitleid! Ayez pitié de moi, Seigneur! Christ — ayez pitié de nous!" Knie nieder, Kikjou — der FuBboden ist kalt, in deinem Herzen aber rasen Feuerbrande. Knie hin, Knabe, halte still, sei geduldig! Lege dein kindliches, viel zu hübsches Gesicht in die Hande : dies erst ist die Stunde deiner Konfession. Dein Erlöser selbst, starr gereckt in seiner Leidenspose, hort dir zu. Siehe — sein Haupt voll Blut und Wunden ist ein wenig seitlich geglitten; seine Lippen haben sich geöffnet du weifit es: er leidet Durst —, sein brechendes Auge aber prüft deine Gestalt, die sich vor ihn hingekauert hat. Wie aufmerksam schaut dein Erlöser unter dem schaurigen Putz der Dornenkrone! Vor ihm kannst du nichts verbergen — des Menschen Sohn ist sehr klug. Keine Ausflüchte mehr, Kikjou, keine pathetischen Verallgemeinerungen! Schon dem frommen Vater im Beichtstuhl ist es auBerst peinlich aufgefallen, daB du es vermiedest, detailliert zu bekennen; dein Erlöser aber würde dir solche Flausen keinesfalls durchgehen lassen. Des Menschen Sohn ist sehr anspruchsvoll — gib das AuBerste, Knabe, deine ganze Wahrheit, sonst wendet er den Bliek von dir ab, und es wird ihm langweilig, dir zuzuhören. Er ist durch alles Leid der irdischen Sphare gegangen, hat auch die Schauder der Unterwelt gekostet, und als er schlieBlich auffuhr gen Himmel, kam ein harter Glanz von seinem Angesicht — ein bewegtes Leuchten, wie von ungeheurer Flamme, so dafi es denen, die schauten, nicht nur wohltat, sondern sie auch blendete. Die Blicke, mit denen er Abschied nahm, waren unfaBbar milde und unfaBbar streng. UnfaBbar milde und unfaBbar streng mustert dich nun sein Bliek — Knabe, der du zu beten versuchst! Strenge deine Erinnerung an! Sei nicht zimperlich, sei nicht trage! Denke an alles, was du falsch gemacht hast — es ist reichlich viel! Nimm dir Zeit! Übereile nichts! Sei umstandlich! Sei exakt! Rühre dich nicht, wenngleich dir die Kniee schon wehtun! Eine ganz enthüllte Seele will dein Erlöser sehen. Er kennt dich — ach, wie er dich kennt! Deine Verspieltheit; deine etwas feminine Tücke, die sich hinter frommen Redereien verbirgt; deine Eitelkeit; dein Mangel an Energie; deine tierische Geilheit — wie war das mit dem jungen Englander im „Boef sur le Toit ?" Weh dir — und mit den Araberjungen in Tunis — wehe, wehe! —, und mit dem Piccolo in Lausanne, und mit dem kleinen weiBen Hündchen bei deinem Onkel ? Oh pfui über dich, du Stück Dreck und Laster, du Abhub, du hündisch-sündiges Gewachs! Gestehe! Bekenne! Parasit du — niemals hast du richtig arbeiten können; dein Vater in Rio — seinerseits freilich ein Menschenschinder, Wüstling ersten Ranges — hatte allen AnlaB, miBzufrieden mit dir zu sein. Tugendhaft warst du immer nur im falschen Moment, zum Beispiel, als du Martin alleine lieBest mit der chose infernale; zunachst aber hattest du ihn zu seinen Exzessen eher ermutigt, auf deine hinterhaltige Art. Als es zu spat war, irrtest du durch die StraBen: „II n'est nul part . . . il n'est nul part. . Denn nun warst du es, der sich einsam fand. Armer kleiner Kikjou, Sünder du auf den Knien —: siehe, unfaBbar milde streifen dich Bliek und Lacheln dessen, der dein Erlöser ist. Nicht nur über alle deine Schlechtigkeiten, groBen und geringen Infamien weiB er so genauen Bescheid. Er vergiBt nicht, was du ausgestanden hast. Er kennt deine Einsamkeit, deine geistigen Qualen, deine Ratlosigkeit, deine Verwirrtheit, deine Zartlichkeit, alle Anstrengungen, Aufschwünge, Enttauschungen deines empfindlichen Herzens. Er ist den Menschen nicht fremd — und du bist nur einer von ihnen, nicht schlimmer als die anderen; wohl auch kaum viel besser —: ein Mensch, armer kleiner Kikjou, ein Menschensohn, auch du —: halte deine Stirne dem Erlöser hin! Er verzeiht dir vielleicht; denn über deine Wangen fliefien menschliche Tranen. Auch du tragst dein Kreuz, knieendes Kind auf dem kalten Boden, und deine Schultern schmerzen unter seiner Last. Wie viel Zeit vergeht, wahrend du betest ? Stunden, und es wird Nacht. Die Patronne tritt ein, sie bringt Schüsseln — das ist dein Abendessen : sieht es nicht ganz appetitlich aus ? Aber du schaust kaum hin. Nicht essen und trinken jetzt! Es ist die Stunde der Konfession. Vielleicht hast du spater ein klein wenig geschlafen — sicher nicht mehr, als zwei oder drei Stunden lang, dein Erlöser verzeiht es dir. Der Morgen aber findet dich wieder vor dem Kruzifixus, wieder knieend, und das petit déjeuner rührst du nicht an. Auch da es Mittag wird, magst du dich nicht erheben. Früh kommt die Dammerung in diesen Tagen zwischen Herbst und Winter. Deine Kniee sind wund — spürst du es nicht ? Hast du nicht Schmerzen in allen Gliedern ? Auf einen Fremden, der nun plötzlich ins Zimmer trate, müBtest du nun fast beangstigend wirken; du zeigst die Miene eines höchst Verzückten. Was erwartet dein verzücktes Herz ? Es erwartet nichts mehr; denn es ist glücklich. So voll Helligkeit bist du in deinem Inneren, daB du den Lichtschein gar nicht gleich bemerkst, der jetzt weiB durch deine Zelle weht. Ein Gerausch laBt dich aufschauen. Du bist kaum erstaunt, da du den Engel gewahrst. Er steht hinter dir und bewegt unruhig die Flügel, wodurch das metallische kleine Klirren verursacht wird. Es ist wie ein nervöser Tick; dabei aber sehr groBartig. Der Engel muB die groBen Flügel regen, als kame er sonst aus der Übung und würde das Fliegen verlernen ganz ahnlich, wie ein Rekordschwimmer oder Radfahrer, der auch aus der Form geriete, wenn er nicht immer trainierte. Dies ist das Wunder — da du am wenigsten mit ihm gerechnet hattest, ist es plötzlich da. Du empfindest kaum, daB es ein Wunder ist. Ein Engel ist an dich herangetreten, daran kann kein Zweifel sein. Wenn es nicht das Flügelpaar an seinen Schultern bezeugte, so verriete es sein ungeheurer, lachelnder Bliek und der sehr besondere Geruch, den er aus- strömt — ein Geruch nach Mandelblüten und einem feinen Benzin. Ja, es muB eine Benzin-Sorte geben, von so erlesener Qualitat, wie das kraftig-zarte Parfüm dieses Engels. Seine glanzumflossene Figur laflt, auf geheimnisvolle Weise, an ein starkes, elegantes Fahrzeug denken — an ein schnittiges Automobil oder ein flottes Motorboot. Der befiederte Jüngling ist groB und schlank; sein Gesicht mit dem übermaBig leuchtenden Bliek hat die überanstrengte Magerkeit, wie man sie bei Sportsleuten findet. — ,Wie geschwind er ist!' denkt Kikjou, und dies ist das Erste, was er denken kann. Der Engel bewegt sich —: groBer Vogel, der auffliegen möchte; dem der ïrdische Aufenthalt nicht behagt. — „Komm!" ruft der Engel mit einer tiefen, nicht sehr melodischen, etwas brummenden Stimme. „Komm, Knabe!" — Kikjou, in seinem TranceZustand vor dem Kruzifix, scheint diese Worte nicht recht ernst zu nehmen. Deshalb wiederholt sie der Himmlische Bote, wobei er starker mit den Flügeln rasselt: „Komm, Knabe! Komm!" „Wohin ? erkundigt sich Kikjou und wendet sich, um seinen Gast genauer zu betrachten. Der Engel hebt langsam, mit schoner, runder Geste den Arm; zwei lassig und majestatisch erhobene Finger weisen zum Fenster, hinter dem der Schnee fallt. „Komm, komm! So komm doch!" Es klingt mehr mahnend als lockend. Er schüttelt das Haar, und die Duft-Wolke wird intensiver, als niste das Parfüm von Mandelblüten und sehr feinem Benzin vor allem in seinen Locken. Sein Haar ist fast eine Mahne —; ,eine Löwenmahne,' stellt Kikjou fest —, sehr lockig und üppig, wohl auch widerspenstig; wenn nicht ein schmales Silberband es zusammenhielte, würde es wie ein barocker Glorienschein um dieses sportlich harte Jünglingsgesicht wehen und flattern. Das Silberband halt es halbwegs in Ordnung. Trotzdem bleibt es eine erschreckende chevelure — purpurne Fülle, durch die goldene Lichter zucken. Kikjou konstatiert eine gewisse Ahnlichkeit mit Marions Haar — das freilich nur eine dezente Purpur-Nuance zeigt, wahrend das Gelock des Engels schamlos flammt: blutrotes Feuer über der harten Stirn. Die exzentrische Pracht solcher Kopfbedeckung kontrastiert seltsam zu dem schmucklosen Anzug des Engels. Er tragt eine Art von eng anliegendem Overall aus festem silbergrauen Gewebe, sehr einfach geschnitten, Hose und Jackett in einem Stück. Ahnlich findet man junge Leute gekleidet, die in einer Garage arbeiten. Da der Stoff von seinem erhobenen Arm etwas zurückfallt, wird, am Handgelenk, ein breiter, heller Lederriemen sichtbar — Schmuck oder Stütze für die magere, sehnige Hand, deren Finger zum Fenster deuten. — Kikjou würde gerne heraus bekommen, wie an dem Overall die Flügel befestigt sind; der Engel aber zeigt ihm nicht seinen Rücken. — „Komm! Komm!" mahnt er wieder, und die trippelnden Schritte, die er tut, sind schon Vorbereitung zum Flug —: er fliegt schon fast, er wird immer leichter, um ihn weht heftiger der weiBe Glanz. — „Aber es schneit doch drauBen!" Kikjou versucht es, wieder einmal, mit törichten kleinen Ausflüchten. Er schielt feige zum Fenster; denn er ahnt ja: dort hinaus geht die Fahrt . . . Wirklich ist die Luft vom weiBen Schneefall erfüllt. Langsam schweben die kristallischen Flocken. Der Winter ist da, der Schnee —: ach bitte, lieber Engel — nicht hinaus in die Kalte! Nicht in den bösen Winter hinaus! Die sinnlose Bemerkung über das Schneien hatte Kikjou vermeiden sollen; denn nun ist die Geduld des Engels erschöpft. Er laBt eine Stimme hören, welche grauenhaft brummt: "Unsinn! Sei still! Das ist Un- sinn!" Und ehe der zurechtgewiesene Knabe sich von seinem Schrecken noch erholen kann, hat sein Engel sich sehr graBlich verwandelt. Er flattert, er hebt sich, saust und kracht; er wird zum Bienenschwarm, wird zur eisigen Wolke, zur Flamme; er löst sich auf, sammelt sich wieder; scheint ein Raubvogel, der über Kikjou kreist; ein Flugzeug, surrend, mit starren Flügeln; ein Monstrum ohnegleichen ist der schlanke Jüngling geworden; auf den Knaben stürzt er sich, wie der Habicht auf das zitternde Lamm — wie Zeus, in einen Vogel verwandelt, sich auf Ganymed stürzt, so umklammert das himmlische Ungetüm mit furchtbar bewegten, furchtbar harten Gliedern den Kikjou. Hinaus in den Schnee! Hinaus in die Nacht! —: keine Barmherzigkeit kennt der Engel. Er selbst ist Schneesturm geworden, rasendes Element; seine Umarmung ist teuflisch, ist himmlisch, ist viel zu stark; überwaltigend sind die Gerausche, die er hören laBt; Motoren-Larm, holde Spharenmusik, RaubvogelGeheul, Stöhnen der Liebenden, gellendes Hohngelachter, tiefe, klagende Menschenstimme —: alles in Einem, betaubende Melodie. Komm, komm, Kikjou — durchs Fenster hinaus, durch das Glas hindurch, in die Nacht, in den Schnee, ins WeiBe, ins Ungeheure! Fliege hin, sause über die Lander, man hat dir ein Fahrzeug erster Klasse zur Verfügung gestellt, schauerlich und wohlig ruhst du in den Armen deines süBen, rasenden, monströsen Engels. Hören und Sehen vergehen dir, du klammerst dich an seinen stahlemen Nacken, er redet dir freundlich zu — mit Vogelstimme, Menschenstimme, Engelstimme. „Keine Angst. . . keine Angst . . . Der Schnee hört auf. . . Wir sind gleich am Ziel, und du wirst erwartet. . . Ton grand frère t attend . . . Le voila . . . Tu le reconnais ? ... Le voila . . . le voila .. Kikjou, le petit frère de Marcel, schlagt die Augen auf. Neben ihm steht der Engel, kaum erschöpft von der Fahrt; wieder in seinem Overall, mit dem Silberbandchen in der Purpur-Mahne. Er legt den Zeigefïnger an die lachelnden Lippen: Sei still jetzt, man sieht uns nicht, wir sind unsichtbar, du und ich — unsichtbar, Kikjou und sein geschwinder Engel . . . Wo sind wir ? — Wir sind in Spanien, am Rande der Stadt Madrid, in der Universitat, der Ciudad Universitaria. Dies muB ein Hörsaal gewesen sein; auf dem FuBboden liegen zerfetzte Kolleg-Hefte, leere Tintenfasser, zertretene Bleistifte und Federhalter. Vor den leeren Fensterhöhlen aber sind Barrikaden oder SchieB-Scharten aufgebaut, aus Büchern und zerschlagenen Banken. Es ist kalt — noch kalter als in Kikjous mönchischer Zelle —; der steinerne Boden atmet eisige Feuchtigkeit. DrauBen wird geschossen; das Geknatter der Maschinengewehre hört nicht auf. Ein Maschinengewehr steht auch hier, auf einem der improvisierten Hügel aus Papier und Holz. Im Augenblick ist niemand da, um es zu bedienen. Von den drei Personen im Raum scheint eine ganz entschieden auBer Gefecht gesetzt; die beiden anderen sind um ihn bemüht — eine Frau und ein juneer Mann. Nun erst erkennt der unsichtbare Kikjou den Verwundeten: es ist Marcel, son grand frère, sein Gesicht ist von Blut und Tranen entstellt — übrigens auch vom stark gewordenen Bart verandert. Er hat die rechte Hand ans Herz gepreBt, unter einem graugrünen, dicken Hemd sickert Blut hervor, er ist in die Brust getroffen — ins Herz getroffen ist Marcel, er stirbt. — ,Wie weiB seine Lippen sind!' Kikjou möchte zu ihm hin, ihn anfassen, ihn liebkosen; aber er ist ja zur Unsichtbarkeit verurteilt wie zu einer Strafe; er ist der Gefangene des Engels, dessen Zorn man nicht reizen darf — sonst wird er ein Bienen- schwarm und ein Sturmwind und ein rasendes Element. Marcel sagt: „Merde alors!" und versucht zu lacheln — liebenswürdig bis zum SchluB, verführerisch noch am Ende. Aber sein Mund, der so viel Worte gesprochen hat, kann nur noch zucken. Seine Lippen, von denen Blasphemien kamen und Liebesworte, Flüche und Zartlichkeiten und immer wieder Worte — nun werden sie lahm und steif. Die Hande machen ein paar kleine Bewegungen; hilflose, flatternde Gesten—: was sollen sie bedeuten? Wohin weisen sie ? W'clchc 11 Sinn hat diese Pantomime des Sterbenden ? Und in welche Fernen schweift nun der Bliek seiner wunderbar aufgerissenen, kindlichen, unergründlichen Augen — dieser trauernden, wilden Sterne unter den kühnen Bögen der Brauen ? Erkennen sie den Engel, der ihm gegenüber steht und nun seinerseits Zeichen macht tröstliche, sanfte Winke mit den zwei erhobenen Fingern der rechten Hand ? Erkennen sie Kikjou ? Oder sehen sie gar nichts mehr ? Denn nun werden sie glasig. In einem Hörsaal der zerschossenen Universitat von Madrid stirbt Marcel Poiret, ein Soldat. Er wollte das Opfer bringen; er hat sich geopfert. Er wollte Blut vergieBen; aus einer kleinen Wundeüber dem Herzen sickert sein Blut. Er war müde der Worte, gierig nach Taten und Leiden; er hat gehandelt, hat gekampft, hat gelitten — er schweigt. Viele haben in diesem zerschossenen Gemauer gekampft und gelitten wie er; viele sind hier gestorben: hier, und iiberall in diesem kampfenden Lande. Er ist einer von Tausenden, von Zehntausenden — Marcel Poiret, ein Soldat —, er gehort zum Ganzen, zum Kollektiv: dies hat er sich immer gewünscht, es ist seine Sehnsucht gewesen, erst ïm Tode soll sie sich erfüllen. V A Kikjou, der Gefangene seines Engels, darf nicht hin, die Augen seines Freundes, seines groBen Bruders zu schlieBen. Es ist eine spanische Arbeiterfrau, die dem Fremden diesen letzten Dienst erweist, und es ist ein deutscher Soldat, der dabeisteht und weint. Kikjou, in seiner Verzauberung, kann nicht weinen. Die spanische Frau hat ein groBes, ernstes Gesicht mit tief eingegrabenen, schweren, etwas hangenden Zügen; der ganze Schmerz ihres Landes scheint versammelt auf ihrer Stirn. Man nennt sie die Passionaria; sie hat harte, abgearbeitete Finger — aber mit welcher Zartheit berühren sie nun die Augenlider des toten Soldaten! Der deutsche Kamerad holt ein groBes, bunt kariertes Taschentuch hervor, um sich die Augen zu trocknen. Er schnauft heftig; dann schimpft er: „Verfluchte ScheiBbande! Das ist wahrscheinlich wieder so ein verdammter Nazi gewesen, der diese Kugel geschickt hat — oder ein Italiener im schwarzen Hemd, oder so ein bloder Araber, der gar nicht weiB, auf wen er eigentlich schieBt! Und immer die Besten müssen es sein, die sie treffen — immer die feinsten Kerle! War so ein feiner Kerl, dieser Marcel — un bon copain, wie er es genannt hatte . . . Verflucht noch mal! Immer die Besten!" — Die Passionaria versteht kein Wort; aber sie nickt. Sie nickt dem toten Franzosen zu und dem lebenden, weinenden, schimpfenden Deutschen — den zwei Kameraden. Der Deutsche hat kurz geschorene, dunkle Haare auf einem runden Schadel, und etwas kugelig hervortretende, kluge, sympathische Augen. Es ist Hans Schütte: ein tapferer, zuverlassiger Bursche, sehr beliebt bei den Spaniern und bei den Kameraden von der Internationalen Brigade. Man hat ihn zum „Politkommissar gemacht — das ist eine verantwortungsvolle, wichtige Stellung; einë Art von Verbindungsmann zwischen den Offizieren und den Soldaten: er muB die Befehle erlautern und erklaren, warum sie so und nicht anders sind; er muB sich um die Einzelnen kümmern und sich ihre Sorgen erzahlen lassen, und ihnen gut zureden, wenn ihnen etwas nicht paBt; er hat viel zu tun, und ist immer in der vordersten Linie. Auch dem Marcel Poiret ist ein solcher Posten angeboten worden, für den man gern „gebildete Leute" verwendet. Marcel aber hat abgelehnt. Er wollte Einer sein unter Vielen, zum Ganzen gehören, zum Kollektiv; nicht mehr auffallen, nicht mehr herausfallen; leiden und kampfen mit den anderen; mit den anderen sterben. Die Passionaria ist fortgegangen; der Politkomissar Hans Schütte bleibt noch ein paar Minuten lang stehen bei seinem toten copain, dessen Sprache er kaum verstanden hat und mit dem er sich doch so gut verstandigen könnte. ,GroBe ScheiBe!' denkt der Politkomissar — und Kikjou, an seinen Engel geschmiegt, begreift die Gedanken des Fremden. ,GroBe ScheiBe! So ein feiner Kerl. . . Hat sich das nun gelohnt, daB der hier draufgegangen ist wie ein Hund ? Hatte vielleicht noch gute Sachen schreiben können; hatte sicher eine Menge Grips im Kopf. Ich habe ja nichts von dem kapiert, was er mit seinen französischen Freunden geschwatzt hat; aber seinen Augen war doch anzusehen, daB er die richtigen Dinge gesagt hat, und schone Dinge. . . Himmel Herrgott noch mal — hatte der Kerl groBartige Augen. Nun ist er hin. Ist ein Sinn dabei ? . . . Natürlich ist ein Sinn dabei. Der hat schon gewuBt, warum er hergekommen ist, und hier mit uns gekampft hat, und sich hat totschieBen lassen von den verfluchten Fascisten. In Paris hat er wahrscheinlich so für sich gelebt — so ein begabter Einzelner, was kann der schon machen ? Und als es dann hier losging, hat er sich gedacht: da muB ich dabei sein, das ist die groBe Gelegenheit, da muB ich alles aufs Spiel setzen — genau so, wie ich mirs auch gedacht habe. Und wir haben ja hier was geleistet — wir, alle zusammen! Wir haben Madrid gehalten: tolle Sache das, wenn man es recht bedenkt, gegen so eine verfluchte Übermacht! Wir haben die Nazis und die Fascisten und die Franco-Leute und ihre Fremdenlegionare zurückgeworfen, und hier sitzen wir in der Universitats-Stadt, und sind nicht raus zu kriegen, Teufel noch mal. Da war der also dabei, dieser Schriftsteller: einer von uns. Das hat doch wohl seinen schonen, richtigen, geraden Sinn gehabt — klar, Mensch! Er wollte nicht mehr allein sein, sondern lieber mit den anderen zusammen sterben ... Ja, so ist das wohl . . . Jetzt versteh ich eigentlich gar nicht mehr, warum ich nie in die Partei eintreten mochte... Das ist auch nur so ein Eigensinn gewesen — als ob ich besser als die andren ware! Unterordnen muB man sich können! Organisieren muB man sich können! Das lerntman hier, das habe ich hier gelernt. Die anderen sind ja auch organisiert, die Fascisten marschieren in Reih und Glied, in Kolonnen fallen sie über uns her, und wir sollen uns einzeln wehren ? So'n Quatsch. Ich habe das jetzt satt — so als interessanter Einzelganger herum zu laufen. Ich trete in die Partei ein. Hoffentlich nehmen sie mich. Na, die nehmen mich schon . . .' Hans Schütte geht — zu den anderen. ,Verdammt nochmal — wenn es heute nur ein paar Zigaretten gabe!' denkt er, wahrend er den öden Hörsaal verlaBt. Dort bleibt der Tote allein, mit Kikjou und mit dem Engel. Etwas von dem weiBen Licht des paradiesischen Boten fallt auf Marcels Stirn und Haar. Stirn und Haar glanzen auf; noch einmal schimmert es zwischen den schonen Bögen der Brauen; noch einmal scheinen diese Lippen sprechen oder lacheln, verführen oder klagen zu wollen. Da entfernt sich das Licht. Der Engel ist aufgestiegen: emporgeschnellt ist er wie ein GeschoB. Unbarmherzig führt er mit sich den Knaben — den Beter, den Sünder, den Verzauberten: Kikjou, le petit frère de Marcel; einsamer nun denn je — einsam, einsam, mit seinen Gebeten, seinen Verzückungen, seinen Zweifeln. Hinauf in die Nacht, in den Aether, in die Sphare, die ihm den Atem verschlagt . . . Darf Kikjou nun zurückkehren in seine Zelle, zu seinem Kruzifix, seinem schmalen Bett, seinem petit déjeuner, das unberührt auf dem Tischchen steht ? — Einige Aufenthalte werden ihm noch zugemutet. Der Engel — dieses eigenwillige, ungeheuer geschwinde, majestatisch klirrende Vehikel — setzt ihn noch zwei Mal ab: Erst in einem engen Raum, wo es nach Schminke, Puder, staubigen Kostümen riecht. Es ist eine Theater- oder Kabarett-Garderobe. Vor einem Spiegel sitzt eine Frau und frisiert sich: Marion — Kikjou erkennt sie, schon von hinten, an der Purpurmahne, die an seines Führers schaurig-schöne chevelure erinnert. Kikjou — unsichtbar und stumm — muB erleben, daB sein grausamer Engel mit tiefer, etwas brummender, beinah höhnischer Stimme ruft: „Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot!" —; daB Marion auffahrt; ihr entsetzensvolles Gesicht nach der Stimme wendet; niemanden findet; schreit; zur Türe stürzt; zum Spiegel zurückkehrt; ihr Gesicht in die Arme wirft, und endlich weint. — Marcel ist tot. Ins Herz getroffen. Tot. Nun weiB es Marion. Sie zweifeit nicht: Diese Stimme hat die Wahrheit gesprochen; nur die Wahrheit kann so furchtbaren Klang haben. — Martin ist tot. Die kleine Tilly ist tot. Marcel ist tot: ins Herz getroffen. — Ins Herz getroffen schluchzt Marion vor dem Spiegel. .Verlassen mich alle ? Bleibe ich ganz allein ? Warum muB gerade ich leben ? Warum gerade ich ? Warum muB ich die Überlebende sein ?' — Und Kikjou darf sie nicht trosten, darf sich nicht vonihr trosten lassen; muB hilflos stehen, sprachlos, atemlos, blicklos, unsichtbar; muB wieder auf und davon, mörderisch gepackt von seinem heiligen Monstrum, geschüttelt und gerüttelt von seinem monstre sacré; in die Lüfte geworfen wie ein leichter Ball; emporgerissen, in die Nacht entführt — und nun ist es eine unbekannte Dame, in deren Salon er niedersteigen soll. Die Dame ist Madame Poiret, Marcels Mutter — die VerhaBte, „das alte Scheusal", „die reaktionare Hexe", wie der Sohn von ihr zu sprechen pflegte. Er hat nicht Abschied von ihr genommen; durch Fremde hat sie erfahren müssen, daB ihr Sohn nach Spanien gefahren ist; daB er kampft — Seite an Seite mit den Gottlosen, gegen die Allein-seligmachende Kirche. Ist dies schmerzlich gewesen für Madame Poiret ? Niemand weiB es; niemand wird es je wissen. Sie sitzt starr und steif in ihrer halbdunklen Stube, zwischen Plüschportieren und verstaubten Palmen, vielen Nippes-Sachen, zahllosen Photographien. Über ihr hangt das Portrait des Monsieur Poiret, der einem Schlaganfall erlegen ist — sei es im Restaurant Larue, nach einem Dinner mit Geschaftsfreunden, sei es im Bordell, rue Chabanais, nach gar zu anstrengenden Amüsements—: Madame weiB es wohl selber nicht mehr recht genau. Er ist tot; er hatte einen würdigen Spitzbart und im Knopfloch die Rosette der Légion d'honneur — alles dies sehr deutlich zu sehen auf dem Portrait, das über der Einsamen hangt. Sie sitzt unbeweglich, ohne Handarbeit, ohne Buch, und auf die Patience, vor ihr auf dem Tischchen, hat sie schon lang nicht geschaut. Eine alte Frau, voll Bosheit und Vorurteilen; aber durch die Einsamkeit gestraft: schrecklich gestraft durch ihr ganzes glückloses Leben. „Marcel ist tot!" ruft der Engel, und Madame zuckt enerviert'mit dem Kopf: Was ist denn das für ein Larm ? Ich habe mich wohl geirrt! Bin ich fïebrig, daB ich Stimmen höre ? Ich muB Kamillentee trinken, Aspirin nehmen und zu Bette gehen . . . Der Engel aber wiederholt mit grausamer Hartnackigkeit: „Marcel ist tot! Ins Herz getroffen! Tot! Tot! Tot!" Nun darf Madame nicht mehr zweifeln: ihr Sohn ist tot, sie hat es endlich begriffen. Unter fremden Himmeln ist er hingemacht worden, und hat vorher nicht einmal Abschied von ihr genommen. Nicht umsonst hat Madame Poiret, eine gute Französin, seit eh und je eine so starke Aversion gegen das Ausland gehabt. Alles Internationale war ihr stets verhafit. HieB die Mörderbande, zu der ihr Sohn sich gemeldet hatte, nicht Internationale Brigade ? Sie haben Kirchen verbrannt, Priester gefoltert, Gott gelastert. Die Strafe folgt auf dem FuBe. Eine Kugel kommt geflogen, der Heilige Geist selber hat sie geschickt. Ins Herz getroffen. Tot. Ins Herz getroffen, tot —: ,Es ist mein Sohn, den sie getroffen haben!! Es gibt viele Söhne; dieser aber war mein. Ich habe ihn in Schmerzen geboren; als Kind hatte er Scharlach, ich habe ihn gepflegt. Er hat mich nie geliebt, ich habe ihn nie gekannt, er hat abscheuliche Dinge geschrieben, ich habe sie nie verstanden; Blasphemien kamen von seinen Lippen, die haben mich mehr gekrankt als alle schauerlichen Beleidigungen, die er sich ausdachte gegen mich — seine Mutter. Ich bin seine Mutter, er ist mein Sohn, ich habe nur ihn, sonst niemanden auf der Welt; ich hatte nur ihn, er ist tot, ins Herz getroffen, tot.' Welch ein Schauspiel für die beiden Unsichtbaren, für Kikjou und seinen Engel! Madame Poiret reckt klagend die Arme —: es mutet seltsam an, wenn eine distinguierte, böse altere Dame sich zu so ausschweifenden Gesten genötigt sieht. ,Mein Sohn! Mein Sohn! Er ist tot! Ich habe ihn geboren — er lebt nicht mehr! Er ist Fleisch von meinem Fleische, und lebt nicht mehr. Wie darf ich noch leben ?' Eine halb groteske Mater Dolorosa — sonderbar geputzt in ihrem schwarzen Spitzenüberwurf — bricht sie vor dem Kamin zusammen, in dem nur ein künstliches Feuer brennt. ,Ich habe ihn geliebt!' jammert ihr Herz. ,Hat er mich denn wirklich gar nicht ausstehen können ? Ach, im Grunde hing er wohl an mir! Nur seine deutschen, amerikanischen und jüdischen Freunde haben ihn mir vorübergehend entfremdet. Mein Leben war glücklos: Monsieur Poiret hat mich schlecht behandelt und ist im Bordell gestorben, jetzt kann ich es ja zugeben. Weil ich glücklos war, bin ich hart geworden. Marcel, Marcel — im Grunde muBtest du doch wissen, wie lieb ich dich hatte — nur dich, nur dich; denn du warst mein Sohn.' Bleibe allein mit deinem Schmerz, alte Frau! Die Krusten um dein Herz schmelzen, die harte Rinde weicht auf, du wirst weinen dürfen, der Schmerz macht dich besser, bleibe allein mit ihm! Drücke das kleine Kinderbild deines Sohns an die Lippen — die einzige Photographie, die du von ihm besitzest. So hat Frau von Kammer geweint, als ein anderer Bote — um welchen freilich keine Flammenglorie wehte — ihr stockend ausrichtete: Tilly lebt nicht mehr. So hat Frau Korella geweint, im Krankenhaus, an Martins Sterbebett, und spater, auf dem Friedhof, als die Schwalbe etwas taktlos wurde. So weinen die Mütter, so weinen die Menschen —: Herr Jesus Christ, unser Erlöser, habe Erbarmen mit ihnen! „Herr Jesus Christ, Erlöser, habe Erbarmen mit uns! Kikjou betet, heimgekehrt von seiner entsetzlichen Fahrt. Der Engel hat ihn abgesetzt, hat ihn abgeworfen, ohne ein Wort des Abschiedes zu 30 finden; ein Geruch nach Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ist zurückgeblieben in der mönchischen Zelle. Unfaflbar milde und unfaBbar streng empfangt der Bliek des Heilands diesen Sterblichen. Geduldig hat es auf ihn gewartet, das Haupt voll Blut und Wunden, das dornengeschmückte. Es neigt sich der Schulter zu, wie beim aufmerksamen Lauschen. Die Lippen stehen ein wenig offen — durstige, trockene, blutig aufgesprungene Lippen: sie werden den Essigschwamm kosten. — ,Ich habe gelitten wie diese,' sagt der Heiland dem jungen Sterblichen. ,Ich kenne die Schmerzen, deren Zeuge du gewesen bist. Auch du solist leiden. Gehe hin. Nimm es auf dich. Es ist bitter, ein Mensch zu sein. Ich war des Menschen Sohn, und ich habe noch den bitteren Geschmack davon auf der Zunge und den ausgedörrten Lippen. WeiBt du aber nicht, wie sich das Bittere verwandelt ? Leidend und liebend verwandelt sich der Mensch. Mein Vater im Himmel verzeiht uns, wenn wir geliebt und gelitten haben. Gehe hin, Knabe! Nimm es auf dich! Sei ein Mensch!' Professor Benjamin Abel hatte, einige Wochen nach der Katastrophe mit Herrn Wollfritz im „Huize Mozart", Amsterdam verlassen. Er war spater noch einmal nach Holland gekommen, um Vortrage an der Universitat Leiden zu halten. Bei dieser Gelegenheit sah er Stinchen wieder, die irgendwie von seiner Anwesenheit Kenntnis bekam und herbei reiste —: „weil ich Sie doch nicht vergessen kann, Mijnheer," wie sie errötend gestand. Sicherlich wuBte die maskuline, eifersüchtige Mama nichts von diesen zartlichen Ausflügen, die sich im Lauf der nachsten Wochen mehrfach wiederholten. — Auch Fritz Hollmann tauchte wieder auf— : ein tapferer Kerl, schlug sich tüchtig durchs Leben — übrigens nicht mehr allein; eine nett aussehende „Genossin" war an seiner Seite, Hollmann steilte sie vor: „Meine Braut!" Der Professor war etwas neidisch. „Ach, diese Jugend! Ihr wiBt ja gar nicht, wie gut ihr es habt!" meinte er sauerlich; freute sich aber, ganz im Verborgenen, doch schon auf Stinchens nachste Visite. Als Hollmann mit seinem Madchen gegangen war, trat Benjamin vor den Spiegel. ,Ich sehe immer noch passabel aus,' meinte er feststellen zu dürfen. Die Gestalt, die er kritisch musterte, war nicht groB und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine groBe, rundliche Flache ward beherrscht von den Augen, die den Bliek einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. Der Mund war merkwürdig klein — fast frauenhaft zart gebildet; .übrigens bekomme ich ein Doppelkinn,' dachte der Alternde ziemlich bitter. ,Ein Doppelkinn und eine Glatze —: komisch, daB Stinchen mich mag . . .' Die letzten Jahre waren, alles in allem, nicht leicht gewesen; wenig oder nichts sprach dafür, daB die folgenden besser sein würden. Es hatte furchtbare Heimweh-Krisen für Benjamin Abel gegeben; qualvoll heimwehkrank war er oft gewesen und hatte gemeint, es nicht mehr aushalten zu können in den fremden Stadten. Das war wohl nun überwunden. Er wünschte sich nicht mehr nach Deutschland zurück; seine Beziehungen zur Heimat hatten sich gelost. Die Mutter in Worms war gestorben. Die alten Freunde lieBen nichts mehr von sich hören. Auch von Annette Lehmann kamen keine Briefe mehr. Sie hatte einen Staatsanwalt in Köln geheiratet —: „ein prachtiger Kerl!" wie sie in ihrem letzten Schreiben versicherte. „Du würdest ihn sicher mögen. F riedrich ist ein weitherziger, grundgescheiter Mensch; ein überzeugter Nationalsozialist, aber gar nicht fanatisch ..." Auf diesen Brief hatte Benjamin keine Antwort; die Korrespondenz hörte auf. — Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiB das doch bitte nie! VergiB, zum Beispiel, bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusik-Abende in Marienburg! Was ware denn nun, wenn ich dich geheiratet hatte, damals, als wir beide jung gewesen sind ? Sahe dann alles besser aus, oder noch komplizierter ? -— Ach, zu wem spreche ich und wen rufe ich an ? Lebt die Annette noch, an die ich mich erinnere ? Eine andere, fremde spaziert nun durch die StraBen von Köln, am Arme ihres prachtigen Staatsanwaltes — durch diese StraBen, die unbetretbar für mich geworden sind; ein Abgrund liegt zwischen mir und ihnen — ein Abgrund zwischen mir und Annette — ein Abgrund . . . Professor Abel — alternd, heimatlos und sehr allein — fand seinen Trost in der Arbeit. Denn arbeiten konnte er wieder. Die Lahmung war gewichen. Er fühlte sich unverbraucht und frisch, bei aller Betrübtheit. ,Schon aus Trotz will ich tatig sein,' beschloB er grimmig. ,Schon aus Wut und HaB bin ich widerstandsfahig. Glauben diese Barbaren drinnen im Reich, deutscher Geist höre auf, zu wirken, weil sie ihn, durch Dekret, verbieten oder verstümmeln? Denen wird man es zeigen! Professor Besenkolb, und alle seinesgleichen — zerspringen sollen sie, und schamen sollen sie sich, wenn sie mein neues groBes Buch zu Gesicht bekommen!' — Benjamin — von Natur bescheiden — war selbstbewuBter geworden. Er wollte sich behaupten; war entschlossen, nicht unterzugehen. Zweifel am eigenen Wert ware ein Luxus gewesen, den er sich, bei so harten Lebensumstanden, durchaus nicht leisten konnte. Vielmehr zwang er sich, den Kopf hoch zu tragen und Stolzes zu denken. ,Ich bin keiner, der bettelt. Was ich zu bieten habe, ist kostbar. Die Welt soll mich dafür bezahlen.' — Die Welt fügte sich seinem Anspruch; sie zahlte — nicht eben üppig, nicht gerade verschwenderisch; aber doch so, daB er halbwegs anstandig leben konnte, obwohl die Universitat Bonn langst kein Geld mehr schickte. Abel hatte Vortrage in Wien gehalten und eine GastProfessur in der österreichischen Provinz absolviert. Er war nach England eingeladen worden; er schrieb für die anspruchsvollsten Revuen in der Schweiz und Frankreich. SchlieBlich kam ein Ruf nach Amerika: es war eine kleine Universitat im Mittelwesten der U. S.A., die sich, mit maBvollem, aber akzeptablem Angebot um ihn bemühte. Das war im Frühling 1937. Benjamin hielt sich in Skandinavien auf. Er sprach in danischen, norwegischen und schwedischen Universiteiten über „das groBe deutsche Jahrhundert" — wobei es ohne polemisch-aktuelle Anspielungen auf eine entartete Gegenwart nicht abgehen konnte. Schon hatten die Vertretungen des Dritten Reiches gegen die „schamlos deutschfeindliche Agitation" dieses aggressiven Gelehrten feierlich-gekrankt protestiert — woraufhin dem temperamentvollen Sprecher von amtlich-skandinavischer Seite nahegelegt wurde, er möge vorsichtiger sein. Vorfalle solcher Art bestimmten Abel dazu, die ehrenvolle Depesche aus den U.S.A. positiv zu beantworten. Hierzu war er nicht gleich entschlossen gewesen. Nun aber dachte er — trotzig und unternehmungslustig, wie die harte Zeit ihn hatte werden lassen —: ,Ich habe Europa satt. Überall Einschrankungen, feige Rücksichtnahme auf die deutsche Tyrannis — und unsereiner ist nur knapp geduldet. Dort drüben wird man doch den Mund wieder auftun dürfen Er hatte noch einige Monate bis zum Termin der Abreise. Das war gut; denn das Buch muBte fertig werden, mit dem er sich nun seit zwei Jahren beschaftigte: „Das Jahr 1848 und die deutsche Literatur." Für dieses Thema hatte er sich entschieden, gerade als er in Wien war, um Material für seine Schrift über die Österreichischen Dichter zu sammeln. Wien war eine Enttauschung für ihn gewesen —: eine Stadt, die von ihrer Vergangenheit lebte und deren Gegenwart wenig Begeisterndes hatte. Die Luft unter der klerikalen Diktatur war dumpf und muffig; der Kampf gegen den andrangenden Nationalsozialismus wurde falsch und angstlich geführt. Professor Abel lieB seine liebevollen Notizen über Hofmannsthal und Schnitzler in einer Mappe verschwinden, die er bis auf weiteres nicht mehr zu öffnen gedachte. Das Jahr 48 — seine geistigen Ursprünge und seine Konsequenzen — war erregender und dem Heute naher als die farbenvolle Untergangs-Stimmung des Wiener Fin de Siècle. Es gelang Abel, trotz allen Ablenkungen und mancherlei Pflichten, die neue Arbeit, langsam aber stetig, vorwarts zu bringen. Nun hatte er ruhige Wochen vor sich. Er etablierte sich in einer mittleren skandinavischen Stadt. Hier wollte er das umfangliche Unternehmen vollenden. Freilich blieb man niemals völlig ungestört. Nur ein vollkommener Egoist hatte sich ganzlich abschlieBen, durchaus auf die eigene Arbeit zurückziehen können. Was Abel betraf, so brachte er es nicht mehr übers Herz, Briefe, die so dringlichen Inhaltes waren, unbeantwortet zu lassen; Besucher, die mit so fürchterlich akuten Sorgen kamen, abzuweisen. Ihm selber ging es relativ gut — dies wuBte er, und war sogar ein wenig stolz darauf. Andere hatten nichts zu essen, wurden überall ausgewiesen und als elende Vagabunden durch die Lander gejagt. Früher aber waren sie achtbar gewesen, manche von ihnen sogar angesehen. Diesen oder jenen hatte Abel in Deutschland gekannt; andere wieder waren durch Freunde empfohlen. Doch meideten sich auch solche, die sich auf niemanden berufen konnten; ihre offenkundige Armut allein wies sie aus — und ihre Behauptung, daB sie im Dritten Reich, aus politischen oder anderen Gründen, verfolgt würden. Das konnte man nun glauben oder nicht. Benjamin war nicht skeptisch. Es war besser — so schien ihm — Dreien geholfen zu haben, die Schwindler sind, als einen Anstandigen zu enttauschen. Sogar solchen gegenüber, die sich gleich zu Anfang schlecht benahmen, blieb er geduldig, ohne übrigens je die Miene des Edlen, eines salbungsvollen Menschenfreundes aufzusetzen. Ein junger Mann erschien, der behauptete, er sei einmal Schupo in Berlin gewesen. Dergleichen war ihm jetzt nicht mehr anzusehen; im Gegenteil, ein pflichtbewuBter Berliner Polizeibeamter würde ihn wohl auf offener StraBe festgenommen, mindestens aber sehr miBtrauisch beobachtet haben, einfach seines suspekten AuBeren wegen. Der graue Anzug, den er trug, war dünn und abgeschabt, an mehreren Stellen geflickt, an anderen durchlöchert; er glanzte speckig, und die Farbe spielte ins haBlich Grüne. Auch mit den Schuhen war kaum viel Staat zu machen. Am besten schien noch das dicke, rote Wollhemd. Es war aus solidem Material; doch wirkte es, als hatte der junge Mann es schon seit Jahren am Leib. Der Verdacht drangte sich auf, daB es unfrisch roch. Auch sein Gesicht zeigte unfrische Farben — eine bleiche, verwüstete Miene, mit fleckig angegriffener Haut auf den slawisch breiten Wangenknochen. Die hellen, engen Augen schauten trüb zwischen arg entzündeten Lidern. Rasiert hatte er sich wohl seit Wochen nicht; der harte Bart schimmerte rötlich, wahrend das verwilderte Haupthaar einen reinen, fast goldenen Glanz zeigte. Der Bursche hatte lang nichts gegessen, erbekam Kaffee und belegte Brote, Abel lieB sich von ihm erzahlen. „Ich heiBe Ernst,begann er seinen Bericht — als ob dies am wichtigsten ware. Was folgte, war etwas wirr und recht traurig. Die triste Chronik wurde oft unterbrochen durch allgemeine Betrachtungen schwermütiger und bitterer Natur, die sich meistens in den Worten: „Es ist alles eine groBe ScheiBe!" resümierten. Die ersten Jahre des Exils hatte Ernst — wenn man ihm glauben durfte — in Prag zugebracht, mit einem Kameraden zusammen, einem feinen Kerl, der jetzt verschollen war. ,, So einen finde ich nie mehr. Den haben sie inzwischen sicher auch irgendwo umgebracht." Seither hatte er nirgends langer bleiben dürfen als nur einige Wochen. „In der Schweiz," sagte der Bursche — und plötzlich hatte er ein sanftes, beinah seliges Lacheln — „da ist es mir gut gegangen. In Zürich — da war es schön . . . Aber die Fremdenpolizei ... Es ist eine groBe ScheiBe . . . Aus dem Bett hat man mich rausgeholt, ohne Rücksicht auf die Dame, die bei mir war . . Dies hatte keineswegs zynischen Klang, auch prahlerisch war es nicht gemeint. Im Gegenteil verstand Abel, daB jenes dankbar ergriffene Lacheln, das eben noch die abgemagerte Miene des Vagabunden verklart hatte, mit der erwahnten „Dame" in Zusammenhang stand. Er erzahlte noch lange von seinen Abenteuern auf den LandstraBen und in den Herbergen vieler Lander; von den ZusammenstöBen mit der Polizei in Frankreich, Belgien, Holland, Danemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Manches klang unwahrscheinlich, einiges war wohl gelogen, am Ende stimmte vielleicht nicht einmal die Geschichte mit dem freundlichen Madchen in Zürich. Abel indessen war geneigt, alles zu glauben, oder doch für möglich zu halten. „Es muB etwas für Sie geschehen, junger Mann," meinte er vaterlich. Er hatte Beziehungen zu einem Comité für Flüchtlings-Hilfe in dieser Stadt. Eigentlich war es für Juden da; nahm sich aber auch anderer Emigranten an, wenn sie ihre Not und die Ursachen ihrer Emigration nachweisen konnten. „Zwar kenne ich den Leiter der Organisation noch nicht persönlich" — Abel sprach mehr zu sich selber, als zu seinem Besucher. „Aber sicher wird er mich empfangen. Der könnte Ihnen wohl behilflich sein ... Ich will mir nur einige Notizen über Ihre Vergangenheit machen." Wahrend der Professor am Schreibtisch saB, unternahm Ernst einen sehr ungeschickten, dilettantischen Versuch, die goldene Taschenuhr zu stehlen, die auf dem Kaminsims lag. Abel bemerkte es gleich; er war mehr gelangweilt und etwas angewidert als empört oder erstaunt. „Lassen Sie doch den Unsinn!" sagteer müde, ohne den Kopf ganz von seinen Papieren zu wenden. Daraufhin fing der junge Mann zuweinenan. Er weinte heftig, ohne übrigens das Gesicht mit der Hand zu bedecken. Sein Mund, zwischen dem roten Bart, verzerrte sich wie bei einem kleinen Kind, und aus den hellen, schmalen Augen flossen diedicken Tranen. Die Uhrlegte er behutsam wieder auf den Kaminsims; es war eine hübsche Uhr, matt-golden, mit einem altmodisch verschnörkelten Monogramm verziert; Abel hatte sie von seinem Vater geerbt, ein Familienstück, er hatte sie ungern verloren. Eigentlich war er selbst etwas erstaunt darüber, daB er fast keinen Unwillen gegen den Burschen empfand, der da stand und flennte. Um nur irgendetwas zu sagen, erkundigte er sich —nicht sehr lebhaft interessiert, wie ein Arzt, der eine pflichtgemaBe Frage stellt —: „Sind Sie Kleptomane ?" — „Keine Spur!" beteuerte der Bursche, der vielleicht gerade die Vorstellung, er könnte ein Dieb aus krankhafter Veranlagung sein, als besonders verletzend empfand. „Sicher nicht! So was Gemeines bin ich nie gewesen! Aber man kommt ja vollstandig herunter! Der Mensch verdirbt und verfault ja bei so einem Leben. Mit dem Gesetz ist man sowieso standig in Konflikt, weil man sich doch illegal im Lande aufhalt. Da meint man schlieBlich, es kommt gar nicht mehr darauf an. . . Dies schien dem Professor einzuleuchten. Er nickte ernsthaft; dann riet er dem jungen Mann: , .Trocknen Sie doch mal Ihr Gesicht ab! Es ist naB von Tranen." Der erfolglose, reuige Dieb schüttelte tragisch den Kopf, als wollte er sagen: ,Es geschieht mir gerade recht, daB ich hier vor Ihnen stehen muB mit einem Gesicht, über das Tranen laufen — wie ein Schulbub, den man ausgeschimpft hat. Nein, ich trockne meine Backen nicht. Ich fühle mich erbarmlich, und will auch erbarmlich aussehen!' — „Seit so langer Zeit sind Sie der erste Mensch, Herr Professor, der nett zu mir gewesen ist," behauptete er — um zerknirscht hinzu zu fügen: „Und da muB ich so was machen!" — „Sprechen wir nicht mehr davon!" schlug Benjamin vor. Um seinen kummervollen Gast auf andere Gedanken zu bringen, bot er ihm noch Kaffee und Butterbrot an. Ernst zeigte immer noch Appetit, obwohl er doch schon vorher viel gegessen und auBerdem inzwischen seelisch einiges durchgemacht hatte. „Kein Mensch braucht einen!" erklarte er, wahrend er kaute. „Man verliert alle Selbstachtung, wenn man das Gefühl hat, überflüssig auf der Welt zu sein. Ohne Selbstachtung kann man nicht leben." Auch dies war richtig; Abel mufite wieder bestatigend nicken. „Haben Sie denn keine politischen Ideale ?" wollte er wissen. — „Ich hatte mal welche." Der heruntergekommene Schupo zuckte bitter die Achseln. „Aber so was wird einem ja ausgetrieben, in dieser beschissenen Welt. Wie soll man denn noch an die Demokratie glauben, wenn sogenannte demokratische Staaten sich so gegen unsereinen benehmen? Behandelt wird man, als war man ein reudiger Hund — und soll Idealist bleiben!" Er lachte höhnisch, wobei schadhafte Zahne sichtbar wurden. Sein Gesicht war immer noch naB von den salzigen Tropfen, die abzuwischen er sich aus lauter Trotz und Gram geweigert hatte. — „Na, wir wollen mal sehen, was wir für Sie tun können!" meinte abschlieBend Abel. Ehe der Besucher ging, wiederholte er noch, es sei alles eine ungeheuer groBe ScheiBe; dann bat er nochmals um Verzeihung wegen der Sache mit Benjamins goldener Uhr. Abel sagte: „Das habe ich schon vergessen." Der andere konnte es gar nicht fassen und hatte beinah wieder zu weinen begonnen — aber aus Dankbarkeit, vielleicht auch aus Erstaunen; denn er hatte nicht mehr an die Güte geglaubt. — Abel setzte sich, durch die Vermittlung eines Bekannten, mit dem Leiter des Jüdischen Hilfscomités in Verbindung. Der erklarte sich sofort bereit, ihn zu sehen. „Kommen Sie bitte am nachsten Donnerstag gegen vier Uhr!" schlug er brieflich vor. „Ich werde Sie sofort persönlich empfangen. Es wird mir eine Ehre sein, Herr Professor, Ihre Bekanntschaft zu machen." — Benjamin ging hin; die Visite wurde ein kompletter MiBerfolg. Der Vorplatz, in dem dreiBig oder vierzig Menschen warten muBten, sah trostlos aus. Es gab keine Stühle, nur eine schmale Holzbank an der getünchten Wand; auf der saBen, eng aneinander gedrangt, jammervolle Figuren: alte Weiber oder ausgemergelte Manner — die Gesichter unbeweglich in die Hande gestützt oder die Köpfe nervös hin und her wendend, als lauschten sie in die Ferne, aus der irgendeine angenehme Botschaft überraschend kommen könnte. Indessen war nichts zu horen als die mürrische Stimme eines Mannes, der hinter einem Schalterfenster stand und von dort aus speckig abgegriffene Pappschilder mit Nummern verteilte. Auch Abel sollte eine bekommen; erklarte aber: ,,Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef. Ich nehme an, er wünscht mich gleich zu sehen." Der Beamte erwiderte nur: ,,Warten Sie!" Machte jedoch keineswegs Miene, Namen oder Wunsch des Professors an irgendeine andere Instanz weiter zu leiten. Benjamin hatte MuBe, sich seine Umgebung genauer zu betrachten. Neben dem Schalter hing ein groBes Schild, auf dem stand in fetten Lettern zu lesen: „Absolute Ruhe! Vermeidet politische Gesprache! Sie könnten belauscht werden und AnlaB zu Gerüchten geben, die uns schaden!" Übrigens sahen die Unglücklichen, die sich hier drangten, durchaus nicht aus, als hatten sie Lust, über die Weltlage zu debattieren. Ihre eigenen Sorgen waren gar zu groB; für die allgemeinen blieb ihnen kaum Interesse. Sie unterhielten sich, trotz der warnenden Tafel — freilich mit angstvoll gedampften Stimmen und nur über ihre tristen Privat-Affaren. Benjamin unterschied mehrere deutsche Dialekte; * auch östliche Idiome kamen vor: polnisch, ungarisch, tschechisch, rumanisch. — ,,Nach England ist überhaupt nicht mehr reinzukommen!" behauptete pessimistisch einjunger Mann. Einanderer sagte:,,Ichwarte schon seit zweieinhalb Jahren auf mein französisches Visum." Der Verdacht lag nahe, daBerwahrend all dieser Zeit nichts getan hatte, als eben auf das französische Visum zu warten. Trotzdem blieb er hoffnungsvoll. „Aber nachste Woche bekomme ich es — der Konsul hat mirs versprochen!" Ein dritter klagte: „Mich wollen sie nach Deutschland zurückschicken! Dabei habe ich, ehe ich wegfuhr, auf der Berliner Polizei einen Schein unterschreiben müssen, daB ich niemals wiederkommen will. Wenn ich nun wieder anrücke —: die sperren mich doch glatt ein! So was kann man doch nicht von mir verlangen! Die sperren mich doch ganz bestimmt ein!" — In einer anderen Gruppe sprach man von Palastina. „Mein Vetter ist Kellner in Tel Aviv; verdient ganz anstandig, ist recht zufrieden ..." — „Aber in Südamerika soll es besser sein!" wuBte ein ganz Gescheiter. „Meine Schwester hat einen Hutsalon in Buenos Aires . . Andere versammelten sich um eine weibliche Person von dürftigem Aussehen, die heftig weinte. Sie hielt ein kleines Kind, das sie nun dramatisch in die Höhe reckte. „Nein, ich gehe nicht zum deutschen Konsul!" rief sie flehend. „Dort werde ich eingesperrt, und mein Kleines auch! Mein Brautigam — ich meine: der Vater meines Kindes — hat mir fest versprochen, daB ich das hollandische Visum bekomme, ohne daB ich vorher beim deutschen Konsul war!" Mitleidige und tröstliche Stimmen lieBen sich hören; vor allem die Frauen nahmen sich der hysterisch Schluchzenden an. Man redete ihr vernünftig zu: „Aber seien Sie doch nicht so ungeschickt! Nicht so angstlich! Man beiBt Sie doch nicht auf dem deutschen Konsulat! Sie müssen sich Ihren PaB verlangern lassen!" — Die Armsten: es tat ihnen wohl, ihrerseits einmal mitleidig sein und sich im Vorteil fühlen zu dürfen gegenüber einer, die nicht mehr aus noch ein zu wissen schien. Denn die Weinende blieb dabei: „Ich kann nicht, und ich will nicht! Mit meinem Kind zu den Nazis?!" fragte sie pathetisch — um dann selbst zu erwidern: „Nie und nimmr!" SchlieBlich berief sie sich nochmals auf das Versprechen ihres Brautigams — vielmehr: „des Vaters meines Kindes," wie sie pedantisch hinzufügte. Ihre Klagen machten viel Larm — was zur Folge hatte, dafi ein Herr mit zorngeröteter Miene eintrat und seinerseits brüllte. „Was ist hier los?! Ich verhitte mir das!" Sofort verstummten alle; der Herr jedoch schimpfte weiter; nun war es ein bleicher Unterbeamter, der den groBen Zorn des Vorgesetzten über sich ergehen lassen muBte. — „Habe ich Ihnen nicht zehn Mal gesagt, die Leute sollen im oberen Wartesaal bleiben, wenn sie ihre Nummern haben ? Immer wieder dieser Radau, direkt vor meinem Bureau! Wozu haben wir denn das zweite Stockwerk ? — Das ist eine Unordnung! Eine Sauerei! Gar nicht auszuhalten!" Der Herr hielt sich die Fauste an die Schlafen; er schien fürchterlich enerviert. Die Wartenden drangten sich schon zur Treppe; der Unterbeamte — selbst ganz gebückt vor Schrecken — trieb sie wie eine Herde. „Marsch, marsch! hinauf! Was steht ihr denn noch herum! Marsch marsch marsch!" Er trat auch an Abel heran, der zögernd zurück blieb. — „Worauf warten Sie denn ? Sie hören doch, was befohlen worden ist. Hier ist die Treppe — marsch marsch marsch — hinauf!" Abel meinte zu traumen. ,Wo bin ich denn ?' — besann er sich entsetzt. ,In einem Kasernenhof ? Dort kann es so schlimm nicht sein... In einem Konzentrationslager ? . . . Mein Gott: die Unglücklichen fliehen Deutschland — um hier dies zu finden . . .' — Er sagte, mit etwas bebenden Lippen: „Wenn ich recht verstanden habe, so sollen nur die Herrschaften, die im Besitz von Nummern sind, ins obere Stockwerk gehen. Ich habe keine." — „So lassen Sie sich gefalligst eine geben!" fuhr der Mann ihn an.„ Jeder braucht eine Nummer". — „Ich nicht," versetzte Benjamin, möglichst gelassen. „Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef." — Hier war es der wütende Herr, der sich einmischte. „Was ist denn hier los ?! Nur die Stimme eines preuBischen Unteroffiziers kann solchen Klang haben. „Weigern Sie sich etwa, nach oben zu gehen — he?!" Abel sagte: „Ich möchte lieber hier warten. Ich habe eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan." — „Eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan! Ist ja ausgezeichnet!" Der Herr schien vor lauter Ingrimm beinah wohlgelaunt zu werden. Er lachte krachzend, schlug auch die Hande, in einem Anfall von wilder Amüsiertheit, über dem Kopf zusammen. „Sie mochten lieber hier warten! Ist ja famos! — Da könnte jeder kommen!" brüllte er, plötzlich wieder entsetzlich ernst. „Bei uns gibts keine Ausnahmen, keine Extra-Würste! Alles geht hübsch in Ordnung! Jeder bekommt seine Nummer! Alle werden nach der Reihe vorgelassen! — Gehen Sie hinauf!" forderte er gedampfter, aber erst recht unheilverkündend. „Oder scheren Sie sich fort!" Dies war als sein letztes Wort gemeint; er stand drohend da, schien auch dazu bereit, mit den Fausten auf den anderen loszugehen. Abel brachte nur noch hervor: „Eine Schande! Eine unsagbare Schande! und war schon am Ausgang. Der Zornige höhnte hinter ihm her: „Auf Wiedersehen!" In einem langen Brief an Herrn Nathan formulierte Benjamin seine Entrüstung und seinen Schmerz. „Nicht mich hat man gekrankt oder beleidigt," schneb er mit einer Hand, die noch zitterte. „Menschen eines solchen Niveaus sind dazu nicht im Stande, und übrigens wuBte der unerzogene Herr ja nicht einmal, wer ich bin. Vermuten Sie also, geehrter Herr, bitte nicht, es sei gekrankte Eitelkeit, die mich rasend macht. Ich schaudre bei dem Gedanken, daB solche, die in freien Landern Zuflucht suchen vor der Schmach der NaziBarbarei, hier nicht nur der Not begegnen, sondern neuer Erniedrigung . . . Gibt es den Begriff der Menschenwürde nicht mehr ?" Am nachsten Morgen meldete sich telephonisch Herr Nathan. Die Stimme, mit der er um Verzeihung bat, klang dumpf. „Mein lieber Herr Professor — wie unglücklich bin ich, daB gerade Ihnen dies geschehen muBte! Erlauben Sie mir, gleich zu Ihnen zu kommen. Mir liegt daran, Ihnen einiges zu erklaren ..." Benjamin empfing ihn ein paar Stunden spater. Herr Nathan mochte sechzig Jahre alt sein; sein sorgenvolles Gesicht war sehr grau und müde. Unter den Augen gab es dicke Sacke — wie bei einem, der viel geweint hat, oder gar zu oft bemüht gewesen ist, Weinende zu trosten. Nathan begann das Gesprach: „Ihr Brief war nicht gerecht, Herr Professor!" Da Abel schwieg, fügte der Alte hinzu: „Ich begreife, daB Sie ihn so schreiben muBten. Aber — glauben Sie mir! —: ganz gerecht ist er nicht. Der Mann, der Sie angeschrieen hat — mein Freund Petersen — ist ein unermüdlicher Arbeiter. Jeden Tag, den Gott werden laBt, plagt er sich acht Stunden, oder noch langer, für unsere Flüchtlinge, ohne irgendeine Bezahlung dafür zu nehmen; ohne irgendeinen Vorteil davon zu haben — einfach aus Anstandigkeit; weil er es für seine Menschenpflicht halt." — „Das konnte ich nicht wissen," bemerkte Benjamin leise, schon etwas beschamt. „Sein Ton war trotzdem abscheulich." — Nathan raumte ihm ein: „Man sollte niemals die Nerven verlieren. — Wir sind aber alle nur Menschen," steilte er kummervoll fest. Abel sagte, nicht ohne Scharfe: „Gerade deshalb muB man die Menschenwürde des anderen achten." Der Leiter des Comités nickte müde. „GewiB, gewiB . . Er schwieg eine Weile; strich sich den grauen Schnurrbart und blickte, trübe sinnend, über die dicken Sacke hinweg, die wie Gewichte unter seinen Augen hingen. — „Man macht es uns aber nicht leicht," meinte er endlich, wie als AbschluB eines langen Selbstgespraches, das gewiB nicht heiter gewesen war. „Die Menschenwürde des anderen zu achten —: nein, leicht macht man es uns gewiB nicht. . Dann erzahlte er: zu diesem Zweck war er hergekommen. Es wurde deutlich: ihm war nicht nur daran gelegen, das unbeherrschte Verhalten seines Mitarbeiters zu entschuldigen und den Professor solcherart zu versöhnen; er wollte sein Herz ausschütten — sein schweres, betrübtes Herz. „Manchmal könnte man ganz hoffnungslos werden," sagte der alte Mann. „Mit so viel Enthusiasmus bin ich an diese Arbeit gegangen — und wie viel Enttauschungen habe ich erleben müssen. — Freilich ist mir auch viel Schönes vorgekommen." Hierbei lachelte er, zum ersten Mal; es war ein etwas mühsames Lacheln, aber kein künstliches, kein konventionelles. So lachelt einer, dessen Gesicht meistens ernst ist und sich nur selten, nur ausnahmsweise erhellen darf, bei der Erinnerung an ein paar gute Augenblicke. Was die Enttauschungen betraf, so waren sie mannigfacher Natur. Vielen von denen, die um Hilfe baten, war kaum zu helfen. Den Unglücklichen fehlten Kraft und Lebenswillen, manchen auch die Intelligenz, einigen sogar die Anstandigkeit. Herr Nathan hatte sich für Menschen eingesetzt, von denen spater erwiesen ward, daB sie Nazi-Spitzel und Agenten waren: „Einige von diesen Schuften sind sogar Juden gewesen!" konstatierte er mit Ekel und Bitterkeit. Andere wieder waren zu keiner Arbeit mehr fahig; sie klagten nur noch, jammerten den ganzen Tag 31 über ihr hartes Los. „Damit ist kein Geld zu verdienen," sagte Nathan, der sich dies alles mit ansehen muBte. Er war auch dabei gewesen, als eine junge Frau, deren Gatte in einem deutschen Konzentrationslager saB, sich im Vorzimmer des Comités erschoB. ,,Solche Szenen vergiBt man nicht!" sagte er leise. „Vielen hat das Furchtbare, was sie in Deutschland mitmachen oder mit ansehen muBten, das moralische Rückgrat zerbrochen. Sie sind wie gelahmt; wie Krüppel sind sie geworden, können sich gar nicht rühren. Da sitzen sie nun, und man soll etwas für sie tun. Sie selber aber sind wie gelahmt; reden nichts als Unsinn. Manche sind auch noch miBtrauisch und renitent —; kein Wunder, bei alle den Erfahrungen, die sie gemacht haben —; uns aber erschwert es die Arbeit. Man ist oft so müde. WüBten Sie nur von all den Schwierigkeiten, all den Schikanen, mit denen wir taglich zu kampfen haben! Manchmal verliert man die Nerven. Aber wir wollen das Beste! Wir tun, was wir irgend können — glauben Sie mir!" Er sagte es beinah flehend — was nicht nötig gewesen ware; Abel glaubte ihm. Er zweifelte nicht daran: Nathan war ein guter und gescheiter Mensch; gab sich Mühe; rieb sich auf für eine Sache, die nicht Gewinn brachte, und viel Ehre schien kaum zu erwarten. ,,Auch das Geld wird knapp," lieB er wissen. ,,Zu Anfang wurde reichlich gespendet. Aber die Tragödie dauert zu lange, das allgemeine Interesse laBt nach. Auch scheint das Ganze zu hoffnungslos — ein FaB ohne Boden, wenn ich mich so ausdrücken darf. Es werden immer mehr Flüchtlinge, taglich kommen neue an, unsere Fonds sind beinah erschöpft, unsere Geldgeber lassen sich kaum noch sprechen ..." Die beiden Manner saBen sich gegenüber; eine Weile sagte keiner etwas. SchlieBlich war es Nathan, der wieder zu sprechen begann. „Es ist schade um die Menschen." Seine Stimme bebte vor Gram. Der Literarhistoriker bemerkte: „Das hat Strindberg gesagt." Nathan nickte. „Vor vielen Jahren . . . Aber es ist immer noch wahr. Schade um die Menschen — jammerschade um sie . . Spater kam er auch auf Erfahrungen zu reden, die freundlicher waren. „Ganz vergeblich ist die groBe Arbeit nicht! Manchmal wird einem bestatigt: es hat Sinn gehabt. Irgendein junger Mensch schreibt uns — aus Argentinien oder Palastina oder Neuseeland —, und er berichtet: Es geht ihm gut dort, er hat zu tun. Wir haben ihn hingebracht. Wir haben ihn hier etwas lernen lassen und haben ihm zu dieser Stellung in einem fernen Lande verholfen. Nun denkt er dort drüben an uns ... Das macht Freude!" Herr Nathan sah plötzlich beinah vergnügt aus und rieb sich die Hande, wie einer, der ein gutes Geschaft gemacht hat — ein redliches, feines Geschaft. „Manche von unseren Schützlingen haben auch in Europa irgendwo Stellung gefunden," sagte er noch. „Einige sogar hier im Lande. Die besuchen mich dann, ab und zu. Nicht alle, natürlich: manche legen Wert darauf, mich nie wieder zu sehen und das Comité zu vergessen — was ich begreiflich finde. Andere aber lassen sich zuweilen sehen. Manner, denen ich im Jahre 1933 helfen konnte, haben inzwischen hier geheiratet; dann bringen sie wohl auch ihre Frau mit, manche sogar ein Kind — ein Emigrantenkind; aber es kann schon ein biBchen in der Sprache unseres Landes plappern. — Das macht SpaB!" sagte Herr Nathan wieder, und noch einmal ging das ungeübte, schwere, innige Lacheln über sein sorgenvolles altes Gesicht. SchlieBlich fiel Benjamin ein: „Ich wollte mit Ihnen ja einen bestimmten Fall besprechen. Es handelt sich da um einen jungen Mann, der früher bei der Ber- liner Polizei angestellt war. Ein sehr anstandiger Bursche, wie mir scheint — vielleicht durch Leiden etwas aus der Form gekommen ..." Herr Nathan lauschte — gleich interessiert; schon bereit, zu helfen; sich alle Möglichkeiten zu überlegen; von Herzen willens, diesen Menschenbruder, wenn es irgend angehen sollte, zu retten. Im Spatsommer des Jahres 1937 beschloB Marion, im Herbst nach Amerika zu fahren. Ein wichtiger New Yorker Agent war in Prag und Zürich Zeuge ihrer Erfolge gewesen; von ihm kam das Angebot: sie sollte eine Vortrags-Tournée durch die Vereinigten Staaten machen. Erst hatte sie gezögert; nun aber nahm sie an. Sie meinte, Europa nicht mehr ertragen zu können. Es waren zu viel der Verluste, zu viel der Erinnerungen, überall. Sie empfand schon seit langem: ,Es ist zu viel — ganz entschieden zu viel. Entweder auch ich sterbe, oder ich muB etwas Neues anfangen.' Sie studierte einen Teil ihres Programms auf englisch; andere Partien sollte sie im deutschen Original mit englischen Erlauterungen bringen. Übrigens hatte ihr der Agent versprochen, daB in den Kreisen, vor denen sie auftreten würde — Clubs, Universitaten, literarische Gesellschaften — mindestens ein Teil des Auditoriums deutsch verstehe. Das Visum hatte sie bekommen. Sie behielt ja den guten französischen PaB; sie war die Witwe des citoyen Marcel Poiret. Das Schiffsbillet war besorgt. Die Abschiede konnten beginnen. Marion, wehmütig und empfindsam gestimmt, hatte nur das eine Wort im Herzen: Abschied . . . Abschied von den Grabern; Abschied von den noch Lebenden. Ich bin die Überlebende. Ich bin die Abreisende. Ich bin die, welche etwas Neues beginnt. Ich reise nach Amerika und mache mich in Clubs wie auch in Universitaten bemerkbar. Dieses ist Abschied — eine Realitat; die Realitat unseres Lebens. Das ganze Leben ist Abschied. Abschied auf Bahnsteigen, auf Flugplatzen, Landungs-Stegen; Abschied in Schlafzimmern, Cafés, Hotelhallen, auf der StraBe, an einer Haustür. Adieu, schreib mir mal, machs gut, vergiB mich nicht — ach, vergeBt mich nicht, und adieu! Adieu, liebste Mama, du bist alter und schoner geworden, der Schmerz um Tilly hat dich sowohl alter als auch schoner gemacht. Wir weinen noch ein wenig, weil Tilly auf und davon ist, spurlos verschwunden, hinweg-gehuscht — wir aber müssen weiterleben; müssen hier sitzen und uns nochmals umarmen: Adieu, liebste Mama! GrüBe die dumme kleine Susanne — ist sie immer noch so graBlich reaktionar ? Ein komisches Kind! Wie lange muB sie eigentlich noch in diesem teuren Internat bleiben ? — Na, adieu also, ich rufe dich aus Paris wohl noch an, ehe ich fahre . . . Und dann, in Paris —: Adieu, liebste Schwalbe — Kopf hoch, altes Ding! Aber wer wird denn weinen . .. Wir schaffen es schon! Sind doch zwei tüchtige alte Kerle — du und ich: wind- und wetterfest, möcht ich sprechen, wir erleben auch noch bessere Tage — laB dich küssen, — laB dich sehr küssen, alte Schwalben-Mutter! Adieu, liebes Meisje — bist du immer noch glücklich ? Ja, du siehst immer noch glücklich aus; schon und glücklich, wie ein militanter Erzengel. Erstaunlich, daB es so was gibt; grofiartig, daB es so was gibt. — Braver alter Doktor Mathes — adieu. Ilse 111 war beim Abschied sauerlich; denn sie hatte so gut wie überhaupt keinen Erfolg mehr. Weder grünes Haar noch violette Wangen halfen ihr auf die Dauer; auch ihre Affare mit einem veritablen Neger- König hatte nicht das erwartete Aufsehen gemacht —: kein Wunder, daB sie sich verbittert zeigte. „Ich möchte wohl auch nach Amerika!" schmollte sie. „Wenn ich Talent habe, bin ich doch nicht haBlich." Was den Bankier Bernheim betraf, so schien er ein wenig abgekampft, wenngleich immer noch würdig. „Liebes Kammermadchen," sagte der reiche Mann schlicht, „mir tut es leid, daB du fahrst." Dann steilte sich heraus: Er war es müde, immer nur Geschafte zu machen. Das schlimme Abenteuer von Mallorca hatte nachhaltig auf ihn gewirkt. „Ich bin innerlicher geworden," erklarte er und lieB durchblicken, daB er vielleicht zum Katholizismus übertreten werde. Übrigens wollte er aufs Land ziehen, nach Österreich, in die Nahe von Wien. Dort hatte man ihm ein reizendes altes Haus angeboten: es kostete beinah nichts. Professor Samuel war aufgefordert mitzukommen; glaubte aber nicht an die Stabilitat der österreichischen Regierung und zog es vor, eine andere Einladung, nach Palastina, anzunehmen. „Ich möchte nicht noch eine dritte fascistische Invasion erleben, nachdem ich die in Deutschland und in Spanien mitgemacht habe," sagte der alte Künstler: nicht bitter, aber ziemlich miBtrauisch geworden. Bankier Bernheim fand solche AuBerungen einfach albern. „Die österreichische Unabhangigkeit wird von Frankreich und England garantiert," eröffnete er allen, die es hören wollten. „Und auBerdem hat der Bundeskanzler Schuschnigg das Heft fest in der Hand; die Mehrzahl der Bevölkerung ist ihm treu ergeben ..." Marion fand ihn seltsam verandert, und übrigens nicht nur ihn. Auch Nathan-Morelli, zum Beispiel, war nicht mehr völlig der gleiche, als den man ihn einst gekannt hatte —: ermattet, auch er, und sein gelbliches Mongolengesicht, das so spöttisch und blasiert gewesen war, zeigte jetzt mildere, auch tiefere Züge. Marion war befremdet; denn Morelli gestand, daB er um Deutschland litt. „Ich habe Heimweh" —: gerade von ihm hatte dies niemand erwartet. Nunaber sprach er es aus und blickte wehmütigsinnend aus seinen schiefgestellten, schmalen Augen. Warum sehnte er sich nun nacli Landschaften, Menschen, Stadten, die er früher vernachlassigt hatte ? „Es ist eine Schmach, was mit Deutschland geschieht," sagte er. „Es verfolgt mich in meinen Traumen .... Wenn ich meine Sirowitsch nicht hatte, ich könnte wohl gar nicht mehr leben. Sie bedeutet ein Stück der verlorenen Heimat für mich." — Theo Hummler, inmitten seiner politischen Aktivitat, war herzlich traurig über Marions Abreise. Seiner alten Schwache für sie war er treu geblieben. Er gab ihr Auftrage für New Yorker Freunde mit und erkundigte sich schlieBlich, ob er sie küssen dürfe. Sie gestattele es, er bekam feuchte Augen. Adieu adieu, schreib mir mal, vergiB mich nicht, dieses ist Abschied. Auch bei Madame Rubinstein machte Marion ihre Abschiedsvisite. ,,Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein," sagte sie, wie vor viereinhalb Jahren und wirklich, hier hatte sich nichts verandert: die gleichen Modelle alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen plaziert waren; die gleichen ausgestopften Vogel und Fische an den Wanden. „Ja, es ist ein gemütlicher Raum," sagte Anna Nikolajewna, wahrend sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Geback auf den Teller legte. „Aber mon pauvre Léon wird immer trauriger . . Auch die kleine Germaine machte ihr weiter Sorgen; sie schien nun beinah dazu entschlossen, sehr bald nach RuBland, in die unbekannte Heimat, zurückzukehren. Adieu, Anna Nikolajewna — ich will nicht werden wie du, ich bin nicht wie du, unsere Falie sind wesentlich voneinander verschieden. Du trauerst dein unwiderbringlich Verlorenen nach, ich traume dem entgegen, was wir gewinnen wollen . . . Adieu! Marion sah noch einmal den vornehmen und hoffnungslosen Schachspieler im Café Select: den ungarischen Grafen, der seine Güter verteilt und sich solcherart bei den Standesgenossen unmöglich gefnacht hatte. Sie sah David Deutsch, der seinen soziologischen Studiën nachging, erschreckend bleich war und sich schief verneigte. Er lehnte es aufs entschiedenste ab, von sich selbst zu sprechen. „Mein Fall ist melancholisch," sagte er kurz. „Ich muB irgendwie mit ihm fertig werden." Indessen sprach er von Vlartin. „WeiBt du noch, Marion ? WeiBt du noch?" — Ja, Sie wuBte noch. Sie vergaB die Gesichter nicht, die untergetaucht waren ins Nichts; nur zu genau erinnerte sie sich ihrer. Ach Martin — deine kokett-pedantische Stimme ,,Natürlich bin ich eigentlich kein Morphinist — weifit du" wohin, wohin? Ach Marcel —dein lockendklagender Vogelschrei auf der Treppe — wohin? Und dann die Sturzflut der Worte; der Blasphemien, Flüche, Zartlichkeiten —: wohin? Ein paar Tage, ehe Marion reiste, kam noch eine Aufforderung, die sie nicht ablehnen wollte. Eine Massenversammlung für die spanischen Loyalisten wurde veranstaltet in einem der gröBten Pariser Sale. Marion sollte unter den Sprechern sein — nicht als Rezitatorin diesmal, sondern als einfache Rednerin; es war ihr eigenes Wort, was man horen wollte, ihren Protest, ihren Aufruf. Hierüber freute sie sich und war auch etwas erstaunt. Bin ich eine — Persönlichkcit, daB man mich heranzieht zu so groBen Anlassen?' dachte sie, fast er- schrocken. ,Habe ich mir einen Namen gemacht, im Lauf dieser bitteren Jahre ? Ich bin herumgereist und habe Verse aufgesagt. . . Bin ich dadurch berühmt geworden ?' Spater fiel ihr ein, daB man sie auf dem Podium haben wollte, um Marcel Poiret zu feiern — den Soldaten, den Dichter, Helden, Martyrer. Sie war seine Gattin gewesen. Sie trug seinen Namen. — Alle im Saai erhoben sich von ihren Sitzen, als die Witwe des Martyrers ans Rednerpult trat. Tausende standen stumm — Pariser Arbeiter und Intellektuelle und Frauen —; sie reckten schweigend die Faust; sie senkten die Stirnen, zu seinem Gedachtnis. Marion hatte Tranen in der Stimme, als sie zu sprechen begann. Wie glücklich ware ihr Marcel, wenn er dies sehen dürfte! (Vielleicht darf er es sehen; vielleicht darf er glücklich sein . . .) Sein Leben lang hatte er darunter gelitten, da!3 er von der Masse nicht verstanden wurde. Nun, da er tot war, huldigte sie ihm. Die einfachen Leute konnten ihn erst begreifen, da er sein Blut vergossen hatte, für die gemeinsame Sache. Er hatte gekampft, gelitten und sich geopfert; deshalb reckten sie nun die Fauste, ihm zu Ehren und im Gedanken an ihn. — Marion redete einfach zu ihnen, wie sie empfanden. Sie rief: „Er ist in einem grofien Kampf gestorben, der Kampf geht weiter, vielleicht stehen wir erst am Anfang." Sie erzahlte — als waren es gute alte Bekannte, an die sie sich wendete —: „Ich fahre jetzt nach Amerika, dort haben wir Freunde, ich werde sie von euch grüBen. Überall finden wir tatige Kameraden. Gerade weil die Freiheit überall gefahrdet ist, gibt es überall Tapfere, die sie verteidigen wollen. SchlieBlich aber gewinnen wir unseren Kampf!" Dies erklarte sie zuversichtlich; hatte dabei auch den altbewahrten Flammenblick, und sah schön aus, wie sie nun ihrerseits die Faust hob — als AbschiedsgruB an das französische Volk. Die Tausende im Saai hatten noch mehrfach Gelegenheit, von den Sitzen zu springen, Lieder zu singen und die Fauste zu recken; verschiedenen Rednern gelang es noch, sie aufzurütteln und zu begeistern. Der junge Deutsche, der gerade erst aus Madrid hier eingetroffen war und auf zwei Krücken humpelte — denn ein Granatsplitter hatte ihm den Hüftknochen zerschmettert — erntete Beifallsstürme, als er gelobte: ,,In Spanien habe ich für die spanische Freiheit gekampft. Ich würde auch für eure Freiheit in Frankreich kampfen, wenn es jemals sein müBte — das verspreche ich euch!" Daraufhin wurde die „Internationale" gesungen. — Mit ihr empfing man auch den jungen Hollander, der damals, bei der Schwalbe — nach Martins Beerdigung — heroische Anekdoten erzahlt hatte. Er gefiel den Leuten; denn er schien einer von ihnen. Sein langes, starkknochiges, kraftig gebrauntes Gesicht glich dem eines Bauernburschen — wenngleich bei genauerem Hinsehen festzustellen war, daB es in den vertieften Zügen die Zeichen und Male des Geistes trug. Um ergreifende Anekdoten „aus dem Alltag des Bürgerskriegs" war er auch jetzt nicht verlegen. Er rührte seine Zuhörer, und übrigens verstand er es, sie zu erheitern; denn er streute Komisches ein. Hingegen schien es die Absicht des hochberühmten französischen Romanciers, einzuschüchtern und Entsetzen zu verbreiten. Von allen Autoren der jüngeren Generation war er es, der am meisten bewundert wurde — nicht nur für seine Werke, sondern auch für politische Taten. Um die Sache des Fortschritts hatte er sich aktiv verdient gemacht. Die Masse kannte seinen Namen; viele hatten sogar seine Bücher gelesen. Man jubelte ihm zu; er antwortete mit einem nervösen Nicken — das er übrigens wahrend seines ganzen Vortrages beibehielt: es war fast ein Tick. Sein schoner, schmaler Kopf zuckte und machte seltsam hackende kleine Bewegungen. Unter einer drohend geduckten, breiten und blanken Stirn, brannten, befehlshaberisch und begeistert, die tiefen Augen. Unter einer nervös schnüffelnden Nase verzerrte und öffnete sich der Mund. „Camerades!" schrie der groBe Romancier in die erschütterte Menge. „Was ist Spanien? Nur die Generalprobe! Es wird schlimmer kommen. Heute kreisen die Bombenflugzeuge der Fascisten nur iiber Barcelona, Valencia, Madrid — iiber den schonen Stadten des tapferen spanischen Volkes. Auch über unseren Stadten werden sie kreisen. Ich sehe den Himmel verdunkelt. . Er beschwor apokalyptische Bilder. „Camarades — wir werden alle keines natürlichen Todes sterben!" prophezeite er graBlich. ,,Unsere Generation wird aufgeopfert!" — Er war ein vorzüglicher Redner. Kein Laut war im Saaie zu hören, wahrend seine Stimme donnerte, seine Augen blitzten. Man war entzückt und entsetzt. Er weckte Enthusiasmus und Grauen. Er sprach nicht von Siegeshoffnungen; nur von dem Inferno, das sich vorbereite. An seinem fürchterlichen Ernst aber war zu ermessen, wie entscheidend wichtig der Kampf war. Der Sieg mu!3te unendlich kostbar sein, wenn es sich lohnte, ihn so teuer zu bezahlen. — Nach so fulminanter rhetorischer Leistung, schien es für den nachsten Sprecher fast hoffnungslos, noch irgend Eindruck zu machen. Trotzdem gelang es dem jungen Mann, der nun vom Versammlungs-Leiter vorgestellt wurde. Es war Kikjou — schon sein Name befremdete; beinah niemand hatte vorher von ihm gehort. Er stand da, schmal und jung, und von seinem Ant- litz kam ein Leuchten wie von weiBer Flamme. War der Engel noch in seiner Nahe — der Unsichtbare, Geschwinde —, und gab ihm von seinem Glorienschein etwas ab ? — Kikjou steilte mit belegter Stimme fest: „Ich bin ein Christ; ich bin fromm" —: was wiederum das Auditorium befremden muBte. Doch nickte man beifallig, als er dann erklarte: „Gerade deshalb verabscheue ich den General Franco und seine Fascisten. Sie morden nicht nur; sie wagen es, ihre Schandtaten im Namen des Herrn zu begehen, und schanden so den Allerhöchsten Namen. Sie meinen ihre schmutzigen Interessen, und reden von Jesus Christus. Oh Schmach! Oh Ruchlosigkeit! — Die Folge hiervon muB sein, daB der einfache Spanier seinen Erlöser, der am Kxeuze für ihn starb, hassen lernt, weil er seinen gebenedeiten Namen zusammendenkt mit den Namen von Unterdrückern, Mördern, Briganten. — Ich bin in Spanien gewesen," teilte Kikjou mit. „DasersteMal nur ganz kurz, unter seltsamen TJmstanden;" — hierbei lachelte er, schamhaft und benommen—; „dannausführlicher; Monate lang. Ich habe die Verhaltnisse dort studiert; habe wohl auch versucht, mich nützlich zu machen. Die Berichte über meine Eindrücke und Tatigkeiten sind in vielen katholischen Zeitungen zu lesen; vielleicht haben einige von euch sie zu Gesicht bekommen. Ich bedaure die Priester, die sich dazu hergegeben haben, Werkzeuge des heidnischen Fascismus zu sein. Der Schade, den sie der Sache des Christentums zugefügt haben, ist unermeBlich. Gott möge ihnen verzeihen; es geht über meine Krafte, ohne Bitterkeit und HaB, ohne Verachtung an sie zu denken." — Er erzahlte, schilderte, was er gesehen hatte; seine Darstellung war knapp, anschaulich, sachlich. Er sagte: „Ich gehe nach Spanien zurück. Ich bete jede Nacht zu Gott, daB die gute Sache, die menschliche Sache siegen möge." Ehe er abtrat, hob auch er die geballte Faust. — Er war etwas breiter in den Schultern geworden. Nun war er kein Knabe mehr. Marion hatte ihn seit Marcels Tod nicht gesehen. Sie begegneten sich im Treppenhaus. „Du hast gut gesprochen," sagte Marion. Er lachelte. „Man bekommt Übung . . . Früher haben die Menschen mir Angst gemacht. Jetzt ist es mir ganz natürlich geworden, ihnen zu sagen, was ich denke und fühle." — „Du hast dich verandert." Marion schaute ihn nachdenklich an. Er, statt zu antworten, bekam plötzlich einen Bliek, der in Fernen ging. Auch der bleiche Glanz auf Stirn und Lippen war wieder da, wahrend er leise sagte: „Marcel ist leicht gestorben. Er hat keine Schmerzen gehabt — oder doch nicht lange. Ins Herz getroffen. Tot." Marion, furchtbar erschrocken, wollte fragen: Woher wei!3t du das ? — Und: Wie kommst du auf diese Worte ? — Aber andere Menschen drangten sich dazwischen; das Treppenhaus füllte sich, es gab eine Pause im Saai. Kikjou wurde von Marion getrennt. Er winkte noch einmal; der Bliek seiner kindlichen, vielfarbigen, weit geöffneten Augen — ein freundlicher und ernster, dabei fast lustiger Bliek — traf sie noch. Dann war er verschwunden, wie verschluckt von den Menschenmassen. Er wurde einer von ihnen; Marion fand ihn nicht mehr. Adieu, kleiner Kikjou — auch du bist durch Abenteuer gegangen, die dich bedeutend verandert haben. ,Was ist aus le petit frère de Marcel geworden?' dachte Marion, innig betroffen. ,Der reizende, etwas suspekte Abenteurer — Martins schwieriger Liebling — zu was hat er sich entwickelt, und was wird aus ihm ? — Sein Gesicht ist jetzt viel weniger weich, als ich es früher gekannt habe; harter, kühner, mannlicher geworden. Es freut mich so, daB ich ihm noch begegnet bin! Ein gutes Wiedersehen zum SchluB. Ein guter Abschied von Europa; ein hoffnungsvoller Abschied.' — Wahrend der letzten Tage, die sie in Paris verbrachte, war sie besser gestimmt als die ganzen Wochen vorher; vielleicht hing es mit Kikjou zusammen, und er war es wohl, dem sie dankbar sein muBte. Sie ging durch die geliebten, vertrauten StraBen und dachte: Au revoir. Ich sehe euch wieder. Wir sind noch nicht fertig miteinander; noch lange nicht. Uns steht noch allerlei bevor — euch und mir: nicht nur Bitteres, sondern auch Triumphe. Jetzt haben wir keine gute Zeit, viele Gefahren drohen; doch kommt es auch anders, auch besser. Au revoir, Boulevard St. Germain, rue Jacob, rue des Saints Pères, Boulevard St. Michel, rue Monsieur le Prince; au revoir, Quai Voltaire, Place de la Concorde, Boulevard des Italiens, Place Blanche, Boulevard Clichy, lacherliche alte Moulin Rouge. Auf Wiedersehen, du taubengraues, perlengraues Licht der geliebten Stadt! Heimat der Pariser, Heimat der Franzosen, Heimat der Heimatlosen, Herz Europas — leb wohl! Sieh mich nur recht spöttisch und zurückhaltend an — ich lasse mich von dir nicht kranken. Bin ich die Unerwünschte für dich, 1'indésirée, und am Ende doch nur eine sale boche ? Was fichts mich an ? Ich liebe dich, auch wenn du keinen Wert darauf legst. Je t'aime malgré toi. Deine kühlen, spöttischen Blicke argern mich nicht; um es nur zu gestehen: eher sind sie geeignet, mich zu amüsieren. Was sagen mir deine Blicke ? — Alors, en somme, Madame, vous êtes sans patrie ... Da muB ich freilich etwas widersprechen. Heimat — das Wort ist so voll mit Sinn, so inhaltsreich, ist so schwer und tief. Ich bin so vielfach gebunden — nicht nur an Deutschland, das ich nie ver- lieren kann; auch an diese Stadt, die ich liebe, und an den Erdteil, den problematischen Kontinent, an das alte, besorgniserregende, treu geliebte Europa . . . Keine Heimat ? Zu viel Heimat. . . Zu viel Erinnerungen. . .Würde ich so schweren Herzens abfahren, wenn es nicht die Heimat ware, die ich verlasse ? — Ich habe Angst um Europa. Ich sorge mich um Paris wie um eine Kranke. Ich zittere für Deutschland wie für einen nah Verwandten, der irrsinnig wird. Trotzdem reise ich ab. Ist dies Flucht ? — Nein; denn ich komme wieder. Und vielleicht kann ich meinem alten Erdteil jetzt besser dienen — dort drauCen und drüben. Ich trage meine Sorge um Europa in die Welt hinaus. Adieu, Champs Elysées, Rond Point, adieu, Etoile! Ihr Hauser, ihr Baume, sanftes Wasser der Seine, ihr Brücken, ihr Brunnen; ihr Menschen — lachende oder schimpfende oder betrübte Menschen; ihr blassen Kinder, spielend im Jardin de Luxembourg — lebt wohl! Adieu, Paris — und leb wohl! Ende des Zweiten Teils. DRITTER TEIL. 1937—1938 32 „Das goldene Zeitalter, heiBt es, liege nicht hinter uns, sondern vor uns; wir seien nicht aus dem Paradiese vertrieben, mit einem flammenden Schwerte, sondern wir müCten es erobern durch ein flammendes Herz, durch die Liebe; die Frucht der Erkenntnis gebe uns nicht den Tod, sondern das ewige Leben." Heinrich Heine. ERSTES KAPITEL Hollywood war eine Enttauschung —: Tilla Tibori muBte es sich eingestehen. Zu Anfang hatte sie es köstlich gefunden —: wegen der schonen Landschaft, des amüsanten Verkehrs, besonders aber wegen der höchst angenehmen Schecks, die pünktlich zu jedem Weekend eintrafen. Einen Teil der Summen muBte sie an ihren Agenten abtreten; doch blieb immer noch mehr, als sie Lust hatte auszugeben. Zum ersten Mal in ihrem Leben legte Frau Tibori etwas zurück. Sechshundert Dollars in der Woche ist ein hübsches Geld; schon aus diesem Umstand glaubte Tilla schlieBen zu dürfen: der groBe Ruhm war ihr sicher. Hierfür sprachen noch andere Symptome. In New York hatten die Reporter sie am Schiff begrüBt, auch in Hollywood waren sie gleich zahlreich zur Stelle gewesen. Die Zeitungen von Los Angeles brachten ihr Portrait auf der ersten Seite. Tilla empfand, beinah fröstelnd vor Glück: So fangt es an .. . Aber damit hatte es auch fast schon aufgehört. Denn nun kam die Zeit des Wartens. In Hollywood wartete man: es schien die allgemeine Beschaftigung. Das Manuskript des Films, in dem sie mitwirken sollte, muBte geandert werden; dies dauerte schrecklich lange. Die Schecks trafen ein; sonst aber ereignete sich durchaus nichts. Die Herren vom „Writer Department" — einfallsreiche Schriftsteller aus Budapest oder Brooklyn: ihrerseits hochbezahlt — erfanden neue Witze und dramatische Pointen für die Wiener Gesellschafts-Komödie. Darüber vergingen Monate. Tilla war bald nervös. Der amüsante Verkehr wurde langweilig; die strahlende Landschaft mit ihren Palmen und AutostraBen verlor allen Reiz; sogar die Schecks, so hochwillkommen sie waren, bereiteten nicht mehr die gleiche, fast wilde Freude wie in der ersten, hoffnungsvollen Zeit. — Immerhin: zu eigentlicher Enttauschung gab es noch keinen AnlaB. In der Rolle, die ihr zugedacht war, konnte Tilla alle ihre Reize spielen lassen. Kein Zweifel: der groBe Triumph stand bevor. Ware das Manuskript nur erst fertig! Endlich war es so weit; die Aufnahmen konnten beginnen. Das Leben wurde interessanter und spannungsreicher. Die Reporter lieBen sich wieder melden, auch Kavaliere waren plötzlich da; abends, nach der Arbeit im Studio, fuhr Tilla, bunt geschmückt, in die eleganten Dancings mit den spanischen Namen; am nachsten Morgen stand in der Zeitung zu lesen, mit wem sie gespeist und geflirtet hatte. Etwas überraschend, auch schmerzlich war, daB ihre Gage plötzlich gesenkt wurde, wahrend sie noch in der Wiener Gesellschaftskomödie agierte. Ihr erster Vertrag, der für sechs Monate bindend gewesen war, lief gerade ab; er sollte verlangert werden, aber nur noch vierhundert Dollars die Woche wurden genehmigt. Tilla erklarte sich einverstanden; sie dachte: ,Nach dem fulminanten Erfolg, der mich erwartet, kann ich neue Ansprüche stellen!' Die Kenner versicherten ihr: ,,Du bist eine Spezialitat; [für alle mondanen Filme wird man dich brauchen. Wenn du ein groBes Abendkleid tragst, siehst du nicht aus wie ein Mannequin, sondern wie eine Fürstin. AuBerdem kannst du wirklich eine feine Konversation sprechen. — Tilla, wir beneiden dich alle um deine wundervolle Karriere!" So viel Freundlichkeit war verdachtig. Tilla blieb miBtrauisch; musterte sich lange im Spiegel. Ohne Frage: für eine Frau Mitte Vierzig sah sie fabelhaft aus. Immer noch war sie die auffallend attraktive Erscheinung, hochelegant in ihrem leichten, dunkelroten, mit schwarzem Schleier etwas phantastisch drapiertem Kostüm; la belle Juive, noch immer, bei deren Anblick Herren animiert mit der Zunge schnalzen. Freilich gab es gewisse Scharfen in ihrem schonen Gesicht. Der dunkelrot gefarbte, groBe, stark geschwungene Mund wurde an den Winkeln von zwei müden kleinen Falten gesenkt; die Haut schien ein wenig angegriffen, matt und flaumig geworden, und die Beweglichkeit der etwas zu grofien Nüstern hatte einen nervösen Charakter — den Charakter eines unruhigen, nach erregenden Gerüchen gierigen Schnupperns bekommen. Sie photographierte sich gut. In einigen Szenen sah sie blendend aus, sowohl in groBer Toilette als auch im Negligé. Trotzdem beschloB der Regisseur, jene Bilder aus dem Film zu schneiden, die sie im zartlichen tête-a-tête mit einem Leutnant zeigten. Wahrend Tilla auf die zweihundert Dollars wöchentlich ohne Widerstand verzichtet hatte — um ihre Liebes-Szenen kampfte sie wie eine Löwin. Es nützte nichts; man gab ihr zu verstehen: sie war einfach zu alt. Als der Film zum ersten Mal in Hollywood vorgeführt wurde, bekam das blonde junge Madchen, welche die süBe kleine Naherin spielte, den meisten Applaus. Tilla durfte sich zwar mehrfach zeigen — Orchideen im Arm, Federputz in den Haaren; so erlesen zurecht gemacht wie noch nie —; doch wurde ihr entschieden weniger zugeklatscht. Die Kritiker lobten respektvoll ihr würdig-elegantes Auftreten; die Sensation des Abends aber war die kleine Blonde. „Ein neuer Stern am Himmel Hollywoods!" verkündeten die Blatter in fetten Lettern. Gemeint war stets die süBe Naherin. Von Frau Tibori war kaum die Rede. Trotzdem versprach man ihr eine neue Rolle. Nur muBte das Manuskript noch umgearbeitet werden; diesmal handelte es sich um einen Stoff aus der Französischen Revolution. Tilla wartete. Die Herren aus Budapest und Brooklyn in ihren komfortablen Bungalows waren emsig; doch fand, wassiezu Stande brachten, nicht den Beifall der entscheidenden Instanzen. Es war einerseits zu unanstandig, andererseits langst nicht spannend genug. Die Schriftsteller muBten noch einmal von vorne anfangen. Monate vergingen. Tilla zog aus dem groBen Hotel am Hollywood-Boulevard in ein Boarding House nach Beverly Hills. Sie nahm englische Stunden, lernte fechten, lieB sich massieren, fuhr nach Santa Monica zum Schwimmen; sie lunchte mit Bekannten in ungarischen, schwedischen, deutschen, jüdischen, französischen, russischen Restaurants. Sie langweilte sich unsaglich. Sie legte Geld zurück — die Wochenschecks trafen ein. Die groBe Film-Gesellschaft schien sich kaum noch für sie zu interessieren; trotzdem kamen die Schecks. Sie war beinah verwundert, als ihr Vertrag ein zweites und ein drittes Mal verlangert wurde. Der Stoff aus der Französischen Revolution — zu unanstandig und nicht spannend genug — war langst bei Seite gelegt. Man lieB Frau Tibori wissen, wahrscheinlich dürfe sie in einem englischen Familien-Film die elegante Cousine aus Paris darstellen. Tilla freute sich schon auf diese künstlerische Aufgabe; indessen kam es niemals dazu. Man entschied sich für eine echte Französin. Aus purer Langerweile schlief Tilla mit einem jungen Mann mexikanischer Abkunft, der seinerseits in Hollywood auf das groBe Glück wartete. Leider aber war er keineswegs der Empfanger von Wochenschecks; hingegen wollte er von Tilla ein Auto. Sie schenkte es ihm. Als er sie aber dann mit ebenjener Französin betrog, die ihr die Rolle weggespielt hatte, wurde es ihr zu dumm. „ Wer bin ich, daB du mich so behandelst ?" schrie sie den Gigolo an. Daraufhin sagte er kalt: „Eine erfolglose alte Person." Sie weinte lange. Bis zu diesem Grade also war sie schon heruntergekommen! In Berlin und Frankfurt am Main hatten Dutzende ihr zu FüBen gelegen —• und hier ward sie so behandelt! Sie haBte Hollywood. Alles war falsch hier — die Palmen, die Sonnenuntergange, die Früchte: nichts hatte Wirklichkeit; alles Schwindel, Kulisse. Und erst die Menschen! Eifersüchtige, herzlose Intriganten waren sie samt und sonders; besessen von ihrem Ehrgeiz, ihrer Geldgier und dem unersattlichen Hunger nach Reklame. Tilla vergaB, daB auch sie nur zu gerne etwas mehr Reklame gehabt hatte. Leider blieb sie aus. Kein Reporter mehr lieB sich blieken — wahrend das Haus jener süBen Blonden, die das Nahmadchen gespielt hatte, umlagert war. Niemand kümmerte sich um die Tibori. SchlieBlich empfing sie die Schecks, die wie aus Versehen jedes Weekend eintrafen, nur noch als beleidigende Almosen. Sie nahm nicht Anteil an den besseren, höheren Dingen, die es auch in Hollywood gab; an den politischen, geistigen Bemühungen vieler ihrer amerikanischen oder europaischen Kollegen. Sie sehnte sich nach Europa. Es fehlte nicht viel und sie hatte sich sogar nach dem Kommerzienrat gesehnt, der vor allem ihre Stimme liebte und dem „am Rest" nicht viel gelegen war. Keinesfalls hatte sie von ihm je Beleidigungen zu hören bekommen, wie von diesem mexikanischen Hochstapler. Haufiger noch dachte sie an Frau von Kammer —: ,die einzige Freundin, die ich gehabt habe.' Die Nachricht von Tillys Tod bewegte sie tief und ehrlich, obwohl das junge Madchen sich ihr gegenüber stets so zurückhaltend betragen hatte. ,Mein Patenkind! Ach, so muBte es enden! Ich bringe kein Glück — wahrscheinlich ist es schon verderblich, nach mir zu heiBen.' Sie schrieb lange, wehmutsvolle Briefe an Marie-Louise. „Ich bin so alleine — so einsam . . war der Refrain. „Gott sei Dank, daB ich wenigstens etwas Geld zurücklege. Vielleicht machen wir mal zusammen einen Hutladen auf, oder etwas Ahnliches." Mehr und mehr verliebte sie sich in diese Vorstellung. Hatte sie keinen Ehrgeiz als Schauspielerin mehr ? — Ach nein: wenn sie so alt war, daB man ihr die kleinste Liebes-Szene nicht mehr gönnte —: wozu sich dann weiter plagen ? — Das lange Warten hatte sie müde gemacht. Ihr Selbstvertrauen war zerstört. Sie fühlte sich diesem Hollywood nicht mehr gewachsen. Hollywood war grausam; es warf sie weg wie ein dekoratives, aber abgetragenes Kleidungsstück, für das niemand mehr Verwendung hat. SchlieBlich war sie beinahe froh, als sich eines Tages erwies: ihr Vertrag wurde nicht verlangert. So hatte die Qual ein Ende — die Pein des Wartens, die Folter des enttauschten Ehrgeizes. Sie durfte zurück, heim, nach Zürich —: seltsam, sie dachte an Zürich wie an die Heimat. Auf dem Bahnsteig würde sie Marie-Louise erwarten — die gute Marie Louise! Ob sie eine alte Frau geworden war? Sie fielen sich in die Arme, und abends gingen sie auf den Rummelplatz, wie zwei Schulmadchen, um den Finnischen Riesen zu sehen, den gröBten Menschen der Erde .. . Wie zwei Schulmadchen . . . Inzwischen aber war das Leben vergangen. ,Wie habe ich es verbracht ?' — Tilla hatte reichlich Zeit, darüber nachzudenken, auf der langen Fahrt durch den amerikanischen Kontinent, von Küste zu Küste. Keine Reporter fielen ihr lastig; keine Verehrer schickten Telegramme. Sie saB in ihrem privaten Abteil — das hatte sie sich doch noch geleistet — und sann. ,Ich bin beinah Fünfzig. Meine Haare waren weiB, wenn ich sie nicht farbte. Wie habe ich mein Leben verbracht ? Ein Leben ist doch eine groBe Sache — eine kostbare, eine seltsame Sache Abel machte die Überfahrt von Southampton nach New York auf einem groBen englischen Dampfer, in der Tourist-Class. Er genoB die Reise; er liebte das Meer; liebte es zu allen Tageszeiten und zu jeder Stunde der Nacht; er war gebannt von seiner Ruhe und von seiner Veranderlichkeit; tausendmal_ neu entzückt von den tausendmal wechselnden Farben: ineinander spielend, oder einander jah ablösend, perlgrau und schwarz, giftiges Flaschengrün, rosig überhauchtes WeiB, drohendes Schiefer^rau, und die unendlichen, unbeschreiblichen, immer wieder überraschendes Nuancen des Blau. Der Anblick des Meeres war sehr tröstlich für diesen Menschen auf der Überfahrt. Ob es still atmete oder sich heftig erzürnte: das Meer hatte die Kraft, das Herz und die Gedanken abzulenken, zu befreien von den kleinen Sorgen und dem groBen Kummer. Solcher Befreiung, solchen Trostes war Benjamin bedürftig, und er war dankbar für ihn. Mit den übrigen Passagieren unterhielt er sich kaum. Er blieb einsam, auf seinem Liegestuhl, am kleinen Tisch wahrend der opulenten Mahlzeiten, bei den Spaziergangen, — immer um jenes ziemlich kurze Stück des Promenade-Decks herum, das den Tourist-Class-Bewohnern zur Verfügung stand. Die Mitreisenden respektierten sein Bedürfnis nach gedankenvoller Ruhe. Ein einsiedlerischer Professor: das kennt man. Zwar hatte niemand in der Tourist-Class jemals seinen Namen gehort; bedeutend gefurchte Stirn und grüblerischer Bliek des schweigsamen Deutschen indessen lieBen vermuten, daB es sich hier um einen Herrn von imposantem Wissen handelte. Man lieB ihn bei seinen Büchern. Nur manchmal trat ein keckes junges Madchen oder eine schwatz- hafte alte Dame heran, die, mit Kreuzwort-Ratseln beschaftigt, in Erfahrung zu bringen hofften, welcher Strom in Asien mit G beginnt, und welcher deutsche Dramatiker der klassischen Epoche seinen Namen mit einem „Sch" am Anfang buchstabiert. Benjamin langweilte sich nie. Seine Tage waren mit Sorgfalt eingeteilt, immer gab es eine Beschaftigung. Zwischen den Stunden, die für den Deck-Spaziergang oder einfach für die traumerische Betrachtung des Meeres reserviert waren, lagen die anderen, die dem Studium der englischen Sprache und der Lektüre gehörtên. Abel hatte beschlossen, taglich mindestens fünfundzwanzig englische Vokabeln zu lernen. Leider war seine Aussprache schrecklich, und da er fast gar nicht sprach, hatte er kaum Gelegenheit, sie zu verbessern. Er las die Geschichte der Vereinigten Staaten und einen Roman von Dickens in der Original-Sprache mit gewissenhafter Benutzung eines Lexikons. Zur Erholung blatterte er dann in der „Welt als Wille und Vorstellung", in Tolstois „Krieg und Frieden", den Tagebüchern Hebbels, Mörikes Gedichten und anderen schonen Dingen, die er in seinem Handkoffer mit sich führte. Es waren gute Tage —: die besten seit Jahren, wie ihm schien. Er genoB sie, Stunde für Stunde. Ware nur die Aussicht auf die Ankunft nicht gewesen! Die verdarb beinah alles, ruinierte das stille Glück — wenn man den Fehler beging, an sie zu denken. Die acht-mal-vierundzwanzig Stunden konnten nicht ewig dauern. Anfangs schien ihr Ende kaum abzusehen — so wie dem Kinde Ferien unendlich scheinen, die gerade beginnen. SchlieBlich aber muBte der Morgen kommen, da die Freiheits-Statue — majestatisch und hilfsbereit; hochmütig und milde zugleich — den muskulösen Arm und das geschmückte Haupt den Passagieren der Third-, Tourist- und Cabin-Class entgegen reckte. „Auch auf dich haben wir nicht gewartet!" spricht die Freiheits-Statue: irgendein Emigrant und armer Kerl hatte einmal behauptet, diese entmutigenden Worte könne man der grofien Dame, Lady Liberty, von der Stirne ablesen. Daran muBte Abel sich nun erinnern. „Auch auf dich haben wir nicht gewartet. . Ach, sicherlich, es würde Unannehmlichkeiten bei der Ankunft geben; vielleicht lieB man ihn überhaupt nicht an Land — obwohl doch sein Visum in Ordnung war und sein PaB noch für eine Weile Gültigkeit hatte —; vielleicht wurde er gleich zurückgeschickt, deportiert, oder muBte mindestens für mehrere Tage auf jene graflliche Insel, Ellis Island genannt, wo man verdachtige Fremde wie Zuchthausler traktierte —: davon hatte Abel viel des Schlimmen gehort. In Wirklichkeit verlief dann alles sehr harmlos. Abel hatte die Nacht vor Aufregung nicht schlafen können. Das Schiff lag seit Mitternacht in Quarantane, vor New York. Um fünf Uhr morgens war Benjamin auf dem Deck. Aus dem blau schwimmenden Dunst des frühen Sommertages trat, zart und deutlich, die zackige Linie der Wolkenkratzer — wie eine phantastische Kulisse zwischen den verschleierten Himmel und das sanft schimmernde Meer gestellt. ,Das ist es also,' dachte der deutsche Professor, ergriffen und etwas angstlich. ,Das ist also New York . . .' Er hatte noch reichlich Zeit, sich mit Grübeleien abzugeben, die übrigens mehr um die Vergangenheit als um die Zukunft kreisten; denn er war ein vorwiegend historisch orientierter Mensch. Er dachte an Bonn, an Annette Lehmann und an die selige Mutter in Worms; an Amsterdam, das „Huize Mozart", an Stinchen, den „Brummer" und Herrn Wollfritz; er dachte an irgendeine StraBenecke oder ein Caféhaus in Wien, an eine hübsche Perspektive durch den Londoner Hyde-Park, an das Jüdische Comité in der skandinavischen Stadt und an den heruntergekommenen Berliner Schupo-Mann, der die goldene Uhr hatte stehlen wollen. ,Das alles ist lange her,' sann der Historiker. ,Es ist schon Geschichte; Teil und Abschnitt meiner Lebensgeschichte, ein Kapitel aus meiner Biographie. — Und was fangt nun an ? — Man muB SpaB verstehen, wenn man leben will,' dachte er noch — und wuBte nicht genau, warum es ihm, gerade jetzt, einfiel. ,Man muB sehr viel SpaB verstehen. Humor muB man haben, sense of humour, keep smiling . . Er stand im Rauch-Salon der Tourist-Class, zwischen deutschen Auswanderern, französischen Geschaftsleuten und englischen Vergnügungsreisenden, die alle darauf warteten, den amerikanischen Beamten ihre Passé zeigen zu dürfen. Die Beamten trugen Brillen, hatten frische, rosige Gesichter zu grauem Haar und versuchten ihren gutmütigen Mienen einen gravitatisch-strengen Ausdruck zu geben. Die deutschen Auswanderer fürchteten sich vor ihnen; sie setzten sich ihnen gegenüber an den kleinen Tisch, zitternd, in mühsam gefaBter Haltung, wie der schlecht vorbereitete Schüler, für den das Examen beginnt. Auch Benjamin war nervös, als an ihn endlich die Reihe kam. Aber der Beamte — der gerade vorher eine allein reisende junge Dame ins peinlich lange Kreuzverhör genommen hatte — behandelte ihn zuvorkommend, beinah herzlich. Er sagte: „Alles in Ordnung, Professor!" — und entlieB ihn mit der Bemerkung: „Gut für Sie, daB sie hergekommen sind! Hier hat man mehr Achtung für einen gebildeten Mann als in Ihrem Lande!" — Benjamin wurde ein wenig rot: der Schüler war, zu seiner eigenen Überraschung, gelobt worden. — ... Er fühlte sich der Stadt New York nicht ge- wachsen. Alles war ihm fremd und etwas grauenhaft. Er cm p fa nel, unter Schaudern: Die Wolkenkratzer fallen mir auf den Kopf — gleich werden sie mich begraben. — Vor allem vermiBte er Baume in dieser Steinwüste. Er schmachtete nach etwas Grünem wie der Durstige nach einem Schluck Wasser. Man konnte Stunden lang durch diese StraBen gehen, ohne ein Stückchen Wiese, ein frisches Gestrauch oder einen Brunnen zu finden. Die Hitze war drückend, die schwere Luft schien mit Feuchtigkeit vollgesogen, man war den ganzen Tag in SchweiB gebadet, nachts hörte der Asphalt nicht auf zu glühen. Der Central Park, wo Benjamin ab und zu promenierte, gewahrte keine Erholung. Die Wege dort waren staubig und überfüllt; auch das Grün der Baume schien unfrisch. — Am wohlsten fühlte er sich noch im Hotel — 39. StraBe, East, zwischen Lexington- und Park-Avenue —, das Bekannte ihm empfohlen hatten. Sein kleines Zimmer ging auf den Hof und war ziemlich dunkel. Immerhin gab es Ruhe dort, und es war vergleichsweise kühl. Übrigens gefiel ihm auch die kleine Bar des Hotels; er plauderte gern mit dem Mixer, Monsieur Gaston. Abgesehen von diesem charmanten und welterfahrenen Gesellen, hatte er in New York keine Freunde. Die Empfehlungsschreiben blieben wieder unbenutzt; Abel tröstete sich mit der Überlegung: Es ist nicht die Saison, um Besuche zu machen; die meisten Leute sind wohl auf dem Land . Er war fast so einsam wie wahrend der ersten trostlosen Monate in Amsterdam. An Stinchen schrieb er: ,'Ich sehne mich nach Dir, gutes Kind! Die Amenkanerinnen sehen hochmütig abweisend aus; übrigens kann ich nicht mit ihnen sprechen. Du solltest bei mir sein, liebes Stinchen. Wenn ich etwas Geld habe, lasse ich Dich kommen ..." — Alles war ihm beschwerlich. Das Essen — in Cafe- terias oder „Drug Stores", auf hohen Barstühlen oder im Stehen hastig eingenommen — schmeckte ihm nicht. (,Bohnen zum Fisch, Bananen mit Mayonnaise, Apfelkuchen mit Kase, Eiswasser zum Kaffee und Kaffee zur Suppe —: wer halt denn das aus!' dachte er grimmig). Die süBlich scharfen Zigaretten verursachten ihm Hustenreiz; der Whisky machte ihn krank; die Jazz-Musik, die überall aus den Radioapparaten larmte, ging ihm auf die Nerven; er fürchtete sich vor allem, sogar vor den Zeitungen mit ihren ewig sensationellen, immer schreienden Überschriften, und ganz besonders vor den dicken Sonntagsnummern, an denen man schleppte wie an einer Last. Er fühlte sich so elend, daB er Tage lang das Bett hütete: ,es muB eine Grippe sein, Halsschmerzen habe ich auch, wahrscheinlich etwas Fieber, sicher kommt es von dem feuchten Klima.' Er liefl sich, um die Höhe seiner Temperatur festzustellen, ein Thermometer aus dem Drug Store kommen; aber selbst das medizinische Instrument erwies sich als bösartig-fremd. Es funkelte tückisch-munter; die Zahlen schienen zunachst unleserlich, als er sie dann schlieBlich doch herausbekam, entsetzte er sich über ihre Höhe: 103, 104 — was sollte denn das bedeuten? MuBten denn hier alle europaischen MaBe überboten werden ? — Er hatte drei Wochen für New York zur Verfügung gehabt, ehe er nach dem Mittelwesten abreisen muBte, um seine Tatigkeit an der kleinen Universitat zu beginnen. Drei Wochen — eine lange Zeit, und sie war langsam vergangen. Nun aber waren es nur noch etliche Tage, die blieben. Sorgenvoll und pedantisch sagte sich der Professor: ,Ich habe noch zu wenig von der Stadt gesehen. Ich muB etwas unternehmen.' Man hatte ihm, in Europa, die Aussicht gerühmt, die von einem der höchsten Gebaude New Yorks, dem Rockefeller Centre, zu genieBen war. ,Das lieBe sich probieren!' beschloB Benjamin. ,Aus der Vogelperspektive wirkt alles besser; die Fahrt zum hohen Dach kostet nur 40 Cents, ich riskiere es, ich wage mich in den Lift.' Als der Aufzug ihn in rasender Geschwindigkeit nach oben trug, bereute er schon bitterlich sein Unternehmen. Ihm wurde übel, in den Ohren sauste es fürchterlich, er fühlte sich nah einer Ohnmacht. ,Der menschliche Organismus ist für solche Abenteuer, für Geschwindigkeits-Exzesse dieser Art nicht geschaffen,' konnte er gerade noch denken. ,So viel darf einem nicht zugemutet werden. Die Zivilisation schlagt ins Barbarische um . . .' Da hielt der Elevator mit einem Ruck. — Von der Aussicht hatte Benjamin so gut wie nichts: teils, weil er den Himmelfahrtsschock noch nicht überwunden hatte; teils, weil der steile Bliek in die Tiefe ihn neuerdings schwindlig machte. Auch abends, in der „Musical Show" am Broadway, die er aus purem Pflichtgefühl besuchte, fühlte er sich nicht gut. Er verstand die Witze nicht, über die alle so herzlich lachten; die Girls langweilten ihn, die gellende Musik tat seinen Ohren weh, die Sentimentaliteit der Liebesszenen war ihm peinlich, und nur einmal, gegen SchluB der Komödie, muBte er etwas kichern: eine respektlose Bemerkung über den deutschen „Führer" war vorgekommen. Er saB im Parkett, zwischen den gutgelaunten Menschen — ein einsamer Fremder, wie immer; ein AuBenseiter, wie eh und je —, und sein kleines Gelachter war von solcher Art, daB es nicht so bald wieder aufhören wollte. Es schüttelte ihn, es verzerrte die Züge, tat weh; es war nicht harmlos, nicht froh; ein nervöser Lachkrampf — die Nachbarn schauten ihn verwundert an. Was ist das für ein sonderbarer Mann — von ge- 33 drungenem Körperbau, mit hoher Stirne, grüblerischen Augen —, der dort alleine sitzt und kichert, wie ein hysterischer Backfisch ? Es war kein gutes Gelachter gewesen; aber es hatte seine Stimmung doch verbessert. Warum sollte er jetzt gleich nach Hause gehen ? Man könnte noch ein biBchen am Times-Square schlendern . . . Zum ersten Mal gefiel ihm das wirbelnde Spiel der kreisenden, tanzenden, sich auflösenden und eilig neu formierenden Lichtreklamen. ,Eine Schönheit — auch dies!' empfand der Professor aus Bonn. ,Eine neue Schönheit, vielleicht. Man muB sich gewöhnen; muB sich empfanglich machen für neue Werte und Reize, da man die alten verliert . . . Man muB SpaB verstehen, viel SpaB . . Er trank in einer überfüllten Bar zwei Whiskys. Ein Besoffener legte ihm den Arm um die Schulter; er lieB es sich, etwas angstlich, gefallen. Der Besoffene sagte: „You have such a nice face, Doe! Such a funny continental face! I like you. Have a drink with me. What do you drink? — Teil me!" insistierte er, schon beinah zornig — weil Benjamin nur gequalt lachelte —, „what do you drink ? After all — you must drink something!" — BenjaminmuBteeinendritten Whiskey schlucken. Es war reichlich für ihn. Immerhin gab es ihm den Mut, eines jener Tanzlokale zu betreten, die sich so verlockend als „Parisian Dancing" plakatierten. Schon seit Langerem war er neugierig, zu erfahren, was diese Etablissements im ersten Stock, die so einladend und etwas verdachtig wirkten, zu bieten hatten. Der Tanzplatz war durch eine niedrige Barriere vom Lokal, in dem die Tische standen, abgetrennt. Es gab nur wenige Gaste; die meisten Madchen schienen unbeschaftigt. Als Abel eintrat, drangten sie sich an die Barriere, wie Tiere im Zoologischen Garten sich ans Gitter drangen, wenn jemand mit Futter sich naht. War es ihnen verboten, das eingezaunte Tanz-Bassin zu verlassen? Waren sie eingekerkert auf dieser engen Flache schmutzigen Parketts ? — Dem Professor wurde unheimlich zu Mute. „Tanz mit mir!" bettelten die Madchen. Sie hatten merkwürdig flache, klirrende Stimmen, wie Automaten; sie hoben die Arme, schüttelten die gespreizten Hande, die bunten Gesichter, das gelockte Haar; auch die weichen Körper in den armen, bunten Flitterkleidern schüttelten sie. Die Minuten, die man tanzend verbrachte, wurden gezahlt; jede Tanz-Minute kostete zwei Cents. Wenn das Orchester zu spielen aufhörte, muBte man zahlen. Ubrigens gaben sich die Madchen redliche Mühe, scheuten keine Anstrengung und keinen Trick, um den Tanz für ihre Kavaliere amüsant und lohnend zu gestalten. Benjamin setzte sich an einen Tisch und bestelite Kaffee. Er beobachtete einen alten, hageren Mann, der ein hübsches brünettes Madchen führte; sie waren das einzige Paar auf der Flache. Der Mann hatte ein heuchlerisches Pfaffengesicht —: ,so spielen Schmierenschauspieler den Tartuffe,' dachte Benjamin. Die Augen verschwanden hinter den spiegelnden Glasern eines groBen Zwickers. Das Madchen sah todmüde und ungewöhnlich gelangweilt aus. Zwischen den rasierten Augenbrauen stand ein kleiner Zug von Ekel, wahrend die gefarbten Lippen das mechanische Lacheln hielten. Ubrigens war sie reizend; der schmale Körper, verführerisch unter der enganliegenden schwarzen Seide des Kleidchens — und auf dem schmalen Hals, das Gesichtchen blütenhaft zart —: .wahrscheinlich hat sie exotisches Blut,' dachte Benjamin. ,Von einer Südseeinsel könnte sie sein, sie gefallt mir.' Er argerte sich, weil der heuchlerische Alte eine so unanstandige Art zu tanzen hatte. Das war ja scheuBlich, wie er sich benahm; als Tanz könnte man diese unzüchtig schiebenden, wackelnden Bewegungen kaum noch bezeichnen; es war die nackte und groteske Obszönitat —: welch ein schamloser Alter! Benjamin war gebannt und angewidert von solchem Schauspiel. Eine starke Blonde hatte sich neben ihm niedergelassen: er bemerkte es erst, als er von ihr am Armel gezupft ward. Es steilte sich heraus, daB sie Deutsche war — Rheinlanderin —, er muBte Bier für sie kommen lassen, sie hob das Glas, sagte: „Pröstchen" und scheute nicht davor zurück, ihn „Onkelchen" zu nennen. „Ich heiBe Anni," erklarte sie siegesgewiB, „die lustige Anni aus Köln!" Sie hatte keine Augenbrauen, schönes blondes Haar, einen zu groBen Busen und ein blodes Lachen. Benjamin fragte sie, ob sie das exotische Madchen kenne, die vorhin mit dem obszönen Alten getanzt hatte. Die frohe Anni lachelte sauerlich. „Och — das ist also dein Typus, Onkelchen," machte sie, halb neckisch halb verdrossen. Sie holte das Madchen heran, die Kleine war aus Los Angeles, Benjamin schaute sie an. Aus der Nahe betrachtet, war die Farbe des Gesichtes und der schön geformten Arme etwas gelblich; in den langen, schimmernden Augen aber, die sowohl schwermütig als auch listig blickten, gab es goldene Lichter. Der Professor empfand: ,In die könnte ich mich verlieben.' Er hatte drei Whiskys gehabt. Sie sagte: „Meine Mutter ist aus Honululu. Kennst du die Lieder von Honululu ? Schone Lieder. Meine Mutter hat mir gezeigt, wie man tanzen muB, damit es den Mannern SpaB macht. Ich kann es gut, der Alte hat mir einen Dollar extra geschenkt, ich gehe morgen ins Kino, Gary Cooper, der gefallt mir am besten, wenn ich mit dem einmal tanzen dürfte ..." Man plauderte eine Viertelstunde Die gemütvolle Anni mufite noch einmal Bier haben; die exotische Kleine trank Tee. Sie sagte zu Benjamin, er habe ein interessantes Gesicht. „Die Stirn — so gescheit —, und Augen wie einer, der sehr lieben kann." — „Das können sie alle!" rief übermütig die Vollbusige vom Rhein, und trallerte: „Die Manner sind alle Verbrecher!" Es war eine lustige Stimmung. Die braunlich Schlanke aber schaute auf die Uhr. „Wir sind jetzt siebzehn Minuten beisammen," steilte sie, sanft und ernsthaft, fest. „Das kostet schon ziemlich viel. Wenn wir uns zu den Gasten setzen, müssen wir namlich ebenso viel dafür verlangen, wie wenn wir mit ihnen tanzen: Das hast du wohl gar nicht gewuBt? Jede Minute wird gezahlt und berechnet ..." Sie lachelte müde; hatte auch wieder den gequ alten Zug zwischen den Brauen. „Ich dachte, es ist fair, wenn ich dirs sage." Die lustige Anni aus Köln machte böse Zeichen mit den Augen, runzelte die Stirne, schüttelte den Kopf. Aber der Professor war schon aufgestanden. „Ja, dann muB ich also bezahlen ..." Er fühlte sich plötzlich sehr niedergeschlagen. ,Warum bin ich enttauscht ?' dachte er, schon zum Gehen gewendet. ,Was habe ich mir erwartet ? Die einzige Überraschung dürfte doch sein, daB der kleine SpaB nicht teurer war. Natürlich kostet es ein paar Cents, wenn man die Zeit der fleiBigen Tanzerinnen in Anspruch nimmt. . . Wer erwartet Gratis-Unterhaltung von armen Huren ?' Er sah, durch eine dicke Wolke von Zigarettenrauch, noch einmal das zarte, müde Gesicht der Kleinen aus Honolulu —: eine empfindliche, schon etwas gelblich welke Blüte über dem anmutig schmalen Hals. Sie lachelte ihm zu — oder galten dieser Bliek, dieses Winken schon nicht mehr ihm, sondern dem neuen Kavalier, der sieh nahte ? Er hatte den Hut sehief auf dem Kopf, eine dicke Zigarre im Mund, und ging breitbeinig, schwankenden Schrittes. Er war schwer betrunken. Wahrend der neue Kavalier sich mit einer Bewegung, die fast schön war durch ihre schamlose Gier, über die Kleine neigte, verlieB Professor Abel das Etablissement. Dieses war sein Flirt am Times-Square, New York City. . . . Am Tag vor seiner Abreise geschah es Benjamin, daB er in einem Friseur-Laden Tranen vergoB. Der Mann in der weiBen Schürze, der ihn rasierte, war taktvoll genug, es zu übersehen; trotzdem blieb der kleine Zwischenfall peinlich genug. Benjamin lieB sich gerne vom Coiffeur behandeln. Es machte ihm Vergnügen, faul und wohlig ausgestreckt im verstellbaren Sessel zu liegen, wahrend man ihm das Gesicht mit heiBen und kalteri Tüchern, mit allerlei Crèmes und Duftessenzen erfrischte. Aus dem Radio sprach eine sonore, forsch bewegte und gleichsam ermunternde Stimme. Der Professor mit der eingeseiften Miene hörte nicht hin; wahrscheinlich handelte es sich um FuBballspiel. . . Aber was für T öne lieBen sich nun vernehmen ? Der Professor hob jah den Kopf —: es war gefahrlich; denn er hatte das blanke Messer des Barbiers am Hals. Beethovens „Mondscheinsonate": Benjamin erkannte sie gleich, obwohl die erlauchte Melodie halb zugedeckt und verdorben war durch JazzRhythmen, die ihr im Aether Konkurrenz machten. Indessen verstand es jemand, den Apparat so zu stellen, daB die ordinare Tanzmusik verstummte und nur noch das Herrliche klang: das Herrliche füllte den Frisier-Salon mit wunderbarer, magisch starker Ge- genwart. Welche Gnade! — ach, welche Erschütterung für den Professor aus Bonn. Er erschauert, tausend Erinnerungen kommen mit den vertrauten Tönen: seine Heimat — oder doch alles, was er an ihr geliebt hat — ist plötzlich da. Annette Lehmann die Ungetreue, und die traulich-musischen kleinen Feste in Marienburg —: alles stellt sich ein, beim gerührten Aufhorchen. Ein Heimweh ohnegleichen bewegt Benjamins Herz, wahrend er im schrag gestellten Sessel ruht und lauscht. Ein Gefühl der Einsamkeit, so stark vorher niemals empfunden; Verlassenheit ohne Grenzen —: ihm ist zu Mute wie dem Kinde, das im Wald verloren ging, es ist dunkel, aus dem Schatten drohen Ungeheuer, und da kommt plötzlich die Melodie, mit welcher die Mutter ruft —: aber aus was für Fernen! Tröstlich und qualend zugleich schweben sie herbei, die holden Klange der Heimat. . . Wie empfangt man sie ? Nicht mit trockenen Augen. Man laBt die Tranen fliefien — mag der Barbier sie sehen oder nicht; man kann sie nicht halten; auch tut es wohl, sie auf den Wangen zu spüren, und den Salzgeschmack auf den Lippen. Benjamin muBte schluchzen, weil die Mondscheinsonate ihn im Barber Shop überraschte —: so weit war es mit ihm gekommen. Der Coiffeur — ein gutmutiger Mann; nicht mehr jung — bemerkte: ,,You like music, Sir ? I am fond of music myself." Damit weckte er seinen seltsamen Kunden aus der gefahrlichen Traumerei. Benjamin kam zu sich, wischte sich die Augen und murmelte etwas über das heiBe Tuch, das zu Tranen reize. Er schamte sich seiner Unbeherrschtheit und dachte — den prickelnden Geruch von KampferWasser in der Nase —: , Alter Narr, der ich bin! Sentimentaler, deutscher alter Narr! Gestern abend habe ich mir aus der konventionellen Begegnung mit einer armseligen kleinen Frauensperson das melancholische Abenteuer zurecht gemacht — und jetzt flenne ich wie ein Baby wegen der alten Sonate, die übrigens nicht einmal mein Lieblingsstück von Beethoven ist. So was gehort sich nicht, es ist peinlich . . . Wahrend der ganzen letzten Wochen habe ich versagt: ein totaler Versager bin ich gewesen. An New York liegt es nicht, New York ist groBartig, es liegt an mir, ich bin keineswegs groBartig, ein sentimentaler Professor, vielleicht auch schon etwas verkalkt, und hoffnungslos europaisch. Sollte ich nicht froh darüber sein, dafi in diesem Lande etwas Neues für mich beginnt ? Statt Amerika kennen zu lernen, lieben zu lernen, sitze ich hier, und vergieBedumme Tranen über alte deutsche Romantik — als ob ich nicht wüBte, wohin diese Romantik führt, welcher Art ihre Konsequenzen sind, wenn sie sich politisch manifestiert! Bin ich nicht ein Opfer dieser Konsequenzen ? Und lasse mich trotzdem erschüttern von dem alten, morbiden, abgenutzten Zauber! Eine Schande! Eine Blamage! Eine Peinlichkeit! Irgendwo, im Mittelwesten dieses Landes, wartet etwas auf mich —: eine Aufgabe; etwas Wichtiges, etwas Schönes! Es gibt junge Leute, die von mir etwas lernen wollen. Vielleicht sind sie recht naiv, etwas unwissend; aber aufgeschlossen, frisch, vertrauensvoll. . . Man gibt mir hier eine Chance — man gibt uns hier eine Chance. Die muB ich nutzen, für die muB ich dankbar sein. Das Land, das mich aufnimmt, mich leben und arbeiten laBt, hat ein Recht, Ansprüche an mich zu stellen. Gewisse Dinge darf es sich verbitten — zum Beispiel, dieses weinerliche Heimweh-Pathos. Ein vernünftiger Grad von Optimismus ist angebracht; ein Wille zur Zukunft, der nicht überschwenglich aber solid zu sein hat, wird zur Pflicht. Kopf hoch, alter Benjamin! Pull yourself together, old fellow! Die Tranen sind langst getrocknet. DrauBen machen die Autobusse, die Zeitungsverkaufer, die Trambahnen ihren forschen Larm. Geh hinaus! Sei dabei! Spiele nicht den Einsamen, Feinen! Es ist eine fragwürdige Ehre, fein und einsam zu sein: abgesehen davon, dafi es nicht für vorteilhaft gilt. — Die Depression sei definitiv überwunden. Das Leben in Amerika fange an.' ZWEITES KAPITEL. Marion machte die Überfahrt von Le Havre nach New York auf einem mittelgroBen französischen Dampfer, in der Tourist-Class. Die Reise langweilte sie. Sie war enttauscht vom Meer, das sie von den Ufern aus so sehr geliebt hatte. Das Grenzenlose war öde. Der runde Horizont ermüdete den Bliek; die kahle GröBe der Wasser-Landschaft, die tote Majestat der Unendlichkeit war geeignet, ein bedrücktes Herz erst recht traurig, beinah hoffnungslos zu stimmen. Sie versuchte, sich zu zerstreuen. Die Bücher, die sie für die lange Reise mitgenommen hatte, lieB sie unten in der Kabine liegen; abends, vor dem Einschlafen, las sie in ihnen; tagsüber ging es nicht: sie war zu nervös, konnte sich nicht konzentrieren. Am ehesten gelang es ihr, die unruhig zerstreuten Gedanken zu sammeln, wenn sie mit Menschen sprach. Sie war gesellig; spielte Ping-Pong mit Studenten aus dem amerikanischen Mittelwesten; flirtete mit einem französischen Grafen, der durch soignierten Spitzbart und Monokei auffiel; schwatzte über Hüte und Parfüms mit einer lustigen kleinen Pariserin — über die politische Situation mit einem jungen Rechtsanwalt aus London; sie freundete sich mit einem deutschen Emigranten an, der in Berlin Schauspieler gewesen war — „aber kein besonders guter!" wie er munter gestand —, und in New York Kellner werden wollte; und sie argerte sich über ein Ehepaar aus Frankfurt am Main, Siegmund und Marta Meyer, wéil sie ihr erklarten: „Wir sind selber Nichtarier; aber man muB doch objektiv sein und zugeben: in vieler Hinsicht ist der Antisemitismus berechtigt. Die deutschen Juden sind zu frech gewesen, besonders in Berlin, wir in Frankfurt haben das nie gebilligt, diese arroganten Typen, Journa- listen oder Börsenschieber, lauter Parvenüs, die Meisten waren ja erst nach dem Krieg aus Polen oder RuBland eingewandert — für diese Ostjuden haben wir deutsch-jüdischen Patrizier nichts übrig gehabt." Herr Meyer sagte es streng, seine Frau nickte, bekam aber ihrerseits eine klagende Stimme, als sie hinzufügte: „Nun müssen wir leiden, weil die Ostjuden ge sündigt haben. Man ist ungerecht gegen uns, aber lange kann das nicht dauern, die Deutschen werden bald einsehen, daB sie sich geirrt haben, was die guten, die richtigen Juden betrifft: sie werden uns bitten, heimzukehren, ich freue mich schon darauf!" Ganz entschieden: die Reise war kein Vergnügen. Das Schiff kam Marion wie ein luxuriöser Kafig vor; es wurde enervierend und qualend, jeden Tag die gleichen, gelangweilten Mienen zu sehen; die langen Mahlzeiten, die stumpfsinnigen Deck-Promenaden, sogar das Ping-Pong- Spiel — alles wurde zur Marter. Sie freute sich auf die Ankunft wie ein Kind auf Weihnachten. Sie freute sich auf New York. Gierig las sie in der Reklame-Broschüre, die man in den Kabinen verteilte: „New York est la ville gigantesque, elle s'est développée entre deux rivières, en remontant tous les dix ans vingt rues dans le nord, de telle sorte que maintenant, de la Battery a Bronx, il y a trente kilomètres de maisons. Avec ses cinq ,boroughs', Bronx, Brooklyn, Queens, Manhattan and Richmond, New York est un véritable monde. — Désormais, vous sentirez toujours de 1'autre cöté de 1'océan frémir, trépider, peser cette prolifération inouïe, cette formidable masse de monuments inimaginables abritant une agglomération d'humanité sans pareille . . . . . Die Ankunft hatte festlichen Charakter. Marions Agent war zur Stelle: ein munterer Herr und aufierst zuversichtlich, was Marions Chancen ,,in this country" betraf. Auch einige journalisten hatten sich eingefunden, auf Veranlassung des Agenten: sie muBte ihnen erzahlen, warum sie nicht in Deutschland leben mochte; ob ihr Vater, der berühmte Arzt, den Kaiser gekannt habe; ob ihr verstorbener Gatte ein hoher Offizier in Spanien und Mitglied der Académie Fran?aise gewesen sei, und wie ihr New York gefalle. „How do you like New York?" Sie versicherte: „I am sure I will love it. . — und sie meinte es ernst. Sie fühlte sich gleich zu Hause in der ungeheuren Stadt — ville gigantesque, Giganten-Stadt, UberStadt, Stadt der Stadte, monströse Siedlung, überdimensional, von enormer HaBlichkeit, enormer Schönheit, verwirrend, lahmend, bedrückend, erheiternd. Marion sagte sich jeden Morgen beim Aufwachen: Jetzt lebe ich in New York. Paris liegt hinter mir; hinter mir: Zürich, Amsterdam und Prag. Die Gegenwart heiBt New York. Alles andere muB Erinnerung sein — und vielleicht auch Zukunft. Wenn ich New York nicht lieben würde: ich müBte mich dazu zwingen, es zu lieben. Aber es gefallt mir; es gefallt mir wirklich . . . Das kleine Hotel, 39. Street, zwischen Lexingtonund Park-Avenue, hatte man ihr in Paris empfohlen. Ihr Zimmer ging auf den Hof und war dunkel, aber nicht ohne eine gewisse Behaglichkeit. Sie saB gerne unten in der Bar und plauderte mit dem Mixer, Monsieur Gaston, einem Franzosen. Der Raum sah sauber und lustig aus, mit groBen Spiegein hinter der Theke und Möbeln, deren Lederbezüge rot leuchteten —: „beinah wie in Paris ..." sagte Marion, und ertappte sich zu ihrem Arger dabei, daB sie doch ein klein wenig Sehnsucht und Heimweh hatte nach dem, was hinter ihr lag und nur Vergangenheit war, oder vielleicht Zukunft . . . Monsieur Gaston, ein charmanter, welterfahrener Geseile, erzahlte ihr mancherlei; zum Beispiel, Geschichten über seine Gaste und ihre Schicksale. „In diesem Sommer", sagte er, „als wir es so sehr heifi in New York hatten, saB jeden Tag ein deutscher Professor an meiner Bar —: ein sehr feiner Herr, aber so traurig! Er konnte sich gar nicht hier einleben und hatte ein betrübtes Gesicht! Pauvre type. Ja, für einen gebildeten Herrn muB es schwer sein, sich in neuen Verhaltnissen zurechtzufinden ..." — Marion meinte: „Wie kann es jemandem in New York nicht gefallen? Es ist doch wunderbar hier!" — „Madame haben eben mehr Lebensmut als der Professor," sagte der erfahrene Gaston. — Sie bekam bald heraus, daB manches, was man in Europa über New York erzahlte, schierer Unsinn war. Das berühmte „amerikanische Tempo" zum Beispiel —: in Berlin hatte man es vielleicht, etwas krampfhafter Weise, gehabt; hier indessen suchte man es vergeblich. Die Stadt war eher gemütlich, bei all ihrem Riesen-MaB. Den gehetzten Eindruck machten die kürzlich eingetroffenen Europaer, die gierig waren, sich dem eingebildeten „amerikanischen Tempo" anzupassen und rapide vorwarts zu kommen — was sie sich gerade durch ihre Hast und die hysterische Gespanntheit ihres Egoismus erschwerten. Die Amerikaner lieBen sich durchaus Zeit: Marion steilte es, erstaunt sowohl als befriedigt, fest. Manchmal wunderte sie sich über ihre eigene Ungeduld, das nervöse Bedürfnis nach Geschwindigkeit. Den Amerikanern, die im Hotel wohnten, schien es kaum etwas auszumachen, wenn sie mehrere Minuten lang auf den Lift warten muBten — wie es haufig geschah. Marion aber verlor die Nerven. Sie klingelte heftig, und da der „Elevator" noch immer nicht kam, suchte sie nach der Treppe; schlieBlich konnte man vom fünften Stockwerk ja auch zu FuB in die Halle gelangen. Die Treppe aber war zunachst unauffindbar; sie schien zur Benutzung für die Gaste überhaupt nicht bestimmt. Endlich fand Marion die versteckte Tür. Das Treppenhaus war eng und lag fast im Dunkel. Es roch modrig hier, wie in Raumen, die man nur selten betritt: die Treppe war ein abgestorbenes Glied des lebendigen Hauses.— Marion, die vergessen wollte — die gar zu viel zu vergessen hatte — stürzte sich fieberhaft auf die neuen Eindrücke, auf die neuen Menschen. Alles interessierte sie, alles machte SpaB: die rasende Fahrt im Lift, die Wolkenkratzer empor, bis zum Aussichtspunkt auf dem Dach — man bekam etwas Ohrensausen und Magenweh; aber es war doch schön; — der enorme Rundblick über die unermeBlich gebreitete Stadt — gewaltige Landschaft: wild zerklüftet, wie das Hochgebirg; weit, ruhend und ewig bewegt, wie das Meer. Ihr schmeckten die geschwinden Mahlzeiten in den Cafeterias, den Automatenbuffets, auf hohen Barstühlen oder im Stehen hastig eingenommen; sie mochte das zugleich scharfe und süBe, kraftige Aroma der amerikanischen Zigaretten — Chesterfields, Camels, Lucky Strikes. Sie amüsierte sich über die Zeitungen, vor allem über die fetten SonntagsAusgaben mit ihren unendlichen Beilagen: Sport, Film, Broadway-Theater, Hollywood-Klatsch, Börse, Karikaturen-Serien, Berichte aus dem „Gesellschaftsleben" — wie komisch waren die eitlen Mienen der mondanen „Debütantinnen" und die ernsthaften Beschreibungen der Abendkleider, die sie getragen hatten! — Sie liebte die Jazzmusik und die munter vorgebrachten kleinen Reden, die fast ohne Unterbrechung aus dem Radio kamen, und sie liebte sogar das Wetter: dieses geschwind und heftig wechselnde, von einem Extrem ins andere j ah umschlagen- de, grausame und lustige Wetter der Stadt New York. An manchen Tagen war die Luft mit Elektrizitat so geladen, daB man kleine Schlage empfing bei der Berührung von metallischen Gegenstanden. Die seidene Wasche knisterte und klebte am Körper, und wenn man einem Menschen die Hand gab, sprühten Funken: es war etwas unheimlich und sehr amüsant. Anfangs schienen sogar die Cocktail-Parties in der Park Avenue unterhaltend; der Manager bestand darauf, daB Marion sich in der „Gesellschaft" bemerkbar mache. Allmahlich ward der Umgang mit den Reichen ermüdend. Marion hatte ein Grauen vor dem Konventionellen — vielleicht weil ihre Mutter, die geborene von Seydewitz, gar zu lange Meisterin in der Kunst der floskelhaften Konversation gewesen war. In den Salons der ,,society"-Damen wurde jedes spontane Wort wie eine Obszönitat vermieden. Das Spiel der Fragen und Antworten funktionierte mechanisch und starr; niemand interessierte sich für die Worte des anderen, alle Worte waren inhaltslos. Marion hatte Stunden tiefer Niedergeschlagenheit. Der erste Enthusisamus war abgenutzt und verbraucht; das Herz füllte sich mit Bangigkeit und Langerweile. Sie saB am Schreibtisch, sie versuchte, irgendetwas zu Stande zu bringen — einen Brief oder ein paar Notizen zu ihrem Vortrag. Die Hande blieben wie gelahmt auf den Tasten der Schreibmaschine liegen. Das summende Gerausch des elektrischen Eisschrankes störte sie. Alles störte, und alles tat weh. Sie ging durchs Zimmer; lieB sich auf dem breiten Fensterbrett nieder; es war glühend heiB von der Zentralheizung. Die Hitze im Raum war fast unertraglich: jetzt erst fiel es ihr auf. Der Heizkörper war hinter einem weiB lackierten Gitter versteekt; sie fand den Griff nicht, durch den die Hitze sich hatte abstellen lassen. Das Fenster immerhin konnte man öffnen, wenngleich nicht ganz ohne Schwierigkeiten. Es war ein Schiebefenster, und die Kraft, die man brauchte, um es in die Höhe zu bringen, war bedeutend. Marion strengte sich tapfer an; plagte sich schnaufend; schlieBlich kam die kalte Luft herein. Wahrend Marion aber noch die Kühlung dankbar genoB, senkte sie auch schon — zum wievielten Male enttauscht ? — die Stirn vor dieser trostlosen Aussicht. Was war zu sehen ? Nur der kahle Baum vor der roten Mauer, an der die Zickzack-Linie einer schwarzen Feuertreppe nach oben führte. Kein Himmel —: ach, kein Himmel, der sich blau und abgrundtief geöffnet hatte. Kein Himmel . . . Die Sehnsucht nach der Luft, dem Licht, den herben Düften von Sils Maria überfiel sie mit schmerzender Heftigkeit wie die Sehnsucht nach einem Menschen. Übrigens mischte sich das Heimweh nach der verlorenen Landschaft in ihrem Herzen mit der Trauer um den verlorenen Freund. Marcel war tot, ins Herz getroffen, tot —: unter fremden Himmeln gestorben. Und hier kein Himmel, der hatte trosten können. Und hier — kein Himmel. Marion hatte das Gesicht in die Hande gelegt — aber ohne zu weinen —, als es an der Türe klopfte. Ein junger Mann, der einen groBen Kübel und mehrere Lappen trug, trat ins Zimmer. Marion schaute kaum auf. Der junge Mann fragte höflich, ob es die Dame storen würde, wenn er die Fenster putzte. „Sie können es brauchen," sagte er, auf die Fensterscheiben deutend; dabei lachte er ein wenig. Seine englische Aussprache war fehlerhaft. ,Er hat den italienischen Akzent,' dachte Marion —- übrigens nicht eigentlich interessiert; ganz mechanisch. Sie hatte dem Jungen noch nicht geantwortet. Er fragte wieder: „Darf ich ?" Dabei ging er schon, mit energischen, etwas wiegenden Schritten, durchs Zimmer und steilte den Kübel vor dem Fenster hin. Seine Stimme hatte einen hellen und festen Klang. Marion sagte, am Schreibtisch: „Natürlich. Bitte. Ich wollte ohnedies eben ausgehen ..." Sie erhob sich, um sich aus dem Wandschrank Hut und Mantel zu holen. Der Junge kniete auf dem Fensterbrett und begann schon, eine der Scheiben mit dem nassen Tuch zu bearbeiten. Marion schaute ihn an. Sie blieb stehen, ehe sie den Schrank noch erreicht hatte. „Sie sind Italiener?" fragte sie ihn. Er lachte und nickte. „Woran merken Sie das ?" wollte er lachend wissen. Marion — nach einer Pause, die mehrere Sekunden lang dauerte —: „Das kann man doch horen ..." Sie nahm Hut und Mantel; machte sich geschwind vor dem Spiegel zurecht, und ging — etwas zu rasch — aus dem Zimmer. Der Junge hatte in seiner Tatigkeit am Fenster innegehalten und ihr nachgeschaut, bis sie die Türe hinter sich schloB. Sein Gesicht war braun und kraftig geformt, mit blauen, weiten, sehr leuchtenden Augen, deren Helligkeit zum Schwarz des dichten, glatten Haars kontrastierte. Marion, im Korridor, klingelte nach dem Lift; der lieB auf sich warten, wie meistens. Sie dachte — mehr noch erstaunt als entzückt —,Aber dieser Bursche ist ja schön wie ein junger Gott! Nein, so etwas! Plötzlich tritt ein junger Gott zu mir ins Zimmer; tragt eine kurze braune Lederjacke — das blaue Hemd offen am Halse —, und putzt mein Fenster mit einem Lappen. Ein überraschender Vorfall. Dergleichen erlebt man nicht alle Tage . . .' Sie klingelte nochmals. Der Lift kam nicht. Sie erwog, ins Zimmer zurück zu gehen; ein Vorwand dafür hatte sich finden lassen . . . Das würde die Gelegenheit bedeuten, noch ein paar Worte mit dem Burschen zu sprechen. ,Denn wenn ich von meinem ausgedehnten 34 Spaziergang zurückkomme,' — meinte sie — ,ist er doch natürlich nicht mehr da, und dann sehe ich ihn nie wieder.' — Plötzlich aber empfand sie mit Beschamung die Albernheit ihres kleinen Plans. ,Er würde merken, daB ich seinetwegen zurückkomme . . . Was für Dummheiten!' Es machte sie nervös, hier zu stehen und auf den Lift zu warten. Sie öffnete die Tür zum Treppenhaus — die halb verborgene Tür, die sie so lange nicht gefunden hatte und die ihr nun schon vertraut war. Vertraut war ihr auch der muffig-modrige Geruch auf der engen Treppe, die eigentlich gar nicht den Gasten zur Benutzung dienen sollte, sondern nur zur vorlaufigen Aufbewahrung von allerlei Abfall. Vom fünften Stock geschwinden Schrittes hinunter in den Empfangsraum zu steigen, macht etwas atemlos. Marion keuchte, als sie die andere schmale und geheime Türe öffnete, durch die sie, nach dem Ausflug in die Unterwelt, wieder ans Tageslicht treten durfte. Der Concierge betrachtete die Dame, die da aus den eigentlich unbetretbaren, fast verbotenen Gegenden kam, zunachst recht erstaunt; erinnerte sich dann aber, daB Miss Kammer nun einmal solch drollig-originelle Angewohnheiten habe — und lachelte strahlend. ,,How do you do, Miss Kammer? Nice weather today ..." Das Wetter war wirklich schön; Marion hatte es, von ihrem Zimmer aus, noch gar nicht feststellen können. Der schmale Streifen Himmel, der zwischen den Reihen der Hauserfronten sichtbar war, strahlte in harter und reiner Blaue. ,Fast wie im Engadin' — dachte Marion, plötzlich guter Laune. ,Wo wollte ich eigentlich hin ?' fragte sie sich selber, ziemlich heuchlerisch; denn in Wahrheit hatte sie ja vorgehabt, einen ausgedehnten Spaziergang zu unter- nehmen. — .Natürlich: nur bis zum Drug-Store an der Ecke, um Zigaretten zu holen . . ,Woher hat der Junge die Augen ?' überlegte sie, wahrend sie die paar hundert Meter, die zwischen dem Hotel und dem Drug Store lagen, hastig zurücklegte. ,Und woher kenne ich sie ? Woher sind mir die Blicke dieses italienischen Fensterputzers bekannt ?' — Sie blieb stehen. Ihr Herz klopfte heftiger; bis zum Hals hinauf fühlte sie es nun klopfen. ,Diese Augen — sternenhaft geöffnet unter gewölbten Brauen. . kindlich und trauervoll und etwas wahnsinnig —: sollen sie mich denn nie loslassen ? — Ach, Marcel Marcel . . — Sie trat in den Drug Store, verlangte zwei Pakete Lucky Strike Zigaretten, bezahlte 27 cents, und ging. Als sie in ihr Zimmer zurückkam, war der Junge noch da. Er kniete auf dem Fenstersims und bearbeitete die Scheiben mit dem Lederlappen; es gab ein haBlich knirschendes Gerausch. Marion sagte: ,,Es ist schönes Wetter drauBen." Der Junge, ohne sich in der Arbeit zu unterbrechen, drehte das Gesicht halb nach ihr hin. „Aber Sie haben keinen langen Spaziergang gemacht..." Über dem offenen Hemdkragen erhob sich der Hals, ein wenig zu breit vielleicht — zugleich stammig und kühn. Hatte sein Gesicht wirklich Ahnlichkeit mit dem anderen Antlitz, das verloren war und versunken ? Mit dem kindlichen und stolzen, von unbeschreiblichen Abenteuern vielfach gezeichneten Antlitz Marcels ? — Marion prüfte die Züge dieses Fensterputzers, wahrend sie, möglichst hochmütig, sagte: „Ich hatte eine kleine Besorgung zu machen." Es waren wohl nur Schnitt und Farbe der Augen, die mit so bestürzender Heftigkeit an Marcel erinnerten. Ubrigens blickten diese Augen unschuldiger und blanker als die tragisch aufgerissenen Augen des Verlorenen. In dem Gesicht des Italieners gab es nur klare und starke Linien. Die Nase war kurz und gerade. Die Lippen — etwas zu dick, um im klassischen Sinne völlig schön zu sein — schienen aus einem soliden und verlockenden Material geformt, wie sehr edle Früchte. Wenn die Lippen sich öffneten, leuchteten die Zahne —: .Marcel aber hat poröse, gelbliche Zahne gehabt,' mufite Marion denken. — Die kraftvolle Rundung des Kinns und die Form der breiten, hochsitzenden Wangenknochen waren bei Marcel ahnlich gewesen. Marion murmelte etwas über ein paar Briefe, die sie eilig zu schreiben habe. Der Italiener, mit einer plötzlich pathetisch verfinsterten Stirn, sagte: „Bkte ... Ich bin ja ohnedies hier gleich fertig." Dabei rieb er mit demonstrativem Eifer die Fensterscheiben. Marion lachelte: „So war es doch nicht gemeint." Da schaute er sie dankbar aus seinen hellen, weiten, blanken Augen an. Sie setzte sich an den Schreibtisch —: diese Geste glaubte sie sich doch schuldig zu sein, nachdem sie die Bemerkung über die Briefe nun einmal gemacht hatte. Indessen sorgte sie dafür, daB die Unterhaltung nicht abbreche. „Wie lange sind Sie schon in New York ?" — Er berichtete: „Ich bin hier geboren. Aber als ich zwölf Jahre alt war, wollten meine Eltern nach Italien zurück, und sie nahmen mich mit. Meine Eltern leben in Bari: das ist eine groBe Stadt in Italien. Mein Vater möchte in Bari sterben. Es ist die schönste Stadt auf der Welt, sagt mein Vater. Aber ich habe es dort nicht ausgehalten. Seit zwei Jahren bin ich wieder hier." — Er reckte, aufatmend, den schlanken und athletischen Körper, als ob es ihm ein physisches Behagen verursachte, wieder hier zu sein. „Wie alt sind Sie denn jetzt ?" fragte Marion. Er antwortete: „Zweiundzwanzig!" — mit einem stolzen und kindlichen Lacheln, das den Glanz seiner Zahne zeigte. Dann verfinsterte sich seine blanke Stirn gleich wieder. „Da stehe ich, ein groBer langer Kerl, zweiundzwanzig Jahre alt, und bin nichts als ein Fensterputzer!" Seine Augen waren dunkel geworden — fast schwarz —, und die starken Lippen hatte er trotzig vorgeschoben. „Eine feine Situation!" Er lachte erbittert. Dann steilte er fest: „Eigentlich wollte ich schreiben," — und lieB den Scheuerlappen, wie entmutigt, sinken. Marion erkundigte sich: „Was wollten Sie schreiben? Romane? Oder Gedichte? Oder Philosophie?" Er machte eine groBe Gebarde, die wie eine Umarmung war. „Oh — alles —, einfach alles —: verstehen Sie? Theaterstücke, und schone Verse, aber auch Zeitungsartikel — gewaltige Zeitungsartikel gegen fascismo; gegen verdammten fascismo." In seinen Augen flammte es wieder dunkel; aber diesmal nicht von Traurigkeit, sondern von Zorn. „Voriges Jahr habe ich für ein italienisches Blatt, hier in New York, feine lange Sachen gegen fascismo schreiben dürfen," erzahlte er. „Aber bezahlt habe ich nie was bekommen. Schliefllich ist die Zeitung eingegangen, obwohl sie viele gute Mitarbeiter hatte. Und da stehe ich nun, mit meinem Scheuerlappen!" Er zuckte mehrfach ausdrucksvoll dieAchseln, schnalzte verachtlich mit der Zunge und rollte grimmig die Augen, als ware ihm gerade jetzt, im Moment, ein kolossales Malheur passiert. Marion examinierte ihn weiter: „Und für den Fascismus haben Sie gar nichts übrig ?" Der Junge wurde sehr böse. „Aber natürlich nicht! Wie können Sie so etwas fragen ? — Ganz und gar nichts habe ich für fascismo übrig! — Ach, wer weiBdenn," riefermit Jammertönen, „wie miserabel, wie trostlos, wie ekelhaft die Verhaltnisse in Italien sind! Niemand darf den Mund auftun. Niemand ist seines Lebens sicher." Dabei hatte er ein theatralisches Gebardenspiel, das die Gefahr schildern zu sollen schien, in der sich jeder Italiener befand und vor der es beinah kein Entrinnen gab. „AuBerdem kann man dort nichts verdienen," fügteer trockener hinzu. „Die Geschafte gehen schlecht. Und die jungen Leute werden irgendwohin in den Krieg geschickt, nach Abessinien oder nach Spanien. — Mich aber können sie nicht verschicken," konstatierte er stolz. „Ich bin amerikanischer Bürger." Spater forschte er, etwas angstlich: „Sie sind wohl Deutsche? Sie lachte: „Man scheint es meinem Akzent anzumerken . . Er versicherte galant: „Gar nicht! Ihr Englisch ist ausgezeichnet. Aber ich habe die deutschen Bücher auf Ihrem Tisch gesehen/' - „Ja, ich lese noch deutsche Bücher." Marion sprach leiser, lachte nicht mehr und wendete ihr Gesicht ab, als ob sie sich etwas schamte. „Aber ich bin lange nicht in Deutschland gewesen," fügte sie rasch hinzu. — „Warum denn nicht?" fragte er, halb lustig, halb lauernd. „Sind Sie vielleicht auch nicht ganz einverstanden mit Ihrem fascismo ? Ihrem Nationalsozialismus — wie man die miserable Berliner Kopie einer schlechten Römischen Erfindung wohl nennt ?" Nun muBte sie wieder lachen. „Nein — mit den Nazis bin ich auch nicht einverstanden." — Sie begannen um die Wette zu schimpfen: jeder schimpfte auf den Diktator seines Landes und suchte zu beweisen, daB er der Schlimmere, der unvergleichbar Arge sei. Es war ein pervertierter nationaler Ehrgeiz, von dem sie Beide besessen schienen — die „ausgebürgerte" Deutsche mit dem französischen PaB und der emigrierte Italiener, der amerikanischer Bürger war —: in einem New Yorker Hotelzimmer stritten sie sich darüber, welche von ihren Regierungen abscheulicher war. Der Junge aus Bari hatte das letzte Wort. „Es mag ja sein, daö Ihr Hitier noch mehr Unheil angerichtet hat als unser Mussolini. Aber il Duce hat angefangen! — das muB man ihm lassen. Ohne Benito — kein Adolf!" Er lachte triumphierend, lieB die Zahne schimmern, warf kühn den Kopf in den Nacken und sah herrlich aus — wie ein junger Gott. Das Telephon leutete; der Fensterputzer wurde in ein anderes Zimmer befohlen. Eilig packte er seine Sachen. „Ich habe mich schon zu lang hier aufgehalten. Es wird Krach geben ..." Am nachsten Morgen war er wieder da —: „um den FuBboden schön blank zu machen!" — wie er übermütig sagte. Marion hatte ihn erwartet. Sie sprachen wieder, und sie schauten sich an. Diesmal sagte er ihr seinen Namen —: den ihren wuBte er schon; er hatte sich beim Portier erkundigt. Er hieB Tullio Rossi und wohnte bei einer verheirateten Schwester in Brooklyn. „Ich spare Geld," sagte er, „um meinen kleinen Bruder aus Bari hierher kommen zu lassen. Er ist siebzehn Jahre alt. Was soll er denn in Italien ? II Duce würde ihn in irgendeinen Krieg schicken. Soll er fascismo helfen, Tunis oder Nizza zu erobern — damit noch mehr Menschen unglücklich werden?" Er holte die Photographie des Siebzehnjahrigen aus der Tasche. „Ist er nicht hübsch ?" Dabei zeigte er lachelnd den Glanz seiner Zahne. „Mein hübscher kleiner Bruder heiBt Luigi." Er reckte sich auf die stolze und theatralische Art, als ob der Umstand, dafl seines kleinen Bruders Name Luigi war, ihn besonders selbstbewuBt und fröhlich stimmte. Er war glanzender Laune; zartlich und über- schwenglich. „Heute ist ein guter Tag!" rief er aus. „Ein ganz hervorragender Tag, ich habe es gleich beim Aufstehen gespürt. Kein Tag gleicht dem anderen — haben Sie das auch schon bemerkt ? Es gibt gute und schlechte. Heute ist also ein besonders guter. — Ja, ich kenne das Leben!" Er schlug sich mit der Faust an die Brust, sehr vergnügt über seine Lebenskenntnis im Allgemeinen und über diesen guten Tag im Besonderen. „Tullio kennt das Leben! Tullio weiB Bescheid!" Beim Abschied aber bekam er wieder die finsteren Augen. „Nun ist das Zimmer sauber," steilte er fest, und schickte einen drohenden Bliek durch den Raum. Etwas sinnlos fügte er hinzu: „Der Moor hat seine Schuldigkeit getan. Der Moor kann gehen . . ." — Marion aber fragte einfach: ,,Wann treffen wir uns ? Und wo ?" Er schaute sie lange an, aus seinen hellen, heftigen Augen, die so schnell die Farbe wechselten. Er fand, sie war schön —: zu schön, am Ende, für den armen Tullio aus Bari. Aber würde er denn immer der arme Tullio sein ? Er war zu GroBem bestimmt; würde herrliche Verse schreiben, wie auch Theaterstücke und politische Manifeste. Er wollte sich würdig erweisen dieser sehr schonen Frau, die ihm jetzt ein Rendezvous vorschlug, als ob das gar nichts ware. Die lockere Fülle ihres Haars hatte Purpurschimmer. Und wie siegesbewuBt trug sie den kleinen Kopf! — Für Tullios Geschmack war sie ein wenig zu mager, vor allem was den sehnigen Hals und die langen, unruhig muskulösen Hande betraf. Aber er bewunderte ihren groBen, leuchtenden Mund, und das tiefe Farbgemisch in den Katzen-Augen, und ihre langen Beine, und die Art, wie sie sich mit einer ungeduldig herrschsüchtigen Bewegung das Haar aus der breiten Stirne schüttelte. Er liebte auch ihre Stimme, die zugleich einschmeichelnd und grollend war, drohend und zartlich und stark, und sehr reich an überraschenden, herben oder süBen Nuancen. — Tullio war dazu im Stande, sich geschwind zu begeistern. Er meinte, diese Frau schon zu lieben. Er begehrte sie schon. Sie trafen sich abends, in einer kleinen Bar um die Ecke. Tullio, in einem bescheidenen grauen Paletot, ein etwas miBfarbenes und verwittertes rundes Hütchen auf dem Kopf, sah nicht mehr ganz so attraktiv aus wie in der offenen Lederbluse, die er zur Arbeit trug. Marion brauchte einige Minuten, um seinen groBen Reiz wieder zu finden, wieder zu entdecken. Ihr war sonderbar ernst zu Mute, als beginne nun ein sehr schoner, aber auch gefahrlicher, vielleicht verhangnisvoller Abschnitt in ihrem Leben. Sie dachte an Marcel. Wenn sie die Augen schloB, zeigte sich ihr ein Gesicht, das mehr dem des fernen Toten, als dem des Lebenden an ihrer Seite glich; es hatte aber die Züge von beiden. Sie bat Marcel um Verzeihung. Sie versprach ihm: ,Ich werde dich immer lieben. Was nun auch für mich beginnen mag, es kann mich dir nicht entfremden. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Ich bin deine Witwe, Marcel.' Tullio seinerseits war lustig bis zur Ausgelassenheit. Er lachte viel und sang Melodien aus italienischen Opern. Dazwischen schüttelte er den Kopf, als könnte er es selbst nicht begreifen, daB er hier saB, Marion an seiner Seite. „Life is funny," sann er mit geheimnisvollem Mienenspiel. „Extremly funny — don't you think so, Marion?" Dann sang er wieder; dann sprach er über Detektiv-Romane, und schlieBlich gab er, in gedrangter Form, sein politisches Glaubensbekenntnis. „Ich bin Antifascist," sprach er feierlich. „Aber der Kommunismus gefallt mir auch nicht. Ich glaube, der Staat an sich ist das Schlechte. Kein Mensch sollte Gewallt über andere Menschen haben. Die Macht verdirbt den Charakter. Ich bin Anarchist. — Ja, Tullio kennt das Leben!" schloB er triumphierend. Spater, auf der StraBe, preBte er Marions Arm und sagte mit einer Stimme, die mehr wütend als zartlich klang: „Ich möchte mit dir allein sein, Marion! Ich muB mit dir allein sein!" „Das möchte ich auch," sagte Marion. Er versetzte düster: „Aber im Hotel geht es nicht. Dort kennen mich alle; sogar der Nachtportier weiB, daB ich der Fensterputzer Tullio bin. Es würde einen Skandal geben, wenn du mich mitnahmest." Nachdem er diese Betrachtungen angestellt hatte, stampfte er vor Zorn mit dem FuB aufs StraBenpflaster. „Nein, im Hotel geht es wohl nicht," gab Marion zu. Dabei berührte sie mit ihren Fingern seine geballte Faust: die groBe, harte Faust eines Arbeiters. Sie stand nahe bei ihm. Ihr Bliek ging über sein Gesicht. Die Lippen hatte er schmollend vorgeschoben, und in den Augen gab es Wetterleuchten. Er argerte sich wohl noch immer darüber, daB im Hotel sogar der Nachtportier ihn kannte und wuflte, daB er nur der Fensterputzer war. Marion löste ihre Finger aus der Umklammerung seiner Faust. Sie berührte vorsichtig seinen Nacken, gerade dort, wo das schwarze, feste und seidige Haar ansetzte. Da umschlang er sie. Er küBte sie an der StraBenecke. Ein kalter Wind blies sie an. Marion befreite sich aus seiner wütenden Umarmung, als sie die Schritte von Passanten hörte. Sie gingen schweigend, Hand in Hand, den Weg zum Hotel zurück. Ein paar Meter vom Portal entfernt, trennten sie sich. Tullio sagte: „Morgen habe ich im achten Stockwerk zu tun. Vielleicht kann ich zu dir kommen — für ein paar Minuten. Leb wohl." Seine Augen standen voll Tranen. Marion wollte seine Augen küssen; hatte aber Angst, vom Hotel aus beobachtet zu werden. Sie drückte ihm schnell die Hand, ohne noch etwas zu sagen. Marions Tage in New York waren reichlich ausgefüllt. Sie studierte mit einer amerikanischen Schauspielerin ihre englischen Rezitationen, sowie die kleinen Vortrage, die den Versen als Einleitung dienen sollten. Sie hatte Konferenzen mit ihrem Agenten, mit Journalisten, und es gab viele Menschen zu sehen. Die Menschen waren wohlmeinend und herzlich. Alle schienen voll lebhafter Sympathien mit Schicksal und Arbeit der deutschen Emigrantin, und sie auBerten HaB und Ekel, wenn von den Nazis die Rede war. Aber die zentrale Figur für Marion in diesen Wochen wurde der Italiener, Tullio, der, schön wie ein junger Gott, mit einem Kübel und mehreren Lappen in ihre Stube getreten war. Er kam wieder, jeden Tag war er da, und schlieBlich wagte er es sogar, sie nachts zu besuchen, obwohl doch alle im Hotel ihn kannten. Er schlich sich durch den hinteren Eingang und benutzte, um nach oben zu gelangen, nicht den Lift sondern die Treppe: die enge, dunkle, fast verbotene Treppe, die abgestorben zu sein schien wie ein Körpelteil, den man nicht benutzt, und die nun endlich ihren Sinn, ihr neues Leben bekam. Auf der Treppe aber begegnete er keiner Geringeren als der Gattin des Managers, die wohl, vom Korridor her, Schritte gehort hatte und neugierig lugte, wer sich da herumtreiben mochte. „Wohin wollen Sie?" fragte unbarmherzig die Dame. Tullio seinerseits wurde rot und blaB. Der SchweiB trat ihm in dicken Tropfen auf die Stirne; er brachte mühsam hervor: „Zu Doktor Alberto — Doktor Alberto im sechsten Stock ..." Er meinte einen deutschen Arzt namens Albert Müller, der im Hotel logierte und vor einigen Tagen einen verletzten Finger Tullios verbunden hatte. — „Zu Doktor Alberto!" beteuerte der Jungenocheinmal — erleichtert, da!3 immerhin dieser rettende kleine Einfall ihm gekommen war —, und er fügte jammernd hinzu: „Mein kaputter Finger tut ja so entsetzlich weh! Es ist der kalte Brand, fürchte ich. Doktor Alberto wird alles aufschneiden müssen . . Dabei streckte er der Gattin des Managers frech die gesunde Hand hin. Sie geruhte nicht einmal, sie anzuschauen; vielmehr sagte sie nur verachtlich: „Doktor Alberto ? Von wem sprechen Sie denn ? — Wahrscheinlich meinen Sie den Herrn Doktor Müller." — Tullio nickte eifrig:. — „Warum benutzen Sie nicht den Lift ? fragte die Gattin des Managers nur noch, und wandte ihm verdrossen den Rücken. Tullio kam zitternd und keuchend vor Aufregung bei Marion an. „Man hat mich entdeckt!" Er rang pathetisch die Hande, Tranen standen in seinen Augen, und der schone Mund zuckte. Sie legte die Arme um seine Schulter. Ihre Liebkosung besanftigte ihn; er konnte erzahlen, was geschehen war. Als Marion aber lachte, wurde er argerlich. „Du amüsierst dich!" grollte er und machte groBe Schritte durchs Zimmer. „Du ahnst ja nicht, wie gemein die Menschen sind! Morgen wird der Manager sich bei Doktor Alberto erkundigen, ob ich wirklich bei ihm gewesen bin. Der ganze Schwindel kommt auf, und ich werde entlassen." Er blieb nur ein paar Minuten. Zum Abschied küBte er Marion mit einer Heftigkeit, in der noch der Zorn über das Renkontre auf der Treppe spürbar war. „Wir müssen uns ein Zimmer nehmen — ganz für uns!" flüsterte er. „Ich weiB ein kleines Hotel, in der Nahe der Pennsylvania Station. Es ist billig und ziemlich sauber . . Marion nickte, die Arme um seinen Hals. Dabei fiel ihr die Purpurfülle des Haars in die Stirn, wie ein Vorhang, der verbergen sollte, dafi sie rot geworden war. Übrigens geschah am nachsten Vormittag alles, wie der verzweifelte Tullio es vorausgesehen hatte. Doktor Müller, der sich an den Italiener mit dem verletzten Finger kaum erinnern konnte, leugnete empört, ihn nachts empfangen zu haben. Was also hatte Tullio im Hotel gesucht, zu so unpassender Stunde? Wahrscheinlich hatte er stehlen wollen; alles sprach dafür: dies war seine Absicht gewesen. — Tullio wurde entlassen. Er lieB es Marion auf einem Zettel wissen, den er durch die Türritze in ihr Zimmer schob. Sie erschrak: Was sollte nun werden? Aber schon gegen Abend rief der Junge sie an: Er hatte einen „Job" in einem anderen Hotel gefunden, nicht weit von hier. „Und es ist ein viel schöneres Hotel!" berichtete er stolz. „Viel gröBer und vornehmer als eures. — Tullio h at Glück! Tullio kennt das Leben!"— Marion hatte nur noch drei Wochen, ehe sie die Tournée antreten muBte. Die Zeit verging viel zu schnell. — Sie konnte Tullio immer erst abends treffen. Tagsüber hatte er seine Arbeit, und auch sie war beschaftigt. Aber die Abende waren lang — von sieben Uhr bis Mitternacht oder ein Uhr morgens. Mit Tullio zusammen lernte sie New York kennen; er kannte es gut, und überall hatte er Freunde. Sie unternahmen Entdeckungsfahrten in der Subway: nach Brooklyn oder in die Bronx, ins ChinesenViertel oder nach Harlem. Marion war begeistert von den Dancings, wo die Schwarzen, zugleich korrekt und verzückt, sich nach den fulminanten Rhythmen der Jazz bewegten. Tullio seinerseits tanzte ohne die brillante Technik, die für die Dunklen Selbstverstandlichkeit war. Aber er führte mit festem, zuverlassigem Griff; sein Gang war beschwingt und elastisch, und seine Musikalitat bewahrte ihn vor jedem falschen Schritt. Übrigens hielt er selber groBe Stücke auf seine Tanz-Kunst und rühmte sich kindlich: „Tul li o knows how to dance! Tulho is cl ever, is smart!" — Sein Akzent war phantastisch. Mit einem Eigensinn, der nicht ohne GroBartigkeit war, weigerte er sich, zum Beispiel, das ,,th" so auszusprechen, wie es sich gehorte. Er deklarierte, wenn von weltanschaulichen Fragen die Rede war: ,,I know the whole trut!" — und Marion verstand erst nicht, was er meinte. SchlieBlich kam sie darauf, daB es das Wort „Truth" war, das er so seltsam entstellte. — Es war schön in Harlem; es war schön am TimesSquare, wo die feurigen Rader der Lichtreklamen irrsinnig kreisten und vor schwarzem Hintergrund grelle Figuren oder Schriftzeichen ihren Tanz hatten. Nach dem Kino muBte Tullio in eine Cafeteria gehen, um ein grofles Sandwich mit Salat und heiBer Wurst zu essen. Er hatte fast immer Hunger. Für Marion war es ein Vergnügen, ihn essen zu sehen. Er bekam etwas Raubtierhaftes, wenn er gierig aB; seine Zahne, die beim Lachen verlockend schimmerten, wurden Mordwerkzeuge. Sie sah ihn Speisen verschlingen; Fleisch kauen, Gemüse verzehren, Suppe löffeln — in französischen Restaurants, schwedischen, ungarischen, chinesischen Restaurants. Am besten schmeckte es ihm in den italienischen. Er wuBte ein kleines Lokal, wo es vorzügliche Raviolis und einen sehr guten Chianti gab. Dort war es, wo Tullio mit Marion seinen Geburtstag feierte. Es war ein schönes, ausführliches Fest. Er hatte schon am Nachmittag das Menü zusammengestellt. Es war fast wie in Bari. Sie schrieben eine Ansichtskarte an Tullios Familie: an den Vater, die Mama und den siebzehnjahrigen Luigi. Spater setzte Tullio, wieder einmal, seine Weltanschauung auseinander. „I know the whole trut!" behauptete er emphatisch. Diesmal steilte sich heraus: er war nicht nur gegen die organisierte Gewalt, den Staat; er war auch gegen den Verstand, gegen die Vernunft, den Kopf, das Denken. Die Menschen denken zu viel — erklarte Tullio —; deshalb konnten sie nicht glücklich sein. Seine Theorie war: Alle Krankheiten kommen vom Gehirn; vor allem die Tuberkulose. Man bekampfte dieses Übel am wirkungsvollsten, wenn man auf das leidige Nachdenken beinah ganz verzichtete. „Früher waren die Menschen gesund, weil sie weniger dachten und nicht so viel wuBten. Ich weiB beinah gar nichts," gab Tullio zu. „I am ignorant. — But I know the whole trut!" schlofl er triumphierend und goB sich noch einmal Chianti ein. Marion lauschte ihm amüsiert; machte sich dabei auch ihre eigenen Gedanken, obwohl ihr Freund doch gerade das Denken so dringend widerriet. Marion dachte: ,Auch sein kindlicher, ungeübter Verstand ist berührt und ergriffen von den Stimmungen, den gefahrlich starken Tendenzen der Zeit. Marcel — erfahren und viel zu bewandert in allen intellektuellen Raffinements — hat die groBen Worte verflucht und nach der Tat, dem Opfer verlangt. Dieser ÜberdruB an der Vernunft, dieser aggressive Zweifel an der intellektuellen Kritik scheint die Krankheit unserer Generation — oder ist es vielmehr ein Symptom der Gesundung ? Sind alle diese jungen Menschen so müde der Gedanken und der Zweifel — weil sie g 1 a u b e n wollen ? Woran glaubt Tullio ? Was bedeutet sein „Anarchismus" und seine seltsame Theorie, daB die Tuberkulose vom Denken komme ? Wohin will er ? Wohin führt sein naiver Anspruch „Zurück-zur-Natur" ? Ist die Barbarei das Ziel, die Auflösung der Zivilisation die Rettung ? — Aber er hafit den Fascismus. Da er diese falsche Ordnung bekampft, muB er eine andere Ordnung wollen: eine bessere, die sowohl freier als auch vernünftiger ware. — Der ÜberdruB an der Vernunft und am Staat erklart sich aus dem MiBbrauch, der mit der Vernunft getrieben wurde, aus der Schlechtigkeit der Staaten. Unsere Generation empfindet: Lieber das Chaos als die permanente Ungerechtigkeit. Hinter dem Chaos aber sieht sie — ohne es noch zu wissen oder sich zuzugeben — schon die neue Ordnung, der sie dienen will . . Marion liebte die Stadt New York. Alles auf den StraBen machte ihr Vergnügen. Es ergötzte und erfrischte sie, den gewaltig strömenden, exakt geregelten Verkehr der Wagen zu beobachten. Wenn das Licht signal ihnen zu stoppen gebot, war es gestattet, die StraBe zu überkreuzen, an der Reihe der Wagen vorbei, wie an einem Wasserfall, der sich plötzlich nicht mehr ergieBen durfte, sondern rauschend stillstand. Marion wurde eine kleine Angst nicht los. Sie sah aber lachelnd, wie Kinder und junge Madchen den stehenden oder im dichten Verkehr ganz langsam fahrenden Wagen zutraulich die Kotflügel klopften, sowiemanein gezahmtes Ungeheuer lassig streichelt: der besondere Reiz so kecker Liebkosung ist es ja gerade, daB der Unhold einen zerreiBen könnte, kame es ihm plötzlich in den unberechenbaren Sinn. Es war gut, mit vielen Menschen zu reden; Tullio hatte schnell Kontakt mit mancherlei Leuten. Sie unterhielten sich mit den Negern, die in den NebenstraBen des Broadway oder in Harlem ihre Künste zeigten; oder mit den Mannern, die vor groBen Geschaften ihre Schilder spazieren führten: „Kauft hier nichts! Boykottiert diesen Laden! Hier werden Union-Mitglieder unfair behandelt! Helft uns in unserem Protest!" Mit diesen sprachen sie über soziale Fragen, über das Arbeitslosen-Problem, über Roosevelts „New Deal" und seine Chancen. Mit den kleinen Negerjungens aber, die an den StraBenecken Schuhe putzten, sprachen sie über Base-Ball oder die Aussichten eines groBen Boxkampfes, der angekündigt war. Die kleinen Negerjungens hatten zarte, etwas müde, dabei lustige und schlaue Affengesichter. Marion schaute gerne den flinken Handen bei der Arbeit zu. Die Dunkelheit ihrer Haut schien empfindlich und abgenutzt, an manchen Stellen fleckig, als trügen die Kinder sehr alte, strapazierte Handschuhe. Einmal fuhren sie nach Yorkville, ins deutsche Viertel. Aber dort fühlte Marion sich gar nicht wohl. Sie ekelte sich vor den Hakenkreuzgeschmückten Zeitungen, die überall aushingen. Die Gesichter vieler Menschen, denen sie hier begegnete, waren ihr unangenehm; es schienen böse und dumme Gesichter: Marion fürchtete sich. Tullio wollte einen deutschen Film sehen. Es gab ein Lustspiel; seltsamer Weise zeigten die Figuren auf der Leinwand sich eher verdrossen, sie schrien sich an wie Unteroffiziere. Wenn sie lustig sein wollten, wurden sie roh. Die jungen Manner —- hünenhaft gebaut, mit fast idiotischen Mienen — schlugen ihren Madchen tüchtig auf den Hinteren, ehe es zur Umarmung kam, die ihrerseits barbarischen Charakter hatte. Marion dachte: Ist dies deutscher Humor? Den Ton der Stimmen konnte sie kaum ertragen; auf eine herausfordernde Art war er zugleich forsch und sentimental, aggressiv und wehleidig. ,Wie fremd die deutschen Stimmen mir geworden sind!' empfand Marion. Nach einer Viertelstunde gingen sie. Der Platzanweiser — ein Deutscher — erkundigte sich, ob ihnen der Film 35 nicht gefallen habe. „Es ist ein abscheulicher Film," sagte Marion. Der Platzanweiser war ein groBer, blonder Bursche mit langem, hagerem, recht gut geschnittenem Pferdegesicht. „Alle deutschen Filme sind Dreck," sagte er, und sein Gesicht hatte plötzlich einen Ausdruck von HaB. Marion unterhielt sich noch etwas mit ihm. Der Bursche lieB durchblicken, daB er ein politischer Flüchtling war. Er wagte es nur zu flüstern: „denn wenn sie es hier rausbekommen, verliere ich meinen job. Das sind hier alles Nazis — die ganze Bande!" Leute kamen; er muBte ihnen mit seiner Taschenlampe den Weg zu ihren Sitzen durchs dunkle Parkett zeigen. Ehe er sich von Marion trennte, hob er die Faust, zur Geste des antifascistischen GruBes. Sein Gesicht, dasim Halbdunkel des Theaters verschwand, sah sehr hart und zornig aus. — Wie rasch vergingen die Tage, und auch die Wochen waren geschwind vorbei. Marion lud ihren Tullio in die Oper ein; sie horten „Aida", Tullio war nur mit Mühe davon abzuhalten, die geliebten und vertrauten Melodien schallend mitzusingen. Sie fuhren zur Washington-Bridge und zur Brooklyn-Bridge; sie genossen die Aussicht von den höchsten Wolkenkratzern, und sie spazierten im Central Park. Sie besuchten den Zoologischen Garten, die Öffentliche Bibliothek, die Museen, die Warenhauser und die Empfangsraume der groBen Hotels. Sie wollten alles sehen. Beide waren neugierig und enthusiastisch. Am meisten liebte Marion die Stadt zu einer gewissen Stunde am spaten Nachmittag. Dann wurde das Licht durchsichtig und bekam einen besonderen, strengen Reiz. Hinter den Wolkenkratzern standen die schmalen Streifen des Himmels in einer blassen, stahlernen Blaue. Irgendwo muBte noch die Sonne sein; aber man sah sie nicht mehr. Die hohen Stock- werke der Haus-Giganten waren von einem kalten, süBen, etwas giftigen Rosa beschienen, wie die Gipfel des Hochgebirgs vom Sonnenuntergang — wahrend die StraBen sich schon, gleich Schluchten, mit Schatten füllten. Dann wurde es plötzlich sehr kalt. Marion drangte sich enger an Tullio. Wo war sie, und wer schritt da an ihrer Seite ? War dies nicht die furchtbare, überirdisch schone Landschaft des Engadins, und blies nicht der MalojaWind sie gewaltig an, um dies'e StraBenecke ? — Sie zog den Jungen an sich, damit sie ihn wiedererkenne, ihn nicht verwechsle. Wir verwechseln die m:teinander, welche wir lieben müssen. Es ist immer das selbe Antlitz, dem wir verfallen. — ,Oh, Marcel, ich bin deine Witwe. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke.' Auch Tullio schien betrübt geworden, als teilte er Marions Erinnerungen, samt der nie zu stillenden Trauerum einen Toten.— Seine Stimmungen anderten sich rapid. Er war reizbar und stolz, kindisch und leicht gekrankt, zartlich und naiv, roh und sanft. Er war stets überraschend. Manchmal glaubte Marion: Er ist schön, aber einfach dumm; dann wieder: Er ist begabt, aber er muB wahnsinnig werden. Und wieder ein anderes Mal: Er ist stark und gut, der HaB gibt ihm Kraft und Feuer, er kann etwas Tüchtiges leisten, er wird sein Leben sinnvoll machen, er kann arbeiten, er geht nicht zu Grunde. Wenn er ausrief: ,,I know the whole trut!" und: „Alles Ubel kommt von den Gedanken!" — erschrak Marion, und ihr Gelachter, das ihm antwortete, klang nicht munter. Wenn er aber seine Ausbrüche gegen „fascismo" hatte, der ihm die Heimat verdarb, beobachtete sie mit Entzücken sein bewegtes Gesicht. Schatten flogen über die blanke Stirn, in seinen Augen war das Wetterleuchten, und sogar das Funkeln der raubtierhaften Zahne ward drohend. Manchmal machte er sich auch Sorgen wegen des sozialen Unterschiedes, der zwischen ihnen bestand. ,,Wir sind aus verschiedenen Weiten. Was hast du eigentlich an mir ?" konnte er fragen. ,,Ich bin doch nur ein einfacher, dummer Kerl — habe nichts gelernt." Marion lachelte stumm. Mit ihren Lippen berührte sie seine grobe, abgearbeitete Hand. „Bist du glücklich ?" wollte er wissen. „Kann ich dich glücklich machen?" — Sie antwortete nicht. Doch wiederholte sie in ihrem Herzen die Frage: ,Bin ich glücklich? Liebe ich ihn genug? Gibt es zwischen ihm und mir nicht zu viel Trennendes ? Ich bin mehrere Jahre alter als er. Ich bin erzogener als er, und ich habe eine andere Art zu denken. Habe ich nicht auch eine andere Art zu empfinden als Tullio ? All seine Reaktionen sind mir fremd und erstaunlich. Vielleicht liebe ich ihn gerade deshalb so sehr. Denn ich liebe ihn sehr' —: empfand Marion mit ihrem ganzen Herzen. War sie glücklich, nachts, wahrend der Stunden, die sie in dem verdachtigen kleinen Absteige-Hotel, nahe der Pennsylvania-Station, verbrachten? Marion hatte sich nie mit solcher Heftigkeit lieben lassen. Er war unersattlich. Sein Ernst in der Umarmung, seine beinah wütende Sachlichkeit bei den Liebkosungen waren erschreckend. Er warf sich über sie wie ein Ringkampfer auf seinen Gegner. Er war geschwind befriedigt, und dann rief er: „Noch einmal!" —: es klang wie ein Schlachtruf. Auch sein erhitztes, schweiBbedecktes Gesicht sah wie das eines erschöpften Kriegers aus, mit durstig trockenen Lippen, dem feucht verklebten Haar, den gierig weit geöffneten Augen. Seine Zartlichkeit war vehement wie eine Naturkatastrophe. Sein Körper baumte sich wie in Qualen. Auch sein Stöhnen klang, als ob es von einem Gefolterten kame. „Tue ich dir weh ?" fragte er sie — selber leidend an seiner Lust. Als Marion den Kopf im Kissen schüttelte: „Aber ich will dir weh tun! Sonst liebst du mich nicht!" Manchmal grübelte Marion über sein Gesicht gebeugt, an dem sie sich nicht satt sehen konnte: „Liebst du mich wirklich ? — Ach, du liebst mich nicht!" Sie hatte es auf deutsch gesagt, er verstand sie nicht. „Was hast du eben gemurmelt ?" wollte er miBtrauisch wissen. Da sie nur ein girrendes kleines Lachen als Antwort hatte, verfinsterten sich gleich sein Bliek und seine Stirn. „Du argerst mich mit deinen Geheimnissen mit deiner fremden Sprache. Ich weiB nichts von dir!" Er griff nach ihrem Kopf mit seinen groBen, harten Handen, als ob er die Gedanken aus ihm heraus zerren könnte. „Wenn ich nur wüBte, was vorgeht hinter dieser Stirn!" — Sie blieb stumm; da stürzte er sich wieder in die Umarmung wie in den Kampf. Noch einmal — der in Lust und Qualen gebaumte Leib; noch einmal die irrenden, rasenden Blicke; das Brummen und Stöhnen, der bedrohliche Schlachtgesang seiner Liebe: noch einmal. Schwankte unter ihnen nicht das Zimmer — diese nicht besonders saubere Hotel-Stube, nahe Pennsylvania-Station —, wie einst ein anderes Zimmer geschwankt hatte, an einer französischen Küste ? Es schien ein Schiff auf hoher See zu sein — oder vielleicht nur ein kleiner Nachen. Wohin trug er sie ? Gab es Ufer, jenseits dieser Gewasser, die sich unermeBlich breiteten ? Und wenn es Ufer gab — hatte man Kraft genug, um sie zu erreichen? Gefahren — Gefahren, überall . . . Oh, wir sind schon verloren! . . . Welche Schuld haben wir auf uns geladen, daB man uns zu solcher Strafe verdammt ? . . . Marion und Tullio hatten den entsetzten Bliek, als ware ein Abgrund jah vor ihnen aufgesprungen. Aus dem Abgrund stiegen Feuerbrande, auch Qualm kam in dicken Schwaden, und Felsbrocken wurden emporgeschleudert. Es war der Krater eines Vulkans. Hüte dich, Marion! Wage dich nicht gar zu sehr in die Nahe des Schlundes! Wenn das Feuer dein schönes Haar erfaBt, bist du verloren! Wenn einer der emporgeschleuderten Felsbrocken deine Stirne streift, bist du hin! Auch könnte es sein, daB du am Qualm elend ersticken muBt. Furchtbar ist der Vulkan. Das Feuer kennt keine Gnade. Ihr verbrennt, wenn ihr nicht sehr schlau und behutsam seid. Warum flieht ihr nicht ? Oder wollt ihr verbrennen ? Seid ihr versessen darauf, eure armen Leben zu opfern ? — Aber ihr habt nur diese! Hütet sie wohl! Bewahrt euch! Wenn auch ihr im allgemeinen Brand ersticken solltet —: niemand würde sich um euch kümmern, niemand dankte es euch, keine Trane hele über euren Untergang. Ruhmlos — ruhmlos würdet ihr untergehen! Da sprach Tullio die Worte, auf die Marion langst mit tausend Angsten gewartet hatte. ,,Ich kann nicht bei dir bleiben, meine Geliebte." — Sie fragte: „Warum nicht ?" —: so ruhig, als hatte er ihr mitgeteilt, daB er heute lieber ins Kino statt ins Museum wollte. Er redete pathetisch, den schonen dunklen Kopf in die starke Hand gestützt: „Weil mein Leben mich hier nicht befriedigt. Fenster putzen können auch andere. Ich habe Aufgaben, habe Pflichten! I know the whole trut! — Ich muB nach Europa, gegen fascismo arbeiten: in Italien, vielleicht auch in Deutschland. Ich muB kampfen! Die Macht ist böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muB die Macht niederringen, den groBen Drachen Und, die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht, brachte er noch hervor: „Ich muB mich opfern ... Es wird das Opfer verlangt ..." Wie kannte Marion diese Worte! Wie vertraut waren ihre diese Blicke, diese stolzen und verzweifelten Gesten! Der italienische Proletarier schien den Pariser Intellektuellen zu kopieren — und meinte es ernst und ehrlich als dieser. ,Es wird das Opfer verlangt . . .' Dies ist nicht die Stunde des kleinen Glückes, und auch das groBe wird uns kaum gewahrt. Die Welt will anders werden, sie windet sich in Krampfen, das Böse hebt scheuBlich machtig das Haupt, wir werfen uns ihm entgegen, und wenn wir verbluten sollen an seinem BiB: Es wird das Opfer verlangt. Menschliche Bindungen, zarte Rücksicht auf die Geliebte kommen kaum in Frage: die Zeiten sind nicht danach. Wir umarmen uns, und das Glück ist heftig, weil es flüchtig bleibt. Leb wohl, und vergiB mich nicht! Wir sind Emigranten, du und ich, das Böse hat uns die Heimat gestohlen, die Heimatlosen kennen keine Treue. En somme, Madame, vous êtes sans patrie. Hatten Sie sich denn ein stilles Eheglück mit mir erwartet, chère Madame ? Ich bin ein anarchistischer Fensterputzer —: Sie wuBten doch, wem Sie sich hingaben, in diesem Hotelzimmer, wo es etwas übel riecht. Adieu adieu: dieses ist Abschied — eine Realitat; die Realitat unseres Lebens. Marion — an gewissen praktischen Details trotz allem interessiert — erkundigte sich: „Wann dachtest du denn zu reisen?" Seine Antwort war finster und allgemein gehalten. „Ich weiB noch nicht . . . Bald — nur zu bald . . . Vielleicht treffe ich meinen kleinen Bruder Luigi in Paris . . . Ich erwarte ein Telegramm . . . Ich muB auf einem Dampfer arbeiten, um nach Europa zu kommen — als Heizer, oder als Kellner ... Es kann bald sein — sehr bald ..." — Zunachst aber war es Marion, die reiste. Ihre Tournée begann. Sie muBte für einen Damen-Club in Philadelphia sprechen; den nachsten Tag für einen anderen in Baltimore; dann in Buffalo, Rochester, Detroit, Washington, Kansas City. Tullio begleitete sie zur Pennsylvania Station; sie kamen an dem Hotel vorbei, wo sie sich geliebt hatten, er hatte die Augen voll Tranen. Er verlangte: „Du muBt mir jeden Tag schreiben! Jeden Tag — nicht seltener —: versprich mir das!" Er hob, mit mühsamer Schalkhaftigkeit, mahnend den Zeigefinger. „Ich muB doch immer wissen, was los mit dir ist!" sagte er noch. Seine eigenen Reiseplane erwahnte er nicht; nur vor der Trennung, die durch Marions Tournée verursacht wurde, schien er Angst zu haben. Eifrig wie ein Schulbub notierte er sich ihre Adressen; sie wechselten jeden Tag. Er sah rührend aus in seinem bescheidenen grauen Paletot, das miBfarbene, verwitterte runde Hütchen auf dem Kopf. Er sah schön aus, sein Gesicht war schön gebildet, Marion liebte es, ein starkes, beinah wild'es Gesicht, Marion schaute es an. Er schleppte den Koffer; sie hatte keinen Trager nehmen dürfen. Der Koffer war ziemlich schwer; Tullio keuchte. Sie schaute ihn an. „Adieu, Tullio! Machs gut!" Sie lieB vor Nervösitat ihr Taschchen fallen, es ging auf, Toilettegegenstande und Börse lagen auf dem Pflaster des Bahnsteiges. „Ich bin immer so ungeschickt!" Sie rang verzweifelt die Hande; lieB die Gelenke knacken. Da stand sie, eine lange, dünne, nervöse Dame in ihrem schwarzen Mantel; den kleinen Hut etwas unordentlich aufgesetzt; darunter kam das Purpur-Haar hervor. Sie war nicht mehr völlig jung — nicht mehr neunzehnj ahrig war Marion, auch die Fünfundzwanzig hatte sie schon überschritten, und der dreiBigste Geburtstag lag hinter ihr. Seht — um den leuchtenden, verführerischen Mund gab es schon scharfe Falten; auch um die schief gestellten Katzenaugen ward dergleichen bemerkbar. Marion von Kammer — die Tochter der geborenen von Seydewitz; die Schwester Tillys, einer kleinen Selbstmörderin; die Witwe Marcels, eines Dichters und Soldaten; die Geliebte eines Fensterputzer: da stand sie, mit langen Beinen, zwischen den Augenbrauen einen angestrengten und gequalten Zug, im Mund die Lucky Strike-Zigarette; schlenkerte mit ihren Handschuhen; wuBte nicht, wohin mit ihren Handen — und sprach: „Adieu, Tullio! VergiB mich nicht! Und leb wohl!" Marion — wieder auf Tour: sie empfand es wie eine Heimkehr. Die Ruhelosigkeit war der vertraute Zustand und hatte fast beruhigende Wirkung. Wir sind Vagabunden, Zigeuner, total entwurzelt, heimatlos, sans patrie. ,Wo bin ich gerade jetzt ?' dachte sie wieder, wie damals, im Haag oder in Bratislawa. ,Wo habe ich übernachtet ? In einer Stadt namens Memphis oder in Chicago ? Oder bin ich in einem PullmanCar ?" An die Pullman-Car war sie bald gewöhnt. Erst hatte sie es beschwerlich gefunden, sich in den verhangten Betten, halb liegend halb sitzend, an- und auszuziehen —: man stieB mit dem Kopf gegen die niedrige Decke, es war unbequem, und ein eigenes Compartment konnte sie sich nicht leisten. Aber sie bekam schnell Routine. Nach einigen Reisetagen schienen ihr die amerikanischen Züge komfortabler als die europaischen. „Pullman Miles — Happy Miles!" — las sie auf den bunten Plakaten, die vor der Damen-Toilette hingen. Sie gab dem Reklame-Text beinah recht. Unterwegs fühlte sie sich am wohlsten. Denn die Aufenthalte waren strapaziös. Anstrengender als die Vortragsabende waren die Interviews und die Geselligkeiten. Mit vielen Menschen muBte Marion plaudern, und sie hatte immer gut in Form zu sein. Die Club-Damen, die Journalisten, die Professoren, Studenten, jungen Madchen — alle baten: „Teil us something about Germany! How is it possible . . . ?" — Und dann half kein Gott: erzahlt sollte werden ... Es war ein Teil ihrer Arbeit, es gehorte zu ihren Pflichten. Übrigens sprach und berichtete sie nicht ohne Vergnügen. Der Wille aller dieser Menschen, sich zu unterrichten, war mehr als trage Neugier; er war rührend und beinah tröstlich. Die Fragen selber wirkten oft naiv und ahnungslos: „Warum mag Herr Hitier die Juden nicht ? — Wieso findet sich niemand, der Herrn Hitier tötet ?" Aber die Sorge, die Bestürztheit, die Anteilnahme waren stark und echt. Viele, die sich jetzt vor den Nazi-Greueln entsetzten, hatten Deutschland — „the country of Goethe and Beethoven" — einst geliebt und bewundert. Umso heftiger war nun ihre Enttauschung — die übrigens nicht nur diesem einen Lande galt, sondern dem Erdteil. Warum duldeten Frankreich und England solche Barbarei, inmitten des Kontinents ? Hatten sie nicht die Macht, den deutschen Diktator zu erledigen, ohne Krieg, nur durch die Kraft des moralischen, kulturellen, ökonomischen Boykotts ? — So fragten die Club-Damen, Professoren und jungen Leute. Marion aber muBte Rede und Antwort stehen. Sie gefiel den Amerikanern. „I think we do like you!" sprach herzlich die Dame vom Club-Vorstand, und die anderen nickten. „It was wonderful to have you here! The whole crowd was just crazy about you! Couldn' t you have dinner with us tonight?" Marion machte Eindruck, weil sie aufrichtig war. Sie überzeugte, weil sie ihrerseits starken Glauben hatte, weil die Flamme in ihrem Bliek nicht künstlich sein konnte, der Schrei, das Schluchzen in ihrer Stimme nicht affektiert. Ihre Persönlichkeit imponierte, man war beeindruckt durch ihren Mut. „Such a brave little thing!" sagten die Damen, und die jungen Leute — wie auch die bejahrten Professoren — zeigten sich empfanglich der fremdartigen Charme ihrer Erscheinung: die lockere Purpur-Mahne über dem kurzen, ausdrucksstarken Gesicht; der leuchtende, feuchte Mund, die schrag gestellten, leidenschaftlichen Augen; die Magerkeit der gestrafften Glieder, der schonen, nervösen Hande. „Sie ist etwas ganz Besondres!" sagten die Professoren, Studenten und sogar die abgebrühten Journalisten. „Very different — in a charming manner: that's what she really is! — And very Continental, too!" fügten sie anerkennend hinzu. Man applaudierte ihrem Vortrag sogar dann, wenn man seinem Inhalt kaum hatte folgen können —: nur der reizenden Erscheinung wegen; weil die Augen dieses Madchens gewannen, und weil ihre Stimme entzücken, rühren und erregen konnte. — Tatsachlich war die Darbietung, mit der sie zu den Clubs und Universitaten kam, für das Publikum etwas Neues, und ware von einer weniger attraktiven Person wahrscheinlich nicht akzeptiert worden. Damen, die Vortrage hielten —: das kam tausend Mal vor; Schauspielerinnen sah man sich auf dem Theater an; lieber noch auf der Filmleinwand. Aber ein Madchen, das Gedichte sprach, noch dazu teilweise in fremder Zunge? Es war gar zu ,,Continental" und hatte leicht verwunderlich, selbst komisch wirken können. — Der Agent indessen, der in Marions Tournée Geld und Kraft investiert hatte, war sich seiner Sache beinah sicher gewesen, und sein geübter Instinkt behielt recht: Die Leute in Detroit, Kansas City und Baltimore fanden das Experiment nicht langweilig, sondern faszinierend. Noch wahrend Marion unterwegs war, kamen neue Angebote, neue Engagements. Ihre Rückreise nach New York verzögerte sich. Überraschender und — wie Marion schien — paradoxer Weise, gingen diese Einladungen beinah samtlich von amerikanischen Organisationen aus; die deutschen Gruppen hielten sich zurück. Hatte es nur politische Gründe ? Lehnten die deutschen Vereine es ab, die Ausgebürgerte, die Emigrantin bei sich zu empfangen ? — Marion dachte darüber nach, nicht ohne gekranktes Erstaunen. .Werden meine Landsleute sogar hier von Hitier regiert?' Da sie sich fast immer an Amerikaner wendete, schien es ihr ratsam, die Rezitationen deutscher Verse einzuschranken, und die begleitende, erlauternde Rede ausführlicher zu machen. Ihr Englisch wurde flieBend; ihr Akzent war gut. Sie erzahlte, auf dem Podium stehend, vom „anderen, besseren Deutschland", vom „guten alten Europa" und seinem Ruhm — fast mit der gleichen Nonchalance und improvisierten Leichtigkeit, die sie beim Dinner mit den Club-Damen hatte. Sie verstand es, zu amüsieren. Die Anspielungen aufs Aktuelle, auf Personen und Probleme des Tages, wurden dankbar belacht. Sie berichtete von Heines Leben in Paris, von Lessings Polemiken, Goethes fürstlich erhöhter, einsamer Existenz, von den Tragödien Hölderlins, Kleists und Nietzsches — ehe sie die Verse oder Prosastücke sprach. Auch von den Lebenden, den Emigranten wufite sie Geschichten, die rührten und unterhielten. Es folgten die Dichtungen, oft in englischer Übersetzung. Die Rezitation bekam mehr und mehr den Charakter von sparsam verwendeter Illustration. Die Einführung, Deutung, politisch-moralische SchluB- folgerung ward das Wesentliche, Zentrale. Nach dem Vortrag stürmten alte Damen auf Marion zu, um ihr zu versichern, wie beglückend und belehrend alles für sie gewesen war. ,,Vor fünfunddreiBig Jahren habe ich in Leipzig gelebt!" Die WeiBhaarige sagte es deutsch —: es war mühsam für sie, aber sie wollte beweisen, daB sie es noch nicht ganz vergessen hatte. „Damals war Deutschland schön! — ein so feines Land! Jetzt ist es wohl total — verrückt geworden? Isn 't it too bad ? — Aber seitdem ich Sie gesehen habe, liebes Kind, bin ich wieder stolz darauf, daB meine GroBmutter aus Hannover stammt. — Ich war namlich schon nah dran, mich meiner armen GroBmama zu schamen," flüsterte die Alte, hinter vorgehaltener Hand. „So wie man sich in Deutschland jetzt wohl einer jüdischen GroBmutter schamt . . fügte sie kichernd hinzu. Eine andere Frau sagte zu Marion: „Die Deutschen sind nicht zu entschuldigen. Gerade wenn man ihre groBen Eigenschaften bedenkt, wachst die Empörung über ihre Entartung. — Ich war von Ihrem Vortrag begeistert. Sie wollten uns ein ,anderes Deutschland' zeigen— und, wahrhaftig: Sie haben es lebendig gemacht! Aber hat es, als Nation, als Realitat, jemals existiert — dieses ,andere Deutschland', auf das Sie sich berufen ? Es hat deutsche Genies gegeben, und es hat immer ein paar tausend Deutsche gegeben — wie Sie; ich habe Freunde unter ihnen gehabt. Aber der Rest ? Das Ganze ? — Wahrend des Krieges hat man uns versichert: Es ist nicht das deutsche Volk, gegen das man kampfen soll; es sind nur seine Tyrannen. Damit war euer lacherlicher Kaiser gemeint. Nun — der ist unschadlich gemacht worden. Und nach fünfzehn Jahren war ein neuer deutscher Tyrann da: nicht weniger grotesk, aber viel gefahrlicher als Wilhelm. Nun sollen wir noch einmal zwischen diesem Volk und seinen schlimmen Führern den fundamentalen Unterschied machen ?" Die Dame, die selbstandig nachdachte und sich nichts einreden lieB, fragte es beinah drohend. ,,Mir scheint doch leider," fügte sie mit Nachdruck hinzu, „das deutsche Volk hat die Führer, die ihm gefallen und die zu ihm passen." — Marion nannte ihr Programm, das bis dahin unter dem Titel „Das andere Deutschland" angekündigt worden war, nach diesem Gesprach — das nicht das erste seiner Art gewesen war —: „Deutschland von gestern — und morgen." ... Es kamen Tage, da meinte sie: Ich kann nicht mehr. Abends, auf dem Podium oder am geselligen Tisch, versagte sie niemals; ihre Energie überwand jede Müdigkeit: sie strahlte, und lieB noch den Schlauesten nicht merken, wie elend ihr ein paar Stunden früher gewesen war. Wahrend der langen Eisenbahnfahrten wurde ihr oft schwindlig; sie muBte sich übergeben. Solche Art von jahenÜbelkeiten hatte sie nie gekannt. ,Was ist mit mir ?' — Sie machte sich ernsthaft Sorgen, und war doch sonst nicht hypochondrisch gewesen. Die Landschaft ward immer öder; immer melancholischer der Bliek in die kleinen Ortschaften, an denen der Zug stoppte oder langsam vorbeifuhr. Das kahle Backsteingebaude des Bahnhofs; dahinter, die Perspektive der „Main Street"; ein paar Dutzend Ford-Wagen; ein paar groBe Plakate von CamelZigaretten und Coca-Cola; ein paar schmutzige Kinder, weiBe oder schwarze; zwei oder drei DrugStores, ein Kino. Darüber der trüb bedeckte winterliche Himmel . . . Pullman Miles — Happy Miles . . . Winter im Mittelwesten. An irgendeiner dieser Stationen stieg Marion aus — jeden Tag an einer anderen, und es schien immer dieselbe. Die Damen vom Club-Vorstand oder die Herren von der Universitat holten sie in einem Ford- oder Buick-Wagen ab. In der Hotelhalle erwarteten sie zwei Interviewer, vom „Chronicle" und von den ,,Daily News". Sie saBen in Schaukelstühlen und rauchten dicke Zigarren. Marion erkundigte sich beim Portier, ob Post für sie da sei. Ja, es waren Briefe für Miss von Kammer gekommen. Sie sagte: „Thanks" und steckte sie zu sich. Erst muBte sie mit den Journalisten sprechen. Wahrend sie, prazis und munter, Auskünfte gab, schielte sie auf die Couverts. Sie erkannte verschiedene europaische Marken. Aber erst ein paar Minuten spater, im Lift, entdeckte sie, daB sie auch von Tullio eine Nachricht hatte. Dies war seine ungelenke, dabei stolz geschwungene, kindliche Schrift. Seit zehn oder zwölf Tagen war kein Lebenszeichen von ihm gekommen. Wahrend der ersten Wochen ihrer Tournée hatte Marion fast an jeder Station einen Brief, mindestens ein Telegramm oder eine Karte von ihm gefunden. Meistens freilich waren es nur kurze, rhetorisch flüchtige GrüBe und Beteuerungen gewesen: „Ich denke an Dich, meine Liebste! Wann kommst Du wieder ? Seit vorgestern arbeite ich in einem anderen Hotel. Hast Du Erfolg ? VergiB Deinen Tullio nicht!!!" Dann war er plötzlich verstummt; auch Depeschen mit bezahlter Rückantwort, die Marion schickte, hatten keine Silbe mehr aus ihm herausgelockt. Er schien alle Krafte seiner Beredsamkeit aufgespart und gesammelt zu haben, für die umfangreiche Epistel, die nun eingetroffen war. Marion wuBte schon, was er ihr mitzuteilen hatte. „Alles ist aus, ich reise, Du wirst mich nie wieder sehen." Dies schrieb er, in umstandlicher und pathetischer Form. Er betonte: „Ich werde Dich immer lieben!" VergaB indessen nicht, grausam hinzu zu fügen: „Du verlierst mich, ich verschwinde aus Deinem Leben, zwischen uns ist es aus." In hochtrabenden und konfusen Worten lieB er wissen, daB er nach Europa fahre, nachster Tage schon. „Ich arbeite als Kellner auf einem Schiff. In Europa aber will ich kampfen." — Wo kampfen ? Gegen wen kampfen ? Er erklarte es nicht. Aber Marion wuBte es ja. Sie hatte noch seine Worte im Ohr: „Die Macht is böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muB die Macht niederringen, den groBen Drachen . . Und weiter — die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht —: „Ich muB mich opfern ... Es wird das Opfer verlangt ..." Oh, diese Knaben, diese Soldaten, diese grausamen Martyrer! —: kindlich gierig alle nach dem Opfertod, und so schnell bereit, ihm alles zu opfern: das eigene Leben, samt dem Leben der anderen. — Marion, die Witwe Marcels —: noch einmal verlassen, von ihrem italienischen Fensterputzer; Witwe zum zweiten Mal, alte Krieger-Witwe, erfahren in Abschiedsschmerzen, geübt im grofien Adieu;Marion, unermüdliche Jungfrau von Orléans am Vortragspult; siegesgewisse Kampferin; bewahrte Trösterin; ermunterndes Beispiel für Viele —: seht, sie weint! Schaut hin: sie vergieBt nochmals Tranen; in einem Schaukelstuhl sitzend, den sie von der heiBen Zentralheizung weggerückt hat; an einem Schreibtisch, auf dem die Bibel und das Telephonbuch liegen; im Reisemantel, kleinem schwarzen Hut auf der Purpurmahne; irgendwo im Mittelwesten der U.S.A. — sie weiB kaum, in welcher Stadt —: so kauert sie, die Kniee hochgezogen, das Gesicht in die mageren Hande geworfen, und gönnt sich ein kleines Schluchzen. Die Koffer liegen noch auf dem Bett. Sie sollte auspacken; muB das Abendkleid bügeln lassen. In zwei Stunden wird das Telephon lauten: „Mrs. Piggins is in the lobby . . Mrs. Piggins ist der Club-Vorstand, sie wird die Künstlerin zum Vortrag abholen; Marion muB baden, sich erfrischen, das Gesicht zurechtmachen, reichlich Rouge auflegen, sie sieht scheuBlich aus — blaB und mager, und dazu die verheulten Augen. ,Oh Tullio — Tullio: warum ? Wozu dieses Pathos, diese leeren Schwüre, aufgeregten Gesten? Wir hatten miteinander leben sollen. Ach, ihr scheut alle die unsagliche, lange, süBe Mühe des Lebens! Der eigentlichen Verpflichtung weicht ihr alle aus! Ihr groBen Helden, meine armen Brüder —: warum bevorzugt ihr die leichten, schnellen, tödlichen Triumphe ? . . . Mir ist übel. Wovon ist mir so übel ? Die ganzen letzten Tage ist mir nicht gut gewesen. Was ist mit mir ? Was ist mit mir, Tullio?' — Tullio — stürmischer Liebhaber; Anarchist und verkanntes Genie; jetzt wohl schon als Steward auf hoher See amtierend —, Tullio, der Überschwengliche und Ungetreue, hörte die Frage nicht. Marion zog es vor, sich selbst die Antwort heute noch zu ersparen; sie hinaus zu schieben, noch ein wenig offen zu lassen. — Um sich auf andere Gedanken zu bringen, las sie, mit feuchten Augen, ihre europaische Post. Frau von Kammer, die geborene von Seydewitz, hatte geschrieben. Früher waren Mamas floskelhaft kühle Briefe für Marion eine Peinlichkeit gewesen; jetzt bedeuteten sie groBe Freude. Die Mutter schrieb gescheit und herzlich; nicht ohne Humor, trotz einem gewissen Unterton von Schwermut. Auch hatte sie viel zu erzahlen. Die kleine Susanne hatte sich verlobt — berichtete Frau von Kammer. „Sie scheint glücklich zu sein; das ist natürlich die Hauptsache Unter uns gesagt: ich finde den Kerl ziemlich unausstehlich. Er ist aus einer guten preuBischen Fami- 36 lie; sein GroBvater war mit meinem armen Papa befreundet. Wahrscheinlich ist es eine Art Gnade von ihm, daB er ein Madchen ohne Geld und mit nicht rein-arischem Blut zur Frau nimmt. Susanne will mit ihm nach Berlin ziehen. Dort soll auch die Hochzeit sein. Du kannst Dir vorstellen, liebe Marion, daB ich nicht gerade sehr entzückt von all dem bin ... In ungefahr vier Wochen wird Susanne also Frau von Mackensen heiBen." — Die zweite Neuigkeit war noch wesentlich interessanter. Marie-Louise hatte sich dazu entschlossen, eine Pension zu eröffnen: „mit meiner Freundin Tilla zusammen!" — Frau Tibori hatte etwas Geld aus Hollywood mitgebracht. Für den Anfang war es reichlich genug. Die beiden Damen hatten eine groBe, hübsche Villa am Zürichberg gefunden: relativ billig, und wie gemacht für eine nette FamilienPension. „Den guten Ottingers — du weiBt: Tillys prachtvollen alten Freunden — habe ich eigentlich alles zu danken. Ohne deren EinfluB, den sie so lieb für mich verwendet haben, hatte ich die Erlaubnis nie bekommen können. Am i. Januar machen wir auf. Du kannst Dir vorstellen: ich habe alle Hande voll zu tun und bin machtig aufgeregt. Es haben sich ziemlich viel Gaste angemeldet; Schweizer und Emigranten. Man soll es gut bei uns haben, unsere Köchin ist ausgezeichnet, und ich will versuchen, die Preise möglichst niedrig zu halten. So viele Menschen, die jetzt aus Deutschland kommen, haben doch gar kein Heim, und wissen überhaupt nicht, wohin mit sich. Ich habe wirklich den Ehrgeiz, ihnen etwas zu bieten, was mit der Zeit beinah ein Ersatz für das Verlorene werden könnte . . Wer hatte dergleichen von Mama erwartet ? Sie war starr gewesen — nicht eigentlich lieblos, vielleicht; aber doch unfahig, Gefühle mitzuteilen und zu akti- vieren. Mit ihren Töchtern hatte sie wie eine distinguierte Fremde verkehrt. Eine von ihnen war in den Tod gegangen —: die süBe Tilly hatte sich auf und davon gemacht, war eingeschrumpft, sehr hold und klein geworden; entrückt, entschwunden . . . Ein plumper Unglücksbote hatte der Mutter den Abschiedsbrief überreicht: da war, durch die Kraft der Tranen, eine Rinde um ihr Herz geschmolzen. Nun wollte sie also eine Pension eröffnen, mit ihrer Freundin Tilla zusammen. ,Gute Mama!' dachte Marion gerührt. ,Der erste Januar — das ist ja schon in neun Tagen. Der erste Januar 1938 . . .' Dann las sie die anderen Briefe. Eine Nachricht von Madame Rubinstein aus Paris —: dies war überraschend; denn die Beziehungen zwischen Marion und Anna Nikolajewna hatten sich, wahrend der letzten Jahre, eher abgekühlt. Nun lieB die russische Freundin wieder einmal von sich hören, weil sie unglücklich und sehr einsam war. Ihr Gatte, Monsieur Rubinstein, war gestorben. „Mon pauvre Léon est mort," berichtete sie in ihrer altmodisch feinen und genauen Schrift. „Für ihn bedeutet es wohl eine Erlösung; er war immer melancholischer geworden, das Heimweh machte ihn krank, ganz abgesehen von seinem qualenden Nierenleiden." Marion erinnerte sich des aufgeschwemmten, grauen und porösen Gesichtes — des irdischen Antlitzes des Herrn Leon Rubinstein. Nun war es also zerfallen. Die Verwesung hatte leichte Arbeit mit ihm gehabt; es hatte stets etwas verwest gewirkt . . . „Wahrend seiner letzten Stunden hat er nur von Mütterchen RuBland gesprochen," schrieb Anna Nikolajewna. Jetzt darf ich endlich heimkehren' — hat er immer wieder gesagt." „Man soll die Heimat nicht aufgeben, sie ist unersetzlich." — Marion hörte wieder die Stimme ihrer alten Freundin. Sie sah das enge, überfüllte Zimmer — den Samowar, die Nippes-Sachen, die Souvenirs, die ausgestopften Tiere. — „Man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan." Dies waren die furchtbaren Worte Anna Nikolajewnas gewesen. Die kleine Germaine aber — das trotzig-ernsthafte Kind — war zurückgekehrt: auch dies erfuhr Marion, und Madame Rubinstein klagte: „Ich habe also keinen Menschen mehr!" Ihr Töchterchen hatte sich in Moskau niedergelassen und Arbeit in einem Mode-Salon gefunden. „Erstaunlich genug" — wie die verlassene Mutter bemerkte — „man scheint sich in Sowjet-RuBland neuerdings für elegante Damenkleidung zu interessieren. Germaine schreibt mir, daB die Frauen in Moskau sich schminken wie die Pariserinnen — wenn auch weniger geschickt. Das Kind scheint sich wohl zu fühlen. Zu Anfang kam ihr wohl alles in der fremden Heimat etwas seltsam vor; aber allmahlich gewöhnt sie sich. Neuerdings ist ein Flirt zwischen ihr und einem jungen Ingenieur aus Kiew im Gange. Nun, man wird sehen, ob sich etwas Ernsthaftes daraus entwickelt . . . Wenn Germaine in RuBland heiraten sollte, werde ich sie für immer verlieren. Ich kann nicht dorthin zurück. Ich werde in Paris sterben, wie mon pauvre Léon." Marion dachte: ,Viel Schicksal ist diesen Briefen anvertraut worden, die auf der „Normandie" oder der „Queen Mary" eilig über den Ozean geschwommen sind. — Was für Neuigkeiten weiB Theo Hummler ? LaB sehen!" Hummlers Epistel hatte trocken informativen Charakter. Sie enthielt Mitteilungen über den Fortgang der politischen Arbeit, der illegalen Aktionen in Deutschland. „Einer unserer Verbindungsleute in Berlin ist verhaftet worden. Das Wunder ist, daB — trotz allem! — für jeden Verlorenen ein Ersatzmann sich meldet. Es gibt viele Helden in Deutschland." — Er erwahnte, daB in letzter Zeit der kleine Kikjou wertvolle politische Dienste geleistet habe. „Er ist tapfer und geschickt, auBerdem kommen ihm seine Sprachkenntnisse und seine gesellschaftlichen Verbindungen zu gute. Wir konnten ihn unlangst in einer besonders heiklen Mission ins Reich schicken. Die Aufgabe war schwierig und ist gut von ihm erledigt worden." Hierüber freute sich Marion; war übrigens kaum überrascht. Aus dem kleinen Kikjou war ein Mann geworden: sie hatte es in dem Pariser VersammlungsSaal, und besonders bei der flüchtigen Begegnung im Treppenhaus konstatieren können — damals nicht ohne Erstaunen. Nun bewahrte er sich: mit Befriedigung nahm es Marion zur Kenntnis, als hatte ein Sohn oder ein Bruder etwas Braves geleistet. Die Schwalbe war nach Spanien abgereist — wuBte Hummler noch. Ihr Pariser Lokal hatte sie für eine Weile geschlossen und sich, mit Doktor Mathes und Meisje zusammen, dem Sanitats-Dienst der loyalistischen Armee zur Verfügung gestellt. Zur Zeit befanden sich alle Drei — Mathes, sein Meisje und die Schwalbenmutter — mit ihrer Ambulanz an einem Front-Abschnitt bei Valencia. „Von unserem kleinen Kreis hier ist also nicht mehr viel übrig," vermerkte Hummler — und Marion empfand: ,Wie einsam er geworden sein muB!' — „Helmuth Kündinger ist in China, eine groBe Pariser Zeitung hat ihn als Korrespondenten geschickt. Der Junge hat sich prachtvoll entwickelt, ist ein prima Journalist geworden, auch für unsere Zwecke oft sehr gut zu verwenden." — Immer wieder kam er auf „unsere Zwecke" zurück; auf den zah und unermüdlich geführten Kampf. Das Private war Nebensache. Trotzdem gestand er zum SchluB: „Ich wünsche oft, du warst hier, Marion! Du warst doch die Beste. Ich muB viel an dich denken. Du fehlst mir." . . . ,Ich fehle ihm also . . Marion wuBte selber nicht, warum es sie bewegte und etwas traurig machte. ,Mir fehlt auch dies und das. Jedem fehlt dies und das . . . Jetzt muB ich mich aber schleunigst zurechtmachen: Mrs. Piggins wird ja gleich hier sein. Die Dame, die mich abzuholen kommt, heiBt doch wohl Mrs. Piggins ? Oder war das der Name des Club-Vorstandes in der vorigen Stadt ? Ware peinlich, wenn ichs durcheinander brachte . . . Wo spreche ich eigentlich heute ? In der Universitat ?' . . . . . . Der Vortrag „Germany Yesterday — Germany Tomorrow" fand in der Aula des kleinen Colleges statt, und wurde mit interessiertem Beifall aufgenommen. Ein Auditorium, das zur Mehrzahl aus jungen Leuten bestand, war Marion stets das liebste: Zwanzigjahrige sind die besten Zuhörer — wenn sie nicht durch Schlagworte verdorben und stumpfsinnig gemacht worden sind. — Nach der „lecture" gab es eine „Diskussion"; aus dem Publikum wurden Fragen gestellt, und Marion — eine fragile Pythia auf dem Podium — muBte orakelhaft die Antwort improvisieren. ,, Wer wird in Deutschland nach Hitiers Sturz regieren ?" — „Was halten Sie von den United States of Europe ?" — „Wird der Führer die Tschechoslowakei angreifen ?" — Das Orakel muBte Bescheid über alles wissen — auch über die Frage: „Wie alt wird Herr Hitier werden ?" Ein junger Mann meldete sich zum Wort. Er war von angenehmen AuBeren: das blonde Haar akurat gescheitet, darunter ein rosiges Gesicht mit langer Nase. Seine Stimme freilich enttauschte: sie klang scharf, und sprach das Englische mit einem harten, fremden Akzent. Marion wuCte gleich: Der führte Böses im Schilde; er wollte sie hereinlegen, aufs Glatteis locken. Zunachst blieb er auBerst höflich. „Fraulein von Kammer ist eine Künstlerin," steilte er artig fest. „Sie kennt und liebt die groBe deutsche Kultur — ich habe ihren Vortrag sehr genossen. Eine Patriotin — und sicherlich ist Fraulein von Kammers vaterlandisches Empfinden stark und ehrlich — kann nicht die Absicht haben, Propaganda gegen ihr eigenes Land zu machen." Mit einem überlegenen Lacheln fuhr er fort: „Wenn ich die Rednerin recht verstanden habe, so verdammt sie das Dritte Reich vor allem aus humanitaren und kulturellen Gründen. Sie stellt die Behauptung auf: Deutschlands beste Geister — die man nach ihrer Ansicht nicht mehr fragen kann, da die betreffenden Herren langst nicht mehr unter den Lebenden weilen — würden heute gegen Hitiers Staat sein, weil sie sich über gewisse Harten der totalitaren Regierungsführung und über die Einschrankung der Pressefreiheit empören müBten." Er machte eine Pause; sein Lacheln drückte Skepsis und Mitleid aus. Dann aber wurde es lauernd. Den Oberkörper vorgeneigt, das Gesicht starker gerötet, bemerkte er: „Nur Eines erstaunt mich bei den Fanatikern des Antifascismus — bei unserer begabten Rednerin, wie bei vielen anderen. Warum finden sie Vorgange und Institutionen in Sowjet-RuBland verzeihlich, die ihnen im Deutschen Reich so sehr miBfallen ? Nehmen wir sogar an, in Deutschland seien Grausamkeiten begangen worden, wie in jedem jungen, revolutioneren Staat —: ich wil! sie gewiB nicht entschuldigen. Aber ich muB doch fragen: Hat die bolschewistische Diktatur sich nicht unvergleichlich mehr, nicht sehr viel Schlimmeres zu schulden kommen lassen? — .Diktatur': da haben wir ja das Wort. Immer wieder müssen wir uns die Greuelberichte über die Schandtaten der nationalen, aufbauenden, erhaltenden Diktaturen anhören; für die Exzesse des absolutistischen Bolschewismus scheinen unsere Antifascisten sich viel weniger zu interessieren. Gibt es in Sowjet-RuBland eine Presse-Freiheit —ja oder nein ? Ist in Sowjet-RuBland gemordet worden ? Wird dort weiter gemordet ? Ja —- oder nein ?" Er brüllte, seine Miene war purpurn, den Oberkörper hielt er immer noch vorgereckt. „Ich bin gewiB kein Fascist" — dabei schnaufte er heftig — „meine Freunde hier wissen das. Aber ich finde, wir sollten nicht unfair sein. Beschönigen oder verschweigen, wenn es sich um RuBland handelt; übertreiben und hetzen, wenn Deutschland zur Diskussion steht —: das geht nicht! Das ist gegen die guten Sitten!" Seine Rede hatte einen gewissen Eindruck gemacht. Der junge Mann hatte flieBend, dabei temperamentvoll gesprochen. Erst zum SchluB war er etwas aus der Form geraten. Durch seine Unhöflichkeit gegen Marion hatte er Sympathien verloren. — Mrs. Piggins, die Diskussions-Leiterin, war nervös geworden. Sie flüsterte Marion zu: „Furchtbar unangenehm! Herr Fröhlich ist ein deutscher Austausch-Student — ein begabter Junge, recht beliebt im College. Er hat niemals Sympathien für die Nazis offen zugegeben; war immer sehr zurückhaltend, durchaus objektiv. Was ist nur in ihn gefahren? Wie peinlich! Ich hatte ihn nicht sprechen lassen sollen! Nun müssen Sie ihm erwidern, Fraulein von Kammer!" Marion war im Begriff, sich ihre Antwort zurecht zu legen. Diesen Burschen muBte man abfahren lassen! Welch gemeiner Demagogentrick: in die Diskussion ein Thema zu zerren, das abseits lag und nur Verwirrung stiften konnte! — Sie öffnete schon den Mund, um ihre Replik zu beginnen; da wurde ihr schwindlig, sie taumelte, griff hinter sich, ihr Gesicht war weiB. Sie spürte: Gleich werde ich stürzen . . . Was ist mit mir ? Ist es dieser aggressive Deutsche, der mich so aufgeregt hat ? Was sonst kann es sein ? Um Gottes willen; was sonst kann es sein ?. . . Mühsam hielt sie sich aufrecht. Erlösende Überraschung! Von unten, aus dem Publikum, hörte sie eine tiefe, beruhigende Stimme. Ein Mann sprach; Mrs. Piggins muBte ihm das Wort erteilt haben, ohne daB Marion es bemerkt hatte. Der Mann sagte: „Mir scheint, zuerst und vor allem ist es meine Pflicht, Fraulein von Kammer im Namen unseres Colleges um Entschuldigung zu bitten." Auch er hatte den unverkennbar deutschen Akzent. Er redete langsam, mit einer seltsam gepreBten, zurückgehaltenen Intensitat. Er schaute Marion an, wahrend er redete. Vor ihren Augen war es eben noch bemah schwarz gewesen. Nun konnte sie wieder sehen. Die Gestalt des Mannes, der sich als ihr Ritter und Verteidiger vom Platz erhoben hatte, war nicht groB und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine groBe, rundliche Flache ward beherrscht von den Augen, die den Bliek einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. — Marion bemerkte, daB alle Gesichter im Saai ihm vertrauensvoll zugewendet waren. Kein Zweifel: er genoB die respektvolle Sympathie der Versammlung. Man war erleichtert, daB er den wortgewandten Angreifer zurechtweisen und widerlegen wollte; man atmete auf, Mrs. Piggins strahlte. Der Mann, auf den alle Aufmerksamkeit sich nun konzentrierte, schien indessen seinerseits kaum noch zu wissen, daB er inmittender erwartungsvollen Menge Stand. Es war nur noch Marion, die seine grüblerischen und gefühlvollen Augen sahen. Sie spürte seinen Bliek auf der Haut wie etwas Körperliches. „Leider ist festzustellen," sagte er langsam, „daB mein Vorredner unritterlich gegen eine Dame war — unritterlich in der Form, wie durch die Argumente, die er gegen sie benutzte. Sicherlich wird Fraulein von Kammer selbst die beste Antwort für Herrn Fröhlich wissen — es sei denn, sie zieht es vor, ihn einer Erwiderung gar nicht zu würdigen. Jedenfalls möchte ich es nicht minera der amerikanischen Freunde überlassen, meinen Landsmann, Herrn Fröhlich, auf seine Entgleisung aufmerksam zu machen — zumal er sie sich einer Kompatriotin gegenüber hat zu schulden kommen lassen. — Herr Fröhlich hat vorhin den Begriff .unfair' gebraucht. Es erstaunt mich, daB für einen Anhanger Hitiers dieses Wort überhaupt Sinn und Inhalt hat. Für uns andere freilich bleibt es bedeutungsvoll. Gerade deshalb hat die rhetorische Exkursion des Herrn Fröhlich uns so tief schokiert. Ich fürchte, es war seine Ansicht, Fraulein von Kammers moralische Integritat zu verdachtigen. Das ist unertraglich!" rief der untersetzte Mann, plötzlich wütend, wie in einem Anfall von Jahzorn; er stampfte kurz mit dem FuB, sein rundliches Gesicht verfarbte sich dunkel. „Jeder im Saai ist von ihrem Vortrag bewegt worden. Wenn irgend jemand, so hat sie das Recht, die Entartung, den geistig-politischen Absturz Deutschlands zu rügen und zu beklagen, da sie selber bestes Deutschland ist. Und nun kommt dieser junge Herr aus Berlin, um uns boshaft zu examinieren: Ist es in RuBland besser ? — Lassen wir die Frage offen, ob es in RuBland besser oder schlechter ist; ob die Sowjet-Union alle Welt durch ihre Aggressivitat, ihr Expansionsbe- dürfnis, ihre internationalen Intrigen bedroht und zur Aufrüstung zwingt — oder ob nicht vielmehr das Dritte Reich es ist, von dem solche Bedrohung ausgeht, wahrend die AuBenpolitik Moskaus niemanden beunruhigen kann. Lassen wir sogar dahingestellt, ob die Verhaltnisse in RuBland und in Deutschland überhaupt irgendwie zu vergleichen sind. Das alles steht nicht zur Debatte. „Was ich Siefragen will und muB, meine Damen und Herren, ist nur dies: Hatte der Vortrag, den Fraulein von Kammer uns geboten hat, irgendetwas, auch nur das Allermindeste mit RuBland zu tun? Ist dieses komplexe und schwierige Problem nicht an den Haaren herbei gezogen worden? — Fraulein von Kammer hat uns gezeigt, was Deutschland war, und was es wieder werden könnte. Sie muBte das gegenwartige Deutschland anklagen, da sie das Deutschland einer groBen geistigen Vergangenheit und einer groBen geistigen wie realen Zukunft feiern wollte. „Die Rednerin hat keinen AnlaB zu der Vermutung gegeben, daB sie mit irgendeiner Diktatur sympathisiere. Welche aber wird sie am starksten hassen ? Diejenige, natürlich, die sie am besten kennt — und die ihr eigenes Volk, ihre Heimat erniedrigt. Es ist die Tyrannis im Herzen Europas — die Gefahr und die Schande der Welt; es ist der Nationalsozialismus!" Nun war er es, der heftig atmete und die tief gerötete Stirne zeigte, wie vorhin der Jüngling mit dem adretten Scheitel. Der saB jetzt ziemlich klaglich in sich zusammengesunken. Mrs. Piggins, auf dem Podium, raunte Marion ins Ohr: „Einen besseren Advokaten hatten Sie gar nicht finden können! Professor Abel genieBt hier das gröBte Ansehen. Sicher haben Sie schon von ihm gehort —: Professor Benjamin Abel, aus Bonn . . DRITTES KAPITEL Dank Professor Abels energischem Eingreifen hatte das Meeting einen harmonischen AbschluB gefunden. Marion empfing die herzlichsten Komplimente von Herren und Damen, Professoren, Studenten und jungen Madchen; es war der gewohnte Triumph. Der gewahlte Kreis, den Mrs. Piggins zu einer kleinen „Party" in ihr Haus geladen hatte, befand sich in feierlich-animierter Laune. Das Heim der Dame Piggins lag ein wenig auBerhalb des Stadtchens; die Gaste wurden in mehreren Automobilen befördert. Ein weiBhaariger Kavalier mit Knebelbart und feiner, pfiffiger Miene bat Marion scherzhaft-artig, mit seinem bescheidenen Ford vorlieb zu nehmen. Es war ein reizender alter Herr, sowohl schalkhaft als würdig. „Ihr Vortrag war ganz vortrefflich," sagte er seiner Dame, wobei er ihr in den Wagen half. „In der Tat: Sie haben mir groBe Lust gegeben." — Er redete deutsch, gewandt, wenn auch mit drolligem Akzent; zuweilen ging es ein biBchen daneben — so die Wendung über die „Lust" die Marions Darbietung ihm gegeben hatte. Sie muBte lachen, weil es komisch war; schamte sich gleich, und war erst wieder beruhigt, als sie ihn heiter reagieren sah. Er drohte ihr mit dem Finger; hinter der goldumrandeten Brille blitzten die blauen Augen, lustig und gescheit. „Lachen Sie nur, gnadiges Fraulein — es steht Ihnen gut zu Gesicht, und ich mag Personen, die sich amüsieren können! Habe ich vorhin etwas Dummes gesagt ? Ja ja, ich vergesse die schone, komplizierte deutsche Sprache! Sie müssen wissen, ich bin seit dem Jahre 1912 nicht in Europa gewesen. — Das ist lange her," sprach der alte Herr. Dabei füllte sein Bliek sich mit Wehmut. Erinnerungen enthalten immer auch Traurigkeit; sie erfreuen und betrüben das Herz. Der alte Herr lachelte, selig und melancholisch, weil er an Heidelberg dachte. Dort hatte er studiert. — „Wie schön ist Deutschland gewesen!" meinte er sinnend. Er hieB Franklin D. Schneider und leitete das Germanistische Department der Universitat. Seine Eltern stammten aus Hamburg. Er liebte Heines „Buch der Lieder", Goethes „Faust" — aus dem er Partien ins Englische übersetzt hatte — Wagners „Lohengrin", und den „Grünen Heinrich" von Gottfried Keiler. Er besaB eine Kollektion von Bierseideln aus Bayern und Tirol. Bei festlichen Gelegenheiten spielte er Wiener Walzer auf dem Pianoforte —: alles sprach dafür, dal3 er sich heute abend dazu bereit finden würde. Er hatte in Berlin den jungen Kaiser bei der Parade und die Uraufführung von Hauptmanns „Webern" gesehen. Er war Benjamin Abels Vorgesetzter. „I like Ben," erklarte Professor Schneider mit warmem Nachdruck. „As a matter of fact, I am very fond of him. He is a grand fellow. Did you meet him before ?" — Nein Marion hatte erst heute das Vergnügen gehabt. „Er macht einen sehr guten Eindruck," sagte sie, und sah plötzlich zerstreut aus. — Bei Mrs. Piggins gab es Bier und Sandwiches mit einem Kase, der „Liederkranz" hieB —: alles zu Ehren des deutschen Gastes. Spater wurde Whisky und Soda gereicht. Mr. Piggins, der Hausherr, war ein lustiger Onkel, er betonte: „Zu Vortragen gehe ich niemals. Sie machen mich schlafrig." Er interessierte sich für sein Geschaft, das genug Sorgen und Probleme mit sich brachte. „Was gehen die europaischen troubles mich an ?" fragte er Marion. Er unterhielt sich glanzend mit ihr. — „Wir haben unsere eigenen Schwierigkeiten," erklarte Mr. Piggins. Er sprach von den Arbeitslosen in den U.S.A., und von den gefahrlichen Konsequenzen des „New Deal". — „Eines muB man unserem Prasidenten lassen," gab Piggins zu. „Er hat Courage. Ich bewundere ihn, weil er Courage hat. Aber als Geschaftsmann muB ich doch konstatieren ..." Seine Ansichten und Spekulationen waren für Marion lehrreich und unterhaltend. Mr. Piggins war realistisch, dabei nicht ohne Neigung zum Philosophischen. Er verstand: Die Welt verandert sich, das Neunzehnte Jahrhundert ist vorbei —: mit ihm die Epoche des unbegrenzten Liberalismus. „Wenn wir unsere Freiheit bewahren und verteidigen wollen, müssenwirsie vernünftig begrenzen." Dies begriff und billigte Mr. Piggins. Er sagte:„Ich bin nicht reaktionar. Alles Neue hat meinen Beifall, sogar wenn es Opfer kostet. Gewerkschaften müssen wohl sein; die Leute wollen ihre Interessen kollektiv vertreten." — Andererseits mochte er sich das Geschaft nicht verderben lassen. „Und wenn ich meine Bude nun zumache wegen der hohen Steuern?" Er fragte es etwas drohend. „Wer hatte etwas davon? Es gabe noch ein paar Dutzend neuer Arbeitsloser . . Marion hütete sich, Einwande zu machen. Sie hatte es als unschicklich empfunden, sich in Angelegenheiten zu mischen, von denen sie nicht genug wuBte; und übrigens war sie müde. Es tat ihr wohl, zu lauschen, anstatt zu reden. Wie angenehm — in einer Sofa-Ecke zu ruhen, vor sich das Whisky-Glas, zwischen den Fingern die Lucky-Strike-Zigarette, und sich von einem nachdenklichen business-man in die Details der amerikanischen Verwaltung einweihen zu lassen! Er sprach von Spannungen und Hoffnungen; von Leistung und von Versagen. Er vertiefte sich in den Personalklatsch von Washington, nachdem er die groBen Prinzipien und ihre Auswirkungen in der Praxis humorvoll-gründlich untersucht hatte. Er war sorgenvoll, aber im Grund optimistisch. Er meinte: „Wir sind ein groBes und gesundes Volk — auch ein reiches —: warum sollte es schief mit uns gehen ? Wir sind jung. Das sind alles nur Kinderkrankheiten." — Marion bemerkte plötzlich — mit leichtem Schrecken — daB sie nicht mehr aufmerksam zuhören konnte. Die Stimme des Mr. Piggins ward undeutlich; umso eindringlicher klang die des Professors Abel. Er saB am Kaminfeuer, mit Mrs. Piggins, dem wohlwollenden Kollegen Schneider und einem jungen Mann, der ein intelligentes, ziemlich hübsches, sehr braungebranntes Gesicht zeigte. Abel sagte: „Das war eine heikle Diskussion heute abend. Wahrscheinlich habe ich meinen Ruf ruiniert. Mein charmanter Compatriot, gegen den ich polemisieren muBte, wird verbreiten, ich sei Kommunist. Manche werden es glauben ..." — Mrs. Piggins lachte entsetzt — wahrend Benjamin abschlieBend konstatierte: „Dabei bin ich keiner." Er sprach zu dem Kreis am Kamin; seine Blicke aber gingen in die andere Ecke des Zimmers. Dort saB Marion mit Mr. Piggins. Sie dachte: ,Warum starrt er mich so an ? Es ist unangenehm. Seine Augen passen nicht in sein Gesicht. Figur und Miene sind die eines behabigen Familienvaters; der Bliek aber wirkt sowohl dumpf als auch feurig. Ein enorm eigensinniger Bliek. . . . Die Mischung aus Pedanterie und Leidenschaft ist gefahrlich.' Sie erkundigte sich: „Wer ist der junge Mann mit dem braunen Gesicht ?" —: nur aus dem Bedürfnis, irgendetwas zu auBern. Ihre Frage kam überraschend; Mr. Piggins hatte von der Arbeitslosen-Unterstützung gesprochen. ,Man soll mit Frauen niemals über ernste Dinge reden,' meinte er bitter. ,Noch die Gescheitesten sind nicht dazu im Stande, sich langer als zehn Minuten zu konzentrieren.' — Dann gab er Auskunft. Der junge Mann war Direktor eines kleinen Museums, das zur Universitat gehorte. AuBerdem hielt er Vortrage über Kunstgeschichte. — ,,Ich hatte ihn für einen Studenten gehalten," sagte Marion und zerknickte Streichhölzer zwischen ihren Fingern. „Er sieht wie ein Neunzehnj ahriger aus ..." Dabei überlegte sie sich: ,Habe ich mich bei Abel schon für seine ritterliche Hilfe bedankt ? Es war besonders nett von ihm, und sehr anstandig. Das sollte ich ihm doch sagen Sie sagte es nicht. Sie ging langsam durchs Zimmer, von Mr. Piggins weg, der enttauscht zurückblieb. Sie naherte sich der Gruppe am Kamin. Ihre Schritte waren sonderbar steif und stelzend. Das Lacheln auf ihrem groBen, leuchtenden Mund schien erfroren. Sie bewegte ein wenig das leichte und edle Haupt, wahrend sie stelzend schritt. Was machte sie so erstaunt, daB sie solcherart den Kopf zu schütteln hatte ? Die Purpur-Fülle des Haars tanzte locker über einem Gesicht, das sehr blaB war. In der Nahe des Kamins blieb sie stehen. Sie schien verlegen und war sonst doch die Sicherheit selbst. Sie konnte die Hande nicht still halten. Es gelang ihr, einen Aschenbecher umzustoBen. — ,,Wie dumm!" Ihr Lachen klang mühsam. Sie lieB sich in einen Stuhl fallen — so plötzlich, als hatte jahe Erschöpftheit sie hingeworfen. „Ich bin etwas müde ..." Sie hatte es zur Hausfrau gesagt, als Entschuldigung für das Malheur mit dem Aschenbecher. Indessen war es Abel, der antwortete. ,,Das glaube ich wohl. Sie verbrauchen Ihre Kraft auf dem Podium — man kann es sehen. Ein schönes und beunruhigendes Schauspiel . . „Es freut mich, daB Ihnen mein Vortrag gefallen hat." Marion sprach konventionell, beinah hart; sie selber wunderte sich über den abweisenden Ton ihrer Worte. War dies ihre Stimme ? — ,Mein Gott, ich rede ja wie Mama es zu tun pflegte — ehe sie durch groBes Leid verandert und weich gemacht ward.' Marion empfandi es mit leichtem Schauder. Übrigens begriff sie, daB ihr AuBerung nicht nur kalt gewesen war, sondern auch unpassend. Abel hatte keineswegs sein Gefallen an Marions künstlerischer Leistung ausgedrückt. Das Wort „beunruhigend", das er benutzt hatte, war vielleicht in einem ablehnenden oder sogar krankenden Sinn gemeint. Die kurze Pause, die entstand, war peinlich. Abel schaute verdüstert; umso enthusiastischer verhielt sich der junge Braungebrannte. Er erklarte: ihm, jedenfalls, habe es kolossal gut gefallen — über alle MaBen gut, er sei ganz entzückt. Ob Fraulein von Kammer morgen noch in der Stadt sein werde ? Es würde ihm eine Ehre sein, ihr die Ausstellung zu zeigen, die es jetzt hier im Museum gab. Eine auBerordentliche Kollektion von Bildern; höchst eindrucksvoll: wenn man ihm glauben durfte. „Es ist eine Kriegs-Ausstellung," erzahlte er eifrig, „eine Anti-Kriegs-Propaganda; die meisten Werke stammen von solchen, die es selber mitgemacht haben, in den Schützengraben . . . Schauerliche Dinge darunter, aber alles sehr stark . . . Auch die Deutschen sind glanzend vertreten . . . Nun, Sie werden ja sehen. . Marion wendete ein: „Aber wahrscheinlich werde ich morgen doch gar nicht mehr hier sein ..." Sie lachelte, seltsam hilflos —: hilflos unter Abels starrem, forschenden, pedantisch-glühenden Bliek. „Natürlich werden Sie bleiben!" rief temperament voll der sportliche Kunsthistoriker. Marion dachte — müde und etwas wirr —: ,Sicher ist er ein guter SkiLaufer; er sieht mir ganz so aus, als ob er gerade aus den Bergen kame. Ein netter Kerl. . . DaB mir immer wieder diese Jungens gefallen . . . Immer diese Leicht- 37 füBigen, mit den schmalen Hüften und den kindlichen Stirnen . . . Immer diese Laufer: erst laufen sie hinter uns her; dann laufen sie vor uns davon . . . Nicht ganz der richtige Geschmack für eine schwergeprüfte Dame in mittleren Jahren Abels bohrender Bliek war sehr wohl dazu im Stande, die Gedanken hinter dieser Frauenstirn zu lesen. Er wuft te: der junge Braungebrannte gefiel ihr — der ewige Boy, der schwarmerische kleine Museums-Direktor. Übrigens mochte Abel ihn gern, er war beinah mit ihm befreundet. Der ewige Boy war dreiunddreiBig Jahre alt und hieB Jonny Clark. Benjamin kannte seinen Charme und seine Zuverlassigkeit, seine Intelligenz und das schone Talent zur Begeisterung. Ein junger Mann mit feinen Qualitaten; aber nichts für Marion. Abel war sehr geneigt, mit gehobener Stimme vorzubringen: Verehrtes Fraulein von Kammer, ich verbiete Ihnen ausdrücklich, sich mit Mr. Clark intellektuell oder gefühlsmafiig weiter abzugeben. — SchluB mit dem Unsinn! — hatte Benjamin gern gerufen. Statt dessen bemerkte er, mit einer gewissen Scharfe: „Fraulein von Kammers Rezitationen sind aufregend — so viel steht fest. Aufregung ist niemals ein reiner GenuB. — Sie sind eine Agitatorin, gnadiges Fraulein." Wollte er sie verletzen ? Die amerikanischen Freunde muBten diesen Eindruck bekommen; es berührte sie nicht angenehm. Sollte es Zank geben, am Kaminfeuer der Mrs. Piggins, zwischen Landsleuten und Gesinnungsgenossen —zwischen zwei Exilierten ? Marion aber fragte gelassen: „Agitatorin — für was ?" „Für das Gute," gab Benjamin zu. „Für das Richtige und das Schone. Gerade deshalb stört die agitatorische Geste. Sie paBt besser zu unseren Feinden. — Vergessen Sie doch nicht: wir sind immer in Gefahr, beim Kampf unser Niveau dem des Gegners anzugleichen. Wir imitieren, nur halb bewuBt, Taktik und Gebarde des Feindes, in der Meinung, dies vergröBere unsere Sieges-Chancen. — Falsch!" rief Professor Abel — und jetzt hatte er die Aufmerksamkeit des ganzen Kreises für sich. „Durchaus falsch! Stark sind wir nur, wenn wir ganz wir selber bleiben. Ware der Kampf nicht sinnlos, wenn er uns dahin brachte, Werte und Gesinnungen aufzugeben, um derentwillen er doch eben geführt werden muB ?" „Danke für die Belehrung!" — Marion schien nun doch ziemlich enerviert zu sein. Sie zuckte böse die Achseln. „Sie finden also, daB ich mich mit meinem Vortrag auf Nazi-Niveau begebe!" — Mrs. Piggins lachte — ebenso entsetzt wie vorhin, als Abel angekündigt hatte, man werde ihn für einen Kommunisten halten. Benjamin versetzte: „Das habe ich niemals andeuten wollen. Wie können Sie glauben, ich verfiele auf solche Absurditat ?!" Die Frage klang heftig; indessen blieb der Bliek forschend, zartlich und ernst. — „Aber gewisse Symptome machen mich bedenklich," sagte er. Marion schwieg — zu verargert, um sich zu erkundigen, von welcher Art die Symptome seien. Professor Schneider steilte die naheliegende Frage. Abel redete strenge und pedantische Worte — was ihn keineswegs daran hinderte, die Dame, welche er attackierte, mit gierigem, verzücktem Bliek zu betrachten. Ersagte: „Für jeden Agitatoren werden die groBen Werte und Namen, auf die er sich beruft, Mittel zum Zweck. Er liebt sie nicht mehr um ihrer selbst willen — oder nicht mehr nur um ihrer selbst willen —; er nennt und preist sie, weil sie seiner Sache dienen. Ruhm und Reichtum eines dichterischen Werkes werden solcherart ,in den Dienst der Sache' gestellt. Das bedeutet: aus der Vision wird das Schlagwort; das höchst Komplexe erscheint vereinfacht; das Niveau ist gesenkt, dem Demagogen-Niveau des Feindes angepaBt. — Was hassen wir denn vor allem an der falschen Ideologie und bösartigen Praxis des totalitaren Fascismus? Die Vergewaltigung der Wahrheit; die Entwürdigung des Geistes — die nichts anderes, als die Entwürdigung des Menschen ist. Vom Geist verlangt der Fascismus, er müsse immer und mit allen seinen Kraften den propagandistischen Absichten des Staates dienen. Der Geist als ein Propaganda-Instrument der Tyrannis —: dies ist seine letzte Entwürdigung. Machenwir uns nicht mit-schuldig an ihrer Vorbereitung, wenn wir unsererseits die geistigen Werte rhetorisch ,benutzen', in der Auseinandersetzung des Tages — anstatt sie zu lieben, gerade weil sie dem Tage entrückt sind, und das Unvergangliche, Unverlierbare, das schone Menschliche reprasentieren ?" Das war ja ein richtiges kleines Kolleg — übrigens innig vorgetragen. Abel machte Eindruck, wenngleich seine Eloquenz auch befremdete: man war sie von ihm nicht gewohnt. — Marion überlegte sich: Will er mich kranken ? Oder ist dieses seine Fa?on, mir den Hof zu machen? Ach, diese Professoren! Ach, diese Deutschen! . . . Da er so ernst und innig bei der Sache war, fand sie es angebracht, etwas Vernünftiges zu erwidern, anstatt nur die Empfindliche zu spielen. Sie sagte:,, ,Das schone Menschliche' —: hübsch und poëtisch formuliert! Fraglich scheint nur, ob wir es auch ,das Unvergangliche' und ,das Unverlierbare' nennen dürfen. Gerade jetzt sieht es doch ziemlich bedroht und gefahrdet aus; in Deutschland, zum Beispiel wo es so besonders zu Hause schien — hat man es zur Zeit ganz verloren. Der Fascismus und ,das schone Mensch- liche' vertragen sich nicht — Sie haben es selber betont, Herr Professor! Deshalb bekampfen wir den Fascismus. Man sollte nicht gar zu wahlerisch sein, in kriegerischen Zeiten; die Dinge vereinfachen sich. ' s ist Krieg, 's ist leider Krieg —: um noch einen deutschen Dichter zu zitieren, den frommen Mathias Claudius. Hoffentlich finden Sie nicht, daB ich ihn .demagogisch benutze' und .entwürdige' . . . Entwürdige ich die GroBen, wenn ich sie als Zeugen anrufe für unseren Zorn und für unsere Hoffnung ? Wenn ich ihre Worte klingen lasse, zur Verteidigung des ,schonen Menschlichen' ?" Es war ein kompletter Sieg. Mrs. Piggins weinte fast vor Rührung, sogar Mr. Piggins schmunzelte, Professor Schneider hob die feinen alten Hande und rührte sie Beifall-klatschend, wobei er, fast zirpend vor Wohlgefallen, „Bravo! Bravo!" rief. Jonny, der Braungebrannte, konnte sich nicht beherrschen, er warf Marion eine KuBhand zu — wodurch Benjamin Abel zu neuem Widerspruch gereizt wurde. Wahrend Marion geredet hatte, war Verklarung auf seinem Antlitz gewesen. Er schien ihre Worte mit halb geöffneten Lippen zu trinken. Er lauschte ihrem Wort, als ware es eine Liebeserklarung — und sie galt ihm, er empfing sie mit innigem Bliek und benommenem Lacheln. Gleich aber wurde er wieder streitsüchtig. Mochte der braune Jonny schwarmerisch sein und sich durch kleine Koketterien beliebt machen! Er — Benjamin — zog es vor, geistvoll zu hadern. Er insistierte: Die Tendenz zur Vereinfachung ist das Charakteristikum der Barbaren. Uns jedoch sei nicht gestattet, dem Komplizierten aus dem Weg zu gehen, durch rhetorische Tricks. Im Gegenteil: gerade die kampferische Situation verpflichtet uns zu einer Gewissenhaftigkeit — die Leidenschaft keineswegs ausschlieBt. „Wenn wir uns an Schlagworten enthusiasmieren, sind wir nicht besser als der nationalistische Pöbel!" rief drohend Professor Abel. „Die groBen Werte bleiben nur lebendig, wenn wir sie immer wieder in Frage stellen, sie immer wieder prüfen, revidieren, mit neuem Leben füllen. Der Wert der Freiheit, zum Beispiel — um den es vor allem geht..." — Das Gesprach dauerte lang. Marion blieb bei ihrem militanten Standpunkt: Nicht Analyse unserer moralischen und intellektuellen Begriffe sei das Gebot der Stunde; vielmehr: aktive Verteidigung unserer Position —: „womit ich nicht nur die moralische, sondern auch die physische Position meine!" — Benjamin, geistvoll hadernd, bestatigte: GewiB, um unsere Position gehe es, sie sei vielfach bedroht. Wir verteidigen sie am besten, wenn wir sie befestigen, sie neu unterbauen. Gegen die geistig inhaltslose Aggressivitat der Barbarei haben wir als starkste, edelste und wirkungsvollste Waffe unser konstruktives, substanzielles Denken; unsere Leistung, unseren moralischen Ernst, die hohe kulturelle Ambition. Mrs. Piggins wurde ein wenig schlafrig, wahrend ihr Gatte wach und munter blieb. „The Continental troubles" waren nicht seine Sache; aber er zog doch gewisse Schlüsse — ein nachdenklicher Realist. Professor Schneider und der junge Museums-Direktor suchten, sich ins Gesp ach zu mischen: Jonny, stets temperamentvoll zu Marions Gunsten; der Gelehrte sanft und vermittelnd, manchmal auch humoristisch. Einige der Gaste hatten sich schon zurückgezogen; es wurde auch kein Whisky mehr angeboten. SchlieBlich brach Marion auf. Professor Schneider, natürlich, war etwas enttauscht, weil man ihm keine Gelegenheit gewahrt hatte, Walzer auf dem Pianoforte zu spielen. Indessen war er selbstbeherrscht genug, galant und schalkhaft zu bleiben; er erbot sich, Marion in seinem Wagen zum Hotel zu bringen —: ,,wenn Sie sich nicht davor fürchten, mit mir altem Schwerenöter durch die Nacht zu fahren!" scherzte er, mit etwas müdem Fingerdrohen. Museumsdirektor Jonny — unternehmungslustig, trotz der vorgerückten Stunde — erklarte: nein, es würde ungerecht sein. Kollege Schneider habe Fraulein von Kammer schon einmal befördern dürfen; nun sei er — der Braungebrannte — an der Reihe. Benjamin schwieg verbissen; seine Blicke wurden leidvoll und drohend. Marion bedankte sich bei der total erschöpften Mrs. Piggins für den „most delightful evening", und verschwand in Jonny Clark's kleiner Limousine. Der gelehrte Ski-Laufer erzahlte lustige Dinge; seine Dame blieb schweigsam, lachte kaum, und refüsierte sogar den Drink, den er in der Hotel-Bar für sie bestellen wollte. Jonny fühlte sich etwas enttauscht; küBte ihr zum Abschied ausführlich die Hand — einerseits, weil er es für „Continental" hielt; andererseits, weil es ihm sehr angenehm war, seine Lippen mit ihrem Fleisch in Berührung zu bringen. — „Darf ich Ihnen morgen das Museum zeigen ?" fragte er, das Gesicht über Marions lange, unruhige Finger geneigt. Sie sagte: „Ja . . . natürlich... es wird mich interessieren . . ." Sie hatte vergessen, da!3 es ihre Absicht gewesen war, den nachsten Zug nach New York zu nehmen. Was sollte sie in New York ? Tullio war auf und davon, hatte Abschied genommen mit hochtrabenden und konfusen Worten. „Thank you," sagte Jonny Clark. „Sleep weil. See you tomorrow." . . . Marion konnte lang nicht schlafen. Sie dachte an den tückischen jungen Deutschen. ,Er wollte mich aufs Glatteis locken und blamieren. Es ist ihm nicht geglückt. Ein Kavalier war zur Stelle — der hat sich ritterlich meiner angenommen. Spater polemisierte er gegen mich, geistvoll hadernd. Welch selt samer Kavalier! Stammig und zart von Erscheinung; mit dem behabigen Gesicht eines Familienvaters, einem frauenhaft kleinen Mund, und mit erstaunlichen Augen . . . Ein höchst kurioser Mann, dieser Benjamin Abel. . Sie dachte auch an Jonny, den Braungebrannten; aber nur flüchtig. What a charming boy — very attractive, indeed! Aber es war nicht mehr die Stunde für solche Spiele. ,Ich lasse mich nicht mehr ein,' beschloB Marion — und dann war es Tullio, der göttliche Fensterputzer, der ihre Gedanken noch einmal beherrschte. Ach, diese Jünglinge, diese Knaben —: wie leicht, wie verganglich sind ihre schnellen Triumphe! Sie treten ins Zimmer, ausgerüstet mit ihrem Charme, mit einem Kübel und diversen Lappen, sie lacheln, sie renommieren, sie siegen, und die erste Umarmung ist fast schon der Abschied: Leb wohl, und vergiB mich nicht! — Wie sollte sie ihn vergessen ? Das mehrfach verwundete Herz verhartet sich nicht; es wird doppelt empfindlich. Übrigens könnte Marion noch sehr realen AnlaB haben, sich an Tullio zu erinnern — mit Schmerz und Glück, Zartlichkeit und Gram. ,Ich werde seiner gedenken — die Stunde kommt.' Sie ahnte es, sie wuBte es schon fast. Indessen verdrangte sie noch die Ahnung und gestattete dem Wissen nicht, bewuBt zu werden. Am nachsten Morgen, ziemlich früh, erschien Abel. Er brachte Blumen; er entschuldigte sich. ,,Ich war dumm, gestern abend. Alles, was ich vorgebracht habe, war schierer Unsinn." — Marion widersprach es war nun schon ihre Gewohnheit, ihm nicht recht zu geben —: „Doch nicht schierer Unsinn! Zwischen übertriebenen, schiefen Behauptungen, ist auch Kluges, Richtiges vorgekommen. Einiges habe ich mir genau überlegt und will es beherzigen." Er lachelte dankbar. Wahrend er bei ihr saB, klingelte das Telephon: Jonny Clark erkundigte sich, wann er mit dem Wagen kommen dürfe. Abel erklarte schnell: „Der Wagen ist überflüssig. Ich begleite Sie ins Museum." Marion, ohne ihn anzuschauen, sprach in den Apparat: „Der Wagen ist überflüssig. Professor Abel wird die Freundlichkeit haben, mich zu zu begleiten". — Benjamin Abel warb um Marion von Kammer. Noch hatte er ihr nicht gesagt, daB er sie liebte. Sie wuBte es schon, obwohl er, innig und pedantisch, nur von hohen, schwierigen Dingen sprach. Er liebte sie, sein Herz war ergriffen, noch niemals war es solcherart ergriffen gewesen; er gestand sich, mit einem Schauder von Wonne und von Entsetzen: ,Ich liebe zum ersten Mal. Sonderbar: man ist beinah Fünfzig, man wird kahl und fett — da packt es einen wie nie zuvor. Alles was bis jetzt gewesen ist, war nur Vorbereitung und lange Übung; die brave Annette, das süBe Stinchen, und die wenigen anderen — ich habe sie ganz vergessen. Ich liebe Marion. Ich will sie heiraten. Sie gehort zu mir. Unsere Leben werden sich verbinden. Verbunden und vereinigt werden sie sinnvoll sein — mein verworrenes Leben und ihres. Das Glück wird kommen, nach so langem Warten.'—Welch kühne, einfache Worte — noch nicht ausgesprochen, aber insistent und innig gedacht! Welche Naivitat! Wie vielkindliche Verwegenheit! Das Glück—: ein Alternder spürt es plötzlich in seiner Nahe. Er greift danach — aber nicht mehr mit der zuckenden Gebarde der Jugend; vielmehr mit zahem Griff, geduldig bei allem Uberschwang. Die gediegene Passion des Alternden wird Marion überzeugen, überwaltigen, gewinnen. Ist sie schon fast gewonnen ? — Marion reiste nicht ab. Die amerikanischen Freunde zeigten sich erfreut und leicht verwundert: Fraulein von Kammer blieb in der kleinen Universitats-Stadt. Sie erklarte: „Esist ruhig und hübsch hier. Ich habe jetzt Ferien, erst Mitte Januar fangt meine Tournée wieder an . . . Nach New York zieht mich beinah nichts." Mrs. Piggins führte die interessante junge Deutsche in den Damen-Club ein; Professor Schneider zeigte ihr seine Kollektion süddeutscher TrinkgefaBe und lieB sich gern dazu überreden, auf dem Klavier die lieben alten Walzer vorzutragen. Jonny Clark hoffte zunachst: Sie bleibt meinetwegen . . . Indessen war er nicht schwer von Begriffen — ein heller Kopf, und übrigens ein anstandiger Kerl. Er verzichtete auf jeden Flirt mit Marion, als er verstanden hatte, was Kollege Abel empfand und sich erhoffte. Keine Handküsse und flotten Komplimente mehr von Seiten des Braungebrannten. Er redete nur noch von Politik, erwog die Chancen des Spanischen Bürgerkriegs, der sozialen Entwicklung in Frankreich und des Italienischen Imperialismus. Er war ein gescheiter und gebildeter Junge; jetzt erst steilte es sich so richtig heraus. „Es sind Typen von seiner Art, die mich hoffnungsvoll für Amerika machen," erklarte Benjamin. Er war sehr erleichtert, weil der hübsche Jonny nicht mehr mit Marion kokettierte. „Ein prachtvoller Kerl!" steilte er fest — und konnte es sogar ertragen, daB Marion ihm ausnahmsweise recht gab. „Junge Leute von seiner Sorte kommen in Europa seiten vor. In diesem Lande trifft man sie ziemlich oft. Sie haben einen gut entwickelten, gut trainierten Verstand, und sind dabei einfach geblieben, frisch, herzlich, naiv. Sie gefallen mir sehr. Sie sind weder verkrampft, noch dogmatisch, noch gröBenwahnsinnig, noch manisch depressiv, wie die Meisten unserer europaischen Intellektuellen. In Europa gibt es eine Jugend, die am Geist leidet wie an einer Krankheit — und eine andere, die alles Geistige verachtet und bekampft. Die jungen Leute bei uns fallen auf den ideologischen Schwindel des Fascismus herein, weil sie entweder gar nicht denken, oder weil ihre Gedanken starr und überspitzt geworden sind. Die hysterischen Intellektuellen und die Blöden sind das Menschenmaterial, aus dem der Fascismus seine aggressive Armee rekrutiert. In den Vereinigten Staaten habe ich junge Intellektuelle gefunden, die nicht hysterisch sind, und weder physisch noch moralisch verkrüppelt. Es ist doch erfreulich, einen Jungen wie diesen Jonny Clark anzusehen!" Benjamin fühlte sich schon so sicher, dafi er sogar diese Bemerkung riskierte. „Ein hübscher, sportlicher Kerl — appetitlich vom Scheitel bis zu den Zehen — und dabei Hirn im Kopf! So was Angenehmes, Nettes! Dieser Typus hat Zukunft — und eine Zukunft, die von diesem Typus reprasentiert wird, möchte ich wohl noch erleben!" Marion muBte ein biBchen lachen. „Sie sind ja ganz verliebt in den Burschen ..." — Er versetzte ernst: „Weil Sie nicht mehr in ihn verliebt sind, Marion!" Hierauf ging sie nicht ein. Er ward gleich verlegen — er errötete, wie sie mit Rührung bemerkte — und erging sich wieder in eifrigen Betrachtungen, eine Menschheits-Zukunft betreffend, die vom Typus des braungebrannten und gescheiten Jonny beherrscht sein sollte. Der philosophische Liebhaber unterhielt seine Dame, die lachelnd lauschte. „Was ist unser letzter, definitiver Einwand gegen den Fascismus in all seinen finsteren Variationen ? DaB er die Entwürdigung des Menschen bedeutet! Eine Horde dekadenter Barbaren sollten uns, mittels einiger infamer Tricks, stehlen dürfen, was wir uns erworben haben, in einer Geschichte von Jahrtausenden ? — Hoho!" rief der Professor — seinerseits grimmig munter und aggressiv. ,,So geschwind gehtdas nicht! Unsere KraftReserven sind bei weitem noch nicht verbraucht. Die besseren Menschen scheinen eine Weile gelahmt; umso heftiger wird plötzlich ihr Widerstand. Der Humanismus wird aggressiv auf der ganzen Linie werden — wartet es nur ab!" Benjamin prophezeite es mit zornigem Behagen. „Der Sozialismus ist nur ein Teil seines Programms — welches umfassend sein muB. Ziel und schone Perspektive ist die totale Wiederherstellung, die totale Erneuerung, die Steigerung und Erhöhung der Menschenwürde — vom Ökonomischen bis zum Religiösen. Mitneuem Stolz wird der Mensch sich der Schönheit seines Leibes, der Gaben seines Geistes bewufit. Er organisiert die Erde, deren Herr er ist — dank seiner schonen, stolzen Eigenschaften. Endlich siegt die Vernunft. Überwunden sind HaB und Angst, samt dem nationalen Vorurteil — Pest und Betrug unserer Epoche. Auch der Dünkel der weiBen Rasse ist dahin: in der Welt-Republik hat gleiche Würde und gleiches Recht, wer das schone, stolze Menschenantlitz tragt. Das Leben wird leichter und bequemer; die Technik nimmt uns die niedrige Arbeit ab. Die Epoche der wirklichen, der fundamentalen Probleme bricht an. Der Mensch — entlastet von den ökonomischen und politischen Sorgen — findet Zeit und Kraft für das Wesentliche, GroBe; es sind endlich seine Angelegenheiten, denen er sich zuwendet. — Ich sehe ein Jahrtausend der enormen inneren Abenteuer!" Der Professor dampfte die bewegte Stimme. Die utopische Vision, die er im Herzen trug und mit Worten andeutete — weil er wünschte, seine Dame zu unterhalten und sich zu gewinnen — hatte die Kraft, ihn beinah bis zu Tranen zu erschüttern. Sein zartlich-dringlicher Bliek war feucht. Er sagte leise: „Alles dieses istvorstellbar — und also wird es geschehen. Der Mensch ist zah; er verwirklicht, was er sich vorstellen kann. Geschichte ist erfüllte Utopie. Die technischen Vor- bedingungen zu einem Zeitalter, das fast das Goldene ware, sind durchaus gegeben. Es fehlen noch die moralischen. Die werden sich entwickeln —: ich bin voll Vertrauen. Inmitten des sittlichen Absturzes, dessen Zeugen wir sein müssen, bereitet der sittliche Aufschwung sich vor. Die Menschheit ist jung, sie tritt gerade erst ins Mannesalter ein. IhrePubertats-Krankheiten sind besorgniserregend, wir konstatieren garstige Symptome. Das soll uns nicht mutlos machen." Er war voll Vertrauen, weil sein Herz voll Liebe war. Er liebte diese Frau — ihre mageren Glieder, die schragen Augen, die lockere Mahne des Haares —; er wollte mit ihr leben, seine instandige Absicht war: glücklich zu sein —: daher die Begeisterung und der gewagte Flug seiner Gedanken. Eine Konversation, die mit anerkennenden Bemerkungen über das appetitliche AuBere und die intellektuelle Zuverlassigkeit eines jungen Kollegen begonnen hatte, hob sich und vertiefte sich, ward sehr ernst und sehr spielerisch, bekam verzückte Akzente. Der alternde Freier begriff: Anmut und Charme der Jugend habe ich langst nicht mehr — bin übrigens auch als Zwanzigj ahriger kein Adonis gewesen. So muB ich mit anderen Mitteln werben und imponieren. Sie freut sich an meinen Einfallen, und meine Erwagungen lassen sie nachdenklich werden. Sie lachelt mir schon zu, sie drückt meine Hand, wenn ich komme oder Abschied nehme. Sie wird mich lieben, sie ist klug und gut. Ich gewinne ihr Herz. Sie liebt mich schon. Ach — hatte ich schon gewonnen ? Sorgenvoll stimmte ihn, daB sie gerade am Weihnachtsabend allein sein wollte. Warum weigerte sie sich, mit ihm, Benjamin, in aller Stille eine Flasche Champagner zu trinken ? — Sie schloB sich in ihr Hotelzimmer ein, und eben dort war es doch am wenigsten gemütlich. Die enge Stube war entweder überheizt, oder eisig kalt. Telephonbuch und kleine Bibel, die den Nachttisch zierten, lieBen sie kaum wohnlicher werden. Ein fremdes Bett, ein fremder Stuhl, eine fremde Wand . . . Marion dachte: Viel anders kann das Zimmer nicht gewesen sein, in dem Tilly ihren Todestee schlürfte. Auch ihr deklassierter Schupo-Mann war auf und davon — und sie spürte das Kind im Leibe. — Arme kleine Schwester, dir hat keiner helfen können. Gibt es Hilfe für mich ? ... Ach, ich hatte groBe, groBe Lust, mir eine Portion Tee zu bestellen. Veronal-Tabletten waren auch zur Hand; das TodesSüppchen ist schnell bereitet. Es darf aber nicht sein. Ich muB das Kind bekommen. Denn nun wuBte sie, warum ihr schwindlig geworden war auf dem Podium, und woher die jahen Übelkeiten kamen. In Tullios Armen hatte sie empfangen, als er den zornigen Schlachtgesang der Liebe hören lieB. Sein Samen — der Samen des Vagabunden — war fruchtbar geworden in ihrem Leib. Sie hatte in seinem Antlitz nur die Augen gesehen, kindlich und tragisch geöffnet unter den kühnen Bogen der Brauen. ,Ich bin deine Witwe, Marcel! In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Als ich lag und empfing, haben deine Augen mich angeschaut -— oh, wie sternenhaft! oh, wie lieblich, wie streng! Du wolltest nicht, daB ich den Tod empfange. Ich soll den Sohn tragen, es ist deiner. Ich muB das Kind bekommen. Was tue ich nur ? Ich kann gar kein Kind gebrauchen, ich bin eine Emigrantin, eine Vagabundin, eine Kampferin; ich bin keine Mutter. Übrigens ist es einfach peinlich, ein Kind ohne Vater zu haben; es schickt sich nicht, man wird es mir übel nehmen. Tullio als Vater — eine groteske Vorstellung! Der göttliche Fensterputzer als Papa! Ich muB lachen. Ich muB bitterlich weinen. Ich will das Kind nicht bekommen. Ich muB es bekommen. Warum muB ich denn ? Die Abtreibung ware noch kein Risiko, ich fande einen gefalligen Arzt. Wer hindert mich daran, das einzig Vernünftige zu tun, den Eingriff vornehmen zu lassen ? Wer wagt es, mich dran zu hindern ? — Wir sollen Kinder bekommen, ich weiB es. Damit es nur weitergehe ... Es soll weiter gehen.' Sie nahm Veronal — eine bescheidene Dosis. ,Ein wenig Schlaf darf ich mir wohl gönnen,' meinte sie. .Morgen früh fasse ich dann definitive Beschlüsse. Noch langer hier zu bleiben, hatte wenig Sinn. Ich darf mir nicht von Benjamin, innig und pedantisch, den Hof machen lassen, da ich doch von einem Fensterputzer geschwangert bin. Morgen oder übermorgen fahre ich nach New York. Ich absolviere den Rest der Tournée, wie mein Vertrag es verlangt, und kehre im Frühling nach Europe zurück. Mama wird sich über ein Enkelkind freuen — sogar wenn der Vater ein verschollener Italiener ist.' Da fielen die Augen ihr zu; das Medikament tat seine gute Wirkung. Ehe sie einschlief, dachte sie noch an ein Haus, in dem sie als Kind Jahre lang einen Tag der Woche — den Sonntag —• verbracht hatte. Warum fiel es ihr ein, gerade jetzt, und mit solcher Deutlichkeit ? Sie sah einen Garten, Blumenbeete und Brunnen — alles ein wenig verwunschen. Eine Terrasse war da, mit Malereien geschmückt, die verblaBten und zerbröckelten. Schone Raume mit dicken Teppichen; eine Freitreppe, die auf halber Höhe einen kleinen Balkon oder Erker bildete: dort stand ein ausgestopfter Pfau —: ,ich habe niemals Angst vor ihm gehabt,' erinnerte sich Marion, schon fast im Schlaf. ,Ich habe seinen seidig weichen Bauch gestreichelt, und immer lachen müssen, wenn Tilly behauptete, er könne beiBen. Wie lang ist dies alles her! Warum erscheint es mir plötzlich ? — Es muB noch ein Raum in jenem schonen Haus unserer Kindheit gewesen sein — an den kann ich mich nicht mehr erinnern. Er lag tiefer als die Diele und die Salons — in einem KellergeschoB. Eine gewundene, geheimnisvolle Treppe führte hinunter. Aber ich weiB nicht mehr, wie es aussah und wie es roch, in dieser entlegenen Kammer. Ich finde den Weg nicht mehr, die verborgene Treppe hinunter — und doch muB ich sie oft gegangen sein, Hand in Hand mit Tilly — damals, in der versunkenen Zeit. — Versunkener Raum — ich finde den Zugang nicht. . .' Abel, inzwischen, feierte im Kreis der Kollegen. Nur die Unverheirateten hatten sich eingefunden; aus dem Radio schallten Weihnachtslieder; mehrere Herren sangen fröhlich mit, andere wurden melancholisch. Benjamin gehorte weder zu den Munteren, noch auch zu den Betrübten. Er dachte angestrengt nach — was ihn freilich am Sprechen hinderte, und seinen Bliek recht finster werden lieB. Die Kollegen vermuteten: Es ist die Heimat, nach der er sich sehnt. Alle Deutschen werden sentimental, wenn Weinachten ist. . . Sie sagten: „Prost, alter Junge!", und hoben die Whisky-Glaser. Er aber dachte an Marion. Er beschloB: Morgen gestehe ich ihr, was ich fühle und will. Der erste Weihnachts-Feiertag ist ein schönes Datum für die groBe Erklarung. Marion sah müde aus, als sie Abels matinale Visite empfing. Sie erklarte: Ich habe nicht gut geschlafen. Indessen war sie reizender denn je. Begehrenswerter denn je — so fand Benjamin — schien ihr blasses, mattes Gesicht unter der lodernden Fülle des Haars. Sie trug ein schwarzes Pyjama, eng anliegend, dem Kostüm eines Pierrots ahnlich. Übrigens duftete sie starker als gewöhnlich; Benjamin zuckte zusammen, als sie erwahnte: „Der gute Jonny hat mir ein sehr feines Pariser Parfum geschenkt, es muB hier teuer sein, meine Lieblingsmarke." Hatte sie auch einen neuen Lippenstift ? Der groBe Mund leuchtete fast erschrekkend in der BlaBheit ihrer erschöpften Miene. Sie bewegte sich lassig durchsZimmer —: ein nicht mehr ganz junger Page, parfümiert und mager, mit einem überanstrengten Zug zwischen den Augenbrauen. Sie fragte mit sanfter, tönender Stimme: „Was führt Sie so früh zu mir, lieber Freund ?" Es klang konventionell, dabei lockend. Auf dem dunklen Seidenstoff ihres Hausanzuges bewegten sich unruhig die weiBen Finger ihrer rastlosen Hand. Wie verführerisch war Marion an diesem festlichen Morgen! Benjamin war drauf und dran, esihrzuversichern; konnte indessen nur stammeln. Was er vorbrachte, war verworrenes Zeug — der Inhalt lieB sich mehr erraten als verstehen. DaB er sie liebe — darauf lief es hinaus. Dies hatte sie schon gewuBt; ihr mattes, strenges Gesicht blieb undurchdringlich. Sie schwieg; er verlor vollends die Fassung. Auf seiner Miene ereigneten sich Dinge höchst erstaunlicher Art. Der kleine Mund zwischen den schweren Wangen verzerrte sich, daB es schien, er lachte —: ein gequaltes Grinsen — nun sah es wieder mehr nach Weinen aus. Auch die Stirne war sehr in Mitleidenschaft gezogen; sie warf Falten wie ein Wasser, über das ein WindstoB fahrt. Die Falten hatten krause, barocke Formen, sie vergingen geschwind, waren gleich wieder da, vertieften sich, losten sich nochmals. Am schlimmsten aber stand es um die Augen; dort herrschte Raserei. Sie waren blutunterlaufen und zeigten die bedenkliche Neigung, hin und her zu rollen, als suchten sie in allen Ecken des Zimmers gierig nach einem verlorenen Gegenstand. Plötzlich wurden sie starr — was auch recht unheimlich wirkte. Hatten sie das verlorene Kleinod gefunden ? Hielt Marion es zwischen 38 ihren Fingern fest ? Auf ihre bleichen, unruhigen Hande fixierte sich Benjamins flehender, verzückter Bliek. Welch rührendes, groteskes Schauspiel bot der bejahrte Freier! Mit eindrucksvoller Eloquenz hatte er, gestern noch, die Menschenwürde gepriesen; nun entwürdigte er sich, ward fast komisch — zu FüBen des Menschen, an dem ihm alles gelegen war. — Ta, er hatte sich vor Marion auf die Kniee geworfen. Er tat dies AuBerste, er wagte die schamlose Geste, er fürchtete nicht, ridikül zu scheinen. Er lieB sich hinplumpsen, schwer und dick wie er war —: es machte ziemlichen Larm. Die Pose des Jünglings, der die Entflammtheit seines jungen Herzens beichtet —: ach, höchst seltsam nahm sie sich aus, da der Alternde nun, pedantisch-ausführlich, in ihr verharrte. Er hielt dem Madchen sein groBes, zerfurchtes Gesicht hin, sein entwürdigtes Antlitz — wie respektabel war es einst gewesen! Jetzt schien es entstellt und verwüstet, zerstört von Leidenschaft, und die Blicke vor Angst und Hoffnung erblindet. — ,Lies in meinen Zügen!' forderte das entstellte Antlitz des Mannes. .Erfahre, was ich gelitten habe! Nimm den schonungslosen Bericht, die genaue Chronik meines langen, kummervollen Daseins entgegen — in den Falten auf meiner Stirn kannst du alles lesen!' Sie prüfte die weite, inhaltsvolle Flache dieses Menschengesichtes. Sie hörte seine geflüsterte, mühsam hervorgestoBene Rede: ,,Du muBt bei mir bleiben . . . Ich will dich . . . Wir werden glücklich — zusammen . . . Marion, du bleibst bei mir . . Sie rührte sich nicht. Sie forderte ihn nicht dazu auf, sich zu erheben. Endlich legte sie die Hande auf seine Schultern. Endlich sprach sie. „Es geht nicht. Es kann nicht sein." Er lieB die Augen ein wenig rollen. Sie fürchtete, er werde graBlich schreien. Jedoch hauchte er nur: ,, Warum nicht ?" Sie wiederholte: „Es geht nicht." „Du wirst dich an mich gewöhnen," hauchte er eigensinnig. „Wahrscheinlich wirst du mich lieben." Sie erhob sich; tat ein paar Schritte. Sie winkte ihm flüchtig, etwas ungeduldig zu, er möge sich doch endlich wieder auf seine FüBe stellen. Als er sich aufrichtete, achzte er ein wenig; seine Hosen waren an den Knieen bestaubt. Sie bemerkte es mit schragem Seitenblick. Sie hustete nervös; zündete sich eine Zigarette an. Wahrend sie schweigend rauchte, stand er mit geducktem Schadel und wartete. SchlieBlich fragte er nochmals: „Warum nicht?" Sie lief durchs Zimmer, wandte ihm den Rücken. Uber die Schulter, die sie enerviert bewegte, rief sie ihm mit trockener Stimme zu: „Ich erwarte ein Kind." Er veranderte weder die Haltung noch den Ausdruck der Miene. Er fragte, beinah tonlos: „Von wem ?" Da verlor sie die Fassung. Wütend zerdrückte sie die Zigarette im Aschenbecher—den sie vom Tische stieB — dabei stampfte sie kurz mit dem FuB auf, ihre Augen füllten sich mit Tranen. „Was geht es Sie an?!" — Sie schien völlig verzweifelt. Er blieb insistent. „Ich muB es wissen." Zu seiner Überrasschung lachte sie, kurz und böse. Dann wurde sie wieder gelassen. Sie legte den Kopf in den Nacken; unter halb gesenkten Blieken hatten ihre Augen ein Leuchten, in dem Spott und Mitleid sich mischten — auch etwas Zartlichkeit enthielt es, wie Benjamin mit bebender Hoffnung zu konstatieren meinte. Sie erklarte ruhig: „Mein Kind ist von einem jungen italienischen Fensterputzer. Ich habe ihn in New York kennen gelernt. Er hat mich verlassen." „Er hat Sie verlassen ?" Die Spannung wich von Benjamins Zügen. Sie glatteten sich, wurden sanft. Ein Lacheln ohnegleichen — ein Schimmer der Erleichterung, des Triumphes, des Erbarmens, der unendlichen Zartlichkeit — verschönte das unjunge Antlitz des Liebenden. „Warum hat er Sie denn verlassen?" forschte er, mit instandiger Pedanterie. Marion ihrerseits glich nun einem Schulmadchen, das in peinlicher Sache verhort wird und sich schamen muB. „Er hatte mich wohl satt." Eine flüchtige Röte lief über ihr blasses Gesicht. —„Er ist nach Europa gefahren," sagte sie noch. „Er will kampfen." Der Liebhaber examinierte sie weiter. „So waren Sie ganz allein?" Sie bestatigte: „Ich war ganz allein." „Ein Kind ohne Vater . . ." Er schüttelte nachsichtig und verwundert das Haupt. „Das ist doch eine groBe Unannehmlichkeit ..." „Was Sie nicht sagen. . .!" Sie lachte erbittert; griff nach einer neuen Zigarette. Seine Stimme ward feierlich. „Nun hat es ja einen Vater. — Ihr Kind wird meinen Namen tragen, Marion!" Dabei war er auf sie zugetreten. Er legte die Arme um ihren Hals. Er war etwas kleiner als sie. Sie neigte ihr ermüdetes, blasses, schönes Gesicht, damit er es küsse. Sie hielt stille in seiner Umarmung. Er suchte nicht ihren Mund. Seine Lippen berührten sehr vorsichtig ihre gesenkte Stirn. Sie fragte, bewegungslos: „Wird das fremde Kind Sie nicht storen ?" Darauf er — milde tadelnd, als müBte er sie an das Bekannteste und Wichtigste erinnern —: „Ich liebe dich." Sie lachelte, dankbar und erschöpft. — „Wirst du dich daran gewöhnen können, daB ich dich so sehr liebe ?" erkundigte sich Professor Abel besorgt. „Werde ich dir nicht lastig sein ? Wirst du mich gerne haben ? Und auf welche Art ?" Sie hatte eine sanfte Gebarde der Abwehr. „Es ist doch noch nichts entschieden ..." Gleich muBte sie erleben, daB er wieder heftig ward. — „Es ist alles entschieden!" Mit gravitatischer Schalkhaftigkeit fügte er hinzu: „Das Kind braucht doch einen Vater!" In ihrem Kopf waren müde, wirre Gedanken. Sie überlegte: ,Wie schlau sie sind — diese Liebenden! Sie nutzen alles zu ihrem Vorteil. . . Ich habe nicht gewufit, daB ihm so viel an mir liegt. Es muB ihm ungeheuer viel an mir liegen, da er keinen AnstoB nimmt an meiner Schwangerschaft. — Tue ich etwas Schlechtes, wenn ich ihm erlaube, der Vater meines Kindes zu sein ? Wen könnte ich fragen ? Ich habe nur die Antwort, die aus mir selber kommt Die Augen des Liebenden wanderten unersattlich über die Landschaft des geliebten Gesichtes. Sie verweilten auf dem Mund, der mit groBer, schön geschwungener Kurve sich festlich darbot. — Der Liebende sah: ,Ihre Lippen öffnen sich. Sie erwartet den KuB. Man lebt lange, geht durch manche Qual, — und ein atmender Mund, der sich lachelnd öffnet, bringt unvermutet die stumme Botschaft, die VerheiBung und die Erfüllung. Mir ist Glück beschieden — wer hatte es je gedacht . . .!' — Die nachsten Tage waren voll Gesprach; es galt, die Vergangenheit zu besprechen und die Zukunft. Was die Zukunft betraf, so schien alles einfach. Abel hatte beschlossen: „Wir heiraten in etwa vierzehn Tagen." Marion fand nichts einzuwenden. Sie schaute ihn sinnend an; lachelte; schwieg; fragte schlieBlich: „Machen wir keinen Fehler ?" Darauf Benjamin, sehr zuversichtlich: „Wir tun das Richtige." Da nickte sie ernsthaft: „Ja. Es ist wohl das Richtige, was wir tun." Sie würde ihren Kontrakt erfüllen, die Tournee zu Ende führen; neue Angebote aber wollte sie ablehnen. Ende Februar verlieB Benjamin die Universitat im Mitt el westen; er hatte schon ein anderes Angebot, aus einem der südlichen Staaten. „Dorthin reisen wir zusammen, als Herr und Frau Professor." Er freute sich sehr darauf. „Und dort kommt dein Kind zur Welt. Unser Kind . . schloB er innig. Die Vergangenheit war komplizierter als die Zukunft. Beide hatten viel zu erzahlen. Marion erfuhr Benjamins ganzes Leben, nichts ward ausgelassen, weder die brave Annette noch das süBe Stinchen. Das „Huize Mozart" kam vor, und der schaurige Brummer, Herr Wollfritz, das Flüchtlings-Comité in Skandinavien, die ersten schweren Wochen in New York: alles wurde beschworen. „Anfangs habe ich mich vor Amerika gefürchtet," gestand er. „Und jetzt bin ich so gerne hier ..." Wie schwierig war es für Marion, von Marcel zu berichten! Auch Martin und Kikjou waren Figuren, die sich in gedrangter Form kaum beschreiben liefien. Sie verweilte lange bei Tilly, ihrer armen Schwester: Benjamin erschrak und erbleichte, als er von ihrem Abenteuer hörte, und wie arg es geendigt hatte. „Arme Tilly! Arme Marion!" Er nahm sanft ihre Hand. Und: „Arme Marion!" sagte er noch einmal, als sie Tullio schilderte, und die kurze, heftige Wonne, die sie mit ihm genossen hatte. War er eifersüchtig ? Er sagte: „Du hast dich noch niemals lieben lassen, wie eine Frau sich lieben lassen soll —: jetzt geschieht es dir zum ersten Mal, oder du duldest es zum ersten Male. Du hast zu viel experimentiert, das war sehr gefahrlich. Du bist doch kein Junge — wenngleich du magere Glieder wie eine Junge hast. Du bist eine Frau —- die amazonenhafte Allüre kann keinen tauschen, der dich wirklich kermt." — „Amazonenhafte Allüre?" Sie schien ein biBchen gekrankt. Er belehrte sie zartlich: „Du hast ein Element, einen Teil deines Wesens über-betont —: ein echtes Element, einen wichtigen Teil; aber etwas anderes ist zu kurz gekommen. Du warst zu aktiv. Du hast deine jungen Freunde geliebt — beinah wie ein Mann die Frau lieben soll. Dadurch hast du dir viel Schmerz angetan, und bist reif geworden, weil du gelitten hast. Jetzt beginnt etwas Neues für dich, auf der Höhe deines reichen Lebens. Du wirst ein Kind haben, und du erlaubst einem Mann, dich zu lieben." Marion hörte sich dies an und fand es teilweise richtig. Gerade deshalb wurde sie argerlich. Sie zerknackte Streichhölzer zwischen den Fingern. „Die Zeit der Jugend-Tollheiten ware also vorbei." Ihr Lacheln war ziemlich sauer. „Darauf lauft deine kleine Predigt doch wohl hinaus." — Er blieb ernst, obwohl sie kicherte. — „Etwas Neues fangt an!" erklarte er, mit bewegtem Nachdruck. Er rührte sie, durch seine feierliche Unbeholfenheit. Sie fand ihn auch etwas komisch. Sie fühlte sich sehr wohl in seiner Nahe, er hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Ihr Lachen bekam sanftere Laute. Ihr lachendes Gesicht barg sie an seiner Schulter. Er hörte sie sagen: „Alter Benjamin! Ich mag dich . . . Ich mag dich . . . Wenn du nur nicht immer wie ein Lehrer sprechen wolltest! Natürlich fangt etwas Neues an. Das Leben hat es so an sich, immer neue Situationen zu produzieren. Das ist ja das Interessante! — Das ist ja das Schone...," gestand sie, an seiner Schulter. — Am Sylvester-Abend gab Professor Abel eine „party" in seiner gemütlichen kleinen Wohnung. Marion erschien vor den übrigen Gasten — Benjamin hatte es ausdrücklich verlangt. „Du bist die Hausfrau und muBt meiner Lucy helfen, das Buffet zu richten." Lucy war eine fröhliche, dicke Negerin, dem Professor sehr herzlich ergeben, und übrigens, als einzige Person in der Stadt, von seinem neuen Glück unterrichtet. Sie küBte Marion die Hand und strahlte über das ganze Gesicht. „My Professor has got a fine girl!" steilte sie mit Befriedigung fest. Was das Buffet betraf, so war es schon in perfekter Ordnung. Marion fand: ,,Für mich bleibt nichts mehr zu tun." Benjamin aber erklarte, animiert und geheimnisvoll: „Es ist sehr gut, daB du so früh gekommen bist!" Er hatte eine Überraschung vorbereitet — wie sich bald erwies. „Bei uns ist es jetzt sieben Uhr," bemerkte er schmunzelnd. „In Zürich haben sie ein Uhr morgens." Marion wuBte nichts damit anzufangen. „Naturlich," sagte sie. „In Zürich ist der Sylvester-Abend schon vorbei." — Benjamin, munter und ratselhaft: „Hoffentlich noch nicht ganz!" Dann rückte er mit der Überraschung heraus: „Ich habe eine Telephon-Verbindung nach Zürich angemeldet!" — „Eine Telephon-Verbindung?" Marion konnte es gar nicht fassen. „Ich soll mit Mama sprechen? — — Aber das muBfurchtbar teuersein!" Sie war recht erschrocken. Benjamin rieb sich die Hande.„Es ist mein Weihnachtsgeschenk, mein Neujahrsgeschenk und mein Verlobungsgeschenk!" Sie hatte ihn noch nie so aufgeraumt gesehen. Er behauptete übermütig: „Ich kann es mir leisten! Ein wohlbestallter Professor darf wohl mal mit seiner Schwiegermutter telephonieren!" Da lautete schon das Telephon. Lucy watschelte hin; Benjamin — ihr nach, und riB ihr den Apparat aus der Hand. „Ist das Pension ,Rast und Ruh' in Zürich ?" fragte er gierig. Es war Pension „Rast und Ruh". — „Marion — deine Mutter!" rief Benjamin. Frau von Kammer, auf der anderen Seite des Ozeans, plapperte aufgeregt: „Wer spricht denn? Was ist denn los ?" Und Marion — die sehr blaB geworden war —: „Ich bin es, Mama! Es ist Marion. Marion spricht..." Da wurde Marie-Luisens Stimme ganz klein und zittrig. „Marion . . . Kind ... Es ist doch nicht möglich! Wo steckst du denn? Bist du denn nicht in New York?" — Die Tochter erklarte: Nein, ich bin auf meiner Tournée, im Mittelwesten von Amerika, in einer kleinen Stadt, du hast wohl nie ihren Namen gehort, es ist eine besonders nette kleine Stadt . . . „Ich habe mich verlobt!" rief Marion über zwei Kontinente und das Atlantische Meer — über viele Stadte, Ebenen, Flüsse und Gebirge hin, über ein fast unendliches Wasser hin berichtete die Tochter der Mutter: „Ich habe mich am Weihnachtstag verlobt, Mama! Kannst du mich hören ?" — „Natürlich kann ich dich hören!" rief Frau von Kammer. „Deine Stimme klingt, als ob sie hier im Zimmer sprache, es ist wunderbar! -— Mit wem hast du dich denn verlobt, liebes Herz ?" — „Es ist ein Deutscher," teilte die Tochter mit. „Ein Professor, er heiBt Abel, er ist uralt und hat einen weiBen Vollbart. . ." Sie muBte lachen; Benjamin machte wütende Zeichen. „Er wird dir nachher guten Abend sagen, er ist taub und wird kein Wort verstehen, wenn du zu ihm sprichst, er ist sehr komisch — es ist sehr komisch von mir, daB ich ihn gerne mag ..." Der Brautigam rang die Hande. Marion fragte: „Wie geht es denn bei euch, Mama? Hast du die Pension eröffnet ? Habt ihr einen netten Sylvesterabend gehabt ? Sind die Gaste schon weg ? Schlafst du schon? Habe ich dich gestort?" Marie-Luise wollte alles auf einmal erzahlen; überstürzte sich, brachte fast gar nichts heraus. Immerhin lieB sich verstehen: Der Betrieb von Pension „Rast und Ruh" hatte vielversprechend gestartet. „Wir haben acht Gaste, lauter reizende Menschen, und zum Abendessen waren Ottingers da, und Peter Hürlimann, Ottingers haben Champagner gestiftet, es war ein sehr hübscher Abend, wir haben die neue Pension hochleben lassen — denke dir: Frau Ottinger war ein biBchen beschwipst!" Marion erfuhr — über den Ozean, über so viel Ebenen und Stadte — die Details des Züricher Sylvester-Menüs. „Tilla hat sich um alles gekümmert," betonte MarieLuise bescheiden. „Und wie bezaubernd sie aussieht — du kannst es dir gar nicht vorstellen! Sie trug ein neues Schwarzseidenes — ganz einfach, aber so schick! Jetzt ist sie ja schon im Schlafrock . . ." Es klang, als ob Frau von Kammer sich bei Marion wegen des nachlassigen Kostüms ihrer Freundin entschuldigen wollte. — Herr Ottinger hatte mit seiner „Lebensbeichte eines Eidgenossen" viel Erfolg —: auch dies ward Marion noch zugerufen, über Wellen und Berge. „Und das Buch ist unserer Tilly gewidmet! Ist das nicht rührend ? Sie wird nicht vergessen von ihren Freunden, auch Peter Hürlimann hat etwas zu ihrem Andenken komponiert, eine Art von Requiem, der gute Junge, es klingt interessant, ich kann es nicht ganz verstehen. — Tilly wird nicht vergessen!" rief die Mutter vom Zürichberg. Und Marion, im Mittelwesten der U.S.A., wiederholte: „Sie wird nicht vergessen." Spater muBte Benjamin die Schwiegermama telephonisch begrüBen — es wurde ein langes Gesprach, ein ziemlich kostspieliges Weihnachtsgeschenk. MarieLuise gratulierte dem fremden Herrn; dabei fiel ihr ein, daB sie der Tochter gar nicht ordentlich Glück gewünscht hatte —: „Mein Gott, ich bin so vergeBlich! — Machen Sie mein Kind glücklich!" verlangte die Mutter, aus groBer raumlicher Distance. „Haben Sie wirklich einen langen weiBen Bart?" — „Keine Spur!" Benjamin legte gröBten Wert darauf, dies richtig zu stellen. „Ich bin glattrasiert!" Auch Lucy wurde zum Apparat geschoben; sie kicherte und wischte sich die Hande an der Schürze, als sollte sie der Königin von England die Hand reichen. Dementsprechend knixte sie auch; denn sie dachte: Wahrscheinlich kann man mich auch sehen, da man mich horen kann . . . Jedenfalls ist es ratsam, sich manierlich aufzuführen, wenn man schon mal mit Europa spricht. Ubrigens war sie davon überzeugt, daB Zürich die Hauptstadt des Deutschen Reiches sei, daB dort ein Kaiser mit einem kolossalen Schnurrbart regiere, und daB alle Leute bestandig Hofknixe exekutierten oder sich tief verneigten. „Happy New Year, Ma'am!" rief die dicke Lucy, wobei sie sich vor Lachen ausschütten wollte. „Ein glückliches neues Jahr!" wünschte Frau Tibori aus Pension „Rast und Ruh": ihre Stimme hatte noch den süBen und tiefen Klang; ein Unter- und Nebenton von Klage war ihm beigemischt. Die Tatsache, daB Marion heiraten wollte, schien sie zu rühren, beinah zu erschüttern. „Alles alles Gute!" sagte sie immer wieder, enthusiastisch und dabei irgendwie warnend. Ihr lag daran, der Tochter ihrer Freundin zu bedeuten: Liebes Kind, das Leben ist schwierig, und die Manner tun alles dafür, es uns erst recht bitter und kompliziert zu gestalten! Machen Sie sich keine Illusionen über Ihren Brautigam, liebes Kind — er mag ein charmanter Mensch sein, aber wohl kaum viel zuverlassiger als der Rest. Mein Gott — wenn ich an meinen Kommerzienrat denke! Oder an den Jungen von mexikanischer Abkunft! Was für ein kleiner Schuft! — „Alles alles Gute!" wiederholte sie, mit düsterem Überschwang. „Alles alles Gute!" —: eine halbe Stunde spater hörte Marion den herzlich gemeinten Wunsch aus dem Munde der amerikanischen Freunde. Mrs. Piggins weinte fast, als Professor Abel feierlich mitgeteilt hatte: Marion und ich werden heiraten. — ,,Ich habe es geahnt!" schluchzte die gute Dame, obwohl ihr alles überraschend kam. Mr. Piggins, ein nachdenklicher Realist, fand das Arrangement vernünftig und lobenswert. Jonny Clark, der es wirklich geahnt hatte, zeigte musterhafte Selbstbeherrschung. Immerhin bedeutete es ihm einen Schock. Er hatte für diese seltsame Europaerin mit den schragen Augen ein entschiedenes Faible gehabt. Isn't she utterly attractive ? — dachte Jonny, der Braungebrannte. Und er beschloB: Nun küsse ich ihr nochmal die Hand! Das kleine Vergnügen darf ich mir wohl gönnen als Lohn für so viel selbstlose Zurückhaltung! — Dem Kollegen Abel klopfte er die Schulter: „Congratulations, old chap!" Sie tauschten mannlich-befreundete Blicke. Sie mochten sich. Sie tranken sich herzlich zu. Der alte Professor Schneider war schier auBer sich vor Vergnügen über das charmante Ereignis. Er bekam feuchte Augen, sein Mienenspiel war sowohl schalkhaft als auch ergriffen. „Und sie passen so gut zueinander!" sagte er immer wieder. Dann spielte der den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn auf dem Klavier. ,,Ihr werdet nach Deutschland zurückkehren!" prophezeite er dem jungen Paar, und ward wehmütig, in der Erinnerung an langst verflossene Heidelberger Studententage. „Ihr werdet gute Amerikaner sein — und ich wünschte mir, ihr bliebet immer hier. Aber Deutschland kann auf die Dauer Menschen von eurer Art nicht entbehren. Ihr werdet zurückkehren!" verhieB er, und bewegte die alten, etwas gichtischem Finger munter über die Tastatur. Übrigens hatte er seinerseits noch eine kleine Sensation auf Lager. Wer hatte ihm denn geschrieben ? Von wem war der Brief, mit dem er jetzt neckisch winkte ? — Abel erriet es nicht; der Brief kam von Professor Besenkolb, aus Bonn. „Was will denn das alte Untier?" — Benjamin schien belustigt, aber auch argerlich. Besenkolb erkundigte sich bei Schneider, ob es in den Staaten keine Chancen für einen berühmten alten Germanisten gebe. In fast demütigen Wendungen bat er um Protektion. Er hatte das Nazi-Regime gründlich satt, er war enttauscht und verbittert. „Die jungen Leute lemen nichts mehr," klagte der Gelehrte aus Bonn. „Sie machen Gelandeübungen. Ich habe mir das anders vorgestellt. Mich hat der ,Völkische Beobachter' angegriffen, weil ich meinerseits Goethe nicht scharf genug getadelt habe wegen seiner lahmen Haltung wahrend der Freiheitskriege. Ein alter Patriot wie ich muB sich sagen lassen, es fehle ihm an Interesse für die nationale Ehre. — Ich will weg." Besenkolb hatte sein zorniges und bekümmertes Schreiben einem Schweizer Bekannten mitgegeben, der es von Basel aus beförderte. — „Das ist doch amüsant!" meinte Schneider. Er kannte die Geschichte des Zwistes zwischen Besenkolb und Abel, und hatte den Zeitungsartikel gelesen, in dem der „alte Patriot" den jüngeren Kollegen als „Schander deutschen Kulturgutes" denunzierte. — „Das ist doch drollig!" Auch Abel fand, daB es drollig war, und schamte sich nicht, seinen Triumph zu zeigen. „Mit miserablem Benehmen macht man nicht immer die besten Geschafte," steilte er fest. „Auch Schurken können mal reinfallen." — „Und es geschieht ihnen recht!" rief Professor Schneider, befriedigt über das prompte Funktionieren der moralischen Weltordnung. — Der Abend in Abels Junggesellenwohnung ward so aufierordentlich gemütlich, daB die amerikanischen Freunde noch Wochen und Monate spater davon zu singen und zu sagen wuBten. Man durfte von einem Gemütlichkeits-Rekord sprechen: darüber war nur eine Meinung bei allen, die das unbeschreiblich trauliche Fest hatten mitmachen dürfen. Als die Uhr von der Universitatskirche Mitternacht schlug, fiel man sich gerührt in die Arme. Es kam so weit, daB Professor Schneider die dicke Lucy küBte, die ihrerseits nicht davon lassen konnte, zu knixen und sich tief zu verneigen; sie war ein wenig von Sinnen, seit sie mit dei Kaiserlichen Hauptstadt telephoniert hatte. Alle brüllten: „Happy New Year! — A very very Happy New Year!" Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als Jonny Clark bunte Papierhelme und falsche Nasen verteilte. Ein Professor der Englischen Literatur — sonst ein stiller, reservierten Herr — machte exzentrische Schritte, wobei er sich mit der flachen Hand abwechselnd auf die Stirn und auf die Kniee schlug. Er behauptete, dies sei Schuhplattler, er habe es in Oberammergau so gelernt. Ein ernstes Fraulein, das in der Bibliothek arbeitete, bekam einen Lachkrampf, Jonny muBte ihr den Rücken klopfen — was ihr so angenehm war, daB sie nun erst recht weiter lachte. Mrs. Piggins sollte von Professor Schneider einen Tanz lernen, der „Big Apple" hieB und groBe körperliche Gewandtheit voraussetzte. Sie tat ungeschickte Sprünge und rief immer wieder: „It's much too difficult!" SchlieBlich sank sie in einen Sessel und brachte nur noch hervor: „MyLord — we have lots of funü" — als müBte sie sich und alle Anwesenden an diesen erfreulichen Umstand erinnern. In einer stilleren Ecke sagte Marion zu Benjamin: „Komisch — jetzt ist es in Zürich sieben Uhr morgens. Mama schlaft noch. Aber es ist schon heil." Marion und Benjamin hatten nur noch ein paar Tage für ihr Beisammensein und für die vielen Gesprache. „Dann soll ich dich sechs Wochen lang nicht sehen," sagte er. „Es ist schlimm." Wenn er nichts in der Universiteit zu tunhatte, war er fast immer mit ihr. Sie saBen zusammen, in ihrer Hotelstube, oder im Bibliothekszimmer seiner Wohnung, oder in einem Lokal. Bei angenehmem Wetter gingen sie spazieren und freuten sich der bescheidenen Reize einer flachen Landschaft. Einmal schlug Marion plötzlich vor, sie wollten Kaffee im Restaurant des Bahnhofes trinken. Abel mochte nicht recht. „Ich hasse Bahnhöfe . . Sie bestand darauf. — „Bahnhöfe sind scheuBlich; aber ich bin an sie gewöhnt wie das Kind an die Schule. Manchmal mufi ich einfach Bahnhofs-Luft riechen ..." — Er tadelte sie: „Eine miserable Gewohnheit!" Sie machte ihr trotziges Gesicht: „Kann schon sein . . .," und jubelte, als sie die vertrauten Trager mit den roten Mützen sah, und die Pullman-Wagen, und das kümmerliche Buffet, wo die Leute schalen Orangensaft und lauen Milchkaffee schlürften. Sie behauptete: „Es ist reizend hier!" Er schüttelte miBbilligend das Haupt. Sie erkundigte sich, ob er auch die Neger in den Schlafwagen so sehr liebe. Er antwortete ausweichend; sie sagte: „Es sind lauter herzensgute Menschen! Ich fühle mich bei ihnen geborgen wie in Abrahams SchoB. Sie behandeln mich so vaterlich: das ist wohltuend. Wenn ich im PullmanCar Zigaretten rauche — was doch eigentlich verboten ist — lacheln sie mir mild und schelmisch zu —: ich könnte ihnen um den Hals fallen." Spater wurde sie ernster. „Ich werde das Reisen nie ganz aufgeben können," erklarte sie, kummervoll aber entschieden — als setzte sie dem Brautigam auseinander: Auf mir liegt ein kleiner Fluch, ich bin eine Reisende, es laBt sich leider nicht andern. „Ich bin auch ehrgeizig," gab sie zu. „Benjamin — du erwartest doch nicht, daB ich SchluB mit meiner Karriere mache ? — Es ist eine so alte Gewohnheit von mir, mich den Leuten für Geld zu zeigen!" Er versetzte: „Du solist spater entscheiden, ob du weiter auftreten und reisen willst. Zunachst wirst du wohl etwas stiller leben müssen — wegen des Kindes." Sie senkte das Gesicht und blieb still, für mehrere Sekunden. SchlieBlich sagte sie — aus was für Gedankengangen heraus ? —: „Es gibt noch so viel zu tun. " Benjamin nickte ernst. Sie schaute ihn an: „Für uns Beide. Sehr viel zu tun — für dich und für mich..." Dann wendete sie sich von ihm ab, um einen Trager mit roter Kappe zu beobachten; er verlud Handgepack auf einen Karren. In einer Viertelstunde ging der Zug nach Chicago. Marion sagte: „Als der brave alte Schneider uns neulich prophezeite, wir würden nach Deutschland zurückkehren —: es kam mir so sonderbar vor. Wollen wir denn zurückkehren ?" „Ich weiB nicht," sagte Benjamin. „Ich muB oft darüber nachdenken. Natürlich hangt es von tausend Umstanden ab, die sich gar nicht voraussehen lassen. Aber alles in allem glaube ich doch eher: ich will nicht zurück . . ." Sie schaute sinnend dem Rauch ihrer Zigarette nach. „Ich glaube, alles in allem will ich doch zurück . . Dabei schien sie plötzlich zu frösteln. Sie zog den Mantel enger um ihre Schultern. „Es wird schrecklich sein . . .," sagte sie und lachelte angstvoll. „Was ?" fragte er. Sie erwiderte — die Augen beim Gepacktrager, der seinen Karren zum Perron schob, wo der Chicago-Zug stand —: „Die Heimkehr. — Man wird nichts mehr erkennen!" Dies sagte sie hastig, hatte dabei auch wieder die fröstelnde Be- wegung der Schultern. „Alles wird total verandert sein — unheimlich fremd geworden . . . Die StraBen, die Gesichter — alles . . . Vor allem die Gesichter, natürlich." Der Gepacktrager war verschwunden. Mehrere Reisende drangten zum Perron. Der Zug nach Chicago muBte bald fahren. „Ich fürchte mich davor, in Deutschland Menschen wiederzusehen, die ich früher gekannt habe," sagte Marion. „Ich auch," saget Benjamin. „Deshalb möchte ich nicht zurück." Sie redete weiter: „Wir sind so sehr abgeschnitten von Deutschland — es beunruhigt mich oft. Natürlich, wir bekommen Berichte; wir haben Freunde, Verbindungsleute, die uns alles erzahlen, was drinnen vorgeht. Aber genügt es ? — Ich weiB doch nicht, ob es völlig genügt... Vielleicht entgeht uns das Wesentüche. Wir können uns vielleicht die Athmosphare im Reich gar nicht mehr vorstellen. Unter dem Druck dieser Athmosphare bilden sich dort vielleicht Charaktere, die wir kaum begreifen; formieren sich Fronten, von denen wir ausgeschlossen bleiben . . „Ich glaube nicht," sagte er. „Ich glaube nicht, daB wir viel versaumen. Wir kennen doch Menschen, die noch Jahre lang im Dritten Reich gelebt haben. Sind sie um eine bedeutende innere Erfahrung reicher als wir ? Ich habe die Meisten seelisch ausgehöhlt, geschwacht, fast erledigt gefunden. — Das Dritte Reich hat eigentlich keine Realitat. Ihm fehlen alle Elemente der GröBe — selbst im Negativen. Es ist durch und durch journalistisch. Seine Basis ist das Schlagwort; die Propaganda — die für sein Entstehen die Voraussetzung war. Das Leben verödet, es verliert seine Inhalte, seine Substanz. — Es wird niemals ein groBes Epos über Nazi-Deutschland geschrieben werden," versicherte er mit überraschender Dezidiertheit. „Nicht einmal ein groBes Epos der Anklage — wenn 39 alles vorüber ist. Dieser monströse Staat ist hohl wie die Köpfe derer, die ihn dirigieren. Das Hohle hafit oder bewundert man nur, so lange es Macht hat. Wenn es gestürzt ist, vergiflt man es möglichst schnell, wie einen Alptraum." Marion erinnerte sich an ein paar Zeilen, die sie oft rezitiert hatte: „Nicht gedacht soll seiner werden . . ." Es war eine ihrer wirkungsvollsten Nummern gewesen. Sie begann, fast mechanisch, das schauerliche FluchGedicht aufzusagen; unterbrach sich aber, und wiederholte eigensinnig: „Wir müssen zurück. —Ungeheure Aufgaben werden sich stellen, wenn der Alptraum ausgetraumt ist. Wer soll sie denn bewaltigen — wenn wir uns drükken?! Die alten Gruppierungen und Gegensatze — ,rechts und links', ,bürgerlich und proletarisch' — werden keine Geltung mehr haben. Die Menschen, die guten Willens sind — die anstandigen Menschen finden sich, vereinigen sich, arbeiten miteinander. Wir gehören doch zu ihnen! — Wollen wir uns denn ausschlieBen ?!" Sie packte Abel am Arm. Sie rief ihm zu: „Komm mit mir!" — als führe der Zug, dort drauBen auf dem Geleise, nicht nach Chicago, sondern nach Berlin, und sie müBten sich sputen, um ihn noch zu erreichen. „Aber ich bin so gerne in Amerika!" sagte er, etwas schlafrig. „Und ich mag Professor Besenkolb nicht wiedersehen." — „Den lassen wir hinrichten!" entschied Marion. Sie lauschte, schrag gehaltenen Kopfes. Dies war das Gerausch des Zuges, der sich langsam in Bewegung setzte. Der Gepacktrager kehrte mit leerem Karren in die Bahnhofshalle zurück. Marion sank ein wenig in sich zusammen. Sie wandte Benjamin ihr Gesicht zu — ein erschöpftes Gesicht, mit kleinen Falten um die schragen Augen und den üppigen Mund. Die Hande hoben sich von ihrem SchoB; bewegten sich matt, mit einer ratlosen Geste, und senkten sich wieder — zu kraftlos jetzt, um auszudrücken, was dies Herz verwirrte. Ihr Haupt glitt ein wenig zur Seite, als wollte es ausruhen auf der Schulter des Mannes. Sie lachelte zaghaft, um Verzeihung bittend —: wegen ihrer Reiselust, und wegen ihrer gar-zu-groBen Müdigkeit. Das verschwimmende Lacheln gestand: Mein Bedürfnis nach immer neuen Strapazen ist ebenso stark wie meine Angst vor ihnen. Du hast dir eine sonderbare Frau genommen, lieber Benjamin. — Dies sagte sie nicht. Vielmehr bemerkte sie nur, mit einem entgleitenden Lacheln und einem entgleitenden Bliek — als lieBen alle Not und alle Hoffnung in den paar vagen Worten sich zusammenfassen —: „Ich bin so lange unterwegs gewesen . . ." VIERTES KAPITEL lm Februar und Marz 1938 durfte manch deutscher Emigrant, wehmütig und stolz, sich besinnen: Fünf Jahre Exil — das ware also geschafft. Ist es wirklich schon fünf ganze Jahre her, seit wir in einer deutschen Stadt unseren Koffer packten ? Es scheint gestern gewesen zu sein . . . Damals meinten wir: Es ist wohl nur für eine kleine Weile, in ein paar Monaten kehren wir zurück ... Ist es wirklich erst fünf Jahr her ? Was haben wir inzwischen alles mitgemacht! Enttauschungen, Hoffnungen, noch einmal Enttauschungen, ohne Ende ... — Das Gedachtnis hat eine seltsam launenhafte Manier, mit der Zeit — dieser nur scheinbaren, nur vorgestellten Realitat — spielerisch umzuspringen. Wir erinnern uns — und fünf Jahre sind wie ein Tag; sind aber auch wie die Ewigkeit. Sonderbare fünf Jahre —: ob sie euch lang geworden sind, oder kurz — sie haben euer Leben verandert; sie sind Teil eures Lebens, auch wenn ihr anfangs den neuen Zustand nur für provisorisch, abenteuerlich und unverbindlich halten wolltet. Das Abenteuer hat sich stabilisiert, das Provisorium wird zum Alltag — so sehr zum Alltag, dal3 Viele schon darauf verzichtet haben, sich des abenteuerlichen Anfangs noch zu erinnern, oder seinem Ende ejitgegen zu traumen. Irgendwo, in der geheimen Gegend des Herzens, bleibt freilich die Hoffnung wach: Dies alles wird eines Tages überstanden sein und vorüber — plötzlich, wie es begonnen hat. Das Exil war nur Episode, der Tag der Heimkehr wird kommen — ein gereinigtes, erholtes, wieder schön-gewordenes Vaterland empfangt uns; wir werden zu Hause sein, und die Fremde versinkt, ganz ahnlich, wie jetzt die Heimat für uns versunken ist . . . Die Hoffnung bleibt wach—aber nur im Geheimen, in der tiefen, verborgenen Schicht. Immer seltener gestatten sich die Verbannten, sich das heimlich-innig Gewünschte bewuBt zu machen. In ihren Gesprachen kommt das Wort „Heimkehr" kaum noch vor, und selbst in Gedanken vermeiden sie die sü!3e und gefahrliche Vokabel. Auf die Dauer ist kein Mensch geneigt, alles, was er tut oder laBt, auf eine Zukunft zu beziehen, von der niemand Genaues weiB — weder was den Termin ihres Kommens, noch was irgendwelche andere Details betrifft. Der Alltag versteht keinen Spafi und duldet nicht, daB du ihm mit vagen Wunsch-Traumen ausweichst. Geduldig und wachsam tue deinen Dienst — deinen Lebens-Dienst! Er ist überall gleich streng, gleich ermüdend, gleich beglückend, in der Fremde, oder in der Gegend, die du Heimat nanntest. Reale Freuden und Sorgen bringt auch das Exil. Ein Transit-Visum durch Belgien wird zum groBen Problem, ein Affidavit für die Vereinigten Staaten zum erregenden Thema, die Arbeits-Erlaubnis in der Schweiz zur ersehnten Gabe des Himmels. Berliner Geschaftsleute fassen den Plan, eine gewisse Sorte von Manschettenknöpfen in Mexico zu lancieren, Frankfurter Rechtsanwalte lassen sich in Australien nieder, Schriftsteller aus Wien versuchen, Artikel in hollandischen oder danischen Magazinen unterzubringen. „Die Forderung des Tages —: deine Pflicht!" Deutsche Arzte bemühen sich um Assistenten-Stellungen in californischen oder türkischen Hospitalern; deutsche Schauspieler bieten sich in Hollywood an; die Gattinnen vertriebener deutscher Professoren wollen Wiener Cafés in Argentinien eröffnen. Wird es ein Erfolg, oder ein Fiasko ? Langt das Geld, und wer könnte noch etwas zur Verfügung stellen? Bekomme ich die Aufenthalts-Erlaubnis ? — Dies sind lebendige Fragen, Lebens-Fragen, dies ist Alltag, für Wunsch- Traume und geheime Hoffnungen bleibt wenig Zeit. Gar zu viele und zu lang ertragene Sorgen können den Charakter verderben: mancher nimmt Schaden an seiner Seele, wenn er schier ununterbrochen über Transit-Visen und Geld-Beschaffung grübeln muB. Auch das intellektuelle Niveau senkt sich — gesetzt den Fall, daB es jemals eine Höhe hatte, von der sich herabgleiten lieB —; das Interesse für alles Feinere, alles schwierig-Zarte hört auf, auch das Mitgefühl wird erstickt von der permanenten Angst um die eigene Zukunft, und schliefilich bleibt nur noch ein Egoismus übrig, der stumpfsinnig und völlig lieblos werden laBt. Ach — nicht alle, nicht die Meisten unter den Exilierten zeigten sich leidenschaftlich, widerstandsfahig, stark genug, um sich einen offenen Sinn und ein fühlendes Herz zu bewahren! Sie bekamen manches von der weiten Welt zu sehen wahrend dieser fünf Wanderjahre. Aber waren ihnen die Augen nicht schon blind geworden für Schönheit und Jammer der bewohnten Erde ? Hatten sie Anteil genommen ? Hatte man sie Anteil nehmen lassen ? Überall blieben sie am Rand der Gesellschaft. Es war Gnade, wenn sie irgendwo verweilen durften — bis auf Widerruf, und bis neue, strengere Gesetze gegen sie, die Fremden, erfunden waren. Sie vereinsamten, wurden asozial, weil sie an nichts denken, über nichts reden konnten, was nicht das eigene Elend betraf. Die Monotonie ihrer Gesprache ward lahmend —: „Wird Mussolini Ausnahmegesetze gegen die Juden machen ? Werden die Handelsbeziehungen zwischen Mexico und dem Reich sich gegen uns Emigranten auswirken ?" Anderen freilich war die harte, angespannte Existenzform gut bekommen. Die Fremde hatte sie kühner, klüger und besser gemacht. Ihre mitleidende Phantasie, ihr prüfender Verstand, ihr Glaube und ihr Zweifel hatten sich entwickelt. Früher waren sie vielleicht weichlich und faul, unwissend und sentimental gewesen. Das Exil — die harte Schule, durch die sie gingen — hatte sie zu Menschen geformt. Ihre veranderten, geprüften Herzen waren sowohl empfindlicher als auch entschlossener geworden. Helmuth Kündinger — um nur irgendeinen zu nennen — ware in Deutschland ein pedantischer Schwarmer, ein provinzieller Schöngeist geblieben. Zur Emigration zwang ihn niemand — nur der Schmerz um seinen Göttinger Freund. Als wir ihn kennenlernten — Frühling 1933, auf derTerrasse des Café Select — wuBte der arme Junge noch nichts von den Harten und den groBen Möglichkeiten dessen, was ihm bevorstand. Er war schüchtern und ahnungslos — das Gesicht durch Pickel entstellt; den Kopf voll Stefan George-Zitaten. Jetzt sendet er aus China exzellente Berichte an sein Pariser Blatt. Alles, was er schreibt, ist sachlich, prazis, dabei mit journalistischem Schwung formuliert. Kündingers französischer Stil ist klarer und eleganter, als sein deutscher es in Göttingen je geworden ware. Bei all dem ist ihm nichts von bleichem Ehrgeiz anzumerken. Die Kollegen mögen ihn: er ist ein guter Zechkumpan, anspruchsloser Causeur, liebenswürdiger Zuhörer. In Shanghai trinkt er Whisky und Soda mit den Jungens von der amerikanischen Presse. Wer aber ist der soignierte WeiBhaarige, der sich, mit der Miene des Hausherren und Gastgebers, zu ihnen gesellt? Mit Vergnügen erkennen wir ihn: Bobby Sedelmayer, den charmanten Unverwüstlichen! Es ist nicht Bobbys Art, zu klagen oder zu renommieren; eher möchte er den Eindruck des stets-Leichtsinnigen machen, dem kein Schicksalsschlag etwas anhaben kann. Er erzahlt nicht, oder nur ungern, von der ersten schweren Zeit in Shanghai. Hat er wieder Geschirr waschen müssen, wie auch früher schon ? Man erfahrt kaum etwas darüber. Doch laBt sich nicht verheimlichen, dafi eben jenes Hotel, in dem sein Nachtlokal dann florierte, mit schweren japanischen Bomben belegt ward. Wie durch ein Wunder ist Bobby mit dem Leben davon gekommen; die Kellner seines Etablissements wurden erschlagen, auch das Mobiliarwar hin. Da hieB es wieder und noch einmal: Von vorne anfangen . . . Bobby blickte nur einige Tage lang fahl — zu viel des Entsetzlichen hatte er mit anschauen müssen! —; dann zwang er sich zum rosigadretten Aussehen wie zu einer Pflicht. Den Tapferen belohnt das Schicksal: die neue Bar war bald ebenso gut besucht wie die alte, über der Trümmer lagen. Ungeheures veranderte sich in der Stadt Shanghai, durch China ergoB sich ein Strom von Blut. Die Konsequenz der Ereignisse war riesenhaft, unabsehbar. Bobby wuBte es; er war nicht dumm, und erfuhr übrigens manches, was der Öffentlichkeit unbekannt blieb: eingeweihte Gaste trugen es ihm zu. Ihm lag es fern, die Wichtigkeit des eigenen Loses zu überschatzen. Er dachte aber — unpathetisch und von charmanter Zahigkeit, wie er war —: ,Wem ware damit gedient, wenn ich in panischer Verzweiflung mich selber aufgabe ? Das GraBliche macht man nicht dadurch besser, daB man sich unter die Heulenden, Verzagten mischt. Es hat sich herausgestellt und bewiesen, daB ein Nachtlokal unter meiner Leitung groBe Chancen hat. Niemand kann mir verdenken, daB ich leben will. Wenn die Leute Cocktails und Jazzmusik nicht entbehren wollen, auch wahrend die Erdoberflache sich unter Katastrophen verandert: bitte sehr! Bobby Sedelmayer ist Spezialist im Vergnügungs-Gewerbe! Er wird lacheln und adrett aussehen — bis ihn selber eine Bombe trifft. . Sedelmayer und Kündinger tranken sich zu. „Auf was wollen wir anstoBen?" fragte einer der anderen. Der Altere von ihnen entschied: „Na — da!3 es noch eine Weile weitergehen soll . . Der Jüngere hatte nichts einzuwenden. — Es sollte doch noch eine Weile weitergehen —: so empfanden die Meisten, trotz allem Schweren, was es auszuhalten gab. Einige aber sagten sich: Ich muB mein Leben radikal, von Grund auf andern — sonst ginge es wohl nicht weiter. Sogar die Kabarettistin Ilse 111 hatte sich zu der Erkenntnis durchgerungen: Meine Karriere ist an einem toten Punkt. Zwar kann ich nicht haBlich sein —da ich ja Talent habe —; aber die Menschen sind wankelmütig, besonders die Pariser, und in anderen Stadten habe ich sowieso keine Chancen. Das Unwahrscheinliche ist Tatsache geworden: Der Erfolg bleibt aus. Sicherlich kommt er mal wieder —: Ilse 111 gibt nicht nach, die Welt wird noch von mir hören. Für den Augenblick aber sieht es hoffnungslos aus. Unbeschaftigt in den Pariser Cafés herum zu sitzen und mich von den Kollegen bemitleiden zu lassen —: dazu fehlt mir die Lust. Übrigens lieBe man mich verhungern. Kein Mensch zahlt mir einen Teller Suppe, wenn ich nicht mehr die berühmte Ilse bin. Jetzt war sie eben noch berühmt genug, um etwas Geld aufzutreiben: sie brauchte es für die Reise. Auch das Affidavit konnte sie sich verschaffen. Die Bekannten fragten: Was willst du denn in Amerika? Sie lieB es geheimnisvoll offen; war aber im Herzen entschlossen: Ich verdinge mich als gemeine Magd. Dienstmadchen will ich werden. Sie war eine radikale Natur. Da der Weltruhm auf sich warten lieB, und die Theaterdirektoren lauter Schweine waren, wollte sie nun gründlich elend sein. Nur nichts Halbes! Keine Kompromisse! — Sie fuhr Dritter Klasse, auf einem recht kleinen, obskuren Schiff. Empfehlungsschreiben hatte sie sich verbeten, und war erst sogar geneigt gewesen, ihre schonen Pariser Kritiken samt allen Photographien zu verbrennen wie die Briefe eines ungetreuen Geliebten. Dies freilich hatte sie denn doch nicht fertig gebracht. Auf dem Grund ihres Koffers ruhten die Zeitungsausschnitte, sorgsam gebündel und von einem himmelblauen Seidenband umschlossen, wie die Souvenirs eines jungen Madchens. Bei der Landung in New York hatte sie Schwierigkeiten, weil sie gar zu interessant und düster wirkte. Grünes Haar und violette Wangen miBfielen dem Beamten, der ihren PaB kontrollierte: höchstens einer Dame, die Cabin-Class fuhr, ware so viel Extravaganz erlaubt gewesen; bei einem Passagier der Dritten schien es fast kriminell. Ilse mufite nach Ellis Island. ,So ist es recht!' dachte sie zahneknirschend. Ihr Ehrgeiz war gleichsam umgeschlagen und hatte sich in fanatischen Masochismus verwandelt. ,Nur zu! Nur weiter in diesem Stil! Behandelt mich nur wie den Aussatz der Menschheit!' — Und das tat man denn auch. Ihr bitterer Triumph war vollkommen; denn auf Ellis Island ging es beinah wie in einem Zuchthaus zu. Ilse 111 teilte die triste Zelle mit Ostjüdinnen, die immer weinten, und verzweifelten Negerinnen. Nach einigen Tagen schickte die freundliche Dame, von welcher das Affidavit stammte, ihren Rechtsanwalt. Ilse ward freigelassen. Der Anwalt sagte verdroBen: „Good chance, Miss!" — und lieB sie stehen. Sie betrat New York City mit düsterem Frohlocken: Nun werde ich eine Magd! Ilse 111 — vorgestern höchst gefeiert; gestern unschuldig ins Loch geworfen — wird morgen, unerkannt und stolz, in irgendeiner dunklen Küche stehen. Sie wollte die weifie Schürze nehmen, wie den Nonnen-Schleier. Jedoch kam es anders. Als sie in einem kleinen Restaurant zu abend speiste — trotzig um sich blickend, sehr einsam, und auf das auBerste Unglück gefaBt — naherte sich ihr ein Herr mittleren Alters und rief überschwanglich: „Nein, so was! Sie habe ich doch schon mal gesehen!" Sie funkelte böse; er merkte es nicht, sondern erklarte begeistert: „In Paris, vor zwei Jahren! Erinnern Sie sich denn nicht ? Ich habe doch so laut applaudiert, nach jedem Ihrer Lieder! Ihr treuester Zuhörer bin ich gewesen! Jeden Abend war ich im Lokal, nur um Ihretwillen —, und ware noch so manches Mal gekommen, wenn die Pflicht nicht nach New York gerufen hatte!" Er hieB Johnson und hatte ein Schuhgeschaft. Ilse beschloB, ihn lacherlich zu finden; war aber bald gewonnen durch seine stürmischen Huldigungen. Nachdem sie zwei Whiskys mit ihm getrunken hatte, muBte sie sich zugeben: Er ist wirklich ein netter Kerl. Im Taxi lieB sie sich die Hand von ihm küssen. Mehr wurde nicht gestattet. Die Idee, sie könnte Dienstmadchen werden, machte ihn beinah zornig. „So ein Unsinn!" rief er immer wieder. ,,Eine Person wie Sie!" Im Grunde gab sie ihm recht, trotz allen düsteren Vorsatzen. Indessen weigerte sie sich hartnackig, sich als seine Geliebte von ihm erhalten zu lassen, obwohl Johnson — ein flotter Junggeselle; nicht reich, aber in angenehmen Verhaltnissen — ihr immer wieder versicherte: ,,Es ware das einzig Vernünftige!" Sie bestand darauf: „Suche mir eine Stellung — wenn du mir helfen willst." Wirklich gelang es ihm, ihr einen „Job" zu verschaffen. Sie wurde Empfangsdame in einem feinen französischen Restaurant. Dort hatte sie nichts zu tun, als zu lacheln. Ihr Platz war am Eingang, neben einer breiten Schale voll Pfefferminz-Bonbons. Sie sollte einladend wirken. Der Chef des Lokals hatte von ihr verlangt, dafi sie sich Haar und Miene ein wenig dezenter farbe. Grün und Violett muBten geopfert werden — sehr zum Bedauern Johnsons, der gerade diese ausgefallenen Nuancen so pikant gefunden hatte. Hier verlassen wir Ilse 111, überlassen sie ihrem Schicksal. Vielleicht wird ein Theaterdirektor — weniger instinktlos und korrupt als seine Kollegen —• das fieiBige Madchen entdecken, und sie wird am Broadway ihre dritte Karriere starten. Vielleicht wird sie Mr. Johnson heiraten, in dessen Achtung sie natürlich gestiegen ist, weil sie es abgelehnt hat, seine ausgehaltene Matresse zu sein. Wir wünschen ihr von Herzen das Beste. Oft waren wir geneigt, sie nicht ganz ernst zu nehmen; sie erschien uns etwas affig und pratentiös. Spürte sie nicht selber, im Grunde, daB sie sich recht krampfhaft und geziert benahm ? Sie ahnte es wohl; konnte es aber nicht andern. All ihr Getue war immer nur der angestrengte Versuch, sich zu behaupten; es war die etwas barocke Form ihrer Tapferkeit. Ist es nicht ein mutiges Lacheln, mit welchem sie die Gaste imfeinen französischen Restaurant willkommen heiBt ? Ist es nicht ein fester und braver Bliek, mit dem sie sich nun von uns trennt ? . . . . . . Nicht alle unsere guten alten Freunde haben noch die Energie, so fest und brav zu schauen. NathanMorelli blinzelt tödlich ermattet. Wie hochmütig war er einst gewesen: ein intellektueller Grandseigneur, ungebunden, leicht zynisch, mit einer Neigung zum provokant Sarkastischen. Nationalistische Sentimentalitaten lagen ihm denkbar fern; Theo Hummler, den Mann vom Volksbildungswesen, hatte er durch herabsetzende Reden über Deutschland gekrankt. Nun war es gerade Hummler, mit dem er Erinnerungen an die Heimat zu tauschen liebte. „Wie wunderschön ist Berlin!" seufzte Nathan-Morelli. „Als ich dort noch hatte leben können, habe ich es verachtet!" Hummler versicherte ihm: „Sie werden Berlin wiedersehen, lieber Freund! Unsere Arbeit macht Fortschritte . . Und er war bei seinem Thema: der Politik, dem Kampf gegen das Nazi-Regime. Gerade dafür schien NathanMorelli sich wenig zu interessieren. Er winkte wehmütig ab. „Lassen Sie nur! Für junge Leute magdaströstlich sein. Was mich betrifft — ich bin fertig." — Er lag seit Wochen zu Bett, sein Gesicht verfiel, die klugen Mongolen-Augen waren tief umschattet. „Das Herz macht nicht mehr mit," erklarte er resigniert. „Es kann nicht mehr lange dauern." — Er glich einem abgemagerten Buddha, wenn er, schrag gestellten Hauptes, ins Leere traumte. Seine Miene belebte sich, sobald Fraulein Sirowitsch kam. — Sie lebten zusammen, sahen sich aber nicht oft; denndie Sirowitsch war beschaftigt. Von morgens bis abends saB sie im Bureau an den Champs Elysées, wo fünf Angestellte mit ihr tatig waren. Ihre Presse-Agentur hatte internationales Ansehen bekommen. Tausende von Artikeln und Photographien gingen durch Fraulein Sirowitsch's tüchtige Hande. Sie muBte sich plagen; ihr kranker Freund hing nicht nur seelisch von ihr ab, sondern auch finanziell. — Sie liebten sich, sie waren sich von Herzen zugetan. Die Sirowitsch genoB innig ihr spates Glück und durfte sich taglich sagen: Ich habe ihn mir erobert. — Sie war die Herrschende, Aktive in diesem Bunde —: Geliebte, mütterliche Freundin, Ernahrer — alles in einer Person. Wenn sie bedachte, wie alles zwischen ihnen begonnen und wie schön es sich verandert hatte, kamen ihr Triumph-Gefühle, neben der Zartlichkeit. ,Er gehort mir! Er hat sich mir unterworfen!' Auch etwas Rachsucht war in ihrer Liebe enthalten. Aber gehorte er ihr wirklich so ganz ? War er nicht schon wieder im Begriffe, zu entgleiten ? — Er würde sterben —: sie wuBte es, und sie litt. Sein eingeschrumpftes Buddha-Gesicht trug schon die Zeichen, vor denen sich der Lebende graut. Die Liebende freilich fürchtet sich nicht, ihn zu küssen. Aber sieerschrickt vor seinem viel zu sanften, viel zu fernen Bliek. War nicht auch dies Heimweh, von dem er jetzt so viel sprach, ein Symptom des Erlöschens ? Es bewies wohl, daB er Abschied nehmen wollte. Als er Deutschland verspottete, war er echter, jedenfalls gesunder. Nun schamte er sich nicht, von Mondscheinfahrten auf oberbayrischen Seen oder auf dem Rhein zu schwarmen. Er breitete den Plan der Stadt Frankfurt am Main auf den Knien aus, um mit dem Finger den Schulweg seiner Kindheit nachzufahren. Früher hatte er mit einem Achselzucken gesagt: „Ich bin gar kein Deutscher!" DaB seine Mutter aus Italien stammte, war oft erwahnt worden. Plötzlich gestand er: sie war in München geboren, Italiener war nur ihr Vater gewesen. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber er legte Wert darauf, es festzustellen. „Ich bin deutsch, durch und durch — mögen die dummen Nazis es auch bestreiten." — Die Sirowitsch war schauerlich berührt von solchen Reden. Kamen sie aus dem Munde ihres ironischen Nathan-Morelli ? Als er noch gesund und boshaft war, hatte er wenig Freunde. Jetzt, da Abschieds-Milde ihm Bliek und Lacheln verklarte, zog er die Menschen an. Er war fahig, ihnen zuzuhören, weil die eigenen Angelegenheiten ihm nun gleichgültig waren. — Manchem wurde es zur angenehmen Gewohnheit, sich am Lager dieses sanften, klugen Kranken auszusprechen. David Deutsch freilich schien entsetzt zu sein über die eigene Kühnheit. „Ich überfalle Sie," murmelte er, noch in der offenen Türe — das blauschwarze Haar gestraubt, wie aus Schrecken über sein verwegenes Eindringen. „ Sie liegen wehrlos im Bett, ich stehle Ihnen die Zeit — nur ein paar Minuten; aber immerhin . . Er machte schiefe Bücklinge; wand gequalt den Oberkörper, und über sein wachsern bleiches Gesicht liefen Zuckungen. — „Es ist wirklich garzu keckvon mir!" wiederholte er, eigensinnig zerknirscht — obwohl Nathan-Morelli ihm schon wiederholt versichert hatte, wie sehr die Visite ihn freue. „Nur ein Abschiedsbesuch ..." David brachte es gleichsam als Entschuldigung vor, als wollte er andeuten: Selbst meine Unverschamtheit hat ihre Grenzen. Wenn es nicht Adieu zu sagen gabe, hatte ich mich denn doch nicht hergewagt. Nathan-Morelli erkundigte sich, wohin Herr Deutsch denn zu reisen denke. — „Ziemlich weit weg." David lachelte trüb; sein dunkier, trauervoller Bliek wich den müden, aber scharfen Augen des Kranken aus. Er berichtete trocken — als handelte es sich um eine etwas peinliche, auch kaum sehr wichtige Sache —: „In Danemark irgendwo gibt es ein Lager, wo jüdische Intellektuelle zu Landarbeitern oder Handwerkern ausgebildet werden." —■ „Was haben Sie dort zu suchen?" forschte NathanMorelli. Und David — wobei er ihm plötzlich fest und ruhig in die Augen sah, als hatte er eine dumme Scham überwunden —: „Ich will Schreiner werden." Nathan-Morelli schwieg eine kleine Weile. Er blickte ernst, wie sein Gast. Dann sagte er langsam: „Ich habe Ihre Arbeiten in den Soziologischen Heften immer mit groBem Interesse verfolgt. Ihre groBe Studie zur Kritik des Marxismus ..." „Hören Sie bitte auf!" — David hatte es fast geschrieen —: so viel Heftigkeit wirkte, gerade bei ihm, überraschend. Nathan-Morelli erschrak nicht; sah ihn nur aufmerksam an. David hatte Tranen in den Augen. „Ich kann nicht mehr . . brachte er schlieBlich hervor. „Es qualt mich — es ekelt mich an . . . Ich kann nicht mehr denken und nicht mehr schreiben . — Nathan-Morelli warf, schmeichlerisch und grausam zugleich, mit ruhiger Stimme dazwischen: „Mir scheint aber, daB Sie immer noch vorzüglich denken und vorzüglich schreiben können." Hierauf ging David nicht ein. Mit nassen Augen und verzerrtem Mund klagte er weiter: „Gleich nach Martins Tod hatte ich die erste furchtbare Krise. Monate lang war ich wie gelahmt. Bedenken Sie doch: ich habe ihn sterben sehen — den langsamen Selbstzerstörungs-ProzeB überwacht ... Er hatte so groBe Gaben! Einen solchen Tod mitanzusehen—: bedenken Sie doch, was das bedeutet..." — Alles sprach dafür, daB das eingeschrumpfte Buddha-Gesicht dies recht gründlich bedachte. Nathan-Morelli sagte nichts; geduldig wartete er auf Davids nachsten Ausbruch. Der Besucher aber nahm sich zusammen — mit einem Ruck, der ihm nicht nur das Antlitz, sondern auch den Körper verzog. Er schüttelte sich, als führen elektrische Ströme durch seinen Leib. Die zerbrechlichen Finger zausten das starre Haar. Endlich hatte er seine Nervositat so weit bezwungen, daB es ihm möglich war, mit bewegter, aber gedampfter Stimme fort zu fahren. „Die Analyse der gesellschaftlichen Krafte und ihrer Entwicklung interessiert mich nicht mehr." Er konstatierte dies mit grofler Traurigkeit, wie eine Mutter, die gestehen müBte: Ich habe aufgehört, mein Kind zu lieben. — „Wenn eine Gesellschaft in Krampfen liegt; wenn alle ihre ökonomischen, moralischen, intellektuellen Gesetze plötzlich fragwürdig werden und vor unseren Augen zerbrechen —: dann scheint es mir sinnlos — schlimmer als das: frivol —, sich mit Theorien über Herkunft und wahrschein- lichen Ausgang der Katastrophe wichtig machen zu wollen." „Die Theorie könnte hilfreich sein," bemerkte Nathan-Morelli. „Die Untersuchung der Katastrophe, die Klarung ihrer Ursprünge kann zur Heilung führen . . . Was für einUnsinn!" rief er, wobei seine Stimme plötzlich herzhaft kraftig klang. „Was für eine Kater-Idee —: das mit der Schreinerei! Tische und Stühle zimmern kann jeder Trottel. Aber ein Hirn wie Ihres ist unersetzlich — gerade jetzt, heute, für uns!" David schüttelte das zarte Haupt — melancholisch, aber entschlossen. „Ich habe es mir überlegt; habe mir alles vorgehalten, was dafür und was dagegen spricht — das werden Sie mir doch glauben ? — Ich ertrage es einfach nicht mehr —: dieses Monologisieren; dieses in-den-luftleeren-Raum-Sprechen... Denn wir sprechen doch ins Leere, niemand hört uns zu, das ist so — beschamend . . . Die Ereignisse gehen ihren Gang — ihren schrecklichen Gang —, unbeeinfluBt von uns. Oft fühle ich mich so entfremdet der Wirklichkeit; so ausgestoBen vom echten Leben; isoliert, vereinsamt... Es kommt da so vieles zusammen. Man hat die Heimat verloren; man ist ein Jude, ein Intellektueller — ein .volksfremdes Element' . . ." Dies sagte er miteinemhöhnischen Achselzucken und einem sehr bitteren kleinen Gelachter. „Überall ein .volksfremdes Element' . . ." Dann richtete er sich auf, Miene und Haltung wurden zuversichtlich. „Man muB diese Isolierung durchbrechen können . . ." Er atmete starker — beinah schon befreit. „Das einfache Leben wird die Rettung sein. Auf den geistigen Hochmut verzichten; sich einordnen; ar beiten — mit den Fausten arbeiten —: das ist die Rettung! Das ist die Erlösung!" Er hob und senkte die ineinander verkrampften 40 Hande; dabei wiegte er leicht den Kopf, auch sein Oberkörper geriet in rhythmisches Schwanken —: kummervolle orientalische Pantomime, seltsam kontrastierend zum Elan der Worte, die er gesprochen hatte. — Nathan-Morelli — matt, aber aufmerksam — schaute auf diese klagend hin-und-her-bewegten, höchst zerbrechlichen Finger. — „Werden Sie stark genug sein ?" Er fragte es behutsam und schonend. „Ich meine —: werden Ihre Hande kraftig genug sein für den Zimmermanns-Beruf ?" Über Davids zartes Wachs-Gesicht lief eine helle, geschwinde Röte, als würde sein Schamgefühl verletzt durch solchen Zweifel. Er reckte sich ein wenig und rief: „Es muB gehen — es muB! — Ich freue mich auf das neue Leben!" Dies behauptete er mit Nachdruck; wiegte aber jammernd Haupt und Oberkörper. „Wollen Sie Bilder von unserem Lager sehen?" Er kramte aufgeregt in den Jackentaschen; Nathan-Morelli muBte lacheln, weil David schon von „unserem Lager" sprach. — „Alles ist dort von den jüdischen Intellektuellen selbst fabriziert. Sie haben die kleinen Hauser selbst gebaut, in denen sie wohnen, und diese Tische, diese Schranke und Krüge: alles ihr Werk! Ist das nicht prachtvoll ? Es muB ein wundervolles, tröstliches Gefühl sein, auf einem Stuhl zu sitzen, den man gezimmert hat, mit den eigenen Handen . . . Und wenn sie dann ausgebildet sind — wenn sie etwas Praktisches, Nützliches wirklich können —, dann finden sie eine Stellung, irgendwo in der Welt — in Australien, oder in Argentinien, oder in Alaska — ganz egal, wo. Die Lager-Leitung besorgt ihnen das. Der Mann, der das alles ins Leben gerufen hat, heiBt Nathan: ein famoser Mensch, ich habe ihn kennen gelernt; ein groBer Organisator, ein aktiver Philantrop. Er hat viele Existenzen gerettet; manches Leben, das sich schon selber aufgeben wollte, hat durch ihn einen neuen Sinn bekommen. Diese Leute muflten sich für überflüssig halten — niemand konnte sie brauchen, die Lumpenproletarier mit dem Doktor-Titel. Jetzt begreifen sie, daB niemand überflüssig ist, wenn er sich nur einzuordnen versteht. — Wir müssen den falschen Ehrgeiz ablegen wie ein schwarzes, feierliches Kleid, das bei der redlichen Arbeit nur stört. — Europa hinter sich lassen, seine schal gewordene Problematik überwinden; heimkehren zu den primitiven Formen des Lebens, die seine haltbarsten sind; Weib und Kind ernahren, für die Familie schaffen, wie der Bauer, wie der Handwerksmann im Dorf. . Der Begeisterte schien zu vergessen, daB er weder Weib noch Kind sein eigen nannte; nicht einmal eine Braut hatte der arme David. Sein stiller Zuhörer dachte daran; hütete sich aber, ihn durch solchen Hinweis zu ernüchtern oder gar zu kranken. Vielmehr sagte Nathan-Morelli nur, leise und ernst: ,,Ich bewundere Ihren Mut. Ich selber bin alt und krank." Dies war stolze, leidvolle Koketterie. Nathan-Morelli durfte noch als Mann in den besten Jahren gelten. Die Todesnahe, derer er sich feierlich-innig bewuBt war, schenkte ihm freilich die Würde des Hochbetagten. „Wenn ich jünger ware," sagte er noch, und über das verfallene Buddha-Gesicht lief ein Schatten alter Ironien, — ,,wer weiB: vielleicht folgte ich Ihnen nach ..." Dies kam wenig überzeugend heraus. David vermied es denn auch, darauf einzugehen. Er konstatierte nur noch — weniger erregt; gleichsam abschlieBend ■—: „Man wird mutig unter dem Druck der Verhaltnisse — womit ich auch die finanziellen Verhaltnisse meine. Ich hatte ein biBchen Geld; es ist aufgebraucht. Den Comités mag ich nicht zur Last fallen. Es ist also nicht der Augenblick, wahlerisch und delikat zu sein . . . AuBerdem sehne ich mich unaussprechlich nach Ruhe." Sein erschöpfter Bliek und das überanstrengte Lacheln bestatigten, wie stark sein Ruhebedürfnis war. „Irgendwo muB es doch still sein Es klang mehr fragend als überzeugt. „Irgendwo, in einer wilden, reinen Landschaft — in einer Luft, die noch nicht vergiftet ist vom Larm der Propaganda, von den Lügen der Politik. Ich traume von Urwaldern, oder grenzenlosen Prarien, von Steppen oder Gebirgen . . . Die Gegend, die mir Heimat werden soll, mag öde sein; aber ich verlange Unschuld von ihr, wie von einer Er au. Die groBe Gabe, die ich von ihr erflehe, heiBt: Stille . . ,Hoffnungslos,' dachte Nathan-Morelli. ,Ein gescheiter Kerl, und so hoffnungslos romantisch . . . Ach, diese Deutschen! Ach, diese Juden! Ach, diese deutschen Juden...' — Der Kranke hatte ein Lacheln, in dem Spott und Mitleid sich mischten — ein sehr verachtliches, sehr mildes Lacheln. SchlieBlich sagte er, mit schwachem Achselzucken: „Ich fürchte, mein Lieber, Sie haben übertriebene Vorstellungen von der grenzenlosen Weite unseres Planeten. Er ist klein geworden. Die Zivilisation umspannt ihn, und mit ihren schatzenswerten Bequemlichkeiten sind überall ihre Probleme da. — MuB ich das Ihnen erklaren, lieber Herr Doktor Deutsch ?" Seine Stimme wurde strenger; bekam aber gleich wieder den wehmütig gedampften Klang. „Sie glauben, anspruchslos geworden zu sein, verlangen aber in Wahrheit das Schwierigste, Kostbarste, Seltenste. Unschuld und Stille . . .: wo finden wir die ? — Doch nicht hier!" entschied mit spöttisch-mitleidsvollem Lacheln der Kranke. „Lieber, armer Freund —: doch nicht hier ..." Nicht hier, doch nicht hier . . . Die paradiesisch unberührte Landschaft; das idyllisch-wackere Leben — karg und heiter zugleich —: wie weit müssen wir reisen, wohin sollen wir fliehen, um ihm noch zu begegnen ? — Glaubt David Deutsch an die Erfüllbarkeit seiner Traume ? Er kann glauben, weil er glauben muB —: die Not des Herzens, des verwirrten Geistes, wie auch seine ökonomische Situation zwingen ihn zum Letzten, AuBersten. Er wendet sich — mit höflich-schiefen Bücklingen; aber doch entschieden — von dieser Zivilisation; denn auf ihr liegt ein Fluch. Das ist die Erkenntnis, zu der lange, angestrengte Studiën ihn schlieBlich gebracht haben. Die Zivilisation — im Stich gelassen, aufgegeben von ihren klügsten, aufmerksamsten Söhnen — scheint naqh dem eigenen Untergang zu lechzen. Lange genug hat sie sich üppig entfaltet, jetzt aber will sie heim, zurück, in den Urwald —: mit ihren eigenen Mitteln, mit dem Raffinement ihrer triumphierenden Technik hebt sie sich selber auf. Noch einmal entfaltet sie sich aufs eindrucksvollste, ihre Apokalypse ist pitoresk — groBes Schauspiel, glanzend inszeniert —: in schaurig-imposanten Bildern führt sie sich zu Ende. „Der totale Krieg": blutrünstige Intellektuelle, spate Erben des abendlandischen Geistes — hysterisch entartet, völlig ruchlos geworden — haben ihn eifrig genug propagiert, seine stahlern vernichtende Schönheit in schrillen Tönen besungen. PaBt auf:erwird das Überraschendste zu bieten haben, dieser vielgerühmte „totale Krieg"! Feuerwerk ohne Beispiel, infernalische Ausstattungsrevue grandiosen Stils wird er sein! In fulminantem Tempo wird unsere Zivilisation zu Grunde gehen — dies ist ihre letzte Ambition. Schnelligkeits-Rekord der Vernichtung; Organisation der Katastrophe; Virtuositat des Massenmordes: das ist es, wozu die Patrioten sich fiebrig rüsten. Die Vorbereitung des totalen Krieges muB notwendig eine totale, umfassende sein. Nicht nur ökonomisch, politisch, militarisch organisiert man die Katastrophe; auch moralisch und psychologisch soll die Menschheit reif gemacht werden zum groBen Rückfall ins Barbarische, zur schauerlichen Heimkehr in Nacht und Tod. Alte Vorurteile könnten storend wirken, die Tradition der menschlichen Gesittung wird zum hemmenden Balast, „Freiheit" und „Barmherzigkeit" sind skandalöse Vokabeln, sowohl lacherlich als auch kriminell —: weg damit! endlich zum Teufel mit ihnen! Wir sind die Teufel, sind der Antichrist — empfinden die regierenden Mörder. Von dem Höllenlarm, den wir verbreiten, werden die zarteren Stimmen verschlungen, jede Warnung muB untergehen, und ungehört verhallt jede Klage. — .Machen wir euch die Erde zur Hölle ?' fragen mit lustiger Neugier die Teufel. ,Nur Geduld, Kinderchen! Wir sind erst am Anfang. Es soll noch unvergleichlich toller kommen!' Es soll noch toller kommen, ist aber schon toll genug. Das Training zur Katastrophe hat seinerseits schon katastrophalen Charakter. Die Menschen gewöhnen sich an die eigene Entwürdigung, an den Verlust der Freiheit, die UngewiBheit und permanente Gefahrdung des Lebens. Das Menschenleben wird zur Bagatelle; eh' man es noch vernichtet, beraubt man es seines Wertes —: wer nichts mehr zu verlieren hat, fürchtet nichts; der Skiave freut sich auf den Weltuntergang . . . .Treiben wir dem Pack zunachst die Menschenwürde aus!' beschlieBen die regierenden Mörder. Mit Folterinstrumenten alter und neuester Konstruktion, mit Konzentrationslagern, Propaganda-Geheul und straffer Zucht wird sie schnell erledigt. Auch BombenFlugzeuge werden gelegentlich schon verwendet — um des Trainings willen, und um den Widerspenstigen zu beweisen, über welch famosen Apparat wir verfügen. Nicht nur Bobby Sedelmayer, der unverwüstliche Bonvivant, hörte die Explosivstoffe krachen. Dem gleichen Larm lauschten Mutter Schwalbe, das Meisje und Doktor Mathes: das geschah in Barcelona, Marz des Jahres 1938. Zahlreiche Bomben fielen, es war eine Generalprobe, die fast schon der MonstreGala-Aufführung glich. „Verdammt noch mal!" murmelte Mathes. Die zwei Frauen schwiegen; das verwitterte Kapitansgesicht der Schwalbe war fahl, man hatte es noch nie so gesehen: unter dem borstigen weiBen Haar glich es plötzlich dem Gesicht einer uralten Frau. Die letzten Wochen hatten ihr zugesetzt, es hatte harte Arbeit gegeben, und sie war kein Kind mehr, unsere Schwalbenmutter. Ihr Bliek war zugleich harter und sanfter, strenger und tiefer geworden; die Vertrautheit mit dem Tode hatte ihn verandert. Nun also surrten sie wieder über der schonen, tapferen, viel gequalten Stadt Barcelona — die schwarzen, wendigen Todes-Vögel; die schrecklichen Maschinen deutscher und italienischer Konstruktion. Die Sirenen heulten — aber zu spat, es hatte schon gekracht, dies war schon der Höllenlarm der Zerstörung, die Leute von Barcelona erreichten die Unterstande nicht mehr, man hatte sie überrascht —: welch ein SpaB! Welch geglücktes kleines Experiment! Kinder winden sich in ihrem Blute, man hat sie auf offener StraBe erwischt, die roten kleinen Bestien! Noch eine Bombe — solid-preuBisches Fabrikat —, eine Mietskaserne stürzt zusammen wie ein Kartenhaus. Hier wohnten Menschen, Manner, Frauen, Kinder, Familien waren hier glücklich oder zankten sich, waren arm oder in leidlich guter Situation — was geht es uns an! Keine Sentimentalitaten! Hin ist hin, nichts ist billiger und leichter zu ersetzen als ein paar Dutzend Menschenleben —: lohnt es sich, die Leichen unter den Trümmern hervor zu ziehen ? Man kann sie nicht mehr erkennen; sie sind verstümmelt, beinah platt gedrückt —: da seht ihr, was die Menschenwürde ist! Haben diese komischen Kadaver noch Würde ? Lacht doch über sie! Kichert, frohlockt über die komplette Entwürdigung! Wer weint hier ? Wer ist altmodisch, ahnungslos genug, noch Tranen zu vergieBen angesichts eines so natürlichen, heiteren, durchaus modernen kleinen Zwischenfalles ? — Nehmen Sie sich doch zusammen, Fraulein! Sie scheinen zu vergessen, in welcher Zeit Sie leben! Das Gebot der Stunde heiBt: Entmenschlichung; Verhartung des Herzens . . . Voici le temps des assassins! Sie werden ja zum öffentlichen Gespött, dumme Gans! Wir kennen die Weinende, es ist das Meisje, sie irrt mit ihren zwei Kameraden, der Schwalbe und Doktor Mathes, vor den aufgerissenen, zerfetzten, rauchenden, brennenden Hausern. Ganze StraBenzüge sind in Trümmer gelegt, die Hauser stehen schauerlich geöffnet, ihre Vorderwand ist abgefailen, schamlos enthüllen sie ihr Inneres, ihr Eingeweide: man kann in die Stuben sehen wie auf kleine Bühnen. Noch immer stürzen Treppen oder Mauern ein. Das fallende Gestein donnert wie eine Lawine. Die Verwundeten schreien, manche wimmern nur noch, andere schweigen. Die Toten schweigen. Es schweigen auch die Leute von Barcelona — die Bürger der MartyrerStadt. Stumm irren sie zwischen den Trümmern. Das Meisje aber vergieBt Tranen. Man muB es ihr verzeihen, sie ist überanstrengt, und übrigens halb verhungert. Es gibt nicht mehr viel zu essen in der schonen Stadt Barcelona. Sie taumelt, Mathes und Mutter Schwalbe halten die Sinkende. „Meisje . . . liebes Meisje ..." flüstert Mathes. Er liebt sie, er ist ihr Gatte, sie sind glücklich gewesen. Er streichelt ihre Wangen, ihr zerzaustes Haar. Seine Hand zittert. Wenn er nur eine Zigarette hatte! Er hat seit Tagen keine Zigarette gehabt, die Gier nach dem Nikotin ist viel arger als Hunger. — „Meisje . . . aber Meisje!" wiederholt er und zieht sie an sich; sie gleitet beinah willenlos in seine Arme. Dort ruht sie, mit geschlossenen Augen, das blasse schone Gesicht naB von Tranen. Was aber ist nun in die Schwalbenwirtin gefahren ? Sie laBt Meisje los — das kann sie riskieren: Mathes stützt und halt seine Frau —; sie eilt davon, die würdige Matrone macht groBe Schritte — es ist halb ein Marschieren, halb ein Hüpfen: überraschende Gangart für eine weiBhaarige Alte. Der feldgraue Soldatenmantel, den sie tragt, reicht ihr fast bis zu den schweren, schmutzigen Stiefeln. Der Mantel ist ihr zu weit, er flattert, da sie nun hüpft und stapft. Was haben ihre scharfen Augen — die Kapitans-Augen unter buschigen Brauen — denn entdeckt ? Warum eilt sie so ? Hier gibt es doch nichts als Trümmer . . . Noch hat sie nicht gesehen, nur gehort. Sie lauft dem leisen Weinen eines Kindes nach. Sie lauscht und rennt. Aus dieser Richtung ist das rührende Gerausch, die kleine Klage des Kindes gekommen . . . Die Schwalbenmutter sieht sich gezwungen, über eine Leiche zu steigen, wie über einen gefallenen Baum. Der Tote starrt ihr aus aufgerissenen Augen nach, die Schwalbenmutter erschrickt, sie hat Angst, sie bemerkt nicht, daB sie in eine Blutlache getreten ist: nun gibt es auch noch rote Flecken an ihren Stiefeln, neben den erdigen Krusten. Gleich aber wird sie das blicklose Starren des Toten vergessen dürfen; denn dort sitzt das Kind — klein, rundlich und wohlerhalten, unter gestürzten Steinen, wie in einer Nische. Ein ganzes Haus ist zusammengestürzt, seine Einwohner sind getötet, wie Viele mögen hier begraben sein! Dieses Kind ward ver- schont. ,Ein Wunder!' empfindet die alte Frau. Sie ist niemals fromm gewesen, der Hang zum Mystischen liegt ihr fern, nun aber fühlt sie: ,Gott sei Lob und Dank! Er hat ein Wunder getan!' Dieser kleine Mensch sollte gerettet werden, das berstende Gemauer durfte ihn nicht verletzen, kein Haar auf seinem runden, glatten Köpfchen ward vom Feuer versengt. Der kleine Mensch indessen zeigt keine Dankbarkeit; vielmehr scheint er recht argerlich über die Störung. Er schüttelt die Faustchen und laBt die Unterlippe beleidigt hangen. Wo ist seine Mutter ? Sie hatte gerade eine Tasse voll Milch vor ihn hingestellt — für kleine Kinder hat die Stadt Barcelona noch etwas Milch reserviert. Dann gab es diesen abscheulichen Larm, und der gefüllte Napf verschwand, gleichzeitig mit der Mama, die ihn gehalten hatte. Das Bübchen beruhigt sich, da es von der Schwalbenmutter hochgehoben wird. Mit behutsamem, festem Griff halt die weiBhaarige Deutsche den kleinen Bürger von Barcelona. Vor seinen groBen, runden, goldbraunen Augen steht plötzlich — erstaunlich weitflachig, drollig und vertrauenerweckend — ein Gesicht mit vielen Runzeln und Falten, ein braves altes Gesicht, eine strahlende Miene. Die Augen der Schwalbenmutter leuchten. Da lacht auch der Kleine. Er kichert, er quietscht vor Vergnügen. Seine weiche, zarte, unversehrte Wange schmiegt er an ihre harte, verwitterte. Seine winzigen, runden Finger zausen ihr borstiges Haar. Es ist lustig, mit dem harten, weiBen Haar zu spielen. Das Haar seiner Mutter war schwarz und weich. Wo ist die Mutter ? Der kleine Bürger von Barcelona hat sie schon vergessen. Er ist grausam. Er amüsiert sich. Er denkt nicht mehr an die gute Milch, die vergossen wurde, und er weiB nichts von dem vergossenen Blut. Die Schwalbe, mit ihrem kostbaren Fund, ist zurückgekehrt zu Doktor Mathes und seinem Meisje. — „Dem Kleinen ist nichts geschehen!" Alle Drei bestatigen es immer wieder, sie können es gar nicht fassen, ihre Freude ist grofl. Das Meisje hatte schon zu weinen aufgehört. Nun aber sind ihr die Augen wieder naB geworden. — .,Wie niedlich er ist! Sieh doch — die kleinen Hande! Es ist ihm gar nichts geschehen!" . . . ,Es wird ihr doch nichts geschehen sein ?' dachte Professor Samuel. Er meinte das arabische kleine Madchen, mit deren Portrait er beschaftigt war. Um vier Uhr hatte sie zur Sitzung kommen sollen, und jetzt war es beinah sechs. In den StraBen von Jerusalem hatte man heute wieder geschossen; der Krieg zwischen Arabern und Juden hörte nicht auf, die Soldaten Seiner Britischen Majestat muBten eingreifen. Wenn dem hübschen kleinen Madchen nur nichts passiert war! Sie hat so reizvoll geschnittene Augen, ein so liebes Lachen, und oft so kindlich ernste, weise, rührende Blicke — es ware schade um sie. Übrigens ist das groBe Portrait, das Samuel vor zwei Monaten begonnen hat, noch lange nicht fertig. Der Meister laBt sich Zeit; er arbeitet gemachlich und mit GenuB — immer verliebter ins Detail; tiefer bezaubert denn je vom Reiz der Farben. Zuweilendenkt er: Die ,,Junge Araberin mit weiBen Blumen" wird vielleicht mein letztes Bild sein. Jedenfalls ist es mein schönstes. Ich bin auf der Höhe — was wohl bedeutet, daB ich nah dem Ende bin. Nach einer Übung von fünfzig Jahren, nach dem Training eines langen Künstler-Lebens, fange ich endlich an, zu begreifen, was Farben sind . . . Wenn mans begriffen hat, malt man das schönste Bild; ist aber innerlich schon darauf vorbereitet, den Pinsel nachstens wegzulegen. —- Heute wird die Kleine also nicht mehr kommen; wahrscheinlich hat sie mich einfach versetzt; ist mit einer Freundin ins Kino gegangen, oder mit einem Freund. Übrigens könnte ich jetzt doch nicht mehr arbeiten; das Licht ist schwach geworden —: welch ein blasses Licht, in welch fahlem Glanz stehen die Dinge! Jerusalem ist schön zu dieser Stunde; die Heilige Stadt hat viel feierlich-traurige Schönheit, zu Anfang war ich glücklich hier — beinah glücklich; mir gefielen die jungen Leute; ich dachte: etwas ganz Neues entwickelt sich hier, die Wiedergeburt, die vielversprechende Renaissance einer Rasse; die jungen Juden — dachte ich erfreut — haben keinen scheuen Bliek, keinen gebückten Gang mehr; sie schauen mutig um sich, tragen den Kopf hoch, ein neues SelbstbewuBtsein gibt ihnen neue Würde. Und wie sie arbeiten können! Ich beobachtete sie auf den Feldern, an den Neubauten, an den Maschinen; ich sah ihnen auf den Sportsplatzen zu. Ich zeichnete sie in den schonen Posen der Arbeit und des Vergnügens. Ich war stolz auf sie. Ich fühlte: Es ist gut, einer von ihnen zu sein. Ich gab mir Mühe, etwas Hebraisch zu lernen. Man lieB mich ein Fresko für eines ihrer neuen Gebaude entwerfen. Ich wollte ein guter Bürger unseres alten, neuen Landes sein. . . . Das war zu Anfang, in den ersten Wochen. Seitdem habe ich viel gesehen — zu viel, und nicht alles war gut. — Bin ich enttauscht ? Es ware eine Schande, dies zuzugeben. Das Leben ist überall interessant, es hat überall Farbe, es kann nie enttauschen. Langweilig und schlimm sind nur die kleinen — oder groBen — Probleme, mit denen die Leute sich ihr Leben vergallen: lauter erfundene Sorgen, abstrakte Komplikationen — sowohl stumpfsinnig als auch gefahrlich; beunruhigend und ode zugleich. Oh, über diesen Dünkel der Klassen, Rassen, Religionen! Über all diese Trennungen, Unterscheidungen, Isolierungen! Geschwatz ohne Ende — unfruchtbar, eitel und monoman! Ich bin seiner müde, es ekelt mich an. Jüdische Freunde nehmen mir übel, daB ich das Portrait der kleinen Araberin male: es scheint ihr nationales Ehrgefühl, ihren „jüdischen Stolz" zu beleidigen. Wie mesquin — und wie dumm! Sind die Lippen und die Augen dieses Kindes weniger lieblich, leuchten die Blüten zwischen ihren Fingern minder stark, weil die Juden und die Araber sich um ein Stück Erde zanken ? . . . Ich gewöhne mich nicht mehr an das Pathos der modernen Unduldsamkeit. Die dogmatische Unerbittlichkeir der jungen Generation langweilt mich bis zu Tranen, und tut mir weh, wie eine lange Behandlung beim Zahnarzt. Die Deutschen verachten die Juden, die Juden verachten die Araber, und übrigens polemisieren sie auch untereinander: den Juden aus Frankfurt am Main sind ihre Brüder aus Krakau oder Bukarest nicht gut genug, die Sozialistischen sind gegen die Liberalen, und die orthodox Nationalen sind gegen den ganzen Rest. Warum versuchen sie das ordinare Pack, das uns aus Deutschland vertrieben hat, an Unduldsamkeit und Roheit zu übertrumpfen ? . . . In Mallorca haben die Fascisten mich an die Wand gestellt — aus purer Schelmerei, nur um sich über die Grimassen zu amüsieren, die ich schneiden würde. Ist dies der Humor des Zwanzigsten Jahrhunderts ?... Und hier werde ich fast boykottiert, weil ich gute Freundschaft mit den Arabern halte. Es ist betrüblich, die Menschen solcherart herunterkommen zu sehen. Schon verandern sich auch die Gesichter —: nicht zum Vorteil, wie sich versteht. Rohe Mienen, obne Reiz und Geist —: mir, dem Maler, fallen sie peinlich auf. Die Menschen anderer Jahrhunderte zeigten edler geformte Stirnen. Nasen und Hande. Wird die Menschheit haBlich, wie eine geistlose Frauensperson, die ohne Charme altert ? Sie schminkt sich jugendlich frische Backen, wodurch sie noch gemeiner und verbrauchter wirkt. Es ware ganz trostlos — wenn nicht auch noch andere Typen vorkamen. Mein vaterliches Maler-Auge entdeckt sie gleich, prüft sie mit Wohlgefallen und freut sich ihrer. Zuweilen erscheint ein Antlitz in der Menge — hier, oder sonst irgendwo —: es ist stolz und rein; es hat den Schimmer der Unschuld, samt der Würde, die nur das überstandene Leiden verleiht. Ich sehe es, und finde mich neu entflammt, neu verliebt — unersattlicher alter Liebhaber des Menschenantlitzes, der ich bin. So ware noch nicht alles verloren? Sind neue Krafte im Anrücken ? Formiert sich eine neue Elite ? Ist eine neue Schönheit im Entstehen begriffen ? ,,Zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt." — Wo habe ich das neulich gelesen ? Bei Nietzsche. Ich will mich ans Fenster setzen und das letzte Licht dieses Tages zur Lektüre nutzen. Aber es ist nicht die Zeitung, die mich lockt; nicht das politische Magazin. — In Nietzsches NachlaB finde ich die Stelle: „Pfui über die, welche sich jetzt zudringlich der Masse als ihre Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten ..." Der alte Mann am Fenster blieb unbeweglich, die erfahrene Stirn über die Seiten des Buches geneigt. Indessen las er nicht weiter. Die Augen traumten, und um den blassen, sinnlichen Mund lag ein Lacheln — sehr trauervoll und nicht ohne Hochmut. ,Wir sind Emigranten . . Wie recht hat der kranke Weise! Und wie weise^ist er gewesen, solche Erkenntnis für sich zu behalten, so lange er lebte: erst im „NachlaB" wurde sie publik. Hat man ihn ganz ver- standen ? Fühlt man Stolz und Schmerz seiner Klage ? Denn es ist eine Klage, sie enthalt auch Heimweh, die Isoliertheit tut weh, es ist kein leichtes Los: sich von der Gemeinschaft zu distanzieren — und sei es selbst von einer schabigen, erbarmungswürdigen Gemeinschaft. Dies gesteht der kranke Weise, indem er das Wort „Emigranten" wahlt, um seinen Zustand, Hochgefühl und Pein seiner seelischen Situation zu beschreiben. „Wir sind Emigranten . . es liegt Resignation in der Formulierung, neben dem Schmerz und dem Stolz. Siegesgewissere Bezeichnungen waren leicht zu finden gewesen — gar zu leicht, wie dem anspruchsvollen Weisen scheinen wollte. Er bevorzugte die genaue, realistische, nicht sehr dramatische Definition: wodurch er sich nicht nur als Stilist auBersten Ranges, sondern auch als Prophet erwies — wie schon bei anderen Gelegenheiten. Wufite er denn voraus, was bevorstand ? Kannte er unser Schicksal ? Er erschauerte vor Katastrophen, deren Opfer wir erst werden sollten. Den Philosophen der „Macht" konnte nichts überraschen: er hatte die Abgründe in sich, vor denen er warnte; er selbst war Teil des Unheils, gegen das er seherisch sich empörte. Er wuBte Bescheid — selbst über den vulgaren MiBbrauch, den man treiben würde: mit seiner Lehre und mit seinem Martyrium. Er hat sich zu uns bekannt —: ja, zu uns! zu den Emigranten!' — Der alte Mann dachte: ,Keine komfortable Existenzform, zu der sich der Weise entschloB! Irdisches Glück erschien ihm kaum sehr erstrebenswert, nicht einmal an irdischer Würde war ihm gelegen; er hatte es entschieden besser, glanzender haben können, bei seinen Talenten. Mit den Emigranten ist nicht viel Staat zu machen. Um die Wahrheit zu sagen: die Meisten von ihnen sehen recht erbarmlich aus. Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel meinen Freund Siegfried Bernheim — eine auBerst reprasentative Figur. Was treibt er denn eben jetzt ? Spielt er Bridge mit dem Bundeskanzler von österreich ?' . . . Professor Samuel hatte lange keine Zeitungen gelesen und keine Menschen gesehen, auBer eine kleine Araberin mit süBen Augen und Lippen. Sonst hatte ihm sehr wohl bekannt sein müssen, daB der Bundeskanzler von Österreich durchaus nicht in der Stimmung und nicht einmal in der Lage war, mondanen Vergnügungen nachzugehen — die ihn übrigens niemals gelockt hatten. Was den Bankier Siegfried Bernheim betraf, so war er, zu seinem Kummer, dem Herrn Bundeskanzler niemals vorgestellt worden. Freilich hatten zu seinem intimeren Umgang verschiedene Herren gehort, die ihrerseits Seiner Exzellenz nahestanden. Vor allem die beinah freundschaftliche Beziehung zu hohen klerikalen Würdentragern hatte dem Bankier recht herzlich wohlgetan. Stolze, wohlige Gefühle bewegten ihm die Brust, wenn er sich mit legitimen Grafen, klugen und gewandten Priestern abends traulich unterhalten durfte. Jeden, der pessimistisch war, was die Zukunft Osterreichs betraf, wies er würdig zurecht. Felsenfest war Bernheims Überzeugung: Diesmal habe ich aufs richtige Pferd gesetzt. Über uns halt der Vatikan seine schützende Hand — und auBerdem gibt es noch Mussolini. Auf die Unabhangigkeit Österreichs kann er nie verzichten: wenn Deutschland den Angriff wagte, der Duce lieBe am Brenner mobilisieren, wie auch früher schon. Meine trüben Abenteuer von Mallorca werden sich keinesfalls wiederholen. So zuversichtlich war der Bankier, dessen intellektuelle Krafte sich von dem Mallorcaner Schock niemals ganz erholt hatten. Er spielte eine Rolle in der guten Wiener Gesellschaft. Seine Villa, auBerhalb der Stadt, war ein Treffpunkt einfluBreicher Leute. Man fand die Küche vorzüglich; die Bilder-Kollektion beachtenswert. Niemand zweifelte die Echtheit des Greco an, und man war liberal genug, sich an dem sinnlichen Reiz des Renoir zu entzücken. Bernheim blieb optimistisch, bis zum bitteren Ende. Der Bundeskanzler tat die schauerliche Fahrt nach Berchtesgaden; das Plebiszit, das die Nazis erledigen sollte, ward kühn beschlossen — und abgesagt. Bernheim sagte: „Es gibt immer noch Mussolini!" Indessen bekam er AnlaB zur schmerzlichster Verwunderung. Nur die deutsche Armee marschierte, wahrend die italienische sich durchaus still verhielt. Österreich wehrte sich nicht, Frankreich hatte Kabinettskrise, Europa beobachtete mit ehrfurchtsvoller Spannung die historischen Vorgange, der Führer und der Duce wechselten fröhliche Telegramme. Bernheims einflufireiche Freunde wurden verhaftet oder waren schon abgereist, mehrere von ihnen erschlug man, alle galten jetzt als Vaterlandsverrater, weil sie ihrem Vaterland nach bestem Wissen und Gewissen gedient hatten. Bernheim —- guter Katholik und österreichischer Patriot — erkannte endlich, mit Grauen: Ich habe mich wieder verrechnet, es geht noch einmal schief. — Gibt es denn keine stabilen Werte mehr in dieser zerrütteten Welt ? — grübelte der fassungslose Bankier. Halt sich nicht einmal Mussolini ? . . . Dem Himmel sei gedankt, daB ich Geld in England habe! Ich reise nach London, lieber heute als morgen . . . Er klingelte dem Kammerdiener, damit er ihm die Handkoffer packe. Der Bursche war in die Stadt gefahren, ohne erst Erlaubnis einzuholen. Bernheim muBte sich seine Sachen selbst zusammensuchen. Ein paar kostbare Kleinigheiten — schwere Manschettenknöpfe; Krawattennadel mit groBem Diamanten -— steckte er sich in die Tasche —: für alle Falie. ,Die 41 Möbel und Bilder werde ich mir hoffentlich nachkommen lassen können.' Er hatte Tranen in denAugen, als er Abschied von dem Greco nahm, den Professor Samuel für eine Falschung hielt. — ,Das französische Transit-Visum werde ich wohl kriegen,' meinte er. ,Der Generalkonsul ist einer meiner guten Freunde . . . Nur ein Glück, daB meine SteuerAngelegenheiten in Ordnung sind! Es gibt keinen Vorwand, mich zurückzuhalten Er lieB den Wagen vorfahren, und wunderte sich beinah, daB der Chauffeur zur Stelle war, in seiner adretten, kleidsamen Uniform. Übrigens sah der junge Mann verdrossen aus. „Wir fahren zum Französischen Konsulat," bestimmte Bernheim, mit einer Stimme, die immer noch kraftig und salbungsvoll klang. Wie schauerlich hatte Wien sich verandert: über Nacht, ganz ohne Übergang und Vorbereitung, hatte es ein fremdes und bedrohliches Gesicht bekommen. Überall wehten die Hakenkreuz-Fahnen, und Figuren machten sich breit, die sonst höchstens im Halbdunkel sichtbar geworden waren. Die Meisten trugen Uniformen, breite Armbinden und farbige Hemden. Sie blickten angriffslustig und tückisch. Ihr Grinsen war triumphierend, gleichzeitig aber feige; sie schienen sich der neuen Macht noch nicht ganz sicher zu sein. Echte Triumphatoren tragen die Haupter stolzer und schoner gereckt. Diese duckten die breiten Nacken, als erwarteten sie Schlage von oben. .Mörder . . dachte beklommen Herr Bernheim in seiner Limousine. ,Sie sehen alle wie Mörder aus. Was ist aus meinem schonen, frommen, konservativen Wien geworden ?' — Sogar die Lieder, die gesungen wurden, klangen grauenvoll. Jubelrufe, dünn und schrill, lieBen sich hören. Eine altere Frauensperson schrie mit zankischer Stimme in Bernheims Wagen hinein: „Heil Hitier!" Erhobmatt den Arm; mit dem anderen zog er den seidenen Vorhang vor das Fenster des Coupés. Indessen hielt das Gefahrt vor dem Konsulat. Bernheim konnte sich noch nicht gleich zum Aussteigen entschliefien. Er lüftete den Vorhang ein wenig; was er sah, war erschreckend. Vor dem Haus mit der französischen Flagge standen die Leute Schlange — eine lange, stumme Reihe auf das Trottoir hinaus. Bernheim bemerkte respektable Herren, die er kannte. Sie standen gebückt, den Hut tief in die Stirn gezogen. Wie bleich sie alle waren — und die Gesichter schienen von Angst verzerrt. Es gab Grund genug, sich zu fürchten. Der Menschenauflauf um die Wartenden wurde immer dichter. Weiber, Burschen, Kinder blieben stehen — Arme in die Hüften gestemmt, und die Mauler höhnisch aufgerissen. Sie kreischten Beleidigungen: Bernheim hörte es durch die Fensterscheibe. Es war eine dicke Frau in blauer Schürze, die einen der Juden an den Schultern packte. Erst schüttelte sie ihn ein wenig — es wirkte fast neckisch, besonders weil die Frau so vergnügt dazu kicherte. Indessen blieb der Herr schrecklich ernst; wehrte sich auch nicht, bekam vor Angst geweitete Augen. Es wurde starker gelacht; die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als die Dicke dem Bankdirektor — einem von Bernheims einfluBreichen Freunden — mit flacher Hand ins Gesicht schlug. Auch diese Ohrfeige hatte noch scherzhaft-intimen Charakter. Indessen reagierte die Menge, als hatte der Bankdirektor seinerseits die Frau miBhandelt. Mehrere Manner stürzten sich auf ihn, er ward von ihren Leibern zugedeckt, dem Pöbel entging der amüsante Anblick seines Falies. Hingegen konnte man ihn jammernhören. Die Prügel, die er jetzt bekam, waren ernst; vielleicht waren sie tödlich. Bernheim sah das Gesicht seines alten Freundes nicht mehr. Die Leute applaudierten: hier ward gute Arbeit getan. Sie heulten: „Saujud! Menschenschinder!" Das Goldene Wiener Herz war in Aufruhr, die Wiener Gemütlichkeit tobte, der Stephans-Turm schaute zu. „Immer feste druff!" verlangte schneidig eine Mannerstimme mit dem preuBischen Akzent, der hier früher kaum beliebt gewesen war. Jetzt aber nahm niemand AnstoB; man war in festlicher Stimmung, durchaus bereit, das alte Vorurteil aufzugeben, und übrigens vom Ehrgeiz erfüllt, selber „schneidig" zu werden. „Immer feste druff!" kreischte das Goldene Wiener Herz —: der Berliner Tonfall klang noch nicht ganz natürlich aus dem Munde der Österreicher; aber sie würden es lernen, waren der besten Absichten voll — und prügeln konnten sie jetzt schon, wie die deutschen Brüder in Dachau oder Oranienberg: dies bewiesen die uniformierten Burschen, lauter echte Wiener Kinder, tapfere Kerle — zehn junge Athleten gegen einen kranklichen alten Israeliten —: immer feste druff! Bernheim sagte mit bebenden Lippen zu seinem Chauffeur: „Fahren Sie weiter!" Erdachte: ,Ichwerde mit dem französischen Konsul telephonieren; ich schicke ihm einen Boten; er gibt mir das Transitvisum — er muB es mir geben — ich muB fort — der Konsul hat bei mir zu Abend gegessen, er kann nicht dulden, daB ich hier erschlagen werde wie ein toller Hund . . .' Er wiederholte: „Ich bitte Sie — fahren Sie weiter!" Der Chauffeur antwortete ihm mit einem trüben Bliek über die Schulter. Der Wagen war schon umringt; Bernheim begriff: Ich bin in der Falie, bin ausgeliefert, am Ende. — Der Chauffeur schaute ihn an, mitleidig und verachtlich. Bernheim erinnerte sich plötzlich, in all seiner Angst: Der Chauffeur war ein Sozialdemokrat, er hatte im Februar 1936 gegen die Truppen der Regierung Dollfuss gekampft, er hatte die Regierung Schuschnigg gehafit, er verabscheute auch die Nazis, er war nicht für die Restauration, er war für die Republik. „Im Februar 1936 haben wir österreich verloren!" Diese Worte hatte Bernheim von ihm gehort — jetzt fielen sie ihm ein. Der Chauffeur sah ihn an; sein Gesicht blieb starr, als die Tür des Wagens aufgerissen wurde. Ein Arm mit Hakenkreuzbinde langte in den Wagen; ein entmenschtes Gesicht ward sichtbar. —„Sind Sie auch ein Jud ?" — Welch entsetziiche Stimme! Der Atem, der zu ihr gehorte, stank nach Bier. Herrn Bernheim wurde sehr übel; er fürchtete, sich übergeben zu müssen. „Ich bin Auslander!" brachte er hervor. Die Antwort war nur dröhnendes Gelachter. „Das kann jeder sagen!" höhnte die stinkende Stimme. „Was für einen Pass hast du dir denn gekauft, du Hund ?" — „Ich bin Bürger des Fürstentums Liechtenstein!" Bernheim machte eine letzte Anstrengung, seine Würde zu wahren, und sowohl gütig als auch kraftig zu wirken. Indessen ward das Gelachter noch wilder. Der Mann, der Bier getrunken hatte, lieB dumpfes Jubeln hören. „Hoho! — Und so was fahrt in einem dicken Packard rum!" —: als ob es gerade für einen Bürger von Liechtenstein besonders unpassend ware, in einem Automobil zu sitzen. „Die Koffer hat er auch schon mitgenommen!" steilte erbittert ein verwelktes Frauenzimmer fest: es war die gleiche, die vorhin so zankisch den Führer hatte hochleben lassen. Der Biertrinker machte plötzlich ein strenges Beamtengesicht. „Wahrscheinlich Steuerhinterziehung!" behauptete er, völlig sinnlos, und sah tugendhaft aus; eine Stütze der Ordnung, legitimer Verteidiger staatlicher Interessen. — „Das werden wir ja gleich haben!" brüllte er, die Miene purpurn verfarbt. Er riB Herrn Bernheim aus der Limousine — ihn mit beiden Armen umfassend, wie zu einer mörderischen Liebkosung. Siegfried Bernheim, zu Boden geschleudert, berührte das StraBenpflaster mit seiner Stirn. Er kauerte, wie ein Orientale in der Pose der Andacht. Die Hande hatte er vors Gesicht gelegt; zwischen seinen dicken Fingern quoll der rosig-graue Bart hervor. Er hielt still; er wuBte nur noch: Sie werden mich schlagen . . . Da spürte er schon den ersten fürchterlichen Hieb im Nacken. Es muBte ein Gummiknüppel sein, von dem er getroffen wurde. Bernheim hatte in seinem Leben noch niemals solchen Schmerz gekannt. Er dachte: Ich will nicht schreien. Das Gesindel soll mich nicht weinen horen . . . Gleichzeitig aber ward ein Wimmern laut — ein fremdes, kindisches kleines Wimmern: er erkannte es nicht, und doch kam es aus seinem Munde. ,So ist das also,' fühlte er, halb betaubt. ,So ist es, wenn man geschlagen wird, mit einem Gummiknüppel. Man kann den Hals nicht mehr rühren, er wird heifi und steif, wahrscheinlich wird es eine groBe Beule geben — mein Gott, tut das weh ; man bekommt nasse Augen, und man wimmert, ob mans will oder nicht.' — Die Beobachtungen waren interessant, wenngleich schaurig. Übrigens blieb eine gewisse Neugierde wach in dem gemarterten Kopf. Bernheim fragte sich: ,Was werden sie jetzt mit mir machen ? Sie haben mich geschlagen; vielleicht töten sie mich . . Sie hatten noch allerlei mit ihm vor. Die Verwelkte mit der zankischen Stimme forderte animiert: ,,Er soll putzen! Den Boden soll er aufputzen, die Plakate von der Vaterlandischen Front soll er wegputzen von der Mauer! Auf der RingstraBe drüben haben die Saujuden auch putzen müssen!" Sie schien entzückt von ihrem kleinen Einfall; ihre Stimme krahte vor Begeisterung. „Ich habe lang genug die Böden auf- gewischt!" erklarte sie noch. „Bei einem Juden — ja, so hat eine Volksgenossin sich erniedrigen müssen! Jetzt sind aber die an der Reihe! Putzen soll —- putzen — putzen!!" jauchzte sie mit ekstatischem Eigensinn. Bernheim, aufs Pflaster gekauert, dachte: ,Die Plakate von der Vaterlandischen Front ? Sie können doch gar nicht fest an den Mauern kleben; sind doch nur dünnes Papier ... Was war denn die Vaterlandische Front ? Ach ja — das falsche Pferd, auf das ich gesetzt habe. 25000 Schillinge hab ich für sie gegeben •— das Geld hatt ich besser verwenden können — warum schreit die Person eigentlich immerfort, ich soll putzen ?' Der Vorschlag der verwelkten Haushalterin wurde allgemein verstandig gefunden; gleich schrie die Menge im Chor: „Putzen soll er! Putzen!" Sogar Herrn Bernheims Chauffeur schrie mit, sonst ware er wohl seinerseits verprügelt worden, man hatte ihn schon „Judenknecht" genannt; einige meinten sich zu erinnern: „Das ist so ein aSter Sozi!" Sollte er Schlage riskieren, wegen des Bankiers ? Nichts konnte ihm ferner liegen; lieber rief er, mit den anderen: „Putzen soll er!" — übrigens mit etwas gedampfter, brummender Stimme. Sein Gesicht blieb starr und verachtlich. Er dachte: ,Blöde Hunde! Meint ihr wirklich, euch wirds künftig besser gehen, weil ihr heute ein paar Juden schikanieren dürft ? Glaubt ihr, das ist die Revolution ? Dafl ihr euch so anschwindeln laBts! Schön blöd müBt's ihr sein! Zum Menschenfeind könnt man werden . . .' Angesichts des wimmernden alten Mannes, der wie in jammervoller Andacht hoekte, ward das Goldene Wiener Herz übermütig und einfallsreich. „StraBenkehren?" rief ein flotter Bursch. „Viel zu mild für einen Steuerhinterzieher! — Den Abort soll er sauber machen!" Dies muBte ihm wie eine plötzliche Eingebung in den Sinn und auf die Lippen gekommen sein. Er stand stramm vor Glück, gleichsam einer unsichtbaren Obrigkeit für die Gabe solchen Geistesblitzes dankend. — „Den Abort soli er sauber machen!" Besonders die Damen zeigten sich von dieser neuen Pointe bezaubert. Sie begannen ein wenig zu tanzen: der wiegende Walzerschritt, den niemand der süBen Wienerin nachmacht, ergab sich gleichsam von selbst; die innere Glückseligkeit wollte sich manifestieren. Die jungen Herren ausBerlin und Breslau fanden: Wien ist, wie wirs uns ertraumt haben! So was Goldiges! Nun müssen wir aber beweisen, daB wir nicht die steifen Kerle sind, für die man uns haufig halt. Immer feste druff! Einen Walzer werden wir auch noch schaffen . . . Die derben Jungens aus dem fernen Norden — rauhe Schale, aber sonst gut beisammen: grad was die süBe Wienerin lieb hat! — schmiegten Arme um Taillen, drückten Schnurrbarte an zarte Wangen. Die Halbwüchsigen — musikalisch bis in die Fingerspitzen, und übrigens voll frühreifem Verstandnis für Laune und Bedürfnis der GroBen — trallerten und pfiffen, alle miteinander: „Wien — Wien, nur du allein — solist die Stadt meiner Traume sein Eine Melodie, bei der kein MadchenfuB stillstehn kann! Selbst die Dicke in der blauen Schürze, die den Bankdirektor gebeutelt und damit die ganze Gaudi in Gang gebracht hatte, wiegte sich rhythmisch. Da keiner der Berliner Gaste sich um sie bemühte, ward sie ihrerseits aggressiv; der junge Mann, den sie schüttelte, war lang und dünn; erst fürchtete er sich, weil er meinte: Jetzt folgt wohl gleich die Maulschelle, und alles Übrige! Dann ward ihm klar, daB es diesmal wirklich nur um Schabernack ging: da steilte er seinen Mann, nicht schlechter als die Kumpane. Er stürzte sich ins Vergnügen — ein wenig stöhnend; denn das Gewicht der dicken Blauen war kolossal. So eine Hetz — das hats lang nimmer gegeben! Seit den Tagen des seligen alten Franz Joseph hat man sich nicht mehr so fesch amüsiert. „Wien, Wien — nur du allein!" —•: Walzer-Taumel bei den Burschen von der S.S., der S.A., der Gestapo, der Reichswehr, der Polizei, der HitlerJugend, den Nationalsozialistischen Studenten-Verbanden. „Zwei Herzen im Dreiviertels-Takt . . : das patriotische Hochgefühl vermischt sich wohlig mit den Freuden anderer Art. Österreich ist verloren! österreich ist verraten! Der preussische KommiBStiefel über unserer Stadt! Hurra! „Das muB ein Stück vom Himmel sein — Wien und der Wein ..." Die Wartenden vor dem Konsulat blieken sowohl befremdet, als auch hoffnungsvoll. Sie denken: Jetzt werden sie alle narrisch. Umso besser — dann wird man uns vielleicht in Frieden lassen. —- Die Gasse hat sich in einen Ballsaal verwandelt, die allgemeine Munterkeit ist grenzenlos; auch Bernheim fafit neuen Mut: ,Sie singen so frohe Lieder, vielleicht bleibt mir das Schlimmste erspart!' Die Walzer-Seligkeit war intensiv; aber doch nicht stark genug, um die Gemüter von den heiter-ernsten Pflichten des Tages völlig abzulenken. Die Halbwüchsigen zwitscherten noch: „Ich weiB — auf der Wieden — ein kleines Hotel . . da schrillte die Stimme der verblühten Haushalterin: „Er soll putzen — die Bedürfnisanstalt soll er putzen!" Sie vermied das rauhere Wort, das der junge Mann mit dem Geistesblitz verwendet hatte und das dann von der Menge wiederholt worden war: „die Bedürfnisanstalt" sagte sie spitz und fein. Glücklicher Weise fand sich ein solches Lokal an der StraBenecke. Man schleppte Herrn Bernheim hin. Er ward mit FuBtritten, Püffen und lustigen Worten über das schmutzige Pflaster geschleift. Er blutete. Aus einer Verletzung an seiner Stirn lief das Blut, und es tröpfelte rötlich in den Bart. Ach, wohin war seine Würde! Sein edler, menschenfreundlicher Anstand — wohin! War dies noch derselbe Mann, der seine Gaste — Film-Vedetten, Staatssekretare, Professoren — am Portal der Villa, schlicht und feierlich, empfangen hatte ? Welche Verwandlung! Welch Sturz! Hat das Goldene Wiener Herz kein Erbarmen ? Ist ihnen das Opfer nicht genug entstellt ? Wenn sie kein Mitleid kennen — spüren sie denn nicht Ekel, angesichts solchen Elends ? Und es riecht nicht gut, wo sie ihn jetzt hin zu knieen zwingen. Sogar etliche Frauen sind mit eingetreten, obwohl die kleine Baulichkeit ein Schild „Für Manner!" tragt. Wer wird zimperlich sein, zu so festlich-orgiastischer Stunde ? Die Ungeheure in der blauen Schürze schnuppert munter die scharfen Odeurs, die hier wehen — wahrend die Verwelkte, geniert und freudig erregt, an der Türe stehen bleibt: Eintreten — nein, das würde nicht schicklich sein! Andererseits will sie sich das Schauspiel keineswegs entgehen lassen. Das diskrete Hauschen liegt inmitten einer kleinen Parkanlage: glücklicher Zufall; denn hier kann man weiter tanzen. Walzer-Texte vermischen sich mit dem donnernden Sprech-Chor: „Den Abort soll er putzen!" Die Melodie setzt sich sieghaft durch: „Nichts Schönres kanns gebn — als ein Wiener Lied . . Dann dröhnt es wieder: „Den Abort soll er putzen!" Woraufhin die Madchenstimmen jubeln: „Das haftet im Herzen — und geht ins G'müt!' —: dieses wieder auf das Wiener Lied bezogen. Wer hatte denn die scheuBlichen Gerate bereit, deren Herr Bernheim sich nun bedienen muB ? Was man ihm prasentiert, ist ein Nachttopf, und erst stöBt man einmal, SpaBes halber, sein Gesicht hinein. Die zahe, dicke Flüssigkeit, mit der sich sein Anlitz beschmiert, hat dunkel gelbliche Farbe und ist atzend scharf. Aus was für Ingredienzien hat man diesen üblen, fetten Brei gebraut ? Er verbrennt die Haut — erst die des Gesichtes, dann auch die der Hande. Das Bürstchen aber, mit dem er diesen Boden saubern soll, ist derartig klein, dafi ringsum das allgemeine Gelachter sich noch steigert. Der Wiener Humor kommt wahrhaft auf seine Kosten; in brüderlicher Eintracht mit dem Berliner Witz darf er sich herzhaft austoben. Es ist ja ein altes Zahnbürstchen, ein zerzaustes, jammerliches Ding, mit dem der reiche Jud den Boden putzen soll — und was für einen Boden! Die Verwelkte meckert wie eine Ziege über so viel drolliges Malheur. Der Alte stellt sich ungeschickt an, er schnauft und wimmert, es ist wie in einer Posse, im „Theater an der Wien" kann es nicht unterhaltender sein. Die Verblühte tut einen kecken Schritt, weiter in das halbdunkle Lokal hinein, das zu betreten ihr von Natur und Sitte keineswegs bestimmt war. ,Die Sitten andern sich!' beschliefit sie kühn. ,Und was die Natur betrifft — nun, ich habe niemals viel SpaB und Vorteil von meinem weiblichen Geschlecht gehabt!' Alter Mann auf der beschmierten Erde — du hast Kot und Blut im Barte; du kannst nicht sehen, denn die Augen sind dir von dem verdachtigen Putzmittel verklebt; du kannst nicht sprechen: Scham und Grauen nehmen dir die Stimme; du kannst immer noch leiden, du leidest immer noch. Du bist Hiob, dem der Herr Vieles gab, um ihm Alles wieder zu nehmen; der Unglücksmann von Uz, den Er mit Aussatz schlug, mit jeglicher Armut, jeglichem Gebreste; den Er stinken liefi und sich im Miste walzen —: Du bist es, wir erkennen dich. Die platte, fleischige Nase, aus welcher Blut rinnt; der entwürdigte Bart — einst deine ehrbare Zierde —; die zerrissenen Hande, das zerrissene Herz: es ist uns alles vertraut, die groBen Bilder der Menschheit kehren wieder, die Situationen des groBen Schmerzes wiederholen sich; du wirst die Stimme heben, Erniedrigter, wirst dir die Brust schlagen, klagen und rasen wirst du: Warum tatest du mir dies, Gott mein Herr ? Für diesmal ist es genug; der Klageschrei, die mythische Pantomime der extremen Pein— sie sind dir erlassen; nicht diesen Tieren solist du sie vorführen, sie würden sie nicht verstehen. Sie sind nur Werkzeuge der Züchtigung, ihre Hirne sind stumpf, und sie wissen kaum, was sie tun. Übrigens bleiben auch ihnen Qual und Schmach nicht erspart, du magst davon überzeugt sein. Es wird für sie Ernüchterung ohnegleichen kommen; wer sich so verirrt und so vergessen hat, wie dieses Volk, für den wird die Stunde des Erwachens schon der Augenblick der Strafe sein — ganz zu schweigen von mancherlei anderer Heimsuchung, die ihnen vorbestimmt sein könnte. Nun singen sie noch — wie das Geheul von Irrsinnigen geilt es uns in den Ohren. Noch wiegen sie sich, noch stampfen sie vor Vergnügen. Einer von ihnen möchte den besonders Grausamen spielen: er schlagt den Alten, dessen Hande sich nicht mehr regen, mit gewaltiger Kraft auf den Kopf. Gerade dadurch verkürzt er ihm die Qualen: Bernheim verliert die Besinnung. Er sinkt nach hinten, mit verdrehten Augen; die blutigen Flachen der geöfïneten Hande nach auBen gekehrt — als wollten sie es dem strengen Himmel zeigen: Siehe, meine Hande sind leer! Ich habe nichts mehr, du hast mir alles genommen! Dunkelheit nimmt ihn gnadig auf. Er sieht nicht mehr die entmenschten Gesichter seiner Verfolger, er muB nicht mehr ihre schaurig-munteren Lieder hören: denobszönen Chorus der Idiotie; dasTriumphGeheul der Verblendeten. Tausende haben gelitten wie er; manchen ward noch Schlimmeres zugemutet, andere kamen etwas glimpflicher davon. Ein Storm von Flüchtlingen ergieBt sich aus dem gemarterten Land: wohin mit ihnen ? Wer nimmt sie auf ? . . . Manche Züge, voll mit Menschen, die sich schon in Sicherheit wahnten, muBten an den Grenzen wieder umkehren: das Nachbarland wollte die Unseligen nicht. Sie bringen Unglück, und sie fressen uns arm — dies war das Empfinden der guten Nachbarn. „Weg mit euch!" riefen sie und verscheuchten die Emigranten wie böse Geister. „Sucht euch ein anderes Asyl! Nicht bei uns! Ihr verpestet die Luft, die ihr atmet!" — Wie viel Tranen flossen da, an der Grenzstation! Wie viel Schreie — Manner-, Frauen- und Kinder-Schreie, ein Konzert von schrillen Dissonanzen, eine Symphonie der Qual! Manche warfen sich vor den Zug: lieber sich von seinen Radern zermalmen lassen, als zurückkehren in die Heimat, die Hölle. — Die Grenzbeamten zeigten Verstandnis für solche Verzwei flungstat, obwohl sie geeignet war, den Eisenbahn-Betrieb empfindlich zu storen. „Aber was bleibt den armen Leuten sonst übrig ?" fragten die Beamten — milde, soweit das Dienst-Reglement es erlaubte. Andere waren glücklicher, sie gewannen die Freiheit, freundliche Menschen standen ihnen bei. In Zürich, zum Beispiel, durften viele eine Weile sich aufhalten — ein paar Wochen nur, wenige Monate höchstens; aber es war doch lange genug, um die dringlichsten Affaren zu ordnen, sich Visen und Schiffsbillett für die Übersee-Reise zu verschaffen. Denn was sollte man noch in Europa ? Für die Wiener hatte Wien Europa bedeutet; allenfalls kamen noch Salzburg, Innsbruck und Paris in Frage. Nun safien sie mit verstörten Gesichtern herum und erklarten: ,,Es gibt Europa nicht mehr . . ." So düstere AuBerungen fielen in der Pension „Rast und Ruh", wo die Damen Tilla und Marie-Luise hilfsbereit tatig waren. Ihr Etablissement war gut besetzt, es war überfüllt, die beiden Frauen hatten alle Hande voll zu tun. Dies bedeutete übrigens keineswegs, dafi sie Geld scheffelten: die neuen Gaste zahlten unregelmaBig; viele waren völlig mittellos. MarieLuise führte die Konto-Bücher; Frau Tibori kümmerte sich um die Küche. Sie machte Apfelstrudel und Gulasch für die Wiener Freunde —: „damit sie sich doch ein biBchen wie zu Haus bei uns fühlen!" — „Ich muB Frau Ottinger besuchen!" Zu diesem EntschluB war Marie-Luise wahrend der letzten Wochen wiederholt gekommen. „Die Gute wird uns noch einmal aus der Patsche helfen." Bei Ottingers logierten vertriebene Wiener Dichter, Kammersanger, monarchistische Offiziere, Sozialdemokratische Abgeordnete und eine veritable Prinzessin, mit den Hausern Habsburg und Bourbon verwandt, jedoch in arger finanzieller Lage. Das alte Ehepaar hatte taglich etwa vierundzwanzig Personen zu Tisch — lauter Flüchtlinge. Dabei blieben andere Vierundzwanzig unsichtbar, die auf Ottingers Kosten in Pension „Rast und Ruh" oder in den kleinen Restaurants der Alt-Stadt ernahrt wurden. Manchmal wurde Herrn Ottinger angst und bange, wenn er seine Ausgaben überdachte. Er sagte zu seiner lieben Frau: „Wir sind ziemlich wohlhabend, aber nicht mehr so reich wie früher. Ich muB es dir gestehen: wir zehren vom Kapital — niemals hatte ich gedacht, es könne bis dahin kommen. Dein Mütterliches wird angegriffen — hast du etwas dagegen ?" Er steilte es mit leichtem Schauder fest; auch Frau Ottinger bekam entsetzte Augen; lachelte dann aber, gütig und resigniert. — „Wie lang leben wir noch ?" fragte sie ihren alten Gatten. „Noch ein paar Jahre," konstatierte sie sanft. „Wir werden nicht hungern müssen. Wenn wir Kinder hatten — dann müBte das Kapital unversehrt bleiben. Aber so . . . Die Flüchtlinge sind unsere Kinder," meinte sie abschlieBend. Sie schwiegen Beide, die alten, blassen Gesichter nah beieinander. An was dachten sie, daB sie so zartlich lacheln muBten ? An die kleine Tilly vielleicht mit dem schlampigen Mund: die hatten sie geliebt wie ein Töchterchen. Sie erwahnten sie nicht. Vielmehr sagte Madame: „Den kleinen Braunfeld könnten wir bei Peter Hürlimann unterbringen — er hat noch ein Zimmer frei. Ich fürchte nur, der gute Peter kommt gar nicht mehr zu seiner Musik, weil er sich so viel um die Wiener bekümmert. Hat er sich nicht prachtvoll entwickelt ? Wenn Tilly ihn nur sehen könnte, wie tapfer und tüchtig er ist. . ." Nun hatte sie den lieben Namen doch genannt. Herr Ottinger streichelte den Arm seiner alten Gattin — um sie zu trosten, und weil er seinerseits etwas Trost dringend brauchte. — Europa gibt es nicht mehr: sagten die Fliehenden — womit sie insofern recht hatten, als der kranke Kontinent ihnen, den Emigranten, keinen Lebensraum mehr gewahren wollte. Amerika war die Hoffnung. Um hinzukommen, benötigte man die finanzielle Garantie eines Ansassigen, der seinerseits nachweisen muBte, daB er in der Lage war, für den Eingewanderten zu sorgen, wenn der es selber nicht mehr schaffen konnte. Um solche Garantien, Affidavits genannt, bemühten sich fast alle Gaste der Pension „Rast und Ruh", wie auch des Hauses Ottinger. Ohne Ruh und Rast eilten sie zum Amerikanischen Konsulat — wo man sie viele Stunden lang antichambrieren lieB —, und zu den Hilfs-Comités — wo man infolge von Überarbeitung die Nerven verlor. AuBerdem schick- ten die Unglücklichen kostspielige und komplizierte Kabel über den Ozean, an alte Bekannte, die ihrerseits gescheit genug gewesen waren, schon vor den neuesten europaischen Evenements ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten einzureisen. Die telegraphischen SOS-Rufe hatten alle den gleichen Refrain: Hier bin ich verloren! Ich ersticke hier, samt meiner Frau und den lieben Kleinen! In Ihre Hande lege ich vertrauensvoll mein ganzes Schicksal! . . .„Man kann sie doch nicht alle zu Grunde gehn lassen! Es muB doch etwas geschehen!" — Dies war Marions Stimme, sie klang beinah zornig, als hatte Benjamin ihr widersprochen; der schwieg indessen und schaute seine Gattin nachdenklich an. — „Natürlich," sagte er, nacheiner kleinen Pause. „Ich werde morgen ein paar Freunde um Hilfe bitten . . . Freilich muB da etwas geschehen. Amerika ist groB und gutgesinnt; es hat Platz für viele ..." Die Jungvermahlten hatten sich in einem der südlichen Staaten niedergelassen, er hies North Carolina, die Universitat war gut, Abel hatte eine angenehme Stellung. Die amerikanischen Kollegen fanden, daB es bei Abels „really cosy" war. Marion galt als charmante Hausfrau — aufmerksam und beweglich, trotz ihrer Schwangerschaft. Die Universitats-Damen freuten sich auf das Baby, sie überschütteten Marion mit guten Ratschlagen. Ihr kleines Haus war nah dem Campus der Universitat gelegen. Es hatte nur vier Zimmer, aber die waren nett und heil. Unten gab es das EBzimmer mit dem runden Tisch, und die Bibliothek, wo Abel arbeitete. Dieser Aprilabend war schön und mild; durchs offene Fenster kamen Blütengerüche. Junge Leute schlenderten drauBen vorbei; manche sangen, andere lachten nur. Welcher Friede! Wie weit entrückt waren Qual und Aufruhr! Jedoch lagen auf dem Schreibtisch die Telegramme — die SOS-Rufe mit dem Refrain: ,Ihnen vertraueich mein Schicksal an — Eines von ihnen hielt Marion in der Hand. „Sonderbar, daB sich der Mann an mich erinnert; ich kenne ihn nur sehr flüchtig," erklarte sie, wobei sie ruhelos durchs Zimmer ging. „Er wollte einen Weltstaat gründen — Paneuropa war ihm noch zu provinziell. Nun sitzt er in Basel, und darf nicht über die französische Grenze ..." Benjamin bat zartlich: „Komm zu mir!" Da stand sie hinter ihm, die mageren Ellenbogen auf die Rückenlehne seines Stuhles gestützt. Er lieB auf ihrer Gestalt lang den Bliek ruhen. Wie stark ihr Leib schon hervortrat! Und auch ihr Gesicht war verandert: es schien breiter und weicher geworden. ,Es ist schoner geworden,' dachte Abel mit groBer Rührung. ,Noch schoner geworden. Ich liebe es jetzt noch mehr.' Sie las in seiner Miene, daB er glücklich war; gerade hierüber empörte sie sich. „Ich schame mich!" schrie sie auf; dabei preBte sie die Hande an die Schlafen, das zerknüllte Telegramm fiel zur Erde. „Wir sitzen hier in Sicherheit, es geht uns gut, wir haben unser Heim — und überall wachst das Unglück! Das Unglück breitet sich aus wie die Pest. Wann ist je so viel gelitten worden?" — „Immer," sagte der Historiker, liebevoll und pedantisch. „Oder meistens. Meistens ist so viel gelitten worden. Es war selten besser." Dies überhörte sie. Heftig und mit einem Schluchzen in der Stimme sprach sie von den Freunden in Wien. „Sie waren alle so voll Vertrauen! Siemeinten, es müsse ihnen geholfen werden. Niemand hat ihnen geholfen . . . Was kommt nun an die Reihe ?" fragte sie drohend. „Wer wird das nachste Opfer ?" Sie reckte das Haupt mit der Purpur-Mahne — das stolze und leichte Haupt —; ihre Augen hatten den Flam- 42 menblick — nur leuchtete er jetzt nicht von Zuversicht, war vielmehr von düsterster Ahnung verfinstert. „Prag wird fallen!"—: Sie sprach es mit schaurig gedampfter Stimme, fast war es nur noch ein Murmeln. „Frankreich und England werden die Tschechoslowakei so wenig verteidigen, wie sie das arme Österreich verteidigt haben." Glich sie nicht einer Prophetin, mit dem bewegten Purpur-Schmuck ihres Haares ? Solche Züge, solche Blicke hatte Kassandra — Königstochter und Priesterin —: das bestürzte Volk von Troja durfte die fürchterliche Schönheit seiner Seherin erst in allerletzter Stunde kennen lernen. Früher waren Pracht und Grauen dieses Angesichts durch die schwarze Binde schonungsvoll bedeckt gewesen. Nun fiel das Tuch, die Eingeweihte warf es zürnend zur Erde: dies war nicht mehr die Stunde der zarten Rücksicht. „Eure Stadt wird brennen!" verhieB Kassandra mit dem enthüllten Gesicht — kalt, beinah höhnisch bei allem Schmerz, als ware es nicht auch ihre Stadt und Heimat, die zu Grunde gehn sollte. „Troja wird fallen! Wird brennen!" Glaubte man ihr denn noch immer nicht ? Sie hatte sich die Stimme heiser geschrieen, mit ihrer unermüdlichen Warnung. Welcher Gott hatte dieses Volk mit Blindheit geschlagen ? Welcher Damon hatte es taub gemacht ? Es züngelten schon die Flammen... MuB man eine Seherin sein, um das Feuer zu sehen ? „Prag wird fallen." Marion machte eine abschlieBende kleine Handbewegung, als ware dies nun erledigt. „Auch die Spanische Republik wird untergehen — ein paar Dutzend Millionare wünschen es. Tschechische Flüchtlinge, spanische Flüchtiinge; auch französische und schweizer Flüchtlinge könnte es noch geben —: woher sollen wir denn all die Affidavits nehmen ? — Die Chinesen sterben, anstatt zu fliehen. Millionen sterben. In Wien wütet der Selbst- mord wie eine Epidemie. Das neue Barbarentum, die Fascisten, die Hunnen — nicht einmal kampfen müssen sie! Ohne Kampf laBt man sie siegen! Sie begegnen keinem Widerstand, keinem Gegner! . . . Man laBt das ScheuBliche rasen, zerstören, sich austoben — als ware es eine Naturkatastrophe! Als lebten wir auf einem Vulkan, der Feuer speit! Es gibt keine Hilfe. Jeder wartet, ob es ihn trifft..." Ihr Atem ging schwer; sie verstummte. Der groBe Ausbruch hatte sie erschöpft. Sie legte die Hande auf den gewölbten Leib. Auch Abel schwieg. Er schaute sie liebevoll, sorgenvoll an. Er dachte: ,Wie schön sie ist! Wie sie leidet! Kann ich sie trosten ? Ich muB sie trosten können, ich liebe sie.' „Der Vulkan . . ." Jetzt konnte sie nur noch stammeln. „Wir alle, an seinem Rande . . . Auf unseren Stirnen schon sein glühender Atem; die Augen geblendet, die Glieder gelahmt, die Lungen voll erstikkendem Qualm . . . Und da soll man Kinder bekommenü " Nun kreischte ihre Stimme, überschlug sich und klirrte wie geborstenes Glas —: ihre geübte, schone, zuverlassige Stimme — wie entartet, wie zerrüttet war sie nun! Sie lachte, nach ihrer schrillen und schlimmen AuBerung über die Kinder — ein hysterisches Lachen, ein Gelachter der Pein: Benjamin hatte es noch niemals von ihr gehort. Auch ihr Gesicht war entstellt; Zuckungen um Mund und Augenbrauen lieBen es fremd und beinah haBlich werden. War dies die Schmerzens-Raserei der Seherin ? Der epileptische Anfall der Gottesbraut ? Fiel sie in Trance, bewegte krampfhaft die Hande, hatte Schaum vorm Mund ? Nichtsdergleichen; sie wurde schon wieder still. Ihre Traurigkeit bekam wieder vernünftige MaBe; war aber immer noch groB und tief. — „Ich kann das Kind nicht bekommen!" Die Worte ihrer armen kleinen Schwester Tilly —: Marion kannte sie nicht und wiederholte sie doch. „Ich kann das Kind nicht bekommen!" Sie bewegte flehend die Hande, die Augen waren ihr naB: Marion weinte. „Heute ein Kind zu kriegen — so ein Frevel..brachte sie hervor, „so eine Sünde, eine Dummheit. . . Kriege werden kommen, Revolutionen, Kampf ohne Ende . . . Mein armes Kind wird vernichtet ..." „Es wird leben," sagte Professor Abel — sehr ruhig, aber dezidiert. „Nein nein nein!" Sie schüttelte angstvoll den Kopf. „Ich kann es immer noch entfernen lassen. Es ist wohl noch nicht zu spat . . ." „Es ist ganz entschieden zu spat," versetzte er, fest und gelassen. Sie wollte ihr Kind töten; seltsamer Weise war ihr alles daran gelegen, Benjamins Erlaubnis für ihre Untat zu erwirken. Sie achtete ihren Gatten, sie vertraute ihm. Er sollte gutheiBen, was ihr unvermeidlich schien. Sie bettelte: ,,Du muBt es doch verstehen! Versuche, es zu begreifen! Ich kann doch kein Kind haben! Ich muB nach Europa zurück — muB unabhangig, aktiv sein! Ich muB kampfen! MuB mich ganz einsetzen. Das Kind würde mich storen," sagte sie hart, und fügte krankend, beinah ordinar hinzu: „Und überhaupt — es ist ja gar nicht von dir! Sein Vater ist ein Vagabund — der hatte gespürt, was ich meine! — Was geht es dich an ?" fragte sie ihn grausam. „Es ist mein Kind; nicht deines." „Es ist unser Kind!" Jetzt erhob er sich aus dem Sessel. Die kleine, gedrungene Figur wirkte imposant, wie sie sich nun mannlich-würdig reckte. Auch aus seinen Augen konnten Flammen springen: kein hysterisches Strohfeuer; ernste, gediegene Glut. Er war sehr blaB geworden; sein beinah frauenhaft zarter Mund bebte. „Der kleine Marcel gehort uns!" Er hatte den Namen ihres Kindes genannt, mit fester, markiger Stimme, wenngleich innig bewegt. Das Kind sollte Marcel heiBen, dies war schon seit langem bestimmt. Marcel — tötlich getroffen, unter fremden Himmeln —, er würde fortleben in dein Knaben, der nicht seines Blutes war: so hatte Marion es gewollt — Benjamin muBte sie daran erinnern. Er muBte neu die mütterliche Zartlichkeit in ihr erwecken, die sie — Prophetin und Amazone — vor lauter Zorn und Schmerz vergessen hatte. „Wir werden ihn lieben!" muBte er ihr sagen —: ach, er liebte ihn schon! Er war nicht der Vater: zwei Abenteurer, zwei Fremde waren ihm vorgezogen worden. Der Eine hatte das Kind gezeugt; nach dem Anderen sollte es geraten. Aber wie viel vaterliche Zartlichkeit auf Benjamins Zügen, welch inniger Ernst, welch ergreifender Stolz, da er seine Frau nun gemahnte: ,,Er wird groB und brav! Er wird glücklich! Er sieht bessere Zeiten. Neue Spiele fallen ihm ein, neue Aufgaben stellen sich ihm, er bewaltigt sie alle. — Marion, Marion, du weiBt es doch —: was sollte all dein Kampf und dein Aufbegehren, wenn es nicht für ihn ware, und für all seine Brüder ? Was ginge die Menschheit uns an, wenn wir nicht an ihre Zukunft glaubten — wenn wir die kommenden Geschlechter nicht liebten ? — Marion, Marion — du weiBt es doch ..." Seine Stimme hatte fast hypnotisierende Kraft —: raunende, beschwörende Stimme des Liebenden, beruhigend und fordernd zugleich. Er zog die Geliebte an sich; er liebkoste ihren Leib, der das fremde Kind trug. Sie lieB sich umfangen, lieB sich küssen und stützen. Er rückte ihr die Kissen im Stuhl zurecht. Plötzlich fühlte sie: Ich bin müde. Wie gut, daB er ihr ein Lager richtete! Sie konnte es brauchen; sie dehnte dankbar die Glieder. Dieses schlafrig-gelöste Lacheln, den vertrauensvoll-zartli- chen Bliek —: ihre jungen, ungestümen Freunde — Marcel und Tullio — hatten dergleichen nie von ihr zu sehen bekommen. Benjamin Abel schaute und liebkoste ein Gesicht, das noch keiner vor ihm gekannt hatte. Er wuBte es, er war stolz. — Kennen Jünglinge dies zarte, schwierige Glück, das nun das Herz des Alternden erschüttert ? ,Wie reich werde ich jetzt noch beschenkt!' empfindet der nicht-mehrJunge. ,Man muB sich lange lange üben und vorbereiten, ehe man die schwere Kunst der Liebe lernt. Jetzt bin ich meiner ganz sicher; beinah übermütig bin ich — weil ich weiB: Ich kann es, ich kann es. Ich alter Schüler habe alles gelernt, manche Klassen habe ich wiederholen müssen, aber es lohnt sich, es hat sich alles gelohnt. Nun kenn ich die Liebe — die komplizierte, unsagbar schwere, unsagbare süBe Aufgabe. Wie ungeschickt sind die Jünglinge! Ich kann mir nicht helfen: sie kommen mir ein wenig komisch vor. Immer wollen sie „besitzen" — oder „verzichten". Schwieriger und süBer ist es, den schwebenden Ausgleich zu finden zwischen Besitz und Verzicht; die ratselhafte Mitte, da man das geliebte Wesen zugleich loslaBt und halt. Jünglinge mögen lachen über meine Liebe zu der Frau, die ihr Kind von einem anderen hat; geradezu fassungslos und beinah degoutiert waren sie angesichts meiner vaterlichen Neigung zu dem fremden, ungeborenen Kind. Ach, ihr dummen Jünglinge! Waret ihr klüger und feiner — aber wie solltet ihr klug und fein sein bei so bedauernswertem Mangel an Herzens-Training ? —: ihr empfandet Neid, statt Belustigung, lieBe ich euch als Zeugen meiner spaten, schwierig-zarten Wonne zu. Ich werde mich aber hüten! Zeugen sind nicht erwünscht. Zur Weisheit der Liebe gehort, daB sie sich verbirgt — oder doch viel einfacher scheinen will, als sie ist. Ahntet ihr, mit welchen Schauern von Entzücken und ■ Resignation ich diese Frau umfange —: meine Frau, mein Kind, Marion, die Mutter meines Kindes, meine fremde Marion, meine Geliebte Sie ruhte, an ihn gelehnt. Sie sprach wieder; ihre Worte paBten nicht ganz zu dem besanftigten, seligmatten Lacheln auf ihren Zügen. „Der kleine Marcel wird kampfen müssen." Es klang, als prophezeite sie ihrem Sohne das heiterste Los. „Er wird sich schlagen müssen, wie wir. Die groBe Auseinandersetzung ist noch lang nicht am Ende; vielleicht fangt sie gerade erst an. — Er wird tapfer sein!" Sie hielt die Augen geschlossen; ihr Lacheln aber ward inniger, starker und kühner. „Er wird siegen!" Dabei hobsie ein wenig den Kopf. Benjamin sagte: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles." Sie schickte einen schragen, etwas miBtrauischen Bliek über ihn hin. „Was bedeutet das ?" wollte sie wissen. Er erklarte, gleichsam um Entschuldigung bittend: „Es ist eine Zeile von Rilke. Sie ist mir gerade eingefallen." „Von Rilke also." Es schien sie etwas unruhig und verdrieBlich zu machen. „Ich kenne es gar nicht — dabei habe ich doch viel von ihm rezitiert. . . Du hast immer ein passendes Zitat bereit!" Sie war enerviert; ihre schonen Hande begannen wieder, rastlos zu werden. „Es ist eine schone Zeile," sagte er sanft. Und sie: „Eine falsche Zeile! — Auf den Sieg kommt es an." „Überstehen ist siegen!" Er erklarte es ihr mit der zartlichen Exaktheit eines Lehrers, der für die Schülerin ein zartes Faible hat. „Wer Geduld hat, wer aushalt — der siegt. Alles geht langsam, alles dauert lang. Wir überschatzen die Ereignisse des Tages, der Stun- de; wir stilisieren sie apokaiyptisch, geben ihnen gewaltige Namen: Historische Wende, oder Weltuntergang. Das ist Irrtum und Eitelkeit. Soll unsere Epoche alles verandern und unterbrechen — nur weil es gerade unsere Epoche ist ? Der ProzeB geht weiter — zah und langsam, sehr langsam ... Es gibt Störungen, Rückschlage: dergleichen erleben wir jetzt. Lassen wir uns doch nicht gar zu sehr erschüttern und verwirren! Lasse dich doch nicht wirr und kop flos machen, liebes Herz, durch die Störungen und die Rückschlage! Vertraue doch: es geht weiter! Glaube mir doch: in den groBen Zusammenhangen rechnet dies alles so wenig, und wird einst ruhiger und kalter beurteilt werden, als wirs heute vermuten." Sie blieb eigensinnig mit ihren Worten — wenngleich Bliek und Lacheln verrieten, daB sie beinah überzeugt und fast besanftigt war. „Wir leben aber heute — jetzt und hier. Unsere Leben werden vernichtet, durch die Rückschlage und die. Störungen, die Leben unserer Freunde und Kameraden; selbst die ungeborenen Kinder sind gefahrdet. — Die groBen Zusammenhange — können sie uns trosten ? Und wer beweist denn, daB es gute, vernünftige Zusammenhange sind ? — Ich weiB nur, daB jetzt gelitten wird, von Millionen. Ich schame mich, in mein kleines, privates Glück zu fliehen, wahrend Ströme von Blut und Tranen sich ergieBen." „Es ist kein kleines, privates Glück!" Er hob tadelnd den Zeigefinger. „Ein schwieriges, tiefes Glück, nach vielen Leiden gewonnen. Haben wirs uns nicht verdient, liebe Marion ? — Nun müssen wirs tragen und fruchtbar machen. Auch dazu gehort Tapferkeit — oder gerade dazu. Stürzen, sich fallen lassen, sterben — auch heroisch sterben —: das ist leicht. Leben ist schwerer und ernster. Glücklich sein — das ist am schwersten und am ernstesten für uns, die wir weder ruhig sind noch kalt. Die überlegene Haltung überlassen wir den Künftigen, die über uns urteilen mögen. Was uns betrifft, wir bleiben beteiligt, ergriffen, immer wieder angefochten, erschüttert, immer in Gefahr. Aber geduldig! Aber tapfer! Dem Gesetz dieses Lebens gehorsam. Geduldig und gehorsam sollen wir sein. Dann kommt auch das Glück und sich seiner zu schamen, ware Feigheit und Schwache. Stolz empfangen wir es." Da sagte sie nichts mehr. Auch die Lieder und Gel achter der jungen Amerikaner drauBen waren verstummt. Es war in ihrem Zimmer sehr still geworden. Der Atem der milden Nacht kam sehr still herein. Benjamin wiederholte — summend, wie den Refrain des Liedes, mit welchem man ein Kind zur Ruhe bringt —: ,,Wer spricht von Siegen ? Überstehn ist alles!" — Seht, sie schlaft schon fast! FÜNFTES KAPITEL. Die Zimmer, in denen die Armen wohnen, sind sich ahnlich, überall auf der Welt. Wo befindet sich dieses ? Am Rande irgendeiner grofien Stadt — laBt sich vermuten. Genaueres ist kaum festzustellen. Die Landschaft, auf die das Fenster den Bliek gewahrt, ist kahl und fast völlig trostlos. Auf den öden Feldern liegt Nebel. Im grauen Dunst stehen ein paar frierende Baume neben Telegraphenstangen. Im Zimmer drinnen sieht es nicht heiterer aus. Ist sie uns nicht vertraut, diese mönchische Zelle ? Das Kruzifix an der grauen Wand; das schmale Bett, und auf dem Tisch die unberührten Speisen —: zu solcher Kargheit zwingt sich Kikjou, den wir einstmals als den kleinen Abenteurer kannten, als den sündhaft Reizbegnadeten, den von Lastern und Visionen Verzückten, das suspekte Lieblingskind Gottes. Noch einmal begegnen wir ihm — hat er sich sehr verandert ? Das perlmutterfarbene Affengesichtchen mit den vielfarbigen Augen ist ein wenig gealtert; harter, magerer und strenger geworden. Doch bleibt ihm noch der infantile Charme; der sinnliche Zauber des Blicks. Wo hast du dich denn herumgetrieben, all die Zeit, petit frère de Marcel, Bruder des toten Helden ? Magst du uns nichts verraten ? — Du verratst uns nichts. Du schweigst über die Arbeiten und Abenteuer, die Vergnügungen und Traurigkeiten, die Erfahrungen bitterer oder süBer Art, die hinter dir liegen.Du hast dich unter die Menschen gemischt, hast Anteil genommen, Leiden mitangesehen und selber Leiden getragen —: so viel merkt man dir an. Wo du auch gewesen sein magst — du bist dem Leben nicht ausgewichen; du hast dem Befehl gehorcht, den das sinkende Haupt, das Dornen-geschmückte, mit trocken-rissigen Lippen dir zurief. Zuweilen legst du Rechenschaft ab vor deinem Erlöser, der geduldig lauscht — unfaBbar milde und unfaBbar streng. Er will die detaillierte Konfession, die exakte Beichte. Er ist anspruchsvoll. Ausflüchte, pathetische Verallgemeinerungen lafit er nicht gelten: das weiBt du nun schon, und hast dich daran gewöhnt. Deine Gebete werden beinah trocken. Du berichtest deinem Erlöser: Ich habe eine kleine Aktion vor, lieber Herr. Halst Du meinen Plan für gescheit und dem Zwecke dienlich ? — Des Menschen Sohn interessiert sich für die Affaren der Menschen, so melancholisch und konfus sie auch meistens sind. Heute ist ein wichtiges Datum in Kikjous Leben. Morgen soll er eine groBe Reise antreten — die Fahrt nach Hause, nach Südamerika, zu seinen Schwestern nach Rio. Sein Papa ist gestorben: keine verdrossenen Briefe, keine gereizten Mahnungen sind von ihm mehr zu gewartigen. Er ist tot, es war ein Magenkrebs, die Schwestern haben es Kikjou telegraphiert, und hinzugefügt: „Komme bitte sofort! Brauchen dich zur Abwicklung der Geschafte da sonst ohne mannlichen Schutz." Unverhoffte, etwas peinliche Ehre für den kleinen Kikjou: plötzlich soll er Familienoberhaupt sein. Seine Schwestern rechnen auf ihn, ohne ihn waren sie ganz verloren — ernste junge Madchen, leider sind sie nicht hübsch, deshalb finden sie keinen Brautigam. Bruder Kikjou soll die Geschafte ordnen; soll mit Anwalten — wahrscheinlich üblen Schwindlern — um grünbespannte Tische sitzen; wird vielleicht etwas Geld haben, vielleicht auch nicht: sehr wohl möglich, daB Papa nur Schulden hinterlassen hat, man muB auf dergleichen gefaBt sein. In diesem Falie saBe Kikjou da, mit den unversorgten Jungfern — wie kann er sie alle ernahren ? Es hat mancherlei zu besprechen und zu beraten gegeben mit dem strengen, milden Herrn, der ge- duldig lauscht. Zu allen übrigen Sorgen kam das PaB-Problem: Kikjou, kleiner Kamerad der Heimat losen, war nun seinerseits expatriiert. Solches geschah ihm zur Strafe, weil er in Spanien bei den Loyalisten gewesen war, und sich so lange fern gehalten hatte von der Heimat. Sein PaB wurde nicht verlangert: Kikjou argwöhnte, daB seineigener Vater die brasilianischen Konsulate in solchem Sinne beeinfluBt hatte. Der grausame alte Herr — heftig deprimiert durch den Magenkrebs und die Ahnungen des nahen Endes — wollte den verlorenen Sohn durch so erpresserischen Trick zur Heimkehr zwingen. Nun muBte er wirklich nach Hause, und fand sich in lastigen Komplikationen. ,Soll ich den gefalschten PaB benutzen ? Es ist ja ein echter — nur ein paar kleine Ziffern hat man korrigiert . . . Was ratst du mir, lieber Herr ?' — Die Emigranten-Probleme, die Sorgen der Vagabunden: Kikjou, der Wahl-Emigrant, der Vagabund aus Instinkt, erfuhr sie am eigenen Leibe. ,Nach Hause!' dachte er, ziemlich bitter. ,Nach Hause —: wie seltsam es klingt! Was geht Rio de Janeiro mich an ? Eine fremde Stadt. Was bedeuten mir meine Schwestern ? Unbekannte Damen. Ich habe kein Zuhause. Zu lange habe ich mit denen gelebt, die heimatlos sind — ich gehore zu ihnen, meine Brüder sind sie. Marcel, mon grand frère — hatte er eine Heimat ? II était sans patrie, ist unter fremden Himmeln gestorben. Martin, den ich geliebt habe, und seine Freunde, und all die anderen, denen ich ein biBchen zu helfen versuchte — ach, mit was für matten, unzureichenden Kraften! —: lauter Heimatlose . . . Was soll ich in Rio, bei den dummen Schwestern und den schlauen Anwalten ? Aber es ist wohl meine Pflicht, ihnen zur Verfügung zu sein . . . Wie lange werde ich bleiben ? Und was für Wanderschaften kommen dann ? In welchen Sprachen werde ich noch beten lernen ? — Vorhin, als ich vor meinem Erlöser lag, habe ich ihn mit französischen, deutschen, englischen, spanischen und portugiesischen Vokabeln angerufen. Er hat sie alle verstanden. Des Menschen Sohn kennt die Sprachen der Menschen. Er ist kein Nationalist. Er hat keine Muttersprache; nur die Sprache des Vaters — die sich aus sehr mannigfachen Idiomen zusammensetzt. Unser internationaler Kauderwelsch wird gnadig aufgenommen. Mein Gestammel könnte ein Gegenstand des AnstoBes und Skandals ïm Himmel sein; indessen herrscht dort gröBte Toleranz, was die Worte und Akzente betrifft. Die Taten und Gedanken aber werden streng gewogen. Die stumme Toleranz der höchsten Sphare ist tröstlich; jedoch würde man gern auch von den Lebenden etwas besser verstanden. Auf Erden nimmt die Unduldsamkeit gegenüber Auslandern erschreckend zu, überall ist sie im Steigen begriffen: Du weiBt es, Menschensohn; mir liegt aber daran, es Dir wieder einmal recht nachdrücklich ins Gedachtnis zu rufen. Wir sind ziemlich einsam, lieber hoher Herr; in der Fremde weht kalte Luft, Freundschaften von Dauer gibt es kaum für die Unbehausten. Einstmals ward ich hohen, sonderbaren Umgangs gewürdigt; das ist lange her. Deine Boten traten Flügel-rauschend ein. Seither ist es still um mich geworden; auch der Geruch von Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ward mir nicht mehr gegönnt. Ich konstatiere es, ohne mich zu beklagen. Habe ich etwa Anspruch auf den Verkehr mit Engeln ? Keineswegs. Um es nur zu gestehen: sie fehlen mir nicht einmal. Die Beziehungen zu sterblichen Menschen sind abwechslungsreich und erregend genug. Auch habe ich ja reichlich zu tun. Als ich noch faul und ohne Pflichten war, eignete ich mich wohl besser zum Spiel- und Reisegefahrten für die Himmlischen. Ich lechzte nach dem Wunder, weil ich sonst beinah sorgenlos war. Heute verhalt sich das anders. Die Affare, zum Beispiel, mit meinem PaB, und die finanzielle Situation meiner Schwestern . . .' Auf welche Beschwörungsformel reagieren die Gottes-Boten ? Auf welches Stichwort hin treten sie ein ? Kikjou hatte kalte, nüchterne Gedanken gedacht; sein Interesse war aufs Nahe, Irdische konzentriert, und seine Feststellung, daB ihm die Engel kaum fehlten, war nicht schmeichelhaft gewesen für so stolze und empfindliche Kreaturen. ,Der PaB,' dachte er. ,Das vaterliche Erbe . . Da geschah es. Da vollzog es sich noch einmal. Kikjou war kaum erschrocken; sogar das Erstaunen verbarg er — wenn er es empfand. Es war doch schon lange her, seit der stürmisch-Geschwinde ihn heimgesucht und abgeholt hatte. Genügt eine einzige Begegnung mit den Himmlischen, um uns an den hohen, schauerlichen Umgang dergestalt zu gewöhnen, daB wir ihn wie das Selbstverstandliche hinnehmen, wenn er sich wiederholt ? Kein Erschrecken, kein Aufschrei des Sterblichen: Kikjou reagierte so matt, daB es krankend wirkte. Die Gefiederten sind es gewohnt, Sensation zu machen, wenn sie sichtbar zu werden geruhen. Sie erwarten sich, sehr mit Recht, den halb entzückten, halb entsetzten Empfang. Maria, die Unberührte, entsetzte und entzückte sich bis zu Tranen und zu krampfhaften Gelachtern über des Engels Besuch. Ihre Erregung überschritt jedes Mafi und drohte, in Raserei auszuarten, als die groBe Meldung ausgerichtet wurde: Du bist auserkoren! Unter allen du! Du hast empfangen, bist gesegnet, und die Frucht wird ohnegleichen sein! — Wiejubelte und tobte, wie wimmerte und frohlockte da die erwahlte Magd. — Dieser Knabe indessen — Kikjou, ein Verwöhnter, dem gar nichts mehr imponierte —: er hob nur den Kopf, schaute hin, lachelte: Ach, da bist du wieder . . . als war es eine Selbstverstandlichkeit. — Freilich: welch ein Lacheln! Wie schüchtern, bei aller Vertrautheit mit dem Phanomen! Wie innig werbend — wenngleich ein wenig blasiert. Bei aller Gefallsucht, aller Lassigkeit — wie erschüttert! Wie dankbar! — Er hatte ja gestanden: Ich bin recht allein. Gleich war die überirdische Visite da, von sanftem Licht umflossen, höchst freundlich. Kikjou freute sich sehr; wollte es aber nicht zugeben, sondern erkundigte sich, beinah miBtrauisch: „Bist du der, den ich kenne? Warst du schon bei mir? Hast du mich schon mal entführt ?" Der Gesandte versetzte: „Ich entführe niemanden. Im Gegenteil: meines Amtes ist es, solche zu begleiten, die sich ohnedies schon rastlos unterwegs befinden. — Ich bin der Engel der Heimatlosen." Dies erklarte er mit einer gewissen Strenge, als nahme er es Kikjou übel, daB er es nicht gleich erraten hatte. „Du siehst aber deinem Bruder, dem Geschwinden, sehr ahnlich." Kikjou bestand darauf. Er fügte, leicht verachtlich, hinzu: „Nur bist du weniger stattlich. Wahrscheinlich auch weniger schnell." „Schnell genug," sagte der Engel; aber seine Stimme klang müde. Er sah mitgenommen aus, beinah schabig. Sein langer schwarzer Mantel war ramponiert und stellenweis zerrissen. Selbst die Flügel — kurze harte Federn-Gewachse, die ihm ziemlich tief am Rücken saBen — wirkten zerzaust. Auf dem Kopfe saB ihm ein bestaubter kleiner Hut, eine sogenannte Melone, wie viele Herren sie zum StraBenanzug tragen. Unter dem Hutrand strahlten überirdisch die Augen. Ein unscheinbarer Engel —: Kikjou steilte es nicht ohne Enttauschung fest. Trotzdem war die Ahnlich- keit mit jenem Anderen, der ihn vor langer Zeit in Schnee und Sturm gerissen hatte, auf geheimnisvolle Art frappant. Kikjou ward den Verdacht nicht los, daB es sich — wenngleich auf etwas verwirrende Art — um den gleichen Engel handelte. Aus irgendwelchen mysteriösen Gründen leugnete der neue Besucher seine Identitat mit dem vorigen. Wer aber kannte sich aus mit den Identitaten der Engel ? „Der Engel der Heimatlosen — das bin ich!" rief der ramponierte Sohn des Paradieses noch einmal — diesmal stolz, beinah heftig. Die metallisch klirrende Stimme, die königliche Ungeduld des Blickes lieBen den ruhenden Knaben denn doch auffahren und eine höflichere Haltung annehmen. „Obwohl ich eigentlich nicht ganz zu den Emigranten gehore, empfinde ich mich doch durchaus als einen aus ihrem Kreise." Es klang etwas heuchlerisch; die Absicht, sich einzuschmeicheln, war deutlich. Der Engel, ganz entschieden verstimmt, hielt sich starr. Kikjou versöhnte und gewann ihn nicht mit Worten, sondern durch seine hilflosen kleinen Gesten, durch das Lacheln, welches rührend um Verzeihung bat. Die Himmelsblicke unter dem bestaubten Hutrand — eben noch furchtbar lodernd — wurden mild. Trost strömte aus ihnen, wie Wasser aus einer Quelle. Auch die Stimme bekam sanfteste Melodie. „Du bist einer von ihnen, ich weiB es —: deshalb bin ich hier. Auch bei deinen Brüdern bin ich gewesen, zum Beispiel bei Martin, als er den Tod empfing wie eine Krone. Ich war immer dabei. Es hat mich keiner gesehen." Da wagte Kikjou die Frage: „Wenn du so genau Bescheid weiBt; so viel Elend kennst, und immer neues mitansiehst —: warum hilfst du nicht, Engel ? Warum hilfst du nicht ?" Der von-oben-Gesandte — mit der hochmütigen, sogar etwas unvernünftigen Manier der Himmlischen — blieb die Antwort schuldig, so wie viele Frauen verstummen oder das Thema wechseln, wenn man sie mit lastigen Fragen behelligt. Statt zu antworten, rief er mit herrlich singender Stimme, trostlos und begeistert zugleich: „Unter fremden Himmeln werden die Schicksale durchlitten, die ich begleite. Auf vielen Wegen lag der sanfte Schatten meines Kleides." Er raffte den Mantel mit schoner Geste —: siehe, er war nicht mehr abgenutzt, schadhaft und dünn; sein Stoff schien sowohl weicher als auch starker geworden, und übrigens hatte er die Farbe gewechselt. Nun leuchtete er in köstlich sattem Blau — ein ritterlicher Mantel, ein fürstlich feines Kostüm; auch der garstige Herren-Hut hatte sich zaubrisch verschönt. -—Mit einem düsteren Frohlocken und tragischem Übermut fuhr der Strahlende fort: „Überall — wahrlich, an allen Orten — bin ich gewesen! In engen Hotelzimmern, Schiffs-Kabinen Dritter Klasse, in den Warteraumen der Konsulate, den Vorzimmern der Comités, in billigen möblierten Stuben, in Hospitalern, in den Friedhöfen vieler Stadte, in Eisenbahn-Coupés ohne Zahl, auf Schlachtfeldern, auf Bahnsteigen, in vegetarischen Restaurants, in Redaktions-Stuben, billigen Caféhausern, in obskuren Klubs, in Lagern, wo sie leben müssen — zusammengepfercht wie das Vieh —: überall mein Bliek, mein Lacheln, mein stummer Trost. . ,,Warum hast du nicht geholfen?" — Diesmal war Kikjous Frage mit zu viel Nachdruck gestellt, es gab kein Ausweichen mehr, der Engel mufite gestehen: „Ich konnte nicht. Ich durfte nicht. Und ich wollte nicht. Die Plane meines Gebieters sind dunkel. — Dunkel — dunkel — dunkel . . wiederholte er schaurig. Sein Gewand war wieder schwarz geworden, 43 auf dem Hute lag wieder Staub. Wie kurz, wie trügerisch war der Glanz dieses Engels gewesen! „Soll es noch lange dauern ?!" — Kikjou hatte diesen Aufschrei nicht unterdrücken können. Der Engel aber machte Schritte, die sowohl schwebend als auch schleppend waren, auf und ab, durchs Zimmer. Dabei berichtete er, nicht ohne Wohlgefallen: „Viele Tranen habe ich flieBen sehen — und manche, die ich beobachten muBte, konnten nicht einmal weinen. Ich habe den Gestank der Armut gerochen, und in den Ohren das gellende Gel achter j ener gehabt, die in den Wahnsinn fliehen. Das Exil kreiert neue Krankheiten; nicht nur das Herz — auch der Verstand der Heimatlosen ist erheblich gefahrdet! — Ich bin der Engel der Entwurzelungs-Neurose!" Dies konstatierte er — als ware es ihm besonders wichtig — mit Triumph und Traurigkeit ohnegleichen; wallte dabei durchs Zimmer, rauschend, sich düster spreizend, unermüdlich, immer auf und ab —: zu schrecklichen Marschen verflucht; zum Gehen, Schweben, Steigen verurteilt durch unbarmherzigen Spruch. Seine Rhapsodie hallte weiter: „Ich sehe den Kampf — er geht um Leben und Tod, keiner meiner Schützlinge darf ihm ausweichen. Ich sehe den Selbstmord, den Ruin, das Laster, die Niedertracht als Konsequenz des Elends; ich sehe die HaBlichkeit in tausend Formen, und die blühende Unschuld, die erst allmahlich entstellt wird vom Leid; das kurze Glück — — seinen zögernden Anfang, sein rapides Ende —; die Bemühungen, die Enttauschungen, die Entbehrungen ohne Ende —: ich sehe, ich sehe! Was habe ich nicht alles gesehen! Meine Augen sind nur noch Schmerz, so viel Schmerzen haben sie angeschaut..." Er berührte seine Augen mit den Fingerspitzen: da wurden sie blind. Gerade hatten sie noch geleuchtet, jetzt waren sie leere Höhlen, schwarz und tot —: ach, wohin der Schimmer? Die himmlischen Lichter — wohin ? „Elend — Elend, über alles MaB . . War dies Jammerruf oder Lobgesang ? — Der Knabe auf seinem Lager begriff: Die Engel — Teil von Gottes Substanz — huldigen dem Herrn, auch wenn sie klagen. Dies faBt kein Sterblicher. Kikjou keuchte: „Wie lange noch ? Und was ist der Sinn ?" Der Engel — das Gesicht mit den toten Augen zur Maske erstarrt und verzerrt — schwebte und tanzelte vor dem Bett. „Frage nur! Frage!" Es klang höhnisch. „Aber wünsche dir keine Antwort — die dich zermalmen müBte. Zerschmettert warest du, wenn die Antwort kame! Du Narr! Du Sterblicher! Du Ahnungsloser!" Dazu ein Lachen — wie aus Höllenschlünden. Kikjou — auBer sich; alle Vorsicht vergessend; aus dem Bette springend — schrie ihn an: „Verfluchter!!" — und war auf das Schlimmste gefaBt. Ein Engel, der so infernalisch gemeckert hatte, konnte auch Feuer speien, ihm war schlechthin alles zuzutrauen. Der Bote, statt zu toben, reagierte sanft. Er bekam wieder lebendige Augen — menschlich-übermenschliche Sterne —, und sie glanzten feucht. Tranen hingen an den schön gebogenen Wimpern. Aus dem Dunkel des Mantels traten, blaB und schmal, die Hande hervor. Ihre Gesten flehten um Verzeihung, wie die sanften Blicke. „Nenn mich nicht so!" bat er innig, die beseelten Augen rührend aufgeschlagen. „Ich begreife, daB du dich fürchtest vor mir, und sogar etwas ekelst. War ich vorhin sehr hafllich und abscheulich ? Das passiert mir manchmal. Ich komme zu oft und nah an Widriges heran: es wirkt ansteckend. Manchmal packt es mich, und ich muB selber graBlich werden —: es ist wie ein Anfall — sehr qualend; dauert aber nicht lang. Gerade dir gegenüber ist es mir unangenehm." Der Engel machte eine wirkungsvolle Pause, ehe er mit feierlichem Nachdruck sagte: „Nicht um dich zu verfluchen, bin ich zu dir gekommen." „Warum bist du hier ?" wollte Kikjou wissen. Er stand mit bloBen FüBen auf dem Steinboden. Er fror. „Um dich zu küssen. Umdich zu segnen."—Dies war nicht die Stimme eines Einzelnen mehr; wie Chorgesang hallte es durch den Raum. Sehr viele Engel — die Heerscharen allesamt — schienen ihrem ramponierten Bruder Gewalt und SüBigkeit ihrer Kehlen zu leihen: das wundersam geübte Ensemble der Cherubim lieB sich hören. Der Knabe schluchzte. Da er auBerdem fror, wurde er besonders heftig geschüttelt. „Warum gerade mich ?" fragte er, bitterlich weinend. „Warum sind KuB und Segen mir zugedacht — unter allen Brüdern und Kameraden gerade mir ?" — Er hatte Angst vor der hohen Gunstbezeugung. Er fürchtete sich. Er war schwach. Dies verriet er, da er sich nun in einen Winkel zurückzog und flehte: „Bitte nicht . . .!" Der Engel, unbarmherzig und hold, folgte ihm, schwebenden, schleppenden Ganges. Er hatte sich schon wieder verandert — er war ein Verwandlungskünstler; liebte die überraschenden Tricks. Sein Reise- Kostüm leuchtete silbrig-weiB, die Flügel waren langer geworden, sie strahlten, sogar der runde Hut hatte Glanz: er löste sich in hellen Nebel auf, ohne dabei völlig die Fagon zu verlieren. — „Fürchte dich nicht!" verlangte der Leuchtende. — Er hatte Kikjou ganzlich in die Ecke gedrangt. Der Weg war dem Kleinen verstellt. Vor dieser Umarmung gab es kein Entweichen. Lieblich und majestatisch stand der Himmlische aufgerichtet, das Gesicht beinah nur noch Glanz: Glanz das Haar, das unter dem Nebel-Hute sichtbar ward; Glanz — der Mund, die Stirn, die tanzelnden FüBe, diebewegten Hande. Die Augen — sie allein — blieben fest umrissen, bei all der strahlenden Auflösung. Aus ihnen floB Mitleid, ungeheuer stark; Erbarmen, machtig wie eine Flamme; Trost, der nicht nur lindert, sondern auch fordert und alarmiert. Die Augen des Engels verlangten viel von diesem Sterblichen. Der senkte das Haupt. Er empfing den Bliek—: höchste Gunst; strengstes Urteil. — „Fürchte dich nicht!" rief die Stimme, die von oben kam — und doch stand der Bote noch auf unserer Erde. Er bückte sich ein wenig; denn er war viel gröBer, als der Mensch, den er küssen wollte. Der KuB war eisig — Hauch aus Spharen, die kein Strahl erwarmt. Kikjou zitterte starker; hielt sich indessen aufrecht, in lobenswert tapferer Haltung. Er hatte den Bliek ausgehalten; so muBte auch der KuB sich ertragen lassen. Nur schien es ihm ratsam, seinerseits die Augen zu schlieBen, damit er das eisige und feurige, zugleich zerflieBende und steinern gepragte Gesicht nicht gar zu sehr aus der Nahe sahe. Es verging eine kleine Weile, vielleicht war es auch eine lange Zeit, Kikjou stand wie im Schlaf, er machte die Augen nicht auf. Endlich sagte er — fast zu seiner eigenen Überraschung —: „Jetzt werde ich es vielleicht schaffen." „Was ?" fragte der Engel. Er hatte sich ein paar Schritte zurückgezogen; die Stimme kam nicht mehr aus so drohend-zartlicher Nahe. „Nicht heute oder morgen..Kikjou redete wie zu sich selber, als ware kein Engel da. „Aber irgendwann. Mit der Zeit. Ich werde es sicher schaffen." „Sprichst du von deinem Buch ?" Der Engel wuBte Bescheid; seine Frage vorhin war rein rhetorisch gewesen. „Ursprünglich ist es Martins Buch gewesen," erlauterte Kikjou. „Aber er hat es nur bis zum Vorwort gebracht, und ein paar Notizen sind da, ich habe alles bewahrt. Auch Marcel hat es schreiben wollen, oder hat es zu Teilen geschrieben. Alles, was er hinterlassen hat, sind Bruchstücke unseres Buches. — Darf ich es vollenden?" Die Frage war dringlich; umso enttauschender die etwas spöttische Gegen-Frage des Engels: „In welcher Sprache willst du es denn schreiben ?" Kikjou war ein biBchen beleidigt. „Darauf kommt es doch gar nicht an. Ich kann alle Sprachen. Aber es ist so schwer, die Wahrheit fest zu halten — in welcher Sprache auch immer. Die Wahrheit ist so ungeheuer kompliziert, so traurig und so schokierend. Ich fürchte mich vor der groBen Arbeit ..." „Fürchte dich nicht!" Die Stimme kam nicht mehr von oben und hatte menschliches MaB. Gerade deshalb wirkte sie tröstlich —: Zuruf eines guten Kameraden. Kikjou gestand: „Ich wundere mich selber über meine Courage. Du muBt mich für sehr ehrgeizig und eitel halten. Habe ich überhaupt Talent ? Das ist noch lang nicht bewiesen; die paar Schreib-Übungen wahrend der letzten Jahre rechnen kaum. Und nun will ich mich an eine so groBe Sache wagen ..." „Es soll ein Roman werden ?" Der Engel erkundigte sich miBtrauisch, wie ein Verleger, dem ein unberühmter junger Autor Vorschlage macht. „Eine Chronik," versetzte Kikjou, schüchtern und stolz. „Die genaue Chronik unserer Verwirrungen, Leiden, auch der Hoffnungen. Ich habe viel Material," behauptete er hoffnungsvoll. „Es müBte ein ziemlich langes Buch werden, Vieles ist einzubeziehen, eine Menge von Themen machen die Symphonie. Ich darf nichts vereinfachen, auch nichts weglassen; umstandlich und aufrichtig muB ich sein. — Wenn es aber langweilig würde ? Das ware grauenhaft! Vielleicht sind Bücher nicht mehr zeitgemaB ? In den meisten Landern werden sie verboten — und wo sie noch erlaubt sind, machen sie kein besonderes Aufsehen. Die Leute gehen lieber ins Kino. — Mein Gott!" Kikjou war tief erschrocken. „Sind alle Bücher langweilig ?" ,,Es gibt immerhin Unterschiede!" bemerkte der Engel, mit mattem Trost. Kikjou war gleich wieder zuversichtlich, wenngleich immer noch von Zweifeln geplagt. „Mein Roman muB aber doch zu den interessanteren gehören!" rief er flehend. „Bei all dem Material, das ich habe .. Der Engel, mit einem Achselzucken: „Es wird eben ein Roman — gesetzt, du hast überhaupt die Kraft, ihn zu schreiben. Die Welt wirst du nicht mit ihm auf den Kopf stellen." „Aber es muB doch alles festgehalten werden! Man vergiBt doch so schrecklich schnell!" Nun lief Kikjou durchs Zimmer, aufgeregt wie alle Autoren, wenn von ihren literarischen Projekten die Rede ist. „Sogar wenn heute wenig Interesse da sein sollte —: die Nachwelt will doch Dokumente, Rechenschaft. Sie verlangt unsere Beichte ..." „Eure Beichte!" Der Engel lachte; wurde dann umso ernster. „Die ist an anderer Stelle verwahrt." Nun war Kikjou wirklich sehr verletzt, er schmollte. „Du bist der Erste, dem ich von meinem Vorhaben rede — bis jetzt habe ich mirs ja selber kaum eingestanden. Nicht einmal dem Erlöser, der von mir alles weiB, habe ich Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Dir eröffne ich alles — und du weiBt dir nichts Besseres, als mich mutlos zu machen." „Dich mutlos machen ?" Der Engel wiederholte es mit sanftem Vorwurf. „Wer hat dir denn den Mut zu deinem Plan gegeben ? Seit wann hast du ihn denn ?" Kikjou muBte gestehen: „In etwas praziserer Form —: erst seit einer halben Stunde." „Erst seitdem ich dich geküBt habe," steilte der Engel fest. „So willst du, daB ich das lange Buch schreibe ?" Kikjou war wieder froh; wollte aber noch wissen: „Warum tust du dann so skeptische AuBerungen ?" „Weil du ehrgeizig und eitel bist," sprach der Engel. Der Junge verstummte erschreckt. Dann suchte er sich zu verteidigen. „Aber nein! Glaube das bitte nicht! Ich gebe mir doch alle Mühe, bescheiden zu sein . . . Ein biBchen eitel ist wohl jeder Mensch. Und wie sollte man ohne Ehrgeiz etwas GroBes beginnen ? . . . Meine Stimme soll die Stimme meiner Brüder sein — der lebenden wie der toten —: nach Diktat will ich sprechen. Martin und Marcel sind verstummt, unter fremden Himmeln. Sie hatten so viel zu sagen gehabt, alle Zwei — du hast sie ja gekannt —; aber gerade den Besten verschlagt es heute die Sprache, mit Entsetzen schlieBen sie den Mund. Manche Ereignisse und Zustande sind von solcher Art, daB die Worte fehlen, um sie zu bezeichnen." Hier nickte der Engel, der Erfahrung hatte, was die unbenennbaren Ereignisse und Zustande betraf. Kikjou wurde lebhafter, ermutigt durch die freundliche kleine Geste. „Die Ereignisse und Zustande sollen verandert werden, darauf kommt alles an." Er wartete auf ein neues Zeichen der Bestatigung; der Engel lauschte und schwieg. „Wie soll man sie verandern," fuhr Kikjou fort, „wenn man nicht einmal wagt, sie zu benennen? — Ich wage es!" rief er ungestüm und warf kühne Blicke. „Das Verwirrte übersichtlich zu machen; den Schmerz zu lindern, indem man ihn analysiert — welche Aufgabe! Welches Abenteuer! Viel schwieriger und viel schoner, als einen neuen Apparat zu kon- struieren, einen Ozean zu überfliegen, eine Schiacht zu gewinnen!" „Du solist eine Schiacht gewinnen!" Der Engel, der solches verlangte, sah seinerseits kriegerisch aus. Er gönnte sich noch eine Verwandlung — gewissen Monarchen oder hohen Würdentragern ahnlich, die zu jeder reprasentativen Gelegenheit das passende und pitoreske Kostüm wahlen. Diesmal stilisierte er seine Erscheinung ins Militarische. Aus dem runden Hut ward ein Helm, das weite Reisekleid bekam straffe Linien — es glich nicht einer modernen Uniform, eher dem Gewand eines antiken Soldaten; — selbst die Flügel sahen jetzt wie Waffen aus, mit feurigen, harten Randern, die an den Spitzen gefahrliche kleine Dolche zu formen schienen. Auch das Antlitz hatte militante Züge, und der Ruf kam knapp und hart wie ein Befehl. „Das Wort ist, immer noch, eine gute Waffe! Es muB gar nicht langweilig sein, wenn es trifft und sitzt. Übe dich! Lerne fechten! Wir lieben die guten Fechter!" Es war ein Kommando, scharf aber enthusiastisch. Kikjou versprach begeistert: „Ich werde mir Mühe geben — du kannst dich darauf verlassen! Natürlich darf ich nichts überstürzen; es gibt noch eine Menge vorbereitender Arbeit zu tun. Wie viel Studiën sind nötig! Wie viel Notizen, wie viel Material! Ich werde beobachten, sammeln, eins zum anderen legen. Und wenn die Kraft mir ausgeht, werden die toten Brüder mir ein wenig soufflieren: die lieben Toten flüstern mir die Worte zu, die sie verschwiegen haben. Mit unsichtbaren Handen führen sie mir die Feder, wenn meine eigenen Finger ermatten . . . Ich schreibe den Roman der Heimatlosen!" Er rief es freudig erregt, als hatte er sich erst eben entschlossen. „Meine Glückwünsche." — Es fiel Kikjou auf, wie erschöpft die Stimme seines Gastesklang. Er stand an der Türe, zum Gehen bereit, und wieder in der bescheidenen Gestalt, die er zuerst prasentiert hatte. Irdischer Staub lag auf dem dunklen Stoff von Wanderkleid und Kopfbedeckung. Die schrage Haltung der Schultern verriet Müdigkeit; indessen waren Füfie und Hande nervös bewegt. So empfiehlt sich einer, der lange Wege hinter sich hat und dem noch erhebliche Strapazen bevorstehen. — ,.Ich habe mich schon viel zu lange aufgehalten." Er schwebte ein wenig empor, gleichsam um zu probieren, ob er es nicht verlernt habe. „Der Dienst ruft." Er lachelte überanstrengt, wobei er trage durch die Luft spazierte. Kikjou war neugierig. „Was hast du denn noch zu tun ?" „Mancherlei . . Der runde Hut drückte sich platt an der Zimmerdecke; der Engel war so weit wie möglich nach oben geschwebt. ,,Lal3 einmal sehen . . , Wir haben heute den 14. September 1938. — Noch Mehreres zu erledigen. Das Tages-Programm ist noch nicht erfüllt." „Du sammelst Material — wie ich ?" erkundigte sich Kikjou, mit kollegialer Vertraulichkeit. Der Engel, an der Decke, schwieg eine Weile, ehe er, melancholisch und zerstreut, konstatierte: „Wunder kann ich nicht tun. Ich habe meine Instruktionen und Kompetenzen, die keinesfalls zu überschreiten sind." — „Immerhin bist du machtig, im Vergleich mit mir," meinte Kikjou, der das groBe Buch schreibenwollte. „Ichkann beobachten, kann mit den anderen leiden; helfen kann ich nur in den seltensten Fallen. Du hingegen bringst Trost, schon durch deine Gegenwart — wenn du nicht gerade deinen kleinen HaBlichkeits-Anfall hast. . . Ich beneide dich." Der Engel der Heimatlosen antwortete mit einem Bliek voll groBer Traurigkeit. Plötzlich aber klapperte er animiert mit den Flügeln: ihm war ein Einfall gekommen. „Du könntest mich auf meiner Tour begleiten!" schlug er munter vor. „Jetzt ? Sofort ?" — Kikjou war beklommen, weil er an die schauerliche Fahrt durch Schnee und Sturm dachte. Stand schon wieder etwas dieser Art bevor ? Der Engel — gar nicht drohend, wie sein geschwinder Kollege es gewesen war; vielmehr eher flott, bei aller Erschöpftheit — lachte: „Natürlich! Ich habe keine Zeit zu verlieren!" „Wohin denn?" — Kikjou blieb miBtrauisch. „Hierhin und dorthin!" erklarte der fröhliche Wander-Engel. „Du wirst vielleicht ein paar alte Freunde wiedersehen oder neue Bekanntschaften machen — das ist immer interessant, besonders für einen Schriftsteller."—„ Ich bin doch noch garkeiner!" wandte der Junge ein. Der Engel — fast übermütig — drohte mit dem Finger: „Du wirst auch nie einer werden, wenn du jedem Abenteuer ausweichst!" Sein EntschluB, den Dienst-Flug nicht allein zu machen, hatte ihm die Laune erheblich verbessert. Er wiegte sich behaglich an der Zimmerdecke. „Wir werden es uns bequem machen." — Das war ermutigend. Kikjou fragte: „Keine Raserei durch die Nacht ? Kein Gebraus und Gesaus, daB einem die Sinne vergehen?" — „Keine Spur!" Wie sanft und singend die Engels-Stimme nun klang! Sie wurde magisch einschlafernd, als sie wiederholte: „Keine Spur..." Dabei hob er die Hand. Er winkte, er gab das Zeichen —: da füllte sich der Raum mit silbergrauem Nebel. „Wir machen es uns bequem . . . Sind ja zwei alte Reisende. Beide etwas ausgepumpt, von den vielen Fahrten ..." — Er ruhte im Silber-Nebel wie auf weichem Kissen. Auch Kikjou fühlte sich sehr angenehm gebettet. Die weiche Wolke trug ihn sanft empor. Welch komfortables Wunder! Der Engel der Heimatlosen zog den jungen Menschen an sich. „Wie gut," hauchte er noch, „einmal nicht alleine unterwegs zu sein . . Die Wolke, dunkier geworden, schaukelte leicht. Kikjou sah nichts mehr — nur noch die milden Strahlen-Augen seines Begleiters. War die zauberische Reise kurz, oder war sie lang ? — Weder kurz noch lang. Die Dimension der Zeit galt nicht mehr, da die Dimension des Raumes überwunden war. Sind Engel gebunden an die Vorstellungsformen plumper menschlicher Hirne ? Ach — in der silbrig-dunklen Wolke, die sie uns entführt, haben die Kategorien unseres Denkens keine Gültigkeit. Auch der kleine Sterbliche ist von ihnen befreit — so lange ihn der Engel mit brüderlicher Zartlichkeit umarmt. Ausflüge so extravaganter Sorte distanzieren ein Menschenkind auf bedenkliche Art von Brüdern und Schwestern, die dergleichen nie mitgemacht —: der Engel sollte es wissen. WeiB er es ? Ist es seine pedagogische Absicht, den jungen Romancier dahin zu belehren, daB man zugleich distanziert und ergriffen sein muB — wenn man schreiben will ? — Kikjou sollte noch so Vieles lemen, ehe er sein groBes Buch beginnt! Man muB geflogen sein mit den Engeln, man muB mit den Armen gehungert haben — wenn man Bücher über Menschen schreiben will. Welch ein Wagnis: über Menschen irgendetwas auszusagen! Ihr unsagbares Gefühl zu formulieren — welches Risiko! Taktlosigkeiten, Irrtümer, nichtssagende Verallgemeinerungen werden fast unvermeidbar; es geht um das Heikelste, um das Verworrene, das Unergründliche — man ergründet es nie, man ahnt nur etwas vom Grund —: ganz entschieden, ehrgeiziger kleiner Kikjou, du muBt noch durch mehrere Erfahrungen gehen, ehe du zur Feder greifst. Jetzt fliegst du mit dem Engel —: wir wünschen dir glückliche Fahrt! Der Damon der Entwurzelungs-Neurose, der Schutzpatron der Expatriierten, der Tröster, der Spotter, der Fluch-Spendende, der Segen-Spendende — er hat dich geküBt. Das gibt dir einen Vorsprung vor den Konkurrenten. Du bist vielfach ausgezeichnet worden, man hat dich angeblickt — unfaBbar milde und unfaBbar streng •—, man hat viele schone oder entsetzliche Worte an dich gerichtet; jetzt eben sind es sanfte Worte, die du hörst: „Zuerst zeige ich dir das Beste!" sagte der Engel — da waren sie schon am Ziel, schon unsichtbare Gaste in einem Haus — bescheidene Villa; aber sauber und gemütlich, „Colonial Style": man befand sich im südlichen Teil der Vereinigten Staaten; Kikjou wuBte es, ohne vom Engel unterrichtet worden zu sein. — Hier also lebt Marion! dachte er. Sie hat mir ihre Adresse nicht geschrieben; man muB sich ja mit den Engeln verbünden, um sie auszu finden . . . Er sah Marion, sie saB an einer Wiege, er sah einen fremden Mann — gedrungene Gestalt; das rundliche Gesicht von den Augen beherrscht —•: wer war es denn? Der Engel belehrte ihn: „Professor Benjamin Abel, ein famoser Kerl." — Kikjou sah Marion an; seinem Begleiter indessen schien es mehr auf das Kind anzukommen; schon naherte er sich, schwebenden und schleppenden Ganges, der Wiege. Das Kind schrie, Marion sagte: „Man sollte das Radio abstellen, Marcel kann nicht schlafen." — „Es ist aber gerade so interessant," sagte Benjamin. „Chamberlain will nach Berchtesgaden fliegen." — Marion, wahrend sie mit der FuBspitze leicht die Wiege schaukelte: „Das bedeutet wohl, daB der Krieg etwas verschoben werden soll. Kleine Verzögerung der anberaumten Apokalypse ..." — „Ich werde nicht mehr klug aus der englischen Politik," sagte Professor Abel und steilte den Apparat ab. Marion lachte leise. „Als wir Kinder waren, fragte Mama uns manchmal: Bist du dumm oder bist du bös ? Das möchte ich von den britischen Ministern manchmal auch gern wissen ..." — Sie lieB ihre Augen nicht vom Kind, wahrend sie sprach. „Was hat der Kleine denn heute abend ? Er hört gar nicht auf zu weinen. — Du wirst mir doch nicht krank ?" — Sie redete über die Wiege geneigt. Kikjou rief Marions Namen, sie drehte sich gar nicht um, er hatte keine Stimme: wer unsichtbar ist, wird auch stumm. Er war eifersüchtig auf Professor Abel, er haBte ihn, weil er zu Marion sprechen durfte, und weil die Worte, die er sprach, ihr verstandlich wurden. — War Marion glücklich ? Jedenfalls schien sie stiller, weniger nervös als in den alten Pariser Tagen. Ihre Hande ruhten auf dem Rand der Wiege; früher hatte man sie fast stets in zuckender Bewegung gesehen. Kikjou fand in ihrem Bliek eine ernste Heiterkeit. ,Es muB schön sein, ein Kind zu haben,' dachte Kikjou — petit camerade des anges . . . Da erschauerte Marion: der Engel der Heimatlosen war zu ihr getreten. Sie sah ihn nicht — unsichtbar: sein bestaubter Hut, das ramponierte Kostüm; unsichtbar der müde Mund, der gnadenvolle Bliek. Sie spürte jedoch seine Nahe. Sie fürchtete sich. „Ich fürchte mich," gestand sie ihrem Benjamin. „Vielleicht wird doch Krieg kommen; es sieht alles so beunruhigend aus. Oder ein Frieden, der noch schlimmer ist als Krieg. — Und das Kind hört nicht auf zu schreien!" rief sie gequalt. Sie war es — die junge Mutter — die schrie; das Kind lachelte schon. Die Nahe des Engels war ihm angenehm; der kleine Marcel war erst vier Wochen alt, und dem Paradiese noch nicht fremd geworden. Er lachte, der kleine Marcel; er strampelte, er bewegte lachend die Faustchen. Mit groBer Vergnügtheit emp- fing er Bliek und KuB des Boten. Der Engel der Heimatlosen segnete und küBte Marions Kind. „Ist er nicht goldig!" rief entzückt Vater Abel. Er war goldig, Marion bestatigte es. Er wird die Augen bekommen, um deretwillen Marion zwei Menschen geliebt hat: Tullio und Marcel. Welch ein schönes Baby! Sein Gesicht war nicht rot und faltig; vielmehr glatt, von fester Substanz und angenehm braunlicher Farbe. Es hatte schon Augenbrauen — die junge Mutter kannte ihre Linie, die kühnen, tragischen Bögen . . . „Ich bin stolz auf das Kind," sagte Vater Abel mit feuchtem Bliek. Und die Mutter — unendlich zartlich, sorgenvoll und stolz —: „Was ist ihm bestimmt ? — Was ist dir bestimmt, kleiner Marcel ?" „Ich weiB es," sagte der Engel der Heimatlosen — ziemlich laut, aber unhörbar. — Er hatte das Kind geküBt; dies war erledigt, anderes blieb zu tun; ,,wir müssen weiter! "raunte er Kikjou zu. Der Sterbliche flüsterte: „Bitte nicht!" Er wollte so gern noch ein wenig bleiben; es gefiel ihm so gut hier, das Kind war reizend, für Marion hatte er immer starke Sympathie gehabt — und ware es nicht interessant gewesen, den Professor ein biBchen naher kennen zu lernen? — „Nur noch ein paar Minuten!" bettelte Kikjou. Der Engel aber war unbarmherzig, wie alle pflichtgetreuen Beamten. Schon beschwor er, mit zwei erhobenen Fingern, die Silberwolke. — „Was wird aus dem Kind ?" fragte Kikjou noch, ehe er eingehüllt und fortgetragen ward. „Sage mirs! Ich muB es wissen!!" Der Engel antwortete nicht. Sein Bliek, mitleidsvoll und streng, umfing noch einmal die Gruppe: den Vater, die Mutter, die Wiege mit dem Neugeborenen —: drei Menschen. — „Komm!" forderte der Engel der Heimatlosen. Dies galt Kikjou und ward schon aus der Wolke gesprochen. . . . Aufstieg; Entrückung — mit leichtem Schaukeln; komfortables Wunder; magische Verwandlung. Paris, Ecke Boulevard St. Germain — Rue des SaintsPères. Ein kleines Restaurant — Kikjou hatte haufig hier gegessen. „In dieser Ecke saB ich immer — mit Martin!" Er flüsterte es dem Engel zu — der es schon gewuBt hatte und schweigend nickte. Das Lokal war voll; übrigens schien das Publikum aufgeregt und nervös. Man besprach die Ereignisse des Tages; erwog auch, was die Zukunft bringen mochte. „Gibt es Krieg?" — „Natürlich! Es wird ja schon mobilisiert!" — „Aber Chamberlain ist nach Berchtesgaden geflogen!" — „Er ist noch in London, vielleicht wird Hitier ihn nicht empfangen ..." — „Lohnt es sich, Krieg zu machen, für diese Sudeten-Deutschen, die niemand kennt ?" — „Les Tchèques c'est pour moi quelque chose comme les Chinois. — „Die Tschechoslowakei ist unser Bundesgenosse und eine gute Demokratie ..." — „Monsieur Benesch ist Jude, deshalb mag er den Führer nicht. . — „.Monsieur Benesch soll ein sehr kultivierter, feiner Mann sein ..." — „L'honneur de la France ..." — „Les avions Allemands ..." — „Les sales Tchèques ..." — „Les sales Boches ..." — „Les sales Juifs . . ." — „NousautresFranfais . „Je suis pacifiste . . ." „J'admire Monsieur Chamberlain ..." ... „Après tout, Hitlère, lui aussi, est un type épouvantable ..." Da entdeckte Kikjou seinen Freund David Deutsch, er saB mit zwei alteren Herren, alle Drei waren schweigsam, die Kellnerin steilte gerade Teller und eine Flasche Rotwein vor sie hin. Einer von den Mannern hatte einen prachtvollen schwarzen Vollbart — steif und hart, wie ein Brett aus Ebenholz. Er studierte eine Zeitung, die in hebraischen Lettern gedruckt war. „Es ist ein Rabbi," erklarte der Engel, „sehr gelehrt und fromm. In Krakau geboren, 1886; lebt seit fünfundzwanzig Jahren in Paris." — „Und der andere ?" wollte Kikjou wissen. Er ward unterrichtet: es war ein vaterlicher Freund von David Deutsch, Herr Nathan. Er hat das Umschulungs-Lager für jüdische Intellektuelle in Skandinavien organisiert — höchst verdienstvoller Weise. David wollte sich als Schreiner ausbilden lassen; hat sich auch sehr geplagt; brach aber bald zusammen: die Krafte reichten nicht aus. Herr Nathan riet ihm, er solle Uhrmacher werden: dazu braucht man mehr Intelligenz und weniger Muskeln als zur Schreinerei. Jetzt kann David Uhren auseinandernehmen und zusammensetzen—: eineheikle Kunst. Er hat eine Stellung in den französischen Koloniën bekommen, durch gütige Vermittlung des Rabbi mit dem schonen schwarzen Bart. Morgen geht das Schiff von Marseille, jetzt feiern sie Abschied, Herr Nathan hat seinen Schützling nach Paris begleitet. — „Sehr nett von ihm", sagte Kikjou. „Herr Nathan gefallt mir. Warum sieht er so müde aus ? Er hat schwere Sacke unterden Augen." — „Er muB sich viel sorgen," sagte der Engel, der seinerseits aus irgendeinem Grunde beunruhigt schien. Er beobachtete eine Gruppe von jungen Franzosen, die ihren Tisch neben David Deutsch und seinen Freunden hatten. Es waren schmucke Burschen, einer von ihnen trug ein kleines, schwarzes Schnurrbartchen, an den Enden aufgezwirbelt; alle hatten Abzeichen in den Knopflöchern ihrer Jacketts, sie sprachen über die Schande Frankreichs. Ein jüdischer Ministerpresident hatte die Nation an den Rand des Abgrundes gebracht, was man nun dringend brauchte, war ein starker Mann. Man wünschte ihn sich einerseits brutal, andererseits auch versöhnlich; er sollte die Streiks verhindern — wenn nötig, auf die Arbeiter schieBen lassen; mit 44 Nazi-Deutschland aber gute Freundschaft halten. Jüdische Intriganten beabsichtigten, la douce France in den Krieg zu zerren — angeblich um die Tschechen zu retten, in Wahrheit wegen der jüdischen Interessen. Die jungen Herren waren sehr ergrimmt. Einer von ihnen blickte drohend zu David Deutsch hinüber. Die hebraische Zeitung wirkte wie ein rotes Tuch auf die forschen Jünglinge — die reichlich Wein konsumiert hatten. Der Engel war sehr besorgt. Er raffte das dunkle Kleid und schwebte auf David zu. Gleichzeitig standen auch die jungen Herren auf; sie hatten ihre Mahlzeit beendet, ihre Rechnung bezahlt. Würde alles gut gehen ? War die Gefahr überwunden ? Die Camelots hatten die Tür erreicht, der Rabbi lieB einen Seufzer der Erleichterung horen; nur der Engel — hinter Davids Stuhl — blieb kummervoll und gespannt. Einer der Jünglinge — es war der mit dem hübschen Bartchen — machte Kehrt. Es erschien ihm wohl unertraglich, das Lokal zu verlassen, ohne den frechen Israeliten eine Lektion erteilt zu haben. Hebraische Zeitungen — mitten in Paris! C'est trop fort, après tout! Dies Gesindel —: durfte es sich alles erlauben ? Leicht schwankend, doch in aufrechter Haltung, durchschritt der junge Herr nochmals das Restaurant. Vor David Deutsch blieb er stehen. Der wuBte schon, was nun kommen würde —: er hatte es zwei Mal erlebt. Es gibt Cauchemars, die man, in gewissen Abstanden, immer wieder, immer noch-einmal traumen muB. Ein S.A.-Mann hatte gespuckt, auf dem Kurfürstendamm, in Berlin —: wie lang war es her ? Er hatte: „Saujud!" dazu gesagt — mit gelassener, beinah freundlicher Stimme. Umso erregter war die amerikanische Dame gewesen, mit ihrem: „Sales Boches!" Übrigens, eine Spuckerin ersten Ranges — sie hatte einen respektablen Speichelpatzen produziert! Der Pariser Kavalier sagte: „Sales Juifs!" Gegen die „Boches" hatte er nichts, so lange sie nur fascistisch waren. Er taumelte einwenig; ohne Zweifel: er war leicht betrunken — indessen noch rüstig genug für die Spuck-Zeremonie. Mit der Amerikanerin freilich konnte er es keineswegs aufnehmen — das Resultat seiner Bemühungen war vergleichsweise kümmerlich; auch der S.A.-Mann hatte Besseres geleistet. Kein fetter Batzen sprang aus dem Munde des Kavaliers, nur ein dünner Strahl, eine matte Fontane —: beinah war es mitleiderregend. Übrigens konnte er gar nicht zielen. David muBte ihm mit dem FuB entgegen kommen — mechanischer Reflex, wie von einem, der sehr oft geschlagen wird, und schon weiB, wohin die Schlage treffen sollen —: sonst ware das schwache Tröpfchen ins Leere gefallen. Davids Stiefel wurde leicht benetzt. Der Kavalier wiederholte: „En bas les sales Juifs!" Der Rabbi war aufgefahren — das Gesicht über dem schwarzen Bart weiB vor Zorn. Im Lokal ward ein Gemurmel laut; teils beifallig, teils entrüstet. Die Entrüstung überwog. Die Kameraden des Kavaliers lachten etwas krampfhaft, in der offenen Türe stehend; sie spürten, daB die allgemeine Stimmung eher gegen sie war. Herr Nathan senkte wortlos die Stirn. Und David ? David hatte geschrien. Sein Mund verzerrte sich; Zuckungen liefen über die wachsbleiche Miene; die zerbrechlichen Finger — gelenkige und zarte Finger des Uhrmachers — fuhren ins starre Haar. Er hatte geschrien; doch der Engel lieB es nicht zu. Er neigte sich über ihn, er legte ihm die flache Hand vor den Mund. Er beschützte ihn mit seinem Mantel und mit seiner Hand. Er wollte nicht, daB er schriee. Der Aufschrei würde alles nur noch arger machen. — Klage nicht, David! Ich bin bei dir — dein Engel! Sei demütig! Sei stolz! Sei besonnen und fromm! Unterdrücke den Laut des Jammers! Dein Engel hat ihn gehort. David verhielt den Schrei; nur die Augen sprachen. Die schonen, dunklen, sehr erfahrenen Augen seiner alten Rasse lieBen den Kavalier — diesen maBig begabten Spuck-Heroen —; sie blickten an ihm vorbei, und über ihn hinaus. ,Was haben wir getan und angerichtet, daB wir gehaBt werden, mit so unversöhnlichem HaB ?' fragten die dunklen Augen. , Ist Israël unter den Vólkern das schwarze Schaf? Wie haben wir uns vergangen ? Was bedeutet so viel Schmach — die Erniedrigung durch Jahrtausende ? Eine sublime Auszeichnung des Herrn ? Das Stigma, das wir durch die Zeiten tragen müssen — ist es das Mal der Erwahltheit ? So waren wir denn wirklich das erwahlte Volk? Ach — verdienen wir diese schaurige Ehrung ? Was sollen wir tun, um ihrer würdig zu sein ? Herr Israels, der Du uns durch die Wüste geführt hast —: was willst Du denn, daB wir tun ?' . . . Der junge Herr, ziemlich ernüchtert, entwich, rückwarts schreitend. Menschen sprachen heftig durcheinander. ,,Qa, alors — quelle salopperie, alors!" . . . Die Franzosen waren beleidigt. Es ging über den SpaB. Der Engel loste langsam seine Hand von Davids Mund — sehr vorsichtig, als ware sie dort festgewachsen, und er fürchtete, es könnte wehe tun. Noch mehr Schmerz war David Deutsch wohl nicht zuzumuten. Das MaB war voll; der Engel wuBte, was Menschen zu ertragen fahig sind. Dann gab er Kikjou das Zeichen. Und da war die Wolke. . . . Neue Szenerie; heftig verandertes Licht. Die Dinge zeigen hartere Konturen. In Paris scheinen sie von perl-grauem Schimmer umhüllt; hier aber sind sie nackt. Ist dies afrikanische Landschaft ? Der Engel bedeutet Kikjou: Wir sind in Spanien. Die Stadt' heifit Tortosa, sie ist nicht weit von Barcelona entfernt. „Es war eine hübsche Siedlung," stellt der Engel mit betrübter Stimme fest. „Die Bomben haben sie ganz zerstört." Nein — viel übrig geblieben war nicht von der Stadt, die Tortosa hieB; sie hatten gute Arbeit getan, die deutschen und die italienischen Piloten. Hier gab es fast nur noch Trümmer. Von manchen Hausern war die Vorderseite erhalten — eine kulissenhaft tauschende Fassade; dahinter aber lag Schutt. Alle Bewohner hatten die Stadt verlassen; indessen war sie doch nicht völlig unbewohnt. Die Ruinen wurden bewacht von Mannern, die verschiedene Sprachen hatten. Spanische Soldaten, französische, deutsche und amerikanische Soldaten beschützten die Trümmer, deren Name einst Tortosa gewesen war. Durch die tote Ruinen-Stadt lief ein lebendiger FluB, er hieB Ebro. Die Trümmer jenseits des Flusses gehörten dem Feind — der lag in gefahrlicher Nahe. Nur ein Streifen Wassers trennte die Soldaten der Republik von ihren Gegnern, den arabischen Söldlingen und den italienischen Hilfstruppen des rebellischen Generals. Es wurde geschossen. Der Kampf um das zerstörte Tortosa stagnierte, aber hörte nie völlig auf. Der Engel war furchtlos. „Es wird ein biBchen geknallt." Er zuckte die Achseln. ,,Ich habe anderes mitgemacht. — Komm!" — Er geleitete Kikjou in ein Haus, es war relativ gut erhalten. Von der Treppe, die ins erste Stockwerk führte, waren immerhin Teile intakt geblieben. Droben gab es eine Flucht von Zimmern, früher muBte es hier fürstlich fein gewesen sein, jetzt waren die Wande geborsten, die Seidenbehange zerfetzt, in den Fenstern fehlten die Scheiben, man hatte den Bliek auf den FluB. „Drüben liegen die Fascisten." Der Engel runzelte die Stirn und sah ungnadig aus. Nach einer Pause bemerkte er noch — verachtlich, aber doch schon wieder besanftigt —: „Mein Gott — es sind auch nur Menschen ..." In dem Raum waren zwei Manner, sie sprachen Spanisch miteinander, einer von ihnen mit deutschem Akzent. Der Engel —zuverlassiger und praziser Conférencier — gab die nötigen Aufklarungen: „Es ist Hans Schütte, ein Deutscher, seit Beginn des Bürgerkrieges in Spanien, hat sich vor Madrid gut bewahrt, er ist Politkomissar. Morgen fahrt er nach Barcelona, übermorgen nach Frankreich weiter. Sein Dienst ist zu Ende." — „Aber der Bürgerkrieg geht doch weiter ?" fragte Kikjou. — „Die Internationalen Brigaden werden aufgelöst," sagte der Engel. „Die loyalistische Armee ist stark genug, hat jetzt auch genug Offiziere. Man braucht die Fremden nicht mehr." — „Man schickt sie weg ? fragte Kikjou. Der Engel bestatigte ruhig: „Ja. Man schickt sie weg." Hans Schütte packte Gegenstande in einen Rucksack: die Zahnbürste, ein paar grüne Hemden, Bücher das „Kapital von Marx, den „Faust" und zwei Detektivromane — Unterhosen, ein paar bunte Bilder von Stierkampfem, spanischen Damen mit Fachern oder revolutioneren Heroen. Er schnürte den Rucksack zu. Er sagte: „Das ware also vorbei. Jetzt gehts wieder mal auf die Walze." Der andere erkundigte sich: „Was für Plane hast du ? Kannst du irgendwo bleiben ?" Schütte lachte bitter: „Irgendwo bleiben —: wenn ich so was nur höre! Ich werde froh sein, wenn die Franzosen mich über die Grenze lassen!" Der andere: „Aber unsere Leute können dich nicht so einfach rausschmeiBen — wenn du gar nicht weiBt, wohin du gehen solist! Du hast doch für uns gekampft!" „Darauf bilde ich mir nichts ein," sagte Schütte. „Ich habe gegen den Fascismus gekampft. Das war meine Pflicht. Ich kann nicht verlangen, daB man mich ewig durchfüttert, weil ich meine Pflicht getan habe." Der Spanier schien nicht ganz einverstanden. „Hast du denn etwas Geld — in Frankreich draufien?" forschte er weiter. Schütte erklarte: Keinen Centime — woraufhin der Kamerad erst recht nachdenklich wurde. Schütte tröstete ihn: „Es wird schon irgendwie gehen. So schnell verhungert man nicht." Sie schwiegen eine Weile. Draufien fiel ein Schufi, sie achteten nicht darauf. Schütte sagte: „Vielleicht werde ich bald an einer anderen Front gebraucht. Ich denke mir, die Tschechen werden sich wehren — wie ihr euch gewehrt habt. Dann bin ich wieder dabei ..." Es klang gar nicht prahlerisch; eher etwas müde. — „Meinst du, eskommt bald zum grofien europaischen Krieg ?" fragte der spanische Kamerad. Schütte zuckte die Achseln. „Früher oder spater . . . Vielleicht in zwei Tagen, vielleicht in einem Jahr . . — „Wer wird siegen ?" — Schütte sagte: „Wir." Noch eine Pause. (Welch schleppende, dabei gespannte Konversation! — dachte Kikjou). Der Spanier war es, der wieder zu sprechen begann; seine Stimme klang etwas dumpf. „Und wenn wir nicht mehr weiter können ? Wenn wir nachgeben müssen ? Wenn die Republik ihren Kampf verliert?" — „Ihr könnt ihn nicht mehr verlieren," erklarte Schütte. — Und der Spanische Soldat: „Unser Feind hat die Hilfe von zwei grofien, machtigen Landern! Uns hilft niemand. Wir haben nichts mehr zu fressen, und fast keine Munition. Warum hilft uns keiner ?" Er schien fassungslos über Feigheit und Dummheit der Welt. Er starrte seinen deutschen Freund fassungslos an. „Will man denn, daB wir zu Grunde gehen ? Warum lassen uns alle im Stich ?!" Der Politkomissar erwiderte mit sanfter Dezidiertheit: „Ihr geht nicht zu Grunde. Sogar wenn Franco eure Stadte erobert, seid ihr noch nicht verloren. Der Kampf geht weiter, wir gewinnen ihn — denn ihr habt uns das Beispiel gegeben. Ihr habt uns gezeigt, daB man einig sein mul3 und tapfer. Die Fascisten sind keine Helden, im Gegenteil. Nur unser Versagen — Uneinigkeit und Verzagtheit in unseren Reihen — gibt ihnen die Sieges-chance. Wir überwinden unsere Fehler und Irrtümer, dank dem Vorbild, das ihr uns gebt. Die grofle Tatsache — daB ihr gekampft habt; daB ihr einig seid — wird die Geschichte des Jahrhunderts bestimmen. Ihr seid die Sieger!" Hans Schütte, der Politkommissar, sprach ohne Pathos, mit fester, gelassener Stimme. Der spanische Kamerad stand straffer aufgerichtet; erfrischt und ermutigt durch die Worte des Deutschen. Schütte sagte: , Jetzt muB ich wohl gehen." Dabei verfinsterte sich sein Gesicht, das eben noch geleuchtet hatte. — Wahrend sie sich die Hande schüttelten, trat der Engel zu ihnen. Er bewachte ihren Abschied; er segnete ihre brüderliche, schamhaft-geschwinde Umarmung; er berührte mit der gebenedeiten Hand ihre Scheitel. — Sie waren Soldaten derselben Truppe, sie hatten die gleichen Entbehrungen, die namlichen Gefahren hinter sich; sie hatten im Unterstand nebeneinander geschlafen; sie hatten die gleichen Madchen gehabt, in Valencia und in Barcelona. Sie waren Freunde: ,mein zweiter Freund,' wuBte Schütte, ,vorher hatte ich einen, der hieB Ernst — was ist aus dem geworden ? Dieser heiBt Juan — man spricht den Namen mit einem seltsam rauhen Kehlkopf-Laut am Anfang aus —, er ist ein Soldat. Der Ernst hatte auch ein Soldat werden sollen, wo treibt er sich jetzt herum ? Als ich ihm in Basel Lebewohl gesagt habe, war alles ahnlich wie jetzt aber ganz so ernst und schwer wie jetzt, ist mir damals nicht zu Mute gewesen. Leb wohl, Juan! Und wenn du sterben muBt, wenn es dich doch noch erwischt wisse, es war nicht vergeblich! Was ich da vorhin erzahlt habe, klang vielleicht ein biBchen salbungsvoll; war aber genau meine Ansicht; war mein ganzer Glaube. Ihr seid das Vorbild.' Der Engel und Kikjou horten die Gedanken des Politkomissars, und sie freuten sich ihrer. ,,Bist du nicht stolz auf diesen braven Bruder ?" fragte der Engel. Kikjou erwiderte: „Ich bin stolz auf ihn. Da wurde er wieder entrückt —: Hans Schütte schnallte sich gerade den Rucksack uk, das ïrdisch schwere Gepack. Unten wartete ein Lastwagen, er würde ihn und zwanzig andere deutsche Soldaten nach Barcelona bringen. Die Manner von den Internationalen Brigaden hatten ihren Dienst getan auf diesem Kriegsschauplatz. Es war die Stunde der Heimkehr. Sie reisten nach Haus — nach New York oder Kopenhagen, nach Birmingham, Bordeaux oder Los Angeles. Mehrere von ihnen hatten keine Heimat, sie wurden nirgends erwartet. Wohin soll ein Deutscher oder ein Italiener sich wenden, nachdem er gegen die Fascisten gekampft hat ? Ihm bleibt nichts übrig, als weiter gegen die Fascisten zu kampfen — an welcher Front, in welchem Land es auch immer sei —: anders kann er die verlorene Heimat nicht zurückgewinnen. — Die deutschen Soldaten, auf ihrem Lastwagen, sangen ein Lied, als sie die zerstörte Stadt Tortosa verlieBen. Ihre Kameraden, die noch auf dem Posten blieben, sangen mit. Der Text des Liedes ward in spanischer, französischer, deutscher, englischer, hollandischer, schwedischer, portugiesischer Sprache vorgetragen. Indessen war die Melodie für alle gleich, und sie sangen im gleichen Rhythmus, kamen nicht aus dem Takt. Das Lied, mit dem die \ I armer von Tortosa Abschied von den deutschen Brüdern nahmen, war die ,,Internationale". Kikjou lauschte, schon von der Wolke empor-geschaukelt. Der Engel der Heimatlosen, mit tiefer, melodischer Stimme, summte den Refrain: „Völker, hört die Signale ..." . . . Kikjou fror. Für Gletscher-Touren war er nipht gekleidet, hier wehte ein eisiger Wind. Was suchte der Engel auf so steilem Grat ? Schneefelder schimmerten matt und öd unter einem Himmel, der sternenlos war. Weit hinten ragten zackig die Gipfel, bleich leuchtend, wie aus innerem Licht. Rings umher — alles fahl und starr; aus den Schluchten aber drohte Dunkelheit. Wer ging Pfade, die so nah dem Abgrund waren ? Ein falsch gesetzter Schritt bedeutete das tödliche Verhangnis. Wer riskierte, zu nachtlicher Stunde, die Exkursion in so furchtbare Landschaft ? „Man muB die Freiheit sehr lieben, um sie sich durch solche Flucht zu erobern," raunte der Engel, seinerseits fröstelnd, eng in den zerschlissenen Mantel gehüllt. — „Wer flieht denn ?" fragte Kikjou. Der Engel wies mit dem Finger auf eine Gestalt, die sich langsam naherte: „Der da. Er kommt aus Deutschland —: daher sein verzweifelter Mut. Sie wollten einen Soldaten aus ihm machen. Dann hatte er auf Kameraden schieBen müssen, auf den Spanier Juan oder auf den Deutschen Hans Schütte. Das paflte ihm nicht, der ganze Schwindel paBte ihm langst nicht mehr, er kannte ihn, er hatte ihn gründlich satt. So wurde er Deserteur. Wir sind hier an der Grenze zwischen der Schweiz und Österreich — zwischen der Schweiz und GroBdeutschland, um genauer zu sein: die .Ostmark' ist eine Provinz des Dritten Reiches, wie dir bekannt sein dürfte; die schone Schweiz hingegen bleibt vorlaufig frei. Dorthin will dieser Junge. Er heiBt Dieter." Der deutsche Deserteur war siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Sein blondes Haar fing an, an den Schlafen etwas dünn zu werden —: dies zeigte sich; denn er trug keine Mütze. Auf der Stirn und um den schmal gewordenen Mund gab es Züge, die ihn alter scheinen lieBen, als er war: Spuren ausgehaltener Leiden, eines langen Trotzes, standhaft ertragener geistiger Einsamkeit. Kikjou bemerkte: „Er sieht überanstrengt aus. Wie schrecklich hart muB dieser Marsch für ihn gewesen sein!" — „Die Erlebnisse, die ihn zu seinem Abenteuer bestimmt haben, waren entschieden noch harter," versetzte der Engel. „Zu Anfang war er für die Nazis, mit gewissen Vorbehalten. Er schimpfte auf die Emigranten; an Freunde, die das Land verlassen hatten, schrieb er ziemlich krankende Briefe. Das war 1933Damals wollte er sich dem neuen Staat zur Verfügung stellen, er war voll guten Willens, sehr unwissend, und zu allem bereit. Wie lange hat es gedauert, bis ihm die Augen aufgegangen sind! Welch zaher, komplizierter ProzeB — und wie peinvoll es war! Enttauschungen ohne Ende; eine Qual, die niemandem anvertraut werden durfte; Ernüchterung, Beschamung, schlieBlich Ekel, Zorn und Aufbegehren —: eine lange Geschichte. Sie trug sich zu, wahrend ihr Heimatlosen durch die Kontinente gejagt wurdet. Ihr wart beschaftigt mit dem eigenen Schicksal: der Roman eures Lebens war kompliziert und schmerzlich genug. Die Grenzen, die euch von Deutschland trennen, sind unübertretbar. Dahinter ist für euch verfluchte Gegend; nur in Albtraumen werdet ihr hin versetzt. Es atmen aber dort Menschen, viele von ihnen leiden, sind heimatlos in der Heimat, man nennt sie ,die innere Emigration.' Ich, Schutzpatron der Expatriierten, kümmre mich auch um sie. Gestern, zum Beispiel, machte ich Visite bei einem Madchen, das du früher gekannt hast, ihr Name ist Ilse Proskauer." —„Ich erinnere mich," sagte Kikjou. — „Sie sitzt immer noch im Gefangnis." Es klang tadelnd, als ware auch Kikjou ein wenig schuld an Ilses groBem Malheur. „Sie hat es relativ gut, im Konzentrationslager ware es schlimmer. Aber wie langsam ihr die Zeit vergeht! Sie wartet, die Linie ihres Nackens wird immer schrager, sie geht [gebückt, als trüge sie Lasten; sie tragt Lasten, unermeBlich schyere — tragt sie tapfer, bleibt geduldig, voll Zutrauen, voll Hoffnung — das brave Ding. Als sie im Schlafe lag, habe ich ihr ins Ohr geflüstert, daB Walter Konradi, ihr Liebhaber und Verderber, noch bitterer büBen muB als sie selber. Seine Parteigenossen und Auftraggeber haben ihn eingesperrt und qualen ihn langsam zu Tode. ErhatirgendeinenFehler gemacht, er wollte auch sie verraten, sie kamen ihm hinter die Schliche, sie verzeihen ihm nicht. . ." Kikjou sah ihn vor sich, diesen Walter Konradi, einen Schuft. „Er war auf dem Friedhof, als Martins Urne beigesetzt wurde. Die Schwalbe hat schön geredet; der Hund, der Spion stand dabei. Damals beschloB er, Martins Eltern anzuzeigen. — War die arme Ilse ein wenig erleichtert, als du ihr vom Ruin des Elenden berichtet hast ?" — „Einerseits erleichtert; andererseits auch bestürzt. Er ist der einzige Mann, mit dem sie jemals im Bett war. Sie hangt an ihm. Sie haBt ihn und kommt nicht von ihm los. Sie glaubt immer noch, er habe nicht nur gelogen, als er ihr Liebe schwor. Es klang ihr süB, sie kann es nicht vergessen." — „Schrecklich!" sagte Kikjou. Sie schwebten in einiger Entfernung neben Dieter, dem Deserteur. Der Engel der Heimatlosen — Freund und Kenner auch der inneren Emigration — nickte kummervoll. „Ja ja — nicht nur im Exil wird gelitten. Nicht die Vertriebenen allein erfahren, wie bitter Einsamkeit ist und wie müde es macht, langen, zahen Widerstand zu leisten gegen die Macht, von der doch alles teils entzückt, teils eingeschüchtert scheint. — Bildet euch nicht zu viel ein auf eure Abenteuer!" riet der Engel der Heimatlosen. „Wenn ihr zurückkehrt, werdet ihr auf den Gesichtern eurer daheim-gebliebenen Kameraden Zeichen finden — jenen sehr ahnlich, die ihr selber tragt." — Der Engel schien zu vergessen, daB dem Jüngling an seiner Seite keinerlei Heimkehr bestimmt war. Der Gespiele und künftige Chronist der Emigranten war so ganzlich ohne Bindung und Vaterland — wie der Engel, der ihn geleitete. Sollte Kikjou ihn auf den kleinen Irrtum aufmerksam machen ? War es angebracht, ihn zu erinnern: Ich bin in Rio de Janeiro geboren, muB nachstens dorthin zurück, gedenke nicht dort zu bleiben, empfinde diese Reise nicht als Nach-Hause-Kommen ? — Der Vaterlandslose, Wurzellose, der Schwebende, Entrückte, Fremde, Teilnahmsvolle — schwieg. Es gefiel ihm, schmeichelte ihm, tat ihm wohl, mit den deutschen Flüchtlingen verwechselt zu werden. So gehorte er doch zu einer Gemeinschaft. Der Engel zeigte auf Dieter. „Dieser junge Mann dort auf dem glatten Pfad —: schau ihn dir an, und du erkennst das Zeichen. Das Stigma der Heimatlosen — nicht im Exil, in der fremd-gewordenen Heimat hat er sichs erworben!" ,,Warum ist er denn gerade heute ausgerückt?" fragte Kikjou. „Fast sechs Jahre hat er es ausgehalten — und plötzlich macht er sich auf und davon!" „Weil man in Deutschland den Krieg erwartet — weifit du das nicht ? Sie meinen, ihr Führer wolle sie marschieren lassen, wegen der Sudeten, und weil das Reich noch gröBer werden muB. Niemand ist begeistert, am liebsten mochten alle desertieren, aber nur wenige haben den Mut. Dieter setzt alles auf eine Karte. Sein Leben ware gefahrdet, auch wenn er im Lande und gehorsam bliebe. Lieber riskiert er es für die Freiheit. — Er wird es bewahren!" Dies rief der Engel mit entzücktem Nachdruck; gleichzeitig aber erschreckt. Denn der Deserteur — der neue Heimatlose — stolperte, schwankte, hatte keinen Halt mehr auf glattem Pfad: er würde stürzen, ihm zur Seite ging es schauerlich in die Tiefe. Da zeigte der Engel, wie geschwind er flattern konnte, wenn es drauf ankam. Ein Flügelschlag nur, machtig rauschend, — und er hatte den Taumelnden schon erreicht; er stützte ihn, hielt ihn; er bewahrte ihn vor dem Fall. „Du solist nicht untergehen!" versprach er — instandig, wenngleich lautlos — seinem neuen Schützling. „Ich atme dich freundlich an, ich gebe dir neue Kraft! Du vollendest die riskante Gletschertour, du gewinnst die Freiheit, ich will es. Die Schluchten, voll schwarzer Schatten, locken dich. Du widerstehst. Du bist tapfer. Dein Roman ist noch nicht zu Ende, nur der erste Teil ist abgeschlossen —: der war lang genug, fast sechs Jahre lang. Du und ich kennen seine bitteren Kapitel —: eines Tages werden sie der Welt bekannt, vorher muB viel geschehen. Die Geschichte all deiner Irrtümer und ihrer langsamen Überwindung ist stumm und ratselhaft hinein verwoben in den Roman der Heimatlosen. Zwei Linien, zwei mit Energie geladene Kurven liefen parallel: die Krafte der inneren und der auBeren Emigration wollen sich nun verbinden. Vereinigt sollen sie wirken —: dies ist die Stunde, euer Engel kennt sie, er darf nicht dulden, daB ihr sie versaumt. —Siehst du den Pfad, mutiger Deserteur ? Es ist dunkel, aber ich habe deine Augen mit meinen Fingern berührt, sie durchdringen die Nacht. Leb wohl — ich lasse dich jetzt! Mein Tages-Programm ist erfüllt. Dir den Weg zu weisen, war heute die schönste Pflicht, und die letzte." Der Deserteur dachte froh: ,Es ist etwas heller geworden, auch der Weg ist besser. Das Schwerste liegt hinter mir. Die Grenze muB nah sein. Ich habe es bald geschafft.' Der Engel indessen kehrte zu Kikjou zurück, der einsam schwebte und erbarmlich fror. „Warum zitterst du ?" fragte der Engel. „WarumCschaust du so traurig?" — „Ich habe mich gefürchtet," sagte der Sterbliche. „Du hattest mich nicht allein lassen sollen — mitten im Schnee, in der dünnen Luft! Du bist so lange bei dem Fremden geblieben. Du magst ihn lieber als mich." — „Du Verwöhnter!" Der Engel schalt ihn, wahrend er ihn an sich zog. „Du Empfindlicher! Wirst du denn niemals klug?" Sie hoben sich langsam, den bleichen Gipfeln entgegen. Der Himmel, dem sie sich naherten, war sehr kalt und sehr klar, es gab keine Wolken; auch das komfortable Wolken-Fahrzeug des Engels war noch nicht herbei-befohlen. Der Engel regte die Flügel; es schien ihm angenehm und erholend, nach all den Plagen des Tages. Kikjou, seinerseits ohne Schwere, war keine Last in den trainierten Armen des Boten. An seiner gewaltig atmenden Brust ruhte des Sterblichen zartes, zartliches Haupt. Der Mund des Engels war sanft und klug. Er redete Menschenworte. „Nun muB ich Bericht erstatten, und alle Details dieses Dienst-Tages treulich melden. Mein Herr wird unwirsch, wenn ich nur das Mindeste vergesse. Seine Neugier ist ebenso grenzenlos wie Sein Wissen — das Er sich durch unsere Reporte immer wieder bestatigen und gleichsam auffrischen lafit. Er ist sehr pedan- tisch, bei all Seiner Majestat..." — Nicht anders klatschen Beamte über den Vorgesetzten. Der Engel, müde und gut gelaunt, lieB sich ein wenig gehen vor dem Menschenkind, das er trug. „Von unseren Reporten wird erwartet, daB sie sowohl umfassend sind als auch knapp," sagte er noch. ,,Kein leichtes Amt," schloB er seufzend; gleichzeitig aber stolz. „Der Herr interessiert sich für unsere Angelegenheiten ?" — Kikjou schien es nicht recht glauben zu wollen. „Für jede Winzigkeit," erklarte derBote, selber ein wenig erstaunt über das AusmaB Höchster WiBbegierde. Kikjou fragte: „Was hat er mit uns vor ?" — Auch die Sterblichen wüBten gern Dies und Das; können freilich nicht gleich Blitze schleudern, wenn die prazise Antwort auf sich warten laBt. Der Engel lachelte geheimnisvoll. „Er hat Plane und Absichten ..." — Man war auf der Höhe der Gipfel. Zwischen bleichen Zacken, in dünner, eisiger Luft lustwandelten der künftige Romancier und sein Engel. Unter ihnen: die Schluchten, schattenschwarz; die schmalen, eilenden Bache, die Gletscherfelder, die glatten Pfade; unter ihnen — der junge Mensch aus Deutschland, Dieter, ein Deserteur. „Freundliche Absichten ?" examinierte der Sterbliche seinen Engel. „Gute Plane ? Gnadige Konstruktionen ?" Der Bote nickte. „Sehr gnadige Konstruktionen. Absichten von schier unvorstellbarer Freundlichkeit." „Aber wir kennen sie nicht," sagte Kikjou. „Es bleibt alles verhüllt." Der plauderhafte Abgesandte erklarte: „Ihr sollt sie erraten, sollt allmahlich dahinter kommen —: dies erwartet der Herr. Oft gramt und wundert Er sich, weil ihr dermaBen störrisch seid, und so schwer von Begriffen! Ich habe Ihn schon fassungslos gesehen — fast entmutigt durch die frevelhafte Blödheit Seiner Kreatur. Niemand kann es Ihm verübeln, daB Er zuweilen die Geduld verliert — so widerspenstig und ahnungslos, wie ihr euch verhaltet! Vor allem Neuen scheut und boekt ihr, und versucht, ihm auszuweichen — ohne den schonen Plan darin zu erkennen. Dann wird der Herr sehr betrübt. Riesige Schatten verfinstern Ihm Bliek und Stirn—: ich kann dir sagen, das Herz zerspringt einem, wenn mans sieht. Wir singen Hymnen, umkreisen tanzend Seinen glühenden Stuhl, probieren es mit jedem Schabernack, allen spaBigen und ehrfurchtsvollen Gesten — um die groBe Dunkelheit zu verscheuchen, die auf dem Angesicht des Vaters liegt. Ach — wir strengen uns umsonst die Kehlen an, mit emsigem Jubilieren! Die GottesStirn bleibt verfinstert." Dies erschütterte Kikjou und machte ihn sehr beklommen. „Wenn sogar die Höchste Instanz oft den Mut verliert — welche Hoffnung bleibt uns, Seinen schwachen, fehlbaren Geschöpfen?" Der Engel sprach: „Euch bleibt groBe Hoffnung. Die Tatsache, daB der Liebe Vater Sich um euretwillen solcherart gramt und erzürnt, beweist Seine innige Teilnahme — die in der Tat jedes erdenkliche MaB überschreitet. Er produziert Tag und Nacht neue Projekte — alle euch betreffend. Er will euch Störrischen auf den rechten Weg zwingen." „Wenn Seine Politik uns gegenüber nur nicht so schrecklich undurchsichtig ware!" klagte Kikjou. „Zu gewissen Zeiten scheint sie nur aus Willkür und Grausamkeit zu bestehen!" „Willkür und Grausamkeit!" Der Engel wurde sehr ernst —: dies ging entschieden zu weit. „Da sieht man, wie sich eine Undankbarkeit, die ans Rebellische grenzt, mit fast idiotischem Mangel an In- 45 telligenz garstig bei euch verbindet! — Hat Er euch nicht Seinen Sohn geschickt, damit es nur weiter gehe, und der Prozess eurer Selbsterlösung nicht stocke ? — Sohn und Vater sind fast die gleiche Person: es scheint unpassend, zwischen ihnen zu unterscheiden. Wir im Paradiese nennen und lobpreisen die Zwei-Einheit in einem Atem. Er tat dies AuBerste und Liebevollste; Er litt, wie unter euch nur der Armste; Er trug das Kreuz; Er schmeckte Gallenbitteres auf Seiner Zunge, in den Triumph Seiner Auferstehung nahm Er das Aroma von Blut und Essig mit. Solches nahm Er auf Sich — höchst überlegter, kluger, inniger Weise —, und ihr sprecht von Willkür, Grausamkeit!'' „Es ist nichts besser geworden," sagte traurig der Sterbliche. „Du weiBt doch, wie sehr und stark ich meinen Erlöser liebhabe und ihm ganz vertraue. Um der historischen Wahrheit willen aber bleibt zu konstatieren: Nichts ist besser geworden, seit er schmachtete, verging und strahlend auferstand." Der Engel, nach kurzer Pause: „Das liegt an euch — nur an euch. Er hat euch VerhaltungsmaBregeln hinterlassen, die sind sehr schön und tief. Manches von den Planen und Absichten ist in sie eingegangen — faBlich gemacht, eurem intellektuellen Niveau padagogisch angepaBt. Jedes Kind könnte verstehen, was der Liebe Vater drastisch andeutete, durch den menschlich gewordenen Mund des Sohnes — der als Nazarener unter euch ging und litt. Die Kinder haben es wohl begriffen. Aber die Erwachsenen! — Ihr seid scheuBlich störrisch." — Der Bote schien es kaum noch eilig zu haben, mit seinem Auf-Flug und mit dem Bericht vor der Höchsten Instanz. Er verzögerte sich, zwischen den bleichen Gipfeln —: sei es, weil die Unterhaltung ihn ablenkte und ergötzte; sei es, weil er auch dieses Gesprach noch einbeziehen und verwenden wollte in seinem knappen und umfassenden Rapport. „Und deshalb werden wir gezüchtigt?" fragte der Mensch. Der Engel klarte ihn auf: „Von Züchtigung kann nicht die Rede sein. Der Herr verhangt Unannehmlichkeiten über euch, damit ihr nur aufwacht ihr Schlafrigen! Damit ihr euch der Pflichten bewuBt werdet und dem Neuen eifriger dient, werdet ihr in Abenteuer gestürzt. Er versucht alle Mittel, zwecks Beschleunigung des Prozesses —: die sanften, wie die weniger glimpflichen. Krieg und Pestilenz, jede Art von Ruin, jede Form des Schmerzes, der Erniedrigung —: lauter erzieherische Tricks, im Sinn und Dienst der gnadenvollen Heils-Konstruktion. „Und die Heimatlosigkeit, der Verlust des Vaterlandes?" erkundigte sich Kikjou. „Das gehort auch zu den — ,Tricks', wie du MaBnahmen so radikaler Art, etwas zynischer Weise, bezeichnest ? Der Engel bestatigte mit ungerührter Miene: „Auch die Heimatlosigkeit — und gerade sie! — Die SeBhaften, Besitzenden, Satten sind oft die Dümmsten, und durchaus störrisch, was das Neue, den HeilsProzeB Fördernde betrifft. Sie machen sich zu Saboteuren der Plane und Absichten — wodurch sie zum Skandal werden vor der Höchsten Instanz. An maBgebender Stelle neigt man zu der Ansicht, daB der Schmerz euch sowohl feinfühliger als auch tapferer mache. Der Umgetriebene, Unbehauste, überallFremde hat vergleichsweise gute Chancen, dem Allerhöchsten Plan gerecht zu werden. Ihr sollt mutig sein; denn die Vaterliche Konzeption eurer Vollendung, der Göttliche Wille zur Utopie, ist nicht nur sehr vernünftig, sondern auch verwegen. Seid verwegen! Das Leben, das ihr aufs Spiel setzen könnt, ist keine so groBe Sache. Mit einem Schwerte wurdet 45» fallen: man sei immer drauf gefafit! Indessen ist er das Einzige, was wir haben; sonst kennen wir nichts. Die Plane und Absichten des Lieben Vaters bleiben an unseren Körper gebunden — der freilich auch Geist ist, und mit seiner Schönheit und Erbarmlichkeit Teil von Gottes Substanz. Löst und erlöst sich das Materielle, an jenem Tag der VerheiBung, da die Plane und Absichten endlich sich erfüllen dürfen? Sehr wohl möglich —: der Flügel-Herold hat dergleichen angedeutet, wenngleich in ungenügender Formulierung. Mögen Engel eine etwas stammelnde Konversation über das Letzte, Fernste, AuBerste machen! Was uns betrifft, wir haben andere Sorgen —: sie liegen naher; bleiben aber trotzdem im Zusammenhang mit gewissen vaterlichehrgeizigen Intentionen. Unser irdisches Heil ist wichtiger als das Heil unserer Seele: vielmehr, eines ist gar nicht zu trennen vom anderen. Denn der Liebe Herr vom FlammenThron identifiziert sich mit der Kreatur: Solches MaB hat Seine Gnade, und Seine Liebe ist so riesenhaft. Inmitten des Geschaffenen schlagt Sein schaffendes Herz. Unsere Schritte führen auch Ihn zum Ziel. Unser Sieg ist immer auch der Seine, unsere Entwürdigung wird Seine Schmach. Wer im Irdischen frevelt, hat auch Ihn verletzt. Er stöhnt in Qualen, wenn ein Mensch dem anderen wehe tut. Seine Kreaturen zerfleischen sich — und Er blutet aus tausend Wunden. Er vergiBt nicht, verzeiht nicht. Wer den Skandal vergiBt, mit dem Unertraglichen sich abfinden möchte, ist selbst schon Greul. Die schlauen Saboteure Höchster Plane und Intentionen sollen vernichtet sein. Ein Bliek trifft sie aus der Flammen-Sphare —: er bedeutet Fluch. ,Ihr seid Mir argerlich!' sagt der furchtbare Bliek. Der Rest bleibt uns überlassen. Unseres Amtes ist es, das Argernis auszureiBen, samt der Wurzel. Es ist unsere Erde; wir tragen die Verantwortung — was hier immer geschieht. Das Übel, das die Menschenwelt verdirbt, ist zah, nimmt auch höchst mannigfache Formen an. Einem wuchernden Pilz gleicht das Argernis: wir zertreten es — schon wagt es sich an anderer Stelle hervor. Zuweilen aber bekommt der wuchernde Skandal das AusmaB einer universalen Provokation. Dann stinkt die Schöpfung; der Liebe Vater ist nicht nur sorgenvoll, sondern auch degoutiert. Von uns verlangt Er dann: Handelt! Protestiert! Schreitet ein! — Er ruft die Kreatur zur Aktion, damit das kolossale Stinken nur endlich aufhöre. An euch liegt alles: alles liegt bei euch — spricht die Höchste Instanz. Nichts wird euch abgenommen, kein Engel hilft euch — nur als Beobachter sind die Cherubim unterwegs. Ich empfange Berichte— die Mein umfassendes Wissen bestatigen, nicht bereichern können. Ich resümiere, kalkuliere, verifiziere; Ich hoffe, leide, schluchze, grame mich, freue mich; Ich frohlocke, verstumme; Ich warte. Ich bin geduldig. Kein Engel hilft euch. Seht, auch der Schutzpatron der Heimatlosen, der Damon der Expatriierten hat sich entfernt! Vorm Flammen-Sitz legt er genauen Rapport ab. Ich lausche, vergleiche, ziehe Schlüsse, lasse mir nichts entgehen. Dem Engel der Heimatlosen bin Ich sehr gewogen — wenngleich er vorhin etwas schwatzhaft war. Er ist ein tüchtiger Engel, sein Amt ist schwer, und er liebt es. In Meinem Hofstaat nimmt er sich sonderbar aus, mit dem bestaubten MelonenHut, dem zerschlissenen Kleid. Aber Ich habe ihm ein Antlitz gegeben mit kühnen und milden Zügen. Gleicht es nicht dem Gesicht eines Kriegers, hart und gespannt wie es ist ? In die Augen jedoch habe Ich ihm das Licht des Erbarmens getan —: daher ihre sanfte Macht. Der Engel der Heimatlosen hat ein Menschen-Gesicht — von der Art, wie es sein sollte und werden mufi. Ich liebe Diesen, der unter Meinen Engeln der Geringste ist, weil Ich euch und eure Zukunft liebe. Ihr habt so schone, sonderbare Möglichkeiten. Nutzt sie doch! Meine Liebe zu euch ist voll Ehrgeiz und MiBtrauen, sehr wachsam und sehr empfindlich —: alles um der schonen Möglichkeiten willen, die so leicht verderben. Wie schade ware es um so viel reiche Chancen! Wie jammerschade würde es sein, wenn ihr das Bild, das Ich von euch im Vater-Herzen trage, so sehr entstelltet, daB Ich euch nicht mehr erkenne oder Mich gezwungen sehe, euch definitiv zu verstoBen! Unvorstellbar die Katastrophe, die Solches bedeutenmüBte: der Skandalder Skandale, das Fiasko Meines ganzen Unternehmens, der universale Ruin. Mir bliebe nichts zu tun, als etwas völlig Neues anzufangen —: aber woher die lustvolle Initiative zu einer anderen, zweiten Schöpfung nehmen, wenn die erste, höchst geliebte verdorben ist ? Wollt ihr Mir dies nicht ersparen ? So nehmt euch doch etwas zusammen! Ich bin sehr besorgt — wenngleich keineswegs ohne Hoffnung. Es liegt alles an euch. Hört ihr Mich, ihr Sterblichen, Meine Sorgenkinder mit den interessanten Möglichkeiten ? Du, zum Beispiel, Knabe dort auf dem Bett — schmiegsamer Gefahrte Meiner Cherubim, kleiner Heimatsloser —: hörst du Mich ? Vernimmst du den spontanen Ausbruch Meiner gewaltigen Sorge ? Nein — natürlich kannst du Mich nicht verstehen. Deine Entrückung ist ja zu Ende, und übrigens hatte nicht einmal der Engel dir die Ohren öffnen können für Meine Stimme. Du bist irdisch, und du solist es bleiben. Du schlummerst, ziemlich ermattet von deinem extravaganten Ausflug, der dir eigentlich nicht zugekommen ist —: am besten, du vergiBt ihn, oder haltst ihn für einen Traum. Ich liebe die Schlummernden, Ich liebe die Atmenden. Ich liebe euch, wenn ihr aufsteht, und den Kopf hoch tragt, und Gedanken denkt, und Worte bildet mit euren Lippen. Ich liebe euch mit unendlicher Liebe, wenn ihr geht, und schreitet, und vorwarts kommt — auf euren FüBen. Euer Lachen und euer Weinen klingen Mir angenehm, euer Lacheln rührt Mich, Mich rühren eure Umarmungen, die Küsse, die ihr tauscht, die Lust, die ihr beieinander empfindet. Es gefallt Mir, euch essen und trinken zu sehen. In alles, war ihr tut, ist Lust gemischt —: Meine Lust! Meine vaterliche Wonne! Noch in euren Schmerzen kann Ich die Lust erraten; jeder eurer Affekte ist Mir Wohlbehagen. Ich liebe eure Hande, wenn sie zupacken und wenn sie ruhen. Ich liebe eure lebendiger Körper und eure Gesichter, die lebendig sind —: auf ihnen liegt der Schimmer Meiner groBen, besorgten Liebe. Ach — es ergreift Mich, wie ihr die Glieder regt; wie ihr euch anfaBt, und wieder lasset; wie euer Organismus sich aufbaut und sich entwickelt, Zelle für Zelle, und wie er altert und müde wird und zerfallt. Ich liebe euer Blühen und euer Verwelken. Mich erschüttert eure Anmut und eure HaBlichkeit. Alle Gesten, mit denen ihr euer Leben verbringt, sind Mir Gegenstand des gerührten Entzückens. Das Herz des Vaters ist Flamme. Es brennt, es verzehrt sich in Flammen der Zartlichkeit. Dies sollt ihr nicht wissen. Der Liebe Vater verbirgt, stolz und schamhaft, Sein ungeheures Gefühl. Er verhüllt den Bliek; Er verschweigt das Wort. Mit liebender Geduld harrt Er jener Stunde entge- gen, von der ihr nichts wissen sollt —: der Hochzeitlichen Stunde, der Stunde der Kommunion, dem Erlösungs-Fest, dem Feiertag des GroBen Kusses, des Erlöschens . . . Mit Schauern von Glück und Angst harrt der Vater, geduldet Sich der GroBe Liebende. — Ihr aber sollt im SchweiBe eures Angesichts erledigen, was euch aufgetragen: Euer Erden-Pensum. Die Plane und Absichten sind zu erfüllen — ob es auch Ströme von eurem Blut und euren Tranen koste. Seid wachsam und tapfer —: dies fordert Meine Liebe von euch! Seid energisch, seid realistisch, seid auch gut! Plagt euch! Kampft! Habt Ehrgeiz und Leidenschaft, Trotz, Liebe und Mut! Seid rebellisch! Seid fromm! Bewahrt euch die Hoffnung! Steht auf eigenen FüBen! EPILOG. Ein junger Mensch saB in einem Café an der Canebière und schrieb. „Marseille, den i. Januar 1939. Lieber alter Karl! Wo steckst Du ? Bist Du immer noch in Jugoslawien ? Ich weiB Deine Adresse nicht — sonst hatte ich Dir schon lange geschrieben. Vor einem Jahr hast Du Dir Deine Briefe nach Ragusa, Poste Restante, bestellt. Ich versuche es mal. Hoffentlich erreicht Dich mein GruB. Ich möchte gem von Dir hören. Nun bin also auch ich unter die Emigranten gegangen. Bist Du darüber erstaunt? — Ich denke mir, eher wirst Du Dich gewundert haben, daB ich so lange Zeit gebraucht habe, um den EntschluB zu fassen. Beinah sechs Jahre . . . Mir kommt es vor, als seien es sechzig gewesen.... Hunderttausend Mal hatte ich schon gemeint: Jetzt geht es nicht mehr; ich muB weg . . .; und bin immer wieder geblieben. Aber dann war plötzlich eine Grenze erreicht. Ich hatte gar keine Wahl mehr — verstehst Du ? Es ging um mein Leben. Ich spreche nicht von auBeren Gefahren — die gab es auch, und sie waren lastig genug. Natürlich hatte ich den Mund nicht halten können. Eine Zeitlang bin ich jeden Morgen mit dem gleichen Schrecken aufgewacht: Heute kommen sie, dich zu holen! Wenn ich das Wort , Konzentrationslager' hörte — und man hört es oft —, wurde mir etwas übel. Ich wuBte: Das bleibt dir auch nicht erspart. . . Aber es war nicht nur das, und nicht das vor allem. Es war auch nicht nur die Wut über den gemeinen, falschen, sinnlosen Krieg, den sie vorbereiten, und der im September vor der Türe schien. Nachher hat sich ja herausgestellt: das Kriegsgeschrei, die Mobilisation waren nur Bluff und Schwindel — wie alle Veranstaltungen dieses Regimes. Aber damals haben wirs doch ernst genommen. Bin ich ein Pazifist ? — Es kommt ganz darauf an. — Kampfen ? Warum denn nicht! Aber auf der richtigen Seite! Tschechen, Russen und Franzosen totschlagen; Bomben auf Weiber und Kinder schmeiBen; Land erobern, damit das deutsche Zuchthaus noch gröBer wird: ohne mich, wenn ich bitten darfü Ich weiB, was Zucht ist, ich weiB, was Patriotismus ist: mein Vater war ein PreuBischer Offizier. Von ihm habe ich aber auch gelernt, was Anstand und Ehrenhaftigkeit bedeuten. Ein paar andere Kenntnisse und Erkenntnisse muBte ich mir selbstandig, ohne vaterliche Hilfe, erobern. Haben wir jungen Deutschen den Wert der Freiheit, das Ideal der Gerechtigkeit jemals kapiert? Ich fürchte, wir muBten erst durch die Hölle der totalen Unfreiheit, der kompletten Rechtslosigkeit gehen, um zu ermessen, was wir miBachtet — war wir verloren haben. Ja, wir sind durch eine Hölle gegangen. Unser Land ist immer noch mitten drin. Es liegt ein Fluch auf unserem Vaterland. Die Luft in unserem Vaterland ist vergiftet. Das Atmen wird unertraglich. Das ist es: man kann nicht atmen. Die gehaufte Lüge, das ÜbermaB der Gemeinheit: das verpestet die Luft — wie ein kolossaler Kadaver. Ich muBte raus, weil ich sonst erstickt ware! Buchstablich, ich hatte Erstickungs-Anfalle. Die September-Krise, der Abscheu vor dem geplanten Krieg waren mehr der akute AnlaB und letzte AnstoB, als der eigentliche Grund zu meiner Flucht. (Es war eine ziemlich dramatische Flucht — ich will Dir das alles erzahlen: spater einmal). Ich muB viel an die armen Kerle denken, die drinnen geblieben sind. Du glaubst doch nicht, daB es denen gefallt, in der Hölle ? Es sind ja nicht lauter Schufte. Aber die Schufte reiBen das Maul auf. Die anderen ballen die Fauste — in den Hosentaschen, zunachst. Denen gegenüber ist mein Gewissen nicht so ganz rein. Hatte ich aushalten sollen, bei dieser stummen • oder flüsternden — Opposition ? War es d o c h Fahnenflucht, daB ich weg bin? — Aber der Erstickende hat keine Wahl. Für mich gab es nur noch: leben — oder verrecken. So lang ich lebe, kann ich mich noch nützlich machen. Wenn ich hin bin, ists damit aus. In Paris kam ich an, als die Leute auf den StraBen tanzten und Champagner tranken, aus Freude über den ,geretteten Frieden'. Mir taten die Leute leid. Ich dachte mir: Die armen, guten, ahnungslosen Leute! Sie lieben den Frieden, sie wollen ihn sich erhalten. Wissen sie denn aber nicht, daB es keinen Frieden in Europa geben kann, so lange die Nazis an der Macht bleiben? Mit denen ist keine ,Verstandigung' möglich; Vertrage mit ihnen haben keinen Wert —: wissen das die Leute denn nicht ? Sie werden schon noch dahinter kommen —: das dachte ich mir damals, in Paris, und so denke ich heute. Europa wird einsehen, daB es nur die Wahl hat: unterzugehen — oder mit den Nazis fertig zu werden. Es wird gar nicht so furchtbar schwer sein, sie loszuwerden — wenn man nur endlich aufhört, ihm Konzessionen zu machen! Sie können weder den Krieg aushalten, noch den wirklichen Frieden —: einen Frieden namlich, der nicht mehr ein permanentes Erpressungs-Manöver der Nazis ware. All das scheint so einfach. Warum braucht die Welt so schrecklich lang, um es zu begreifen ? Wie viel Unglück soll noch geschehen — und hingenommen werden ? — Man muB sehr viel Geduld haben. Ich habe sehr viel Geduld. Für mich gibt es keine Illusionen mehr — die habe ich mir im Dritten Reich gründlich abgewöhnt —; aber Hoffnungen gibt es. Es sind realistische Hoffnungen. Ich weiC: eines Tages wird man in Deutschland Leute von unserer Art wieder brauchen. Es wird viel für uns zu tun geben. Es wird sehr schön sein, aber auch sehr hart. Wir werden ernste und schwierige Pflichten haben. Ich freue mich schon darauf. Es kann übermorgen so weit sein — oder erst in Jahren. Vielleicht dauert das Exil noch lange. Das ware bitter; aber man mufi sich zu trosten wissen. Das Leben hat überall seine interessanten Seiten. Vielleicht kann ich auf einer Farm in Argentinien arbeiten. Vielleicht fahre ich nach Neuseeland. Ich habe allerlei Plane. Ich sitze hier in Marseille rum, und die Stadt gefallt mir, und ich habe kein Geld, und kenne keine Seele, auBer ein paar Burschen in den Hafenkneipen — und die sind immer besoffen. Es wird schon irgendwie weitergehen; ich habe gar keine Angst. Manchmal muB ich denken: Wir Vagabunden, wir Heimatlosen, vaterlandsloses Pack haben irgendeinen Schutzengel, einen freundlichen Damon. Der geleitet uns, und der führt uns zurück — eines Tages. Er hilft uns aber nur, wenn wir uns nicht auf ihn verlassen. Wir müssen ihn vergessen — dann ist er unsichtbar da . . . Man geht nicht kaputt — wenn man noch eine Aufgabe hat. LaB von Dir hören! Dein alter Freund Dieter". Er legte die Feder weg und steckte den dicken Brief in ein Couvert, ohne ihn vorher noch einmal durchzulesen. Dann saB er ein paar Minuten lang unbeweglich, das Gesicht in beide Hande gestützt, und schaute ins Weite. Spater schlenderte er die breite StraBe hinunter, dem Hafen zu. Sein Gang war elastisch — immer noch der Gang eines Jünglings —; er hatte sich die graue Sportsmütze unternehmungslustig schief in die Stirn gezogen, und auch die kleine Melodie, die er pfiff, klang zuversichtlich. Le Vieux Port — der wunderschöne Alte Hafen von Marseille — lag, pitoresk und schmutzig, im milden Licht des warmen Wintertages. Dieter bog nach links ein; er ging schneller, lieB die engen Gassen hinter sich. Die Stadt hörte auf, es öffnete sich überraschend die wilde Landschaft, ein Pfad führte steil in die Höhe. Die Menschensiedlung schien weit entfernt; Pflanzen gediehen hier nicht; keine weiche Form, kein Atmen der Kreatur; nur Zacken, Felsen, Geröll. — War dies noch einmal der PaB, der Grat, das Hochgebirg ? Die schmale Spur, am Rande des Abgrunds noch einmal? Begann sie wieder, die riskante Tour, die erschöpfende Gletscher-Partie ? Tatendie Schluchten sich wieder auf, gefüllt mit blau-schwarzen Schatten ?.. . Dieter erschrak. Würde er wieder schwanken ? — ,Früher bin ich schwindelfrei gewesen . . .,' dachte er. ,Was macht mir Angst ? Hier ist kein Eis, keine Schlucht, auch Lawinen kommen hier nicht vor. Hinter den harmlosen Klippen strahlt ein südlicher Himmel, und der laue Wind bringt Salzgeruch mit. Ich höre schon die Melodie des Meeres — gleich werde ich den groBen Ausblick haben. Nur noch ein wenig aufwarts! Nur diese hundert Meter noch nach oben! Den Pfad gibt es nicht mehr, aber gute Stufen im Stein . . . Da ist das Meer. Wie es leuchtet! Dieter — am Ende des Vorgebirgs, auf der Spitze der Klippe — hat die Mütze abgenommen, wie in der Kirche. Diesen Wind will er nicht nur auf Lippen, Stirn und Augenlidern spüren, sondern auch im Haar; am liebsten möchte er sich das Hemd aufreiBen und dem Sturm die nackte Brust hinhalten. Er reckt sich, er dehnt die Glieder. Da er sich alleine weiB, hat er den Mut zu einer schonen, wilden Gebarde, die er vor Zuschauern kaum wagen würde. Zuschauer könnten finden, es sei theatralisch, wie er nun die Arme breitet und den Kopf langsam-selig in den Nacken sinken laBt. Ihm aber ist es die natürlichste Geste. Er genieBt sie, er atmet beglückt. Immer haben Jünglinge in solcher Haltung gestanden, auf einer Klippe, mit dem Bliek zum Meer. Immer haben sie dies zugleich benommene und entschlossene Lacheln gehabt, und die seltsam rudernden Bewegungen der gebreiteten Arme — als wollten sie sich vom Boden lösen; aufsteigen, auffliegen —: Wohin? Die Jünglinge fragen kaum nach dem Ziel, in solcher Stunde auBerer Bereitschaft und des kühnen Rausches. Wer spricht von den Mühen und Gefahren des langen Weges ? — All dies ist Nebensache geworden; nur die Bewegung gilt, nur der Flug —: seht, die Zukunft schimmert, wie das unendliche Meer. ,Zukunft — was auf mich zu-kommt. . .!' denkt der nüchtern-Berauschte. ,Ichwillesan mich reiBen wie eine Geliebte. Die Umarmung wird auch Schmerzen bringen: ich ertrage sie gern. Selbst auf ein schnelles Ende ware ich gefaBt, mit Katastrophen soll man immer rechnen, es kann alles schief gehen. Ein wenig Leichtsinn dürften wir immerhin gelernt haben, bei allem, was uns zugestoBen ist. — Ein Menschenleben —: was ist es ? — Wie wenig! Wie viel! Man muB es nur leben —: sonst ist mit dem Ding nichts anzufangen. Erreichen wir ein Ziel ? Gibt es ein anderes Ufer ? Setzen wir den schliefilich müd gewordenen FuB in das Land der Verheiflung ? Und wenn wir zu Grunde gehen — am Wege; unwissend, ohne Antwort und Trost —: ware dann alles sinnlos gewesen ? Das redet niemand mir ein! Da nichts in dieser Welt verschwendet wird; da alle Energien sinnvoll wirken, mit Plan und kluger Absicht trefflich organisiert—: warumsollten gerade die Krafte unseres lebendigen Herzens, unsere Schmerzen und Gedanken, sich ziellos verirren und ganz verloren sein ?' . . . Wie lange steht der Jüngling — Dieter, ein Deserteur — auf der Klippe, über dem Meer ? — Das Wasser, das geleuchtet hat, erbleicht, und der Wind wird kalter. Ein Tag ist zu Ende, die Sonne will Abschied nehmen, sie sendet ihr Abschieds-Licht. Es ist golden und rot, wie das Licht der Frühe —: nicht nur letzter GruB eines scheidenden Tages, sondern auch das Versprechen des kommenden. Die Wolken am Horizont — eben noch rosig, purpurn und violett — werden fahl. Auf dem Felsen aber, wo der Jüngling steht, liegt Glanz —: ein letztes Licht, oder ein erstes ? Man unterscheidet es kaum. Auch der Knabe weiB es noch nicht — oder nicht mehr: Diese brechenden Strahlen, die, zartlich und streng zugleich, seine Stirn berühren—: meint ihre Botschaft Anfang oder Ende ? Sind sie das glühende Vergehen einer Herrlichkeit, die sich verbraucht hat und zur Ruhe will ? Oder bringen siè den harten Segen der Morgenröte, Gnade und Befehl des neuen Tages ? ENDE. DER VUlKAN ' KLAUS MANN DER VULKAN ROMAN UNTER EMIGRANTEN 19 3 9 QUERIDO VERLAG N.V. AMSTERDAM Copyright 1939 by Querido Verlag N.V., Amsterdam Printed in the Netherlands Druck: N.V. Drukkerij v.h. L. E. Bosch & Zn., Utrecht (Holland) „Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt". Nietzsche. Vorrede zu „Menschliches Allzumenschliches". PROLOG Ein junger Mensch saB in einem Berliner Pensionszimmer und schrieb einen Brief. Berlin, den 20. April 1933. Lieber Karl! Ich hoffe, du bist gut in Paris angekommen und fühlst Dichwohl. Ich bin einmal zehn Tage lang dort gewesen — weiBt Du, damals mit den drei Jungens aus unserer Klasse; Du durftest damals nicht mitkommen, weil Deine Eltern sagten, Paris ist ein zu gefahrliches Pflaster für einen jungen Menschen. Das Allerschönste, woran ich mich in Paris erinnern kann, ist der Bliek von der Place de la Concorde die Champs Elysées hinauf, bis zum Are de Triomphe. Das ist wirklich groBartig. Ich bin doch etwas neidisch, daB Du das nun jeden Tag genieBen kannst. Ob Du sehr viel Schwierigkeiten mit der Sprache hast ? Und ob Du es jetzt bereust, daB Du immer so sündhaft faul gewesen bist, gerade in der französischen Stunde ? — Aber ich stelle mir vor, in Paris lernt man ja die Sprache fast von selbst. Lieber Karl: Ich denke sehr oft an Dich — fast immer, wenn ich gerade mal nichts anderes zu tun habe —: wie es Dir gehen mag, und ob Du Deinen EntschluB nicht bereust. Denn es ist doch ein groBer, schwerer EntschluB — sich von der Heimat zu trennen. Ich habe mir das alles wahrend der letzten Wochen hin und her überlegt, und ich bin zu der ganz festen inneren Entscheidung gekommen: Du hast einen Fehler gemacht. MiBverstehe mich nicht, Karl: es ist ein anstandiger Fehler, den Du gemacht hast. Aber doch ein Fehler. Ich weifl nicht, ob es noch irgend einen Sinn hat, Dir zuzureden: Komme zurück! Ich fürchte, es hat keinen Sinn mehr. Als ich Dir, vor drei Wochen, am Bahnhof Zoo Aufwiedersehen gesagt habe, fühlte und wuBte ich, daB wir uns sehr lange nicht wiedersehen werden. Natürlich könntest Du auch jetzt noch Deine Meinung andern und zurückkehren — wohinDugehörst. Da Du ja ein sogenannter „Ariër" bist und Deine alten Herrschaften feine Beziehungen haben, würde man Dir sicher alle Deine Sünden verzeihen — wenn Du jetzt erklarst, daB alles nur jugendliche Torheit und Unwissenheit von Dir gewesen ist. Du würdest Dir natürlich wie ein Schuft vorkommen, wenn Du eine solche Erklarung abgeben müBtest. Aber vielleicht ware es in diesem Augenblick das Klügste und das Anstandigste, was Du machen kannst. Denn jetzt brauchen wir hier Burschen wie Dich. Hier können sie jetzt nützlich sein, und nur hier. Was gibt es denn im Ausland für Dich zu tun? Bei den Franzosen auf uns Deutsche schimpfen ? Aber Karl! Ich kenne Dich doch! Das bringst Du ja gar nicht fertig. Du weiBt viel zu genau, wie sehr die Franzosen mit-schuldig, oder sogar hauptsachlich schuldig sind an dieser radikal-nationalistischen Entwicklung in Deutschland, die wir immer so bedauert haben. Nicht nur der Vertrag von Versailles ist schuld — obwohl der die schlimmste und eigentliche Ursache für alle Verwirrungen in Europa bleibt —; sondern die ganze Art, wie die Franzosen uns wahrend all dieser Jahre gedemütigt haben. Wir hatten wirklich keine nationale Ehre mehr. Die Frage ist, ob wir jetzt wieder eine bekommen werden. Ich weiB wohl, daB Du es nicht glaubst — und Dir ist nicht unbekannt, daB auch ich schwere Zweifel habe. Ich war nie ein Nazi — Dir muB ich das nicht erst lang und breit versichern —, und ich werde nie einer werden. Ich trete nicht in die Partei ein, habe nur keine Angst — ich denke gar nicht daran. Ich mache hübsch brav meine Examina zu Ende, und dann tue ich was Vernünftiges. Ich bin kein Nazi, und ich gebe auch zu, daB hier viel HaBliches geschehen ist, wahrend der letzten Monate — alle besseren Menschen sind sich darüber einig, und wir alle glauben, daB dies am Anfang einer groBen Umwalzung vielleicht unvermeidlich war, aber bald ganz anders werden muB. Keinesfalls hat es Sinn zu leugnen, daB eine groBe Umwalzung im Gange ist; daB ein nationales Erwachen sich in Deutschland vollzieht. Überall ist echte Begeisterung zu spüren. Aus der könnte allmahlich etwas Schönes, Fruchtbares, Positives wachsen, etwas, was dann auch Europa zugute kame, und dem Frieden. Du findest sicher, ich bin zu optimistisch. Vielleicht bin ich es. Vielleicht kommt alles ganz anders, nicht so gut. Aber sogar wenn schwere Jahre für Deutschland kommen, will ich hier bleiben. Wenn der Führer seine begeisterten, idealistischen Anhanger enttauschen sollte —- vor allem: wenn er die Jugend enttauscht —■, dann wird in Deutschland eine Opposition entstehen, und dann ist eben von dieser Opposition alles zu hoffen . . . Ich würde, wenn es sein muB, bei den Oppositionellen sein, wie ich heute bei den Loyalen bin. Das kommt mir tapferer und vernünftiger vor, als ins Ausland zu gehen. Verzeih das harte Wort, Karl: aber es hat doch etwas von Fahnenflucht. Mein Vater, mit dem ich gestern lang über diese Dinge sprach, gibt mir recht. Du kennst ja den alten Herrn — er ist der preuBische Offizier, wie er im Bilderbuch steht. Zu diesem „böhmischen Gefreiten" — so soll Hindenburg den Hitier genannt haben — hat er im Grunde nicht viel Vertrauen. Aber er sagt: Man muB es zugeben — es weht ein neuer Geist in Deutschland. Niemand weiB noch, was draus werden soll; aber es könnte etwas GroBes draus werden. Die jungen Menschen haben plötzlich ganz andere, neue, strahlende Gesichter — findet mein alter Herr. „Du muBt hier bleiben, Junge!" sagte er. — Du weiBt ja, ich überschatze seine Intelligenz keineswegs; aber es hat mir doch Eindruck gemacht. — Ich erzahle Dir das alles, damit Du siehst: ich habe es reiflich erwogen. Diesen Brief gebe ich dem Kurt B. mit, der morgen auch nach Paris fahrt. Man kann sich schon nicht mehr trauen, einen solchen Brief mit der Post zu schicken . . . Der Kurt B. sagt, hier wird es bald nicht mehr auszuhalten sein, und nachstens werden auch noch die Grenzen gesperrt, da ist es schon besser, man macht sich rechtzeitig auf und davon. Aber der Kurt ist ja Jude, da beurteilt er die Dinge natürlich von einem etwas anderen Standpunkt als wir; von seinem Standpunkt aus, finde ich, hat er recht. Vielleicht hast auch Du recht, Karl. Ich will nicht mit Dir streiten, und ich will Dir keine Vorwürfe machen. Ich will Dir nur erklaren, wie ich denke und fühle. Ich denke und fühle: Unser Platz ist hier. Hier müssen wir uns bewahren, hier müssen wir kampfen, hier braucht man uns. DrauBen braucht man uns nicht. Ich bin gegen die Emigration. Viele, die heute rausgehen, werden es bald bereuen. Sie werden ein bitteres Leben haben und auBerdem auch noch schlechtes Gewissen. Wie die Zigeuner werden sie von einem Land ins andere ziehen; man wird sie nirgends behalten wollen; sie werden entwurzelt sein, sie werden den Boden unter den FüBen verlieren, viele werden elend zu Grunde gehen. Ich sehe das alles kommen. — Ich hoffe von Herzen, daB es Dir gelingen wird, Dir drauBen eine neue Existenz aufzubauen. Es wird schon gehen, Du bist ja ein tüchtiger Mensch. Mich würde es schrecklich freuen, wenn ich nachstens erfahre, daB Du eine gute Stellung gefunden hast, in Paris oder sonst irgendwo. Noch froher würde es mich allerdings machen, wenn Du mir morgen telegraphierst: Ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich komme zurück. Aber das passiert wohl nicht. Du bist ja so verdammt eigensinnig, altes Haus! Alles Gute! Dein Kamerad Dieter. . . . Dieter war ziemlich erschöpft, nachdem er dies alles geschrieben hatte. Einen so langen Brief — schien ihm — hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht abgefaBt. Er lehnte sich in den Sessel zurück. Er war ein hübscher, hoch aufgeschossener Junge, mit blondem Haar, einem langen Schadel, blanker Stirn, blauen Augen und einem weichen, kindlichen Mund. Es gab in seinem Gesicht keine Falten. DrauBen zog ein Trupp von S.A.-Leuten vorbei. Sie sangen. Dieter trat ans Fenster, um ihnen zuzuhören. Das Lied gefiel ihm nicht. Auch ihre Stimmen klangen nicht angenehm. Er machte das Fenster zu. ERSTER TEIL I933/1934 Doch uns ist gegeben Auf keiner Statte zu ruhen. Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern. Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahrlang ins Ungewisse hinab. Hölderlin. Hyperions Schicksalslied. wurden oder fliehen muBten, als, nach der Reichstagsbrand- Katastrophe, das terroristische Regime begann. Was Marion betraf, so war für sie die Emigration eine Selbstverstandlichkeit. Es hatte der Überlegung gar nicht bedurft, daB nun in Deutschland ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben gefahrdet waren: der Ekel, der HaB, der Abscheu trieben sie fort. „Leider sehe ich ja zu auffallend aus, und zu viele Leute kennen meine ulkige Visage, als daB ich mich unter die Illegalen hatte mischen können , bedauerte sie. „Übrigens hatte ich in Berlin beim Anblick einer S.S.-Standarte — oder wie sie die Banden nennen — auf offener StraBe einfach vor Wut gebrüllt. Das ware mir ja dann wohl kaum sehr gut bekommen." Martin Korella war auch einmal Schauspieler gewesen; hatte aber mit maBvollem Bedauern feststellen müssen, daB sein darstellerisches Talent nicht hinreichend war. Er entschied sich für die literarische Laufbahn. Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt, und hatte noch nichts veröffentlicht, auBer ein paar Gedichten und kurzen Stücken lyrischer oder essayistischer Prosa, in Zeitschriften und Anthologien. Diesen Arbeiten aber eignete eine solche Schönheit der Form, eine so innig-seltsame Dichtigkeit und Lauterkeit des Gefühls, daB sie ihrem jungen Autor fast so etwas wie Ruhm einbrachten einen Ruhm freilich, der nur von ein paar hundert Menschen getragen und gewuBt wurde. Es gab Leser in Berlin oder in Heidelberg, in München, Wien, oder sogar in Paris, die sich in der Überzeugung einig waren, daB Martin Korella ein begnadeter Dichter sei. Martin war hochmütig genug, um ordinaren Ehrgeiz gründlich zu verachten. Übrigens war er auch trage. Er schlief bis zum Mittag und verbrachte dann Stunden auf ziellosen Spaziergangen durch die Stadt. Er las wenig, und immer wieder nur die gleichen Autoren. Es gab Wochen, Monate, wahrend derer er keine Zeile schrieb. Dafür durfte er sich rühmen: „Etwas MittelmaBiges ist von mir niemals gedruckt worden." Seine Eltern machten ihm, so luxuriöser Faulheit wegen, beinahe taglich die bittersten Vorwürfe; waren aber doch heimlich stolz auf ihr originelles Kind und zahlten, unter viel Klagen und Schimpfen, die Monatsrente von 200 Mark. Das war keineswegs üppig; aber es ermöglichte Martin, in einer eigenen Stube zu leben, getrennt von Herrn und Frau Korella, die ihm auf die Nerven gingen. Als Marion ihm mitgeteilt hatte, daB sie Deutschland verlassen werde, war seine Antwort gewesen: „Natürlich komme ich mit." Sie war erstaunt, übrigensfroh im Grunde, über die nachlassige Selbstverstandlichkeit, mit der er seinen EntschluB auBerte — wenn vielleicht auch nicht erst im Augenblick faBte. Sie hielt es für ihre Pflicht, ihn zu erinnern: „Eigentlich sollte nur weggehen, wer muB. Ein paar anstandige Leute müssen auch hier bleiben. Du hast dich politisch nie exponiert. Glaube nur nicht, daB wir es drauBen so besonders einfach haben werden." Woraufhin er nur die Achseln zuckte. ,,Wenn die Deutschen verrückt werden — ich habe keine Lust, da mitzumachen. Warum sollte ich abwarten, bis es zum SchluBeffekt dieser ganzen macabren Veranstaltung kommt ? Bis die berühmte .Apokalypse' endlich da ist, auf die alle braven SpieBer sich so herzlich zu freuen scheinen ? . . . Übrigens wird diese Apokalypse' in der Realitat genau so mittelmaBig und langweilig ausfallen, wie alles, was man uns bisher geboten hat. . . Das Ganze is eine Farce; leider keine harmlose. Aus einem Menschen mit so einer Fresse macht man keinen Halbgott." Er deutete auf das Hitlerbild in einer Zeitung. „Das ist abgeschmackt. Es kann nicht gut enden." — Das war jetzt ungefahr drei Wochen her. David Deutsch gehorte zu den Bewunderern Martins. Übrigens war es in Berlin zwischen den Beiden über eine flüchtige Bekanntschaft, die N1 utter Schwalbe vermittelt hatte, nicht hinausgekommen. Der junge Philosoph und Soziologe, die Stille kleiner Universitatsstadte gewohnt, fühlte sich unsicher, gehemmt, oft sehr unglücklich im Berliner Betrieb. Es gab dort nur wenig Menschen, die ihn kannten und seine intellektuellen Gaben zu schatzen wuBten. Seine Doktorarbeit hatte in Fachkreisen ein gewisses Aufsehen gemacht; aber die Berliner Literaten wufiten weder von ihr, noch von den Studiën über die Vorsokratiker, über Kierkegaard, Nietzsche und Marx, die David in einer Heidelberger philosophischen Revue publiziert hatte. — In Wahrheit verhielt es sich so, daC Martin den jungen Gelehrten damals ein wenig von oben herab zu behandeln pflegte. Im Exil aber begegnete man sich zunachst ohne jene Voreingenommenheiten, durch die in Berlin die verschiedenen Zirkel und Cliquen voneinander separiert worden waren. Eine neue Herzlichkeit steilte sich her, so etwa wie nach Naturkatastrophen; die Bewohner eines brennenden Hauses, die sich auf der StraBe vor den Trümmern ihrer Habe zusammenfinden, oder die Passagiere eines sinkenden Schiffes im Rettungsboot, vergessen Unterschiede, die noch vor Stunden bedeutsam waren. Bei der zweiten Flasche Rotwein wurde die Stimmung der Vier am Tisch lebhafter, beinahe munter. Die Schwalbe entwickelte ihren Plan, in der Montparnasse-Gegend ein kleines Restaurant aufzumachen —: „ganz nach dem Muster meiner Berliner Kaschemme. Dort sollt ihr anstandig zu essen kriegen — nicht so ein kümmerliches ,Schnitzèle Viennois', wie man mir gerade eines vorgesetzt hat. Ich habe schon einen bestimmten Platz im Auge", berichtete sie, und ihre blauen Kapitansaugen leuchteten. „Aber ich sags noch nicht, welchen. Ich bin aberglaubisch. Ehe der Mietsvertrag unterzeichnet ist, erfahrt kein Mensch, wo die Schwalbe sich diesmal niederlaBt!" Sie redete geheimnistuerisch und verheiBungsvoll, wie zu Kindern, denen man die Herzen mit Sehnsuchts-Neugier nach den Wonnen eines Weihnachtsabend füllen will. In der Tat erreichte sie durchaus den gewünschten Effekt: die drei jungen Menschen wurden animiert und wollten mehr wissen. Wann Mutter Schwalbe ihren Laden zu eröffnen gedenke? Ob es auch Musik geben solle, und vielleicht gar etwas Platz, um nach dem Essen zu tanzen ? — „UndeineBar!", rief Marion, plötzlich guter Laune. „Ich finde, eine Bar solltest du einrichten. Wir wollen es doch schlieBlich auch etwas pariserisch haben!" Sie sah vergnügungssüchtig aus und hatte schone, wilde Gebarden. Ihre groBen, jünglingshaft harten und sehnigen Hande formten etwas in der Luft, was die Konturen einer Flasche bedeuten konnte. Dabei stieB sie ein gefülltes Weinglas um. Marion hatte die Eigenheit, immer irgend etwas umzuwerfen und kleine Katastrophen anzurichten, wenn sie in Aufregung geriet. Sie war ebenso ungeschickt wie enthusiastisch. Nach malheurhaften Zwischenfallen solcher Art pflegte sie sich selbst zu beschimpfen — „dummes Ding! MuBte das sein! Grundalberne Kuh!" —; dazu schüttelte sie zornig den Kopf; die lockere Fülle ihres rotbraunen Haars, das einen Purpur- Schimmer hatte, fiel ihr in die Stirn, bis zu den Augen. Sie beschlossen, den Kaffee in Montparnasse zu nehmen. Dort würde man bestimmt Bekannte treffen. „Ich glaube die gute Dora Proskauer ist heute aus Berlin angekommen", sagte die Schwalbe. „Sie wird uns etwas Neues erzahlen können.' Marion sagte: „Vorher muG ich noch bei den ,Deux Magots' vorbeischauen. Marcel hat versprochen, dort auf uns zu warten." Sie gingen zu viert nebeneinander, Arm in Arm, das kleine Stück des Boulevard St. Germain hinunter, das die Ecke der rue des Saints Pères vom Platz St. Germain de Prés trennt. Der Abend war milde, im glasig durchsichtigen Himmel gab es noch ein wenig Licht. Aus dem Halbdunkel, in dem die Töne eines verblichenen Rosa sich mit den unendlich vielen Nuancen des Grau vermischten, traten die Umrisse der alten, schmalen, vornehmen Hauser zart und deutlich hervor. „Wie schön Paris ist!", sagte Martin, andachtig leise. „Man hatte sich viel früher dazu entschlieGen sollen, hier zu leben ... Es ist, wie wenn man einen Menschen, zu dem man ganz paGt und mit dem vielleicht sehr glücklich hatte sein können, etwas zu spat, unter melancholischen Umstanden kennen lernt..." Sie standen zu dritt an der Ecke des Boulevards und des Platzes. Marion war ins Café gegangen, um Marcel zu holen. Vor einem Zeitungskiosk, der englische, amerikanische, italienische, deutsche, hollandische, spanische und danische Blatter anbot, drangten sich Menschen: Pariser Studenten, den bunten Wollschal apachenhaft um den Hals geschlungen, auf dem Kopf die kleine runde Baskenmütze; junge Engl ander und Amerikaner, barhauptig, die Zigarette im Mund, die Hande in den Taschen der weiten Flanellhosen vergraben; bunt hergerichtete Frauen, einige schon im Frühlingskostüm, andere noch im Pelz. David Deutsch sagte: „Ich habe wirklich ein wenig Herzklopfen, weil ich Marcel Poiret kennen lemen soll." Daraufhin Martin, verwundert: „Haben Sie ihn denn in Berlin nie getroffen?" DieFragewarihm gleich etwas peinlich; er vergafi immer wieder, daB David in Berlin ja nicht ganz zum gleichen ,Sett' gehort hatte wie er selber und Marion. — David versetzte, nicht ohne Hochmut: „Ich habe in Berlin nur sehr wenig Menschen gekannt. — Aber ich habe alle Bücher von Poiret gelesen", fügte er hinzu. Diese Bemerkung lieB die alte Schwalbe ein wenig gehassig werden. „Natürlich! Freilich!" rief sie aufgebracht. „Von wem hatte er denn nicht alle Bücher gelesen ?!" — Wirklich war die literarische Bildung des jungen Deutsch lückenlos in einem erstaunlichen Grade. Von den vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachte er acht oder zehn mit Lektüre. Sein Gedachtnis war von einer fast krankhaften Starke; er litt unter seiner Zuverlassigkeit wie unter einem Fluch. — „Besonders mag ich die ersten kleinen Bücher von Poiret", sagte er jetzt und lachelte seiner mütterlichen Freundin zu, gleichsam um Verzeihung bittend. „Das sind traurige, reine Dichtungen. Als er seine groBe Ratlosigkeit noch zugab, fand er die rührendsten Töne. Die Begegnung mit der Politik kann für junge Dichter gefahrlich werden ..." — Martin sagte — schnell und leise; ganz ohne die schleppend-kokette Manier, in der er sich sonst gefiel —: „Aber ist es denn besser, wenn man der Politik ausweicht ? . . . Wie man es auch immer anfaBt, und wie man sich auch entscheidet: die Zeit ist gefahrlich für junge Dichter . . ." Marcel Poiret pflegte seit mehreren Jahren einen Teil des Winters in Berlin zu verbringen. Einer seiner Romane war in deutscher Übersetzung erschienen und hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. Boshafte Kritiker, die dem jungen Poiret übelwollten, behaupteten, daB man ihn ,auf der anderen Seite des Rheins' irrtümlich für einen französischen Dichter halte, wahrend man in Paris sehr wohl wisse, daB er nur einer von jenen zahllosen jungen Herren sei, die a tout prix auffallen wollen, sei es durch die grelle Farbe ihrer Hemden und Socken, sei es durch den anstöBigen Exhibitionismus ihrer literarischen Beichten. Poiret gehorte zu einer Gruppe von jungen französischen Künstlern — sie setzte sich nicht nur aus Autoren, sondern auch aus Malern und Komponisten zusammen —, die auf eine höchst gewagte und etwas verwirrende Art in ïhrem Stil und in ihrer Gesmnung einen konsequenten, aggressiven Marxismus mit einem extremen Romantizismus zu vereinigen suchten. In den artistischen Manifestationen dieser Gruppe, der es wirklich gelang, das Juste Milieu sensationell vor den Kopf zu stoflen, begegneten sich die politischen Symbole von Hammer und Sichel mit allerlei geisterhaft Holdem und spuckhaft GraBlichem: widrig eiternden Wunden, zauberischen Blumen, flatternden Damen im Kostüm der Neunziger Jahre, obszönen TraumGebilden, verrenkten Gliedern, sonderbarsten Fratzen. Es war ein Kult des HaBlichen, Schokierenden und Grauenhaften, den die Gruppe trieb — eine Art von pervertiertem Asthetizismus, dem es jedoch an moralischem Pathos nicht fehlte. Sie steilten die Welt auf den Kopf, verzerrten ihreFormen, trieben Schabernack mit ihren Gesetzen: weilsie den Zustand der Welt miBbilligten; weil sie sich für die totale Veranderung des Weltzustandes revolutionar einsetzen wollten. Hinter all dem Hexensabbath aus Traum und Polemik, aus Bitterkeit, rüdem Ulk, Trauer und Obszönitat, verbarg — oder offenbarte sich die revolutionare Hoffnung; ein fast naiver und vielleicht mehr gewollter als eigentlich geglaubter materialistischer Optimismus; die mit religiöser Inbrunst krampfhaft festgehaltene Zuversicht, daB der Spuk vergehen, Qual, Angst und Fluch sich gnadig lö- sen werden, wenn das Wunder der wirtschaftlichen Um-Organisierung erst vollbracht, die Tat der sozialistischen Veranderung Ereignis geworden sein wird ... In dieser Gruppe, die mit dem ganzen Rest des literarischen Frankreich in Fehde lag — in einer Fehde übrigens, die sich oft in nachtlichen Raufereien, im Beschmieren von Hauswanden oder in Skandalszenen bei Theaterpremièren manifestierte —, zu dieser zugleich verzweifelten und munteren, stolz abseitigen und larmend vordringlichen Gruppe bekannte sich Marcel Poiret. Er hatte seine literarische Laufbahn in einer Atmosphare begonnen, die grundverschieden von derjenigen war — oder doch zu sein schien —, die jetzt ihn und ein Dutzend von Kameraden wie zu einem verschwörerischen Zirkel verband. Die erbitterte Opposition gegen das reaktionar-bigotte Milieu einer französischen Bourgeoisfamilie, aus der er stammte, hatte sich zunachst nur als bissig-melancholische Aufsassigkeit und als eine etwas puerile Neigung zu bohèmehaften Exzentrizitaten geauBert. „Mein Vater," pflegte Marcel zu konstatieren, „war ein degeneriertes Schwein. Nach auBen der gute Patriot, le bon citoyen, ehrbar, allgemein respektiert; in Wahrheit: versoffen, faul, lasterhaft. Er haBte meine Mutter. Das dürfte der einzige menschliche Zug an ihm gewesen sein, und übrigens das einzige Gefühl, das ich mit ihm gemeinsam hatte. Leider fehlen mir die Beweise dafür, daB der Herzschlag den alten Schurken im Bordell der reichen SpieBer, rue Chabanais, getroffen hat. Madame Poiret behauptet, er sei nach einem Diner mit Geschaftsfreunden bei Larue vom Tode ereilt worden, was übrigens eine mindestens ebenso unappetitliche Vorstellung ist. Madame Poiret ist eine Hyane. Sie hat alle schlechten, niedertrachtigen Eigenschaften. Sie ist frömmlerisch; pathologisch geizig; grausam bis zum Sadistischen; intellektuell minder- begabt bis zum Idiotischen; boshaft, hysterisch, ohne einen Funken Humor, ohne eine Spur von echter Sympathie für irgendein lebendes Wesen. Madame Poiret," sagte Marcel abschlieBend, „ist ein Scheusal. Der HaB gegen seine Mutter, die für ihn die Bourgeoisie und besonders die französische Bourgeoisie reprasentierte, bestimmte seine Entwicklung. Er perhorreszierte das Christentum, weil Madame Poiret zur Messe ging. Er trieb sich mit Amerikanern, Chinesen und vorzugsweise mit Deutschen in den Nachtlokalen von Montmartre und Montparnasse herum, weil Madame Poiret alle Auslander für Barbaren hielt, von den Deutschen niemals anders als „les sales boches" sprach, und der Ansicht war, daB die Nachtlokale eine infame Erfindung des Teufels, des deutschen Kaisers und der Bolschewisten seien, um die französische Nation zu korrumpieren. Er ging niemals vor vier Uhr morgens schlafen und betrank sich jede Nacht mit Whisky und Gin, weil seine Mutter sich um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog, um halb zehn Uhr das Licht löschte, und die Namen der starken angels achsischen Alkoholika nur mit ekelverzerrtem Gesicht, übrigens höchst fehlerhaft, aussprechen konnte. Aus tiefer Aversion gegen das ein wenig altmodisch-tadellose Französisch, in dem Madame Poiret sich ausdrückte, hatte der Sohn am liebsten nur noch englisch, deutsch oder russisch geredet. Zu seinem Leidwesen war er total unbegabt für fremde Sprachen. Er tat sein Bestes, die Mutter und ihre Freundinnen zu schokieren, indem er seine Konversation mit Unflatigkeiten würzte, und, soweit dies irgend anging, den Jargon der Pariser Unterwelt kopierte. Er kleidete sich halb rowdyhaft, halb im Stil der Oxford-Studenten: in grellfarbige, übrigens kostbare Stoffe. Der Zwanzigjahre wurde zum deklarierten Liebling einer fragwürdig-bunt zusammen- 3 gesetzten Gesellschaft, die in Paris des ersten Nachkriegs-Jahrzehntes ihr seltsamesWesentrieb; zumumworbenen Enfant Terrible jener zugleich exklusiven und phantastisch gemischten Zirkel, in denen whisky süchtige Halb-Genies aus New-York sich mit brasilianischen Abenteurern, hemmungslos gewordenen Aristokratinnen sich mit den Stars der russischen oder schwedischen Balletts, mit opiumrauchenden Lyrikern, Neger-Boxern und reichen Berliner Snobs trafen. Marcel Poiret amüsierte sich ein wenig in dieser „monde"; verachtete sie; wurde von ihr verhatschelt; schilderte und verhöhnte sie schliefilich in seinem ersten Roman. Vielleicht war es vor allem seine schlechte Gesundheit, die ihn davor bewahrte, sein Talent und seine rebellischen Instinkteauf die Dauer an eine Existenz zu verschwenden, die ihm nur reizvoll schien, weil sie seiner Mutter ein Greul war, und deren wesentliche Inhalte die Cocktails und die mannigfachen Formen des Beischlafes waren. Mit seiner Lunge war nicht alles in Ordnung. Er fieberte; die Nachte in den raucherfüllten Atelierwohnungen und in den Bars bekamen ihm nicht. Aus bitterem Trotz, aus Traurigkeit, Ratlosigkeit und verspieltem Zynismus wütete er gegen den eigenen Körper. Er war drauf und dran, sich zugrunde zu richten. Immerhin hatte er vitalen Selbsterhaltungstrieb genug, um SchluB mit der abwechslungsreich-macabren Daseinsform zu machen, als er in den Cafés von Montparnasse und den Studios seiner New-Yorker Freundinnen mehrfach Blut zu spucken begann. Die Arzte rieten ihm zu Davos. Er muBte nun jedes Jahr ein paar Monate dort sein. Dort lernte er die Einsamkeit kennen. Sie machte ihn vertraut mit anderen Freuden, anderen Wonnen, Beangstigungen, Erkenntnissen, Zweifeln, Qualen und Ekstasen als die Cocktailsparties und komplizierten Orgiën. — lm Jahre 1929 kam Marcel Poiret zum erstenmal nach Berlin, um für eine literarische Gruppe Vortrage über den Marquis de Sade, Baudelaire und Rimbaud zu halten. Er hatte Marion gleich am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft gesagt: „Wenn du mich nicht mit Brutalitat und Geschicklichkeit abschüttelst, bleibe ich bei dir. Ich brauche einen Menschen wie dich. Aber ich kann dir gar nichts bieten. In meinem Kopf sieht es furchtbar wüst aus. Oft habe ich so groBe Angst davor, daB ich verrückt werden muB. Vielleicht bin ich es schon. Ich habe zu hassen gelernt, ehe ich zu lieben gelernt habe ..." Marion und Marcel kamen durch die Drehtüre des Cafés. Zwischen sich hatten sie einen jungen Menschen, der kleiner und schmaler war als Marcel und ihm übrigens auffallend ahnlich sah. Marcel sagte: „Et voila Kikjou — mon petit frère." David Deutsch war einen Augenblick lang recht erschrocken über die Tatsache, dafl Marcel einen Bruder prasentierte — ,und aus seinen Büchern scheint doch hervorzugehen, daB er keine Geschwister hat', dachte er. — „II est beaucoup plus gentil que moi", sagte Marcel, einen Arm um die Schulter des Jungen gelegt, den er Kikjou nannte. Dann umarmte er die Schwalbe, wobei er sie ausführlich auf beide Wangen küBte. Marion und Martin lachten. „Idiot!" sagte Marion und Martin, erklarend zu David Deutsch: „Er hat natürlich nie einen Bruder gehabt. — Aber sie sehen sich wirklich ahnlich", fügte er hinzu und schaute, mehrere Sekunden lang, schlafrig-neugierig, aufmerksam und zartlich den Fremden an. Kikjou, der kleine Bruder Marcels: warum nicht ? Sie hatten gemeinsam: vor allem den hohen, dunklen, kühn und reizvoll gespannten Bogen der Brauen über den weit geöffneten, hellen Augen; die etwas zu dicken, ein wenig aufgeworfenen, stark roten Lippen, die in der Blasse ihrer Gesichter wie geschminkt wirkten; die breite, niedrige Stirn, in die das Haar üppig wucherte. Kikjous Haar hatte einen mattgoldenen, fast honigfarbenen Ton; Marcels dickes Gelock war von fahl nachgedunkeltem Blond. Marcels Augenbrauen waren stark und etwas buschig, wahrend diejenigen Kikjous wie mit einem Kohlestift gezeichnet schienen. Sie hatten beide die rundgeschnittenen, weitgeöffneten Augen von unbestimmbarer Farbe, aber in Marcels Augen gab es das starkere Leuchten. Es waren erstaunliche Augen, kindliche Augen, etwas wahnsinnige Augen, verführerische, rührende, unschuldige und, auf eine geheimnisvolle Art, furchtbare Augen, von einer hoffnungslos traurigen und sinnlichen Glut. Die Augen des Jüngeren wirkten sanfter, blasser und weicher. Alles wirkte sanfter, blasser und weicher an Kikjou, le petit frère de Marcel. In seinem Gesicht gab es nur helle Farben. Es war schmaler und empfindlicher geformt und viel glatter als Marcels Gesicht, welches grobknochig schien, mit breiten Wangen und Falten in der Stirn — viel zu tiefen für den Siebenundzwanzigjahrigen. Die Mischung aus Kindlichkeit und Ramponiertheit charakterisierte das Aussehen Marcels; eine wüste Kindlichkeit war ihm eigen. Er wirkte sechzehnjahrig und unendlich alt; unberührt und vielfach gezeichnet von den abenteuerlichsten, tiefsten und wirrsten Erfahrungen. Kikjous Stirne war wie aus Perlmutter geformt, sie hatte ein mattes Leuchten. Kikjou war auffallend hübsch, — zu hübsch, anstöBig hübsch für einen jungen Mann —; Marcel beinahe haBlich, aber reizbegnadet in einem bestürzenden, fulminanten, wahrhaft sensationellen Grade. Die Kellnerin, die ihm den Tee servierte, konnte sich diesem Charme, der durch seine Heftigkeit beinahe weh tat, ebenso wenig entziehen wie der Arzt, der seine Lunge untersuchte, oder der alte Literaturkritiker, der dem exzentrischen Dichter mit der felsenfesten Absicht entgegentrat, ihn unausstehlich zu finden. Nun steilte sich heraus, dal3 er unwiderstehlich war . . . Marion, Martin, David Deutsch und die Schwalbe empfanden alle drei genau dasselbe, als sie Marcel Poiret wiedersahen: ,Mein Gott — ich hatte doch bis zum gewissen Grade vergessen, wie schön er ist. Er ist schön.' — Poiret hatte die Schwalbemutter, in deren Berliner Lokal er oft gewesen war, seit ihrer Ankunft in Paris noch nicht gesehen. Er versuchte deutsch mit ihr zu reden; es kam ein konfuses Kauderwelsch dabei zu Stande, durchsetzt mit englischen Broeken —: Marcel neigte dazu, die beiden Sprachen miteinander zu vermischen. „Poor Berlin!" rief er aus — sie waren vom Boulevard St. Germain in die lange traurige rue de Rennes eingebogen und gingen nun Richtung Gare de Montparnasse, in zwei Dreierreihen: voran Marcel, David und die Schwalbe; hinter ihnen Marion und Martin mit dem „petit frère". „Poor Berlin!" sagte Marcel. „So schone Stadt, ganz verdorben! Ganz verdorben — very sorry for you, meine süBe Schwalbe, very sorry!" Die Grauhaarige, rüstigneben dem jungen Dichter einherstapfend, nickte und brummte: „GroBe Schweinerei! Na, wird ja nicht lange dauern..— Mit so viel biederem Optimismus war Marcel nicht einverstanden. Mühsam jedes Wort suchend, — um es dann abenteuerlich falsch zu betonen —, riskierte er es, zu widersprechen. „Ah, ma pauvre Hirondelle — keine Illusionen! SchluB mit Illusionen, ma pauvre! Hitier ist, was bourgeoisie will. Wird sich lange halten, weil genau ist, was bourgeoisie gerne mag. Bourgeoisie will haBliche kleine Mann: biBchen Bauch schon —er deutete pantomimisch die leichte Leibeswölbung des deutschen Kanzlers ¥ an —, „und kleine moustache — garstig moustache, kommt wie schwarze Schmutz aus Nase gelaufen — oh, so verry ugly! Le bel Adolphe—: haBlichste Mann von die Welt. HaBlische Nase, und abscheulich Haar — so gemein in die Stirn coiffiert! Very sorry for you, Hirondelle, ma pauvre —: Deine Führer, haBlischte Mann von die Welt!" Er klopfte ihr mitleidig die Schulter, wahrend David Deutsch, nervös amüsiert, von krampfhaftem Gelachter geschüttelt wurde und sich das verzerrte Gesicht mit den Handen bedecken muBte. Die Schwalbe wiederholte, gutmütig den französischen Akzent karikierend: „Mein Führer, haBlichste Mann von die Welt!" — Marcel sah, wenn er lachte, wie ein vergnügter Handwerksbursche aus. Alles was an ihm proletarisch-bauerlich war, — und seine Physiognomie hatte volktümlich-derbe Züge neben den dekadenten — kam im herzhaften Gelachter zumAusdruckund schien, solange die Freude anhielt, dominierend zu werden. Das Lachen verjüngte ihn und machte ihn gesund. Marion, die den kleinen Kikjou schon ein paar Tage vorher mit Marcel getroffen hatte, versuchte Martin klar zu machen, was für eine Art von Geschöpf man da vor sich hatte; es störte sie kaum, daB der Geschilderte dabei war und sogar etwas deutsch verstand. „Er gehort zu diesen Jungens, wie man sie in Paris manchmal trifft, die alle Sprachen können und gar keine", sagte sie. „Ich glaube, ursprünglich kommt er aus Brasilien; aber das ist alles etwas zu kompliziert für mein Fassungsvermögen. Jedenfalls ist er mit seiner Familie böse, und seine Familie ist wohlhabend und lebt teilweise in Rio, teilweise in Lausanne, der Wichtigste ist aber ein alter Onkel, und wir können ihn nicht ausstehen, weil er kein Geld schickt, oder beinah kein Geld, jedenfalls nicht genug." — „Marion! Sie sind schrecklich!" unterbrach Kikjou sie lachend; aber er sah dabei nicht das Madchen an, sondern Martin, aus sehr sanft strahlenden Augen. — Marion, unbeirrbar, fuhrfort: „Marcel behauptet, da/3 Kikjou manchmal recht schone Gedichte macht. Aber der liebe Gott kommt zuviel in ihnen vor. Marcel ist doch so besonders gegen den lieben Gott." — „Marion, du bist wirklich schrecklich!" Jetzt sagte es Martin, und auch er sah an der Angeredeten vorbei; es gelang ihm aber nicht mehr, Kikjous Bliek einzufangen. Marcel wandte sich um und rief über die Schulter: „Der liebe Gott? Toujours le Bon-Dieu? Merde, alors! On se dispute toute la soirée sur le Bon-Dieu — il parait que le petit Kikjou aime beaucoup ce type-la. Voila notre petit Kikjou tout a fait furieux parceque je dis, tout simplement, que eet espèce de Bon-Dieu est un salaud, une cochonnerie, une vacherie, une connerie — une ... je ne sais pas quoi ..." — „Marcel!" bat Kikjou, mit einer ganz leisen, aber merkwürdig innigen, fast metallisch tönenden Stimme. „Marcel! Je t'en pris!" Dabei hob er mit einer priesterlich runden, sanft warnenden, beschwörenden Geste die flach geöffnete Hand. Aber der andere redete weiter, mit Akzent und Haltung eines streitsüchtigen Taxichauffeurs. „Eh quoi — alors! Sans blague! merde alors! Tu ne comprends pas que c'est encore une espèce de politesse — par pitié — qui me fait dire que ton Bon-Dieu soit un salaud, puis'que, en vérité, il n'existe pas, tout simplement. Et je crois qu'il vaudrait toujours mieux d'exister comme un salaud que de n'exister du tout. . . Et quoi alors?!" — Seine Stimme klang böse, die Augen hatten ein schlimmes Funkeln. Er wartete Kikjous Antwort nicht ab, sondern drehte ihm wieder den Rücken und ging schnell weiter, so schnell, daB David Deutsch und die Schwalbe nun wirklich Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Kikjou sagte, und beleidigt, „dann hat es wohl kaum noch Sinn, da!3 wir uns weiter unterhalten." Andere am Tisch hielten den Moment für gekommen, sich versöhnlich ins Gesprach zu mischen. Professor Samuel lieB die Orgel-Stimme hören: „Aber, meine Herren! Sie sind unverbesserlich!" Er hatte den Zeigefinger gehoben, als müBte er bösen Kindern drohen. „Na ja", brummte Hummler. „Ich kann es eben nicht ausstehen, wenn Deutsche ihr eigenes Nest beschmutzen." — Der Herr mit den Mongolen-Augen sagte, zugleich gelangweilt und scharf: „Sie irren sich. Ich bin gar kein Deutscher." Professor Samuel erklarte mit wohl wollender Ironie: „Mein Freund Nathan-Morelli ist nur durch einen dummen Zufall in Frankfurt am Main geboren. Seine Mutter war eine schone Italienerin, an seinen Vater kann sich niemand erinnern, und er selber lebt meistens in London. Manchmal ist er allerdings in Paris — wie Sie sehen —, und früher ist er sogar ab und zu in Berlin gewesen. Er hat ein sehr gutes Buch über England geschrieben, und ein anderes, nicht ganz so gutes über die französischen Impressionisten. Er ist ein besonders netter und gescheiter Kerl. Genügt das ?" Nathan-Morelli, die Zigarette im Mundwinkel, neigte gravitatisch das Haupt. „Stimmt Wort für Wort"; dabei schüttelte er seinem Freund Samuel über den Tisch hin die Hand. „Es ware wirklich auBerst abgeschmackt und töricht, wenn wir uns weiter zanken wollten", sagte Samuel noch. „Wir sitzen hier, wie die Schiffsbrüchigen auf einer wilden Insel, und es hat wirklich keinen Sinn mehr, sich gegenseitig in den Haaren zu liegen. Die Emigration ist eine ernste Sache. — Seht euch den da an!" Er zog seinen Stuhl naher an den Tisch und dampfte vertraulich die sonore Stimme. Dabei deutete er mit dem Daumen hinter sich, über die Schulter. Dort saB ein weiBhaariger Herr mit feinem, müden Gesicht und spielte, das Kinri sinnend in die Hand gestützt, eine Partie Schach mit sich selber. Der Herr hatte schone, lange, aristokratische Hande; aber über den Gelenken waren die etwas zu kurzen Armel seines schabigen Jacketts ausgefranst. — „Das war einmal einer der reichsten MannervonUngarn", berichtete Samuel leise. „Ihm hat so viel Land gehort, wie einem einzelnen Menschen überhaupt nicht gehören dürfte. Ubrigens schien er selber zu finden, daB er gar zu viel Grund und Boden besitze. Denn als die Revolution kam, wurde er der Chef einer demokratischen Regierung und verteilte seine enormen Güter an die Bauern. Vielleicht hatten ihm seine Standesgenossen zur Not verziehen, daB er republikanischer Ministerpresident gewesen war; aber daB er seine Landereien weggeschenkt hatte, war eine Todsünde . . . Der demokratische Graf muBte fliehen, als die Bolschewisten in Budapest regierten — und er konnte nicht zurück, als die Fascisten kamen, die sich damals noch anders nannten. Die ,WeiBen' hatten ihn aufgehangt, wie die ,Roten'. Nun sitzt er seit beinah fünfzehn Jahren in Paris. Zu Anfang hat er noch politische Diskussionen geführt und Meetings besucht. Jetzt spielt er beinah nur noch Schach, meistens mit sich selber. — Er soll ein recht guter Schachspieler sein", schloB der Professor wehmütig seinen Bericht. „Emigrantenschicksal. . .", sprach Herr Bernheim mit der angenehm geölten Stimme; dann machte er eine kleine Geste mit beiden Handen, als wollte er etwas Unangenehmes wegschieben, und erkundigte sich leutselig, ob die Herrschaften noch etwas zu trinken wünschten. Der verbannte Graf am Neben- tisch, der Samuels Erzahlung vielleicht gehort hatte oder mindestens spürte, daB von ihm die Rede gewesen war, hob den Kopf und schickte aus seinen tiefliegenden blauen Augen einen erloschenen Bliek über die Runde hin. Da der freundliche Bernheim so freigebig die Getranke spendete, wurde die Unterhaltung an seinem Tisch immer lebhafter. Übrigens erweiterte sich der Kreis; lawinenartig wuchs die Gesellschaft, die sich auf des Bankiers Kosten an Whisky oder rotem Wein erlabte. Zwei jüngere Journalisten, die mit ihren groBen runden Brillenglasern und den hackenden Bewegungen ihrer schmalen Köpfe einem Paar von seltsamen, nicht ungefahrlichen Vögeln glichen, brachten eine ernste Dame mit, deren schneeweiB geschminktes, starres und schönes Gesicht von undefinierbarem Alter war. Die Dame hieB Fraulein Sirowitsch und erklarte düster: ,,Ich übersetze Schopenhauer ins Französische." Die beiden Journalisten mit den Vogel-Hauptern verkündeten, daB sie im Begriffe seien, eine deutsche Tageszeitung in Paris aufzumachen. „Sowas brauchen wir jetzt! riefen sie siegesgewiB, wie aus einem Munde, und alle am Tische gaben ihnen recht. ,,Ich werde das Feuilleton redigieren!" versprach der eine, und rieb sich die Hande, als freute er sich jetzt schon darauf. Der andere, der ihm wie ein Zwillingsbruder glich, fügte hinzu: ,,Ich leite die Politik! Alle nahmen diese Neuigkeiten mit lebhaftem Interesse auf. Nur Herr Bernheim wollte nicht recht hinhören; er war zwar von Herzen gerne dazu bereit, im groBem Stil Erfrischungen zu bezahlen; aber ihm graute doch ein wenig davor, gleich eine Tageszeitung zu finanzieren. Auch Bobby Sedelmayer wurde unruhig. Bernheim gehorte ihm; was an Geld aus ihm herauszuholen war, sollte in das Nachtlokal gesteckt werden. Nun auch noch eine Zeitung ! SchlieBlich konnte Bernheim nicht für Alles aufkommen! Fraulein Sirowitsch sagte zu Herrn Nathan-Morelli, der ihr, die Zigarette im Mundwinkel, mit etwas verachtlicher Galanterie lauschte: „Manche Dinge bei Schopenhauer sind unübersetzbar. Er benutzt Wendungen, die sich in keiner anderen Sprache wiedergeben lassen." Theo Hummler versicherte der Schwalbe: „Ich hatte prachtvolles Menschenmaterial in meinen Volksbildungs-Kursen. Der Wissensdrang dieser jungen Leute, die tagsüber in den Fabriken arbeiten, hat geradezu etwas Rührendes. Was wir in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut haben, wird nun grausam zerstört..." — Plötzlich war auch noch ein junges Madchen in schwarzem Abendkleid da. ,,Ich heiBe Ilse 111", steilte sie sich selber vor. „Ich bin Kabarettistin", fügte sie hinzu und lachte triumphierend. Überraschender Weise schwenkte sie eine Reitpeitsche mit Silbergriff, als ware sie, hoch zu Rosse, über die Boulevards heran gesprengt gekommen, von ihrer schwarzen Robe umflattert wie die Göttin von einer Wolke. „Gestern habe ich noch in Berlin gesungen", rief sie aus, und blickte drohend um sich, gleichsam fragend: Wagt hier jemand, mir zu widersprechen ? — „Kolossalen Erfolg gehabt. — Na, damit ist vorlaufig SchluB!" erklarte siehöhnisch, wie von einer wilden und narrischen Wut gegen sich selber und gegen ihr eigenes Schicksal ergriffen. — „Das scheint ja eine gewaltig überspannte Person zu sein", flüsterte Herr Bernheim dem Professor Samuel zu. Er traf nicht die mindesten Anstalten, ein Getrank für Ilse 111 zu bestellen: entweder, weil er es unpassend fand, daB sie sich selber vorgestellt hatte; oder einfach, weil sie ihm nicht sympathisch war. — „Sie ist aber ganz begabt", raunte beschwichtigend Samuel. „Ich habe sie in Berlin einmal singen horen." Das stimmte zwar nicht; aber der Professor wollte Frieden und gute Stimmung am Tisch. Die Kabarettistin inzwischen schrie: „Kinder, ich habe Hunger!" Dabei bekam sie blutgierige Augen und legte sich die Hande dramatisch auf die Magengegend. Bernheim, ob er es gerne tat oder nicht, mufite auchfür sie ein Paar Würstchen kommen lassen. Marcel war in aller Stille an einen anderen Tisch gegangen, wo er in seiner eigenen Sprache plaudern konnte. Die etwas wirre Konversation der Deutschen war ihm mit der Zeit lastig und unverstandlich geworden. Mit einem sonderbaren Vogelruf, der halb klagend und halb lockend klang, rief er nun Marion herbei, um sie seinen Freunden vorzustellen. Kikjou, der lange Zeit schweigend neben der Schwalbe gesessen hatte, sagte plötzlich: „Wenn ich diesen ungarischen Grafen da am Nebentisch anschaue, dann werde ich so traurig — so fürchterlich traurig . . . Ich denke mir, es wird euch allen — uns allen so ahnlich gehen . . . Am SchluB sitzen wir irgendwo mit ausgefransten Armeln und spielen Schach mit uns selber ..." — „Was für ein Unsinn! rief die Schwalbe, und fügte lachend hinzu: „Wir sind doch keine alten Grafen und haben keine Güter weggeschenkt, denen wir nachtrauern könnten!" Martin schaute aufmerksam zu Kikjou hinüber, von dem er durch die ganze Breite des Tisches getrennt war. Kikjou erwiderte seinen Bliek, still und ohne zu lacheln. Martin hatte gerne mit ihm gesprochen; aber eben steilte sich ihm der junge Deutsche vor, den Samuel auf der Terrasse der „Coupole" kennen gelernt hatte. „Mein Name ist Helmut Kündinger", sagte der Junge, leise, als vertraute er dem anderen ein Geheimnis an. Dabei erhob er sich halb und schlug ein wenig die Hacken zusammen. „Sie sind auch Emigrant?" erkundigte er sich schüchtern. Fraulein Sirowitsch war immer noch bei ihrer Schopenhauer-Übersetzung. „Wennich diese Arbeit getan habe," sprach sie feierlich, „dann darf ich mir sagen: Martha, du hast nicht umsonst gelebt. — Ich heiBe namlich Martha", fügte sie hinzu und lachelte Herrn Nathan-Morelli mit einer gewissen starren Vertraulichkeit zu. Er nickte, als ware er auf eine Eröffnung dieser Art langst gefaBt gewesen. — „Wenn wir zehntausend Abonnenten haben, sind wir fein heraus!" erklarte einer von den Journalisten, und Ilse 111, die ihre Würstchen bekommen hatte, rief unheilverkündend: „Vielleicht gründe ich ein literarisches Cabaret! Sehr wohl möglich, daB ich sowas mache! — Oder", verbesserte sie sich — denn es war ihr ein neuer grafilicher Einfall gekommen —, „vielleicht trete ich auch bei Bobby Sedelmayer auf!" Sedelmayer machte entsetzte Augen, wahrend Samuel sich nicht enthalten konnte mit Orgelstimme: „Armer Bobby!" zu sagen. — „Wieso?" erkundigte sich Ilse 111, einen groBen Bissen im Mund — übrigens eher amüsiert als beleidigt. Bankier Bernheim erzahlte: „Ich habe mich wahrend der letzten Tage, die ich in Berlin war, fast nur noch im Hotel Excelsior aufgehalten, weil es in der Nahe des Anhalter Bahnhofs liegt. Das gab mir ein beruhigendes Gefühl..." Alle sprachen plötzlich im Durcheinander von ihren letzten Berliner Tagen und von den Umstanden, unter denen ihre Abreisen sich vollzogen hatten. Kikjou lauschte mit weit geöffneten Augen, zugleich traumerisch und achtsam. Er fühlte sich wie ein Junge, der in einen Kreis von alten Kriegsteilnehmern geraten ist. Nun berichten alle ihre Abenteuer, und der Knabe muB stumm dabei sitzen . . . Doktor Mathes sagte mit drohender Stimme: „Ich komme also ins Krankenhaus, wie jeden Morgen. Da sieht mich doch der Kollege Meier so merkwürdig an: — Mensch, Sie noch hier ? Lassen Sie sich nur nicht erwischen!. . . Na, da wuBte ich ja, was die Stunde geschlagen hatte ..." — Ilse 111 behauptete, sie habe mitten wahrend eines Chansons die Bühne verlassen, als sie im Hintergrund des Saales Kerle mit Hakenkreuzbinden bemerkte. „Die waren sicher gekommen, um mich zu verhaften! Von der Bühne weg, noch geschminkt, bin ich zum Bahnhof gehüpft!" Dabei schwang sie die Reitpeitsche. Die Proskauer murmelte etwas Unverstandliches. David Deutsch aber sagte: „Ich hatte gerade noch Zeit, die ausgeliehenen Bücher zur Staatsbibliothek zurückzubringen . . . ", worüber sowohl Bankier Bernheim als auch Theo Hummler herzlich lachen muBten. Wahrend die Stimmen immer lauter wurden, rückte der junge Helmut Kündinger naher an Martin heran. „Mein Freund und ich", sagte er leise, — und die Worte „Mein Freund" sprach er mit einer innig getragenen Betonung aus —, „haben in Göttingen so wundervolle Zeiten verlebt. In einem kleinen Zirkel, der sich nur aus wertvollen Menschen zusammen setzte, lasen wir gemeinsam Hölderlin und George, auch Rilke, aber den liebten wir weniger, er war uns zu weich, George hat die ganze herrliche Harte des Deutschtums, Hölderlin seine ganze unauslotbare Tiefe —: das pflegte mein Freund zu sagen. Ihm fielen immer so schone Dinge ein. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie er an Deutschland hing; wie. . . wie an einer Geliebten", sagte Helmut Kündinger und sah Martin hilflos an. „Er liebte den Begriff .Deutschland', deutsche Dichter und deutsche Landschaft viel mehr, als er irgend einen einzelnen Menschen geliebt hat." Dabei gab es eine kleine Flamme, wie von Eifersucht, in Helmut Kündingers Bliek. „Liebte er Deutschland so sehr?" fragte Martin, ein wenig zerstreut. Er beobachtete Kikjou, der mit der Schwalbe sprach. „Ja, er liebte es von ganzem Herzen," bestatigte Helmut Kündinger ernst. „Obwohl er Nicht-Ariër war. Darüber hatten wir uns niemals Gedanken gemacht. Plötzlich steilte sich dann heraus, daB sein Blut fast achtzigprozentig jüdisch war. Nun war seine Stellung unter den Kommilitonen natürlich erschüttert. Auch ich setzte mich Unannehmlichkeiten aus, weil ich weiter mit ihm verkehrte. Aber das schadete nichts. Schrecklich war nur, Zeuge seines inneren Zusammenbruchs zu sein. Mein Freund konnte seine neue Lage gar nicht fassen. Gerade er, der für die Harte und die Tiefe des deutschen Menschen so begeistert gewesen war, sollte sich nun als ein Auslander — schlimmer: als ein Schadling — empfinden. Er fühlte sich furchtbar gedemütigt. Als dann ein paar junge Leute, die früher zum engen Zirkel unseres Verkehrs gehort hatten, ihn auf offener StraBe beleidigten, geriet er ganz in Verzwei flung. Man muB sich das vorstellen: Man hatte Hölderlin und George miteinander gelesen, und nun schrieen sie ihm: Judensau! zu. Sie waren allerdings besoffen, als sie das taten; aber die Gemeinheit bleibt trotzdem unbegreifiich. — Ich weiB gar nicht, woher mein Freund den Revolver hatte. Und wieso konnte er eigentlich schiefien ?" Helmut Kündinger fragte es entsetzt und dringlich, als ob Martin im Stand ware, ihm Antwort zu geben. „Er hat sich mitten ins Herz getroffen. Für mich hinterlieB er nur einen Zettel: ,Ich will dir nicht langer zur Last fallen.' So bitter war er zum SchluB geworden." Helmut verstummte. Seine blauen Augen hatten sich mit Tranen gefüllt. Martin wollte gerne irgend etwas Tröstliches auBern; es fiel ihm aber nichts ein. Der junge Mensch preBte sich ein groBes, nicht ganz sauberes Taschentuch vor den Mund, wie um einen Schrei zu ersticken. In das Taschentuch hinein sprach er — man konnte seine Worte kaum noch verstehen —: „Seitdem das geschehen ist, kam mir in Göttingen alles so beschmutzt vor . . . Ich konnte es gar nicht mehr aushalten. Und als ich zu meinen Eltern nach Westfalen fuhr, war es dort auch nicht besser. Die Heimat war mir verleidet. Ich muBte weg — ich muBte einfach weg . . . Verstehen Sie mich doch bitte!" „Ich verstehe Sie", sagte Martin. Die Schwalbe begrüBte mit groBem Hallo, KuB und Umarmung ein blondes junges Madchen, das eiligen Schrittes vorüber kam. „Meisje!" jubelte die Alte. „Bist du auch hier! Nein, so was!" — Meisje war Stammgast bei der Schwalbe gewesen: „das prachtvollste Geschöpf, das ich je gekannt habe!" — wie die Wirtin dem ganzen Kreise enthusiastisch versicherte. Wirklich sah sie sehr prachtvoll aus, mit ahrenfarbenem Haar und hellen Augen, die sowohl sanft als entschlossen blickten. Bankier Bernheim schmunzelte; die Herren Mathes und Hummler schienen gleich Feuer und Flamme. Ilse 111, mit der Beide bis zu diesem Moment in bescheidenen Grenzen geflirtet hatten, saB plötzlich unbeachtet mit ihrer Reitpeitsche und ihrem zu bunten Gesicht. Sie lieB sich gehen, stützte die Stirn in die Hande und sah müde aus. Es hel auch auf, daB ihr Abendkleid recht aus der Mode und stellenweise zerschlissen war. Wahrscheinlich trug sie es nur, weil sie durchaus nichts anderes anzuziehen hatte. Durch die Reitpeitsche hoffte sie wohl, ihrem reduzierten Aufzug eine flotte, exzentrische Note zu geben. Der einsame Schachspieler am Nebentisch erhob sich und schob die Figuren weg, wobei er noch einmal den erloschenen Bliek über die Gesellschaft hinschickte. Professor Samuel, der mehrere Glaser Pernod Fils getrunken hatte, bemerkte schwermütig: „Ach, meine Freunde — was steht uns bevor ? Was beginnt nun ? Welche Überraschungen hat das Schicksal noch für uns bereitet?" Seine alten Augen, deren Lider sich leicht entzündet hatten, spahten angestrengt ins Weite und Ferne, als könnten sie dort erkennen, was den anderen noch verborgen blieb. „Nanu", sagte Doktor Mathes, „das klingt ja ganz melodramatisch!" — Und Bernheim, der die Rechnung studierte, bemerkte zerstreut: „Es wird schon irgendwie gehen . . niemand wuBte, ob er auf die bevorstehenden Schicksals-Fügungen anspielte, oder ob er nur sagen wollte, daB er genug Geld bei sich habe, um die Rechnung zu begleichen, die er übrigens erstaunlich hoch fand. Bobby Sedelmayer, mit einer Heiterkeit, die ein wenig künstlich klang, fügte hinzu: „Dann also Prost!" — wobei er sein Glas hob. Aber niemand tat ihm Bescheid. Die Meisten hatten wohl schon ausgetrunken. Wahrend der Kreis sich langsam auflöste, rief Fraulein Sirowitsch beinah flehend: „Ich wünsche mir, daB wir alle recht bald wieder hier zusammenkommen!" Sie lachelte Nathan-Morelli zu, der mit David Deutsch über englische Lyriker sprach und sie nicht beachtete. Die Schopenhauer-Übersetzerin sagte noch, mit einem unheimlich kalten Jubel in derStimme — vielleicht nur, um Nathan-Morellis Aufmerksamkeit doch noch auf sich zu ziehen —: „Ist Paris nicht schon ? Nur hier kann ich mich so recht eigentlich wohlfühlen!" Niemand antwortete. Theo Hummler sprach verschwörerisch leisezur Schwalbe: „Morgen vormittag treffe ich ein paar sehr wichtige Leute aus Berlin, zuverlassige Kameraden. Wollen Sie auch dabei sein?" Martin trat zu Kikjou, der als Einziger am Tisch sitzen geblieben war, merkwürdig regungslos vor seinem geleerten Glase.,, In welchem Quartier wohnen Sie?" fragte Martin, und er fügte mit einer etwas matten Hoffnung hinzu: „Vielleicht haben wir den gleichen Heimweg..." — Kikjou aber erwiderte, ohne das müde, kindliche Gesicht von den Handen zu heben: „Merci mille fois. Ich begleite Marcel." — Martin zog sich schweigend zurück. Er trat erhobenen Hauptes, die weichen Lippen pikiert gegeneinander gepreBt, auf den Boulevard hinaus, wie einer, der sich bewuBt ist, eine Niederlage erlitten zu haben, aber seinen Stolz darein setzt, sie mit Würde zu tragen. Plötzlich stand Marcel hinter Kikjou; auf leisen Sohlen war er herangekommen. „Comment vas-tu, mon choux?" fragte er, und legte beide Hande auf Kikjous Schultern. Der erwiderte, ohne sich umzudrehen: „Merci, mon vieux. Pas mal du tout." „Ich muB Marion nach Hause bringen", erklarte Marcel, mit einer leichten Wendung des Hauptes zu der schlanken, unruhig sich bewegenden Gestalt hin, die auf dem Boulevard seiner wartete. „Achso", sagte Kikjou. „Dann gehe ich also allein." „I am sorry, mon vieux," sagte Marcel, immer noch mit den Handen auf Kikjous Schultern. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Es ist so traurig. Alles ist so traurig. Diese Menschen — wie sie mir leidtun! .... Es muB sich ungeheuer viel andern auf der Welt, damit sie nicht mehr ganz so bemitleidenswert sind. — Tun sie dir auch so leid ? — Listen, Kikjou, I am asking you something! — Ich habe dich gefragt, ob die Menschen dir auch so leid tun wie mir." ZWEITES KAPITEL Am nachsten Morgen besuchte Marion ihre alte Freundin Anna Nikolajewna Rubinstein, die drauBen im Montrouge eine Zwei-Zimmerwohnung mit ihrem Gatten und ihrer halberwachsenen Tochter hatte. Die Tochter arbeitete in einem Modesalon; der Mann war in einem groflen Verlagshaus angestellt, wo seine Beschaftigung fast ausschlieBlich darin bestand, Adressen zu schreiben und zu sortieren. Er hatte es, wahrend der zehn Jahre, die er in Paris lebte, noch nicht gelernt, flieBend und akzentlos Französisch zu sprechen. In Moskau war er der Herausgeber einer gemaBigt-liberalen Revue gewesen. Die KerenskiRevolution hatte er freudig begrüfit, und einige Wochen nach der Oktober-Revolution war er in die Emigration gegangen, ganz ohne Geld, mit ein paar Krawattennadeln und Ringen als einzigem Besitz. In Berlin hatte er Anna Nikolajewna kennen gelernt. Sie war Malerin und dekorierte nun Teetassen, Blumenvasen und Facher mit bescheidenen Blumenstilleben, bunt gefiederten Vögeln und kleinen Barockengeln. Zuweilen fand sie Kaufer für ihre liebliche Ware. Marion war bei ihrem ersten Pariser Besuch, im Jahre 1928, durch gemeinsame Berliner Freunde mit Madame Rubinstein bekannt geworden. Anna Nikolajewna hatte der jungen Deutschen Paris gezeigt. Marion liebte die russische Dame, und sie hatte immer die Tapferkeit bewundert, mit der die Verwöhnte — denn Anna stammte aus reichem Hause — Not und Erniedrigung des Exils ertrug. Niemals hatte Marion ein Wort der Klage von Anna Nikolajewna gehort. „Man muB zufrieden sein", pflegte sie mit ihrer weichen, singenden Stimme zu sagen. „Man muB sogar dankbar sein. Wir haben alle zu tun: la petite Germaine, mon pauvre Léon et moi-même Dauerzustand. Man gewöhnt sich an alles. Ihr Alten glaubt immer, der Bolschewismus sei die Katastrophe in Permanenz — hielt Germaine mir vor —, das ist einer eurer dümmsten Irrtümer. Sicherlich hatte der Bolschewismus einmal katastrophalen Charakter. Inzwischen ist er für Millionen einfach der Alltag, das Selbstverstandliche geworden. Und er ware es auch für mich geworden — wahrend sie dies behauptete, schluchzte meine kleine Tochter noch heftiger —, wenn du mich nicht herausgerissen hattest; wenndu mich nicht entwurzelt, nicht heimatlos gemacht hattest. Denn man gewöhnt sich an jeden Zustand und an jede Lebensform — in der Heimat. Aber an die Fremde gewöhnt man sich nie. Ich bin keine Französin, und ich will keine Französin werden! — Sie können sich vorstellen, Marion, wie erschrocken ich gerade über diese Mitteilung und Eröffnung der kleinen Germaine gewesen bin. Sie spricht doch ein so charmantes Pariserisch, und ich dachte wirklich, sie fühlte sich ganz als eine kleine Citoyenne Frangaise. Und nun drohte sie mir plötzlich damit, sie wolle nach Moskau zurück; sie müsse das Leben im bolschewistischen RuBland kennen lernen —: ,Wahrscheinlich ist es ein sehr interessantes, reiches, aufregendes Leben', meinte sie. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, ihre Stellung im Modesalon gleich aufzugeben und zur Sowjet-Legation zu laufen. Stellen Sie sich vor, Marion, was mon pauvre Léon gesagt haben würde, wenn unser Kind zu den Leuten gegangen ware, die er seine Todfeinde nennt!" Marion war von dem Bericht der Freundin beeindruckt. Sie hatte das Gesicht in die Hand gestützt; ihre Augen verdunkelten sich vor Nachdenklichkeit. „So so", sagte sie und schlang die groBen, sehnigen Hande mit einer merkwürdig heftigen Gebarde ineinander, sodaB die Gelenke knackten — Marion hatte recht locker rtieinander gefügte Fingergelenke. „Das ist es also, was deine kleine Germaine unter Tranen geauBert hat: In der Heimat gewöhnt man sich an jeden Zustand und an jede Lebensform; aber an die Fremde gewöhnt man sich nie ..." Anna Nikolajewna, deren kluges, müdes und zartes Antlitz in der Dammerung vor Marions Augen zu verschwimmen begann — auch ihre Stimme klang nun, als kame sie von sehr weit her —, Anna Nikolajewna, leise mit den elfenbeinfarbenen Spitzen raschelnd, die über ihre Handgelenke fielen, sagte: „Seitdem ich diese überraschenden Worte gehort habe — denn Sie werden ja begreifen, mon enfant, daB dies alles für mich überraschend kam —, höre ich nicht auf, darüber nachzusinnen, wieviel Wahrheit und wieviel Irrtum sie enthalten. Denn ohne Frage mischen sich Wahrheit und Irrtum in den aufgeregten Reden meiner kleinen Germaine. Am Ende meiner langen und übrigens oft recht bitteren Überlegungen bin ich zu dem Resultat gekommen: Wahrscheinlich habe ich wirklich Unrecht getan, als ich das Baby wie ein kleines Paket über die russische Grenze schaffte. Nun hat das Kind Heimweh, ohne die Heimat je gekannt zu haben — und das muB eine besonders schlimme Sorte von Heimweh sein . . . Sie will zu ihrer Nation zurück . . . Aber ich kann nicht!!" Dies stieB sie mit einer klagenden, fast jammernden Heftigkeit hervor, wie Marion sie noch niemals von ihr gehort hatte. „Ich werde niemals nach RuBland zurück können. Es ist zuviel Grauenhaftes dort geschehen. Man hat meinen Mann und zwei von meinen Brüdern dort umgebracht, und mein Vater ist im Elend gestorben. Die Erinnerungen sind unertraglich.. Die Erinnerungen würden mich sicherlich töten . . ." Dabei fuhr sie sich mit einer sonderbar fliegenden, huschenden, angstvollen Bewegung über die Stirn, als müBte sie etwas Böses wegscheuchen, das sich dort niedergelassen hatte. Nach einer Pause sagte sie noch: „Aber freilich — die kleine Germaine hat ja keine Erinnerungen ..." Marion wurde etwas schaurig zu Mute in diesem Raum, wo sie sich immer so wohl gefühlt hatte. Anna Nikolajewna, die niemals klagte, — nun überwand sie ihren Stolz und lieJB Jammertöne hören. Wieviel muBte sie ausgestanden haben, daB es soweit kam! Was für lange Prüfungen waren ihr zugemutet worden! .Werde ich auch einmal sein wie diese ?' fragte sich Marion. , So resigniert ? So unendlich traurig und müde ?' Und sie tröstete sich: ,Aber bei mir liegt alles ganz anders. Unser Fall liegt anders. Diese russischen Aristokraten und Intellektuellen haben sich gegen die Zukunft gestellt. Wir sind in die Verbannung gegangen, weil wir für das Zukünftige sind, gegen den Rückschritt. Unser Exil kann kein Dauerzustand sein. Diese Russen haben das Exil als Dauerzustand auf sich genommen. — Oder irre ich mich? Tauschen wir uns alle ? Sind auch wir in unvernünftiger Opposition gegen etwas, was Zukunft hat, oder doch zukunftstrachtige Elemente ? . . .' Diese Zweifel taten sehr weh. Anna Nikolajewna schien ihren stummen Monolog belauscht zu haben; denn sie sagte: „Auch ich habe von Rückkehr getraumt. Wer hatte nicht von Rückkehr getraumt. Aber man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan. Für immer, Marion: verstehst du mich ?" Ihr Bliek wurde plötzlich fast drohend. „Die Entwicklung in der Heimat geht wei ter; wir haben keinen Anteil mehr an ihr. Wir sind Fremde geworden. Wir können nicht mehr heim, weil wir keine Heimat mehr haben." Sie saB sehr aufrecht da, die Hande, über die vergilbte Spitzen fielen, strenge im SchoB gefaltet. „Schauen Sie mich an!" rief sie und zeigte das Gesicht einer Greisin — plötzlich nackt, als hatte sie sich einen schonenden Schleier von den Zügen gerissen. „Regardez-moi, Marion!" Und sie hob mit einer theatralisch klagenden Gebarde die hageren Hande. „Me voila, une vieille femme . . . une femme fatiguée . . . Fatiguée . . wiederholte sie und lieB den Kopf nach hinten sinken. Sie saB ein paar Sekunden lang regungslos, feierlich erstarrt in ihrer tragischen Pose. Marion aber schwor sich: So will ich nicht werden. So nicht. Vielleicht warten furchtbare Dinge auf mich; sehr wohl möglich, daB sich Schlimmes für mich vorbereitet. Aber ich will keinesfalls als alte Frau in einem engen Pariser Zimmer die Hande recken zu einer Gebarde des Jammers, die nicht einmal mehr die Kraft hat, eine Gebarde der Anklage zu sein. Ich will mir auch nicht von meinem Kinde sagen lassen, daB ich ihm die Heimat gestohlen habe. Im Gegenteil: was ich hören möchte von meinem Kinde, das sind Worte des Dankes dafür, daB wir ihm jetzt eine bessere Heimat erkampfen Wahrend Marion solches dachte und sich im Herzen gelobte, hatte Anna Nikolajewna sich gefaBt. Ihre Haltung war nun wieder damenhaft zusammengenommen. „Mein liebes Kind", sagte sie, und hatte noch einmal die nervös wischende Geste, mit der sie sich über die Stirne fuhr, „entschuldigen Sie: das war unmanierlich. Übrigens sind Sie selber ein wenig Schuld daran, daB ich heute so sentimental und unbeherrscht bin. — Ja ja", behauptete sie mit neckischem Nachdruck und hob scherzhaft streng den Zeigefinger, als ware sie ihrem Gast hinter eine harmlos drollige kleine Verfehlung gekommen, „ja ja, mon enfant, ich habe mich doch ein wenig aufgeregt, als ich erfuhr, daB auch Sie . . . wie soll ich mich aus- drücken ? —: nun, daB Sie diesmal nicht ganz freiwillig nach Paris gefahren sind ..." „Ich hatte genau so gut nach London reisen können", bemerkte Marion, nicht besonders freundlich. Daraufhin Madame Rubinstein, immer noch neckisch und insistent: ,,Aber Sie hatten nicht genau so gut in Berlin bleiben können. Oder irre ich mich ?" „Nein", sagte Marion.,,Weil ich dort erstickt ware." Anna Nikolajewna zuckte müde die Achseln. „Das haben wir alle einmal geglaubt — daB wir zu Hause ersticken müBten, wenn dort Leute regieren, die uns nicht gefallen." Und nach einer Pause, die ziemlich lange dauerte, fragte sie sanft: „Haben Sie auch wohl bedacht, was das bedeutet — das Exil ?" „Mir scheint, daB ich es wohl bedacht habe", versetzte Marion trotzig und knackte mit den lockeren Gelenken ihrer langen Finger. Die Russin sprach aus der Dammerung, mit melodisch gedampfter Stimme, als erzahlte sie ein Marchen für die lieben Kleinen: „Es ist hart, das Exil, mon pauvre enfant. Es werden Stunden kommen, da Sie sich der Worte erinnern, die ich Ihnen jetzt sage. Das Exil ist hart. Man ist als Emigrant nicht viel wert. Man ist gar nicht sehr angesehen. Die Leute wollen uns nicht — es macht kaum einen Unterschied, ob man politisch mit uns sympathisiert; ob man die Gründe, die uns zur Emigration bewegt haben, ablehnt, oder ob man sie billigt. Man verachtet uns, weil wir nichts hinter uns haben. In dieser kollektivistischen Zeit muB der Einzelne etwas hinter sich haben, damit er achtenswert scheint. Für uns gibt es nicht einmal ein Konsulat oder eine Gesandtschaft, an die wir uns wenden könnten. Wir haben gar nichts. Deshalb verachtet man uns — und ganz besonders wenig schatzt man uns hier in Paris, dieser klassischen Emigranten-Stadt, die unserer müde ist, weil sie uns zu gut kennt. Hier treffen sich ja alle, schon seit Jahrzehnten: die entthronten Könige und die Arbeiterführer; die Ungarn und die Russen; die italienischen Exilierten und die spanischen; die Armenier, die Jugoslaven, die Griechen, Türken, Bulgaren, Südamerikaner — und nun also auch noch die Deutschen. Unterhalten Sie sich einmal mit einem dieser Heimatlosen, die seit zehn oder fünfzehn Jahren in Paris herumsitzen! Fragen Sie einmal irgendeinen von diesen, was er hier erlebt und ausgestanden hat! Es wird interessant für Sie sein, liebes Kind ..." ,,Ich habe gerade gestern Nacht einen beobachtet", sagte Marion. „Diesen ungarischen Grafen, der einmal Ministerpresident war und alle seine Güter weggeschenkt hat. Er saB neben uns im Café Select und spielte Schach mit sich selber." „Sie hatten ihn anreden sollen. Manchmal ist er gesprachig, und dann erzahlt er von kleinen und von groBen Enttauschungen; von allerlei Erniedrigungen, die er tragen muBte — und früher war er ein so groBer Herr! Es ware ungeheuer aufschluBreich für Sie gewesen. Denn Sie sind ja noch eine Anfangerin." Da Marion schwieg und nur fragend schaute, erklarte Anna Nikolajewna ausführlicher, was sie meinte: „Sie sind noch eine Anfangerin in diesem harten, qualenden Geschaft — wenn ich einen so tragischen Lebens-Zustand wie das Exil als ein .Geschaft' bezeichnen darf. Ihr seid noch ahnungslose Dilettanten!" rief die Russin hochmütig. „Es gibt tausend kleine Erfahrungen, die sich kaum beschreiben lassen, unzahlige Qualen der verschiedensten Art, viele Schmerzen, immer betrogene Hofïnungen — Monotonie und Ruhelosigkeit des unbehausten Lebens — ein Heimweh, das niemals aufhört —: ach, meinearme Marion, all dies zusammen, und noch manches, was ich jetzt gar nicht andeuten kann, das macht das Martin sagte, wie sehr er Rimbaud liebe, Kikjou gestand seine Bewunderung für Hölderlin und Novalis. Er kannte sich gut aus in den Schönheiten deutscher Dichtung. Spater erzahlte er von seiner Kindheit und von seiner Familie. Martin bekam Einblicke in ziemlich wirre hausliche Verhaltnisse. Kikjous Verwandte lebten teils in Rio de Janeiro, teils in Lausanne und auf dem Lande in Belgien. Der Vater, in Brasilien ansassig, war Chef einer groBen Firma, und wollte den Sohn dazu zwingen, ins Geschaft einzutreten. Da Kikjou darauf bestand, in Paris zu sein und Gedichte zu machen, statt sich vernünftig zu beschaftigen, grollte der Vater und schickte kein Geld. ,,Oft ist die Kasse leer", sagte Kikjou und lachelte betrübt. Manchmal reiste er zu einem Onkel nach Belgien. Der bewohnte ein altes Haus auf dem Lande; Martin bekam den Eindruck, daB es sich um einen etwas wunderlichen alten Herrn handelte; aber Kikjou fand ihn bedeutend. „Onkel Benjamin ist ein glaubiger Katholik", erklarte er und strahlte Martin aus den vielfarbig schimmernden Augen an. Der Onkel umgab sich mit Heiligenbildern, Reliquien, geweihten Kerzen und lateinischen Büchern. „Erhat seine eigene kleine Kapelle", berichtete Kikjou stolz. „Ich fühle mich wohl bei ihm; wenn ich nicht fürchten müBte, ihn zu storen, ware ich immer dort." Sein Bliek schien benommen; es war vielleicht nur die Wirkung des Weines, vielleicht hing es aber auch mit dem Gedanken an Weihrauchduft und mildes Halbdunkel in Onkel Benjamins Kapelle zusammen. „Manchmal hat er auch Visionen", sagte der Neffe noch, und in seinen Augen war der Glanz beunruhigend. „Engel suchen ihn auf. Er erzahlt, daB es immer so ein metallisch klirrendes Gerausch gibt, wenn sie in seine Stube treten. Das kommt von ihren Flügeln, die bestandig in Bewegung sind; es ist wie ein nervöser Tick, sagt Onkel Benjamin, aber dabei sehr groBartig. Siemüssen immer ihre groBen Flügel regen, als kamen sie sonst aus der Übung und würden das Fliegen verlernen; es verhalt sich wohl so ahnlich wie bei Rekordschwimmern oder Radfahrern, die auch gleich aus der Form kamen, wenn sie nicht immer trainierten. Ich hatte so gerne einmal einen Engel gesehen. Aber sie zeigen sich nur, wenn niemand im Haus ist auBer Onkel Benjamin und der alten Magd. Sogar ich, obwohl ich doch an sie glaube, scheine sie zu vertreiben. Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich nie lange beim Onkel bleibe. Er müBte das Gefühl bekommen, daB ich ihm die liebsten Gaste verscheuche. Das ware mir natürlich sehr unangenehm. AuBerdem krankt mich das Verhalten der Engel ein wenig; ich finde es gar zu spröde." Nachdem er dies alles geauBert hatte, legte er ruhig seine Serviette zusammen und schlug vor: „Unseren Kaffee trinken wir besser wo anders. Er ist hier nicht besonders gut." Sie saBen im Café „Flore" am Boulevard St. Germain. Nun sprachen sie auch über Politik. „Sie sind vor den Nazis geflohen ?" fragte Kikjou. „Ich mag sie auch nicht. Neulich habe ich lange mit meinem frommen Onkel über sie gesprochen — er ist ein so kluger Mann. Der deutsche Führer, sagt er, ist vom Teufel geschickt; der leibhaftige Antichrist. In so groBer Gefahr wie jetzt, sagt Onkel Benjamin, ist die Christenheit seit ihrem Bestehen noch nicht gewesen. Das Rassen-Dogma bedroht die Grundlagen unseres Glaubens, die Germanen kommen aus den Urwaldern, um die Christliche Kultur zu zerstören, und sind fürchterlicher, als die Hunnen und Türken es waren . . Sie redeten lange. Aber zwischen ihnen waren die Worte nicht mehr das Entscheidende. Ihre Blicke führten eine andere Sprache. Der kleine Helmut Kündinger kam vorbei und schaute sie traurig an. „Gefallt es Ihnen in Paris?" erkundigte er sich bei Martin auf seine korrekte und schüchterne Art. „Es ist eine herrliche Stadt. Ich bin den ganzen Tag spazieren gegangen und war auch lange im Louvre. Aber ich muBte immer an meinen Freund denken, der dies alles so genossen hatte . . Da man ihn nicht dazu aufforderte, sich an den Tisch zu setzen, wünschte er schmerzlich einen guten Abend und ging langsam weiter. Gegen Mitternacht sagte Martin: ,,Wir könnten noch ein biBchen in mein Hotel gehen. Es ist zwei Minuten von hier. Mir scheint, ich habe sogar noch ein biBchen Whisky ..." Auf der Treppe, im Hotel „National", begegnete ihnen Marion. „WeiBt du schon das Neueste ?" sagte sie zu Martin. „Meine Mama und Tilly sind heute in Zürich angekommen." „Nein, sowas!" sagte Martin. „Wie muB es in Deutschland aussehen, wenn sogar Frau von Kammer es nicht mehr ertragt ? — Willst du noch einen Schnaps mit uns trinken, Marion ?" „Danke", sagte Marion. „Ich falie um vor Müdigkeit. Unterhaltet euch gut! Viel Vergnügen!" Frau Geheimrat Marie-Luise von Kammer hatte mit ihren beiden jüngeren Töchtern, Tilly und Susanne, am 16. April 1933 die deutsche Heimat verlassen: kaum zwei Wochen nachdem ihr altestes Kind, Marion, nach Paris in die Emigration gegangen war. Frau von Kammer — plötzlich vor die Wahl gestellt, in welchem Lande sie am liebsten wohnen wolle — entschied sich, nach nur kurzem Schwanken, für die Schweiz, wo sie mit ihrem Gatten beinah jedes Jahr die Ferienwochen zugebracht hatte. In der „Die arme Marie-Luise ist blind", wurde getuschelt. „Sieht sie denn wirklich nicht, wie anstöBig sich die jungen Dinger betragen ?! Beide schminken sich ja, daB man meinen könnte, sie seien —, ich will lieber gar nicht sagen, was!" Die Damen schüttelten die Köpfe und schnitten Grimassen, als hatte man ihnen etwas Widriges in den Tee geschüttet. ,,Kein Wunder", sagten sie noch. „Die Rasse des Vaters schlagt durch." — Frau von Kammer war keineswegs blind für die etwas riskanten Allüren ihrer beiden erwachsenen Kinder. Es schmerzte sie bitter, daB die Madchen sich nicht ihren Umgang in den konservativen, vornehmen Kreisen suchten, die das Milieu der Mutter waren und um deren Gunst der Geheimrat sich ein Leben lang, mit Zahigkeit und Erfolg, bemüht hatte. Woher kam ihnen nur der unglückselige Hang zur Bohème ? Dieser extravagante kleine Pariser — Marcel Poiret —, mit dem Marion fast ihre ganze freie Zeit verbrachte, war durchaus nicht nach dem Geschmack der Mama. Auch Martin Korella, den Marion schon als kleines Madchen gekannt hatte, kam Frau von Kammer etwas unheimlich vor. Seine schleppende Art zu sprechen, sein verhangener, zu süBer und zu trauriger Bliek, die selbstgefallige Ironie seiner AuBerungen —: „es paBt sich nicht für einen jungen Mann", sagte Marions Mutter, „und überhaupt, er hat so gar nichts Frisches." Der Student, den Tilly ihren Brautigam nannte, Konni Bruck, machte einen sympathischeren Eindruck; aber Frau von Kammer wuBte, daB er sich mit Politik beschaftigte, und zwar auf ungehörige Weise. Er war mindestens Sozialdemokrat, vielleicht sogar Kommunist: die Geheimratswitwe wollte es gar nicht so genau wissen. Jedenfalls stand fest, daB er Tilly in politische Versammlungen schleppte — an Orte also, wohin junge Madchen keineswegs gehören —: ebenso wenig wie in Nachtlokale, die Konni Bruck auch mit Tilly zu frequentieren pflegte. All dies beschaftigte und betrübte Marie-Luise. Aber der Familienhochmut und ihre Liebe zu den beiden Madchen verboten es ihr, jemals einem ihrer Bekannten gegenüber solche Sorgen anzudeuten. SchlieBlich war die Mutter auch stolz darauf, daB Marion und Tilly viele Freunde und Bewunderer hatten. In einer gewissen Gesellschaft spielten die Zwei entschieden eine Rolle — wenngleich es nicht genau die Gesellschaft war, die Frau von KammerSeydewitz sich für ihre Töchter gewünscht hatte. —• Als die Nazis zur Macht kamen, war man in MarieLuisens Kreisen zunachst begeistert. Nur ganz wenige Hellsichtige ahnten schon, daB nun Personen und Tendenzen herrschend wurden, die einem aristokratischen Konservativismus durchaus nicht in allen Stücken freundlich gesinnt waren. Ahnungslos wie die berauschte Masse, die in den StraBen larmte, jubilierten die Offiziersdamen aus Potsdam oder OstpreuBen darüber, daB nun SchluB sein sollte mit dem Schandvertrag von Versailles und mit dem verhangnisvollen EinfluB der Israeliten. Marie-Luise stand mit ihrer Bitterkeit und ihrem HaB ganz allein. Sie dachte an ihren Gatten und gab niemandem mehr die Hand, der ein Hakenkreuz im Knopfloch trug oder Heil Hitier rief. Wenn sie einem Trupp von Braunhemden auf der StraBe begegnete, hielt sie sich ostentativ die Nase zu, anstatt den Arm zu recken. „Nazis stinken", behauptete sie, und ware einmal fast verprügelt worden, weil eine Kleinbürgersfrau, die neben ihr stand, es gehort hatte. Marion war abgereist, nachdem die Geheime Staatspolizei mehrere ihrer nachsten Freunde verhaftet hatte. Auch Tilly, die sich mit dem jungen Bruck in linken Versammlungen gezeigt hatte, wurde gewarnt: es lagen bei der Gestapo Denunziationen gegen sie vor — anonyme Briefe, wahrscheinlich von den guten Freundinnen ihrer Mutter —; sie sei in akuter Gefahr. Ihren Konni traf sie nur noch in aller Heimlichkeit; ein paar Nachte lang schlief sie nicht mehr zu Haus. Es war ein unhaltbarer Zustand. Marie-Luise empfand es als unter ihrer Würde, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte — wenn er noch lebte — Beleidigungen ausgesetzt gewesen ware, und wo anstandige Menschen ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten. Tilly hatte erwartet, sie werde ihre Mama mit grofler Eloquenz zur Abreise überreden müssen. In Wahrheit stand es bei Marie-Luise schon fest, daB im Dritten Reiche ihres Bleibens nicht war, ehe Tilly auch nur angefangen hatte zu sprechen. Ohne irgendwelches Aufheben zu machen, still und umsichtig, hatte die Mutter mit den notwendigen Vorbereitungen begonnen. Tilly ihrerseits ware für die Emigration nicht zu haben gewesen, wenn nicht der junge Bruck — dem die Vorstellung unertraglich war, daB die Freundin seinetwegen in Gefahr kommen könnte — sie dazu bestimmt hatte: Er muBte ihr gegenüber wirklich alle jene Überredungskünste anwenden, die bei der geborenen von Seydewitz überflüssig waren. Konni versprach, in ein paar Wochen oder Monaten ins Ausland nachzukommen. Es war das erste Mal, daB er Tilly belog. Seine entschiedene Absicht war es, in Berlin zu bleiben und der illegalen Opposition, die sich gleich nach der „Machtergreifung" zu formieren begann, alle seine Krafte zur Verfügung zu stellen. Er war zwanzig Jahre alt, studierte Physik und glaubte mit einer Zuversicht, die jedem Widerspruch mit stolzem Achselzucken begegnete, daB die Marxistischen Dogmen und Prophezeiungen in einem ebenso objektiven, indiskutablen Sinne „wahr" seien wie gewisse Naturgesetze oder mathematische Regeln. Man verhaftete ihn, als er versuchte, vor Beginn der Kollegs antifascistische Flugblatter im Universitatsgebaude zu verteilen. Das geschah kaum einen Monat nachdem Tilly mit ihrer Mutter in Zürich eingetroffen war. Die Beiden saBen am Frühstückstisch — man hatte vom Hotelzimmer aus die schönste Aussicht über den See, auf dessen dunstiger Flache die Segelschiffe zu schweben schienen —; der Liftboy brachte den Brief, er war von einem Kameraden des jungen Bruck, trug den Poststempel „Prag" und war mit den Initialen „H. S." gezeichnet. Tilly durchflog die Zeilen. Sie lieB das Papier zu Boden fallen, dabei schrie sie leise und faBte sich mit beiden Handen an die Brust, als hatte jemand ihr einen furchtbar schmerzhaften Schlag versetzt. Sie bekam keinen Atem mehr. Die Mutter dachte, mein Gott, es sind diese asthmatischen Zustande, die hat sie doch seit Jahren nicht gehabt. Tilly keuchte und bearbeitete mit kleinen hilflosen Faustschlagen ihre um Atem ringende Brust. In einem Gesicht, das weiB geworden war wie das Tischtuch, öffneten sich die weichen und nassen Lippen zur Klage. Die Augen waren noch trocken, aber sie schienen nichts mehr zu sehen: ehe noch die Tranen sie blind machten, nahm ihnen der betaubende Schmerz schon den Bliek. Bei sehr groBen Affekten, in der Wollust oder in der Verzweiflung, bleibt den Menschen nichts übrig, als das festgelegte, klassisch stilisierte Bild zu stellen. Gerade die ungeheuersten Gemütsbewegungen drücken sich in der höchst konventionellen Pose aus. Das Individuelle tritt zurück; was bleibt ist der menschliche Ur-Typ. Tilly von Kammer — am Frühstückstisch in diesem Züricher Hotelzimmer — steilte, sich die Brust schlagend und das Haupt mit den tragisch blicklosen Augen langsam hin und her wiegend, das klassische Bild: Junge Frau, die Trauerbotschaft empfangend. Auch die Mutter verhielt sich genau so, wie die Zeugin der Jammerszene, die an der Katastrophe primar Unbeteiligte, nur indirekt und nur durch Mitleid Betroffene sich nach den klassischen Regeln der Tragödie benimmt. Marie-Luise flüsterte mit bleichen Lippen: „Was ist dir, mein Kind ?" „Konni . . brachte das Madchen hervor. Nun schien sie wirklich keinen Atem mehr zu bekommen. — ,,Ist er tot?" fragte die Mutter rasch; ihrem temperierten Gefühl hatte einzig und allein eine Todesnachricht Tillys maBlose Reaktion plausibel gemacht. Tilly konnte noch sagen: „Nein. . . Es ist beinah schlimmer . . , Konzentrationslager . . . Sie haben ihn in ein Konzentrationslager gebracht..." Frau von Kammer fand es schwierig, dazu irgendetwas zu auBern. Übrigens verband sie mit dem Begriff „Konzentrationslager" keine sehr genauen, plastischen Vorstellungen. Umdoch nicht völligstumm zu bleiben, sagte sie, etwas matt: „Armer Kerl!" Und fügte hinzu — was sie eine Sekunde spater bereute —: „Aber warum laBt sich ein begabter junger Mensch auch mit dieser schmutzigen Politik ein ? Ich wuBte immer, daB es nicht gut ausgehen würde..." — Tilly, die sonst ahnliche Bemerkungen der Mutter zu ignorieren pflegte, war diesmal fassungslos. Wahrend sie schon durchs Zimmer stürzte, auf die Türe zu — in einer Haltung, als fliehe sie aus einem Raum, der in Flammen stand, und als hinge alles, selbst die Rettung Konnis, davon ab, daB sie die Türe in der nachsten Sekunde erreiche — murmelte zwischen den Zahnen: „Und sonst hast du mir nichts zu sagen, Mama?!" Ja, das war wohl HaB, was ihr nun die Züge zu einer schlimmen kleinen Grimasse verzerrte und was als ein flüchtiges, aber intensives Funkeln aus ihren Augen kam. Die Hand hatte sie schon an der Türklinke. Jetzt weinte sie endlich. Der Zorn über die Krankung, welche die arme, ahnungslose Mutter ihr zugefügt, machte die Tranen frei: nun strömten sie ihr reichlich über die kindlich gerundeten Wangen. „In was für einer Welt lebst du denn ?!" rief die Schluchzende noch über die Schulter. Dann war sie hinaus. Frau von Kammer blieb in sehr aufrechter Haltung am Frühstückstisch sitzen. Sie sah alt aus alter als sie eigentlich war. Ihr Haar hatte jene unbestimmte, aschblonde Farbe, von der sich kaum feststellen lieB, ob es schon ergraut, oder nur verblichen, glanzlos geworden war. Die Falten zwischen den Brauen und um die gepreBten Lippen hatten sich wahrend der letzten Monate verscharft und vertieft. Der Anblick ihres zu schmalen, zu langen und zu harten Gesichtes, mit den eingefallenen Wangen, der feinen Nase und dem kantigen Kinn, lieB an ein sehr gutrassiges, abgearbeitetes, stolzes und etwas müdes Pferd denken. Die Mutter stand seufzend auf. ,Wenn das mit Tillys Asthma-Anfallen nun wieder losgeht', dachte sie, —: ,eine schone Geschichte! — Konzentrationslager . . . Konzentrationslager . . . Welch ein Irrsinn! — Sie wollte sich selber nicht zugeben, wie sehr es ihr leid tat, daB sie ihr groBes Madchen nicht tröstend in die Arme geschlossen hatte, anstatt sie durch ihre gefühllose Bemerkung noch weiter zu verletzen. Tilly ging Tage lang schweigsam, mit bleicher, verstörter Miene umher. Sie war beinah dazu entschlossen, nach Berlin zu fahren, um ihrem Konni zu helfen auf welche Weise, war ihr selber nicht klar. Sie schrieb dem Kameraden des jungen Bruck dem Mann, der so geheimnisvoll als ,,H.S." signiert hatte Kostüm, der breitrandige Strohhut stehen. Die Luft war mild und sehr weich; man meinte sie wie eine Liebkosung auf der Haut zu spüren. Die Konturen der Seeufer verschwammen in einem zart-blauen, fast violetten Dunst. Es herrschte Föhnstimmung. Der warme Wind kam vom Gebirge her. Frau von Kammer hatte ein wenig Kopfschmerzen. Sie konnte den Föhn nicht vertragen. Seit gestern hatte sie mit niemandem gesprochen, auBer ein paar Worte mit dem Madchen, das vormittags kam, um die Wohnung sauber zu machen. Tilly war verreist: „Ein paar Bekannte" — wie sie sich mit etwas verletzender Ungenauigkeit ausdrückte — hatten sie zu einer Tour eingeladen. Nach dem einsamen Abendessen spazierte Frau von Kammer ziellos durch die Strafien: über den Parade-Platz, die BahnhofstraBe hinunter bis zum Bahnhof; die BahnhofstraBe wieder hinauf bis zum See; über die Quaibrücke bis zum Bellevueplatz. Sie überlegte, ob sie in ein Kino gehen sollte; aber das würde ihre Kopfschmerzen nur noch verschlimmern. Auf dem Platz vor dem Stadttheater hatte sich ein Lunapark etabliert; ein Miniatur-Prater mit „Attraktionen", Karussels, einer Bierhalle, Russischem Rad, Achterbahnen, Würstelverkaufern und SchieBbuden. Von dort her kam der schone, erregende Larm, der immer zu den Rummelplatzen zieht: das Kreischen der Kinder und Frauen von all den schaukelnden, fliegenden, kreisenden, durch Finsternis gleitenden, ins Wasser stürzenden Folterstühlen, auf denen merkwürdigerweise Menschen sich freiwillig und zum Vergnügen niederlassen; die monoton-eindringliche Litanei der Ausrufer und Anpreiser, das Geknatter der SchieBgewehre, der gröhlende Chorgesang der Bezechten; die Musik von drei Karussels, unbarmherzig gegen einander ankampfend. Es kamen auch die unverkennbaren und unwiderstehlichen Rummelplatz-Gerüche: Schmalzgebackenes.Türkischer Honig, SchweiB, Brathuhn, SchieBpulver, scharfes Parfum des Zirkus, Erbrochenes, kleine Kinder, Bier, noch einmal Türkischer Honig —; und es kam, mit Gerauschen, Gerüchen und flirrenden Lichteffekten, der ganze Zauber, den diese Statten auf den Einfachsten wie auf den Verwöhntesten üben. Vor dem Russischen Rad war das Gedrange am dichtesten. Marie-Luise floh in eine Nebengasse des Barackendorfes, fand sich vor einer Bude und dachte: Ich kann eben so gut eintreten und die Attraktionen besichtigen. Hier gibt es zu sehen den ,gröBten Menschen der Erde', ,den finnischen Goliath' — warum denn nicht, es kostet nur fünfzehn Rappen. Drinnen herrschte feierliches Halbdunkel. Es befanden sich nur wenig Menschen in dem scheunenartig weiten Raum. Die Stille hier war erstaunlich; eine verwesende Samtportière schien, mit beinah magischer Kraft, jeden Laut von drauBen fern zu halten. Die Augen der Besucherin muBten sich erst an das rötliche Dammerlicht gewöhnen. Nicht ohne Mühe tappte sie sich zu den schmalen, lehnenlosen Banken. Marie-Luise glaubte zu bemerken, daB auBer ihr nur noch zwei Kinder anwesend waren, ein kleiner Junge und ein kleines Madchen; sie saBen eng aneinander gerückt und hielten sich an den Handen gefaBt. Ihre Münder waren weit geöffnet wie ihre Augen. Sie sahen gar nicht belustigt aus, sondern eher verangstigt. In der Tat gab es Anlafl genug, sich zu fürchten. Das Erschreckende an dem jungen Mann, der vor dem öden Scheunen-Parkett auf dem Podium stand, war nicht so sehr seine schier unglaubliche Körperlange, als die unbeschreibliche, ungeheure, wahrhaft bestürzende Traurigkeit seines Gesichtes. Es war eine sehr runde, sehr kleine, rote, babyhaft verhutzelte, von zahllosen Faltchen melancholisch durchzogene Miene: Marie-Luise meinte noch nie so eine hoffnungslos verzagte gesehen zu haben. Über dem leer- verzweifelten Bliek waren die gewölbten Brauen drollig mit dem Kohlestift nachgezogen wie bei einem Clown. Auch die Tracht des Riesen hatte humoristischen Charakter: grünes Tiroler-Hütchen über der graBlichen Baby-Fratze; grell karierte, zu enge Hosen; kurzes rotes Bolerojackchen. Umso respektabler war der Herr gekleidet, der neben ihm stand und ihm kaum an die Brust reichte, obwohl er einen Zylinderhut trug. Im Gehrock, mit weifien Gamaschen und weiBen Handschuhen, sah er wie ein etwas schabiger Diplomat aus. Mit einem zierlichen, leichten Stab — wie Dirigenten oder Zauberkünstler ihn benützen — wies er, nachlassig-anmutig, auf den Trauerriesen. „Meinjunger Freund ist der gröBte Mensch der Erde", erklarte der Herr im Gehrock mit müde naselnder Stimme. ,,In weitem Abstand", fügte er verachtlich hinzu, ,,folgt der sogenannte Riese Jack, zweieinhalb Zentimeter kleiner als mein junger Freund." — Die Aussprache des Eleganten hatte einen feinen, unbestimmbar exotischen Akzent. „Mein junger Freund", fuhrerfort, ,, .. .ah'. .." Und nun schien er vor Langerweile schlechterdings nicht weiter zu können. Er gahnte ungeniert und verstummte mehrere Sekunden lang — ehe er einen frischen Anlauf nahm und hastig weiter berichtete: „Mein junger Freund ist zu Helsingfors in Finnland geboren." Das Wort „Helsingfors" servierte der Gehrock wie eine besondere Delikatesse, alle Vokale auf eine höchst elegante und übrigens völlig willkürliche Art verandernd. „Seine beiden Eltern hatten normale GröBe, seine Geschwister waren eher etwas zu klein, er selber war schon im zarten Alten von vier- zehn Jahren zwei Meter lang, seine Verlobung muBte auseinander gehen, weil die Braut sich auf die Dauer vor seinem KörpermaB angstigte, mein junger Freund ist physisch und geistig völlig gesund, seine Lieblingsspeise ist die bekannte danische rote Grütze, willst du nicht ein Liedchen singen, Gustav ?" Der Herr lieB den Zeigestab sinken, wandte sich angewidert von seinem Schützling ab, und, ohne auch nur Goliaths Kopfnicken abzuwarten, verlieB er mit hastig trippelnden Schritten, als hatte man ihn beleidigt, das Podium. Der lange Gustav hub zu singen an: ,,MuB i denn, muB i denn zum Stadtele hinaus . . Die Stimme des armen Riesen kontrastierte verblüflfend zum Format seines Körpers. Es war eine schrecklich kleine, durchaus verkümmerte Stimme, was sich da hören lieB; eine zwergische Stimme — hoch, dünn und piepsend. Ein miBzufriedener Saugling gibt so winzige, greinende Töne von sich. „Zum Stadtele hinaus . . wiederholte weinerlich die MiBgeburt, und Marie-Luise dachte: ,Warum singt er wohl gerade dieses Lied ? Vielleicht ist es seine Lieblingsmelodie, oder er kennt gar keine andere . . . Schrecklich: er kennt wohl keine andre; dieses Lied ist gewissermaBen alles, was er kann und hat. . .' „Und du, mein Schatz, bleibst hier . . ." An dieser Stelle kam aus dem dunklen Hintergrund der Scheune ein leiser Schrei. Eine Dame hatte ihn ausgestoBen; nun erhob sie sich hastig; ein klein wenig schwankend bewegte sie sich auf die Ausgangstür zu. Da war es an Marie-Luise, leise zu schreien. Sie erkannte die Dame, es war eine alte Freundin, die schone Tilla Tibori, eine Schauspielerin. Auch Frau von Kammer sprang auf, „nicht möglich", rief sie, „du hier, Tilla!" Marie-Luise küBte Tilla auf beide Wangen, hinter ihnen wimmerte das Wunder von Helsingfors noch einmal: „Und du, mein Schatz, bleibst hier . . Nun sang er also nur noch für die beiden Kinder in der ersten Reihe. Diese übrigens hatten, wahrend Marie-Luise und Tilla sich umarmten, ein schrilles kleines Kichern hören lassen sei es, weil sie die KuBzeremonie zwischen den Damen drollig fanden; sei es, weil der Riese sie amüsierte. Die Kinder, in der Scheune mit Goliath allein gelassen, riickten noch enger aneinander, und flüsterten sich zu: „Uii. . . Jetzt wirds fein!" — als sollte der HauptspaB nun erst beginnen, wahrend die Veranstaltung in Wahrheit doch schon ihrem Ende zuging. Die Freundinnen standen im Freien; Larm, Geruch und billiges Gefunkel des Volksfestes empfingen sie. Marie-Luise und Tilla hatten es eilig, den Bezirk des Rummelplatzes hinter sich zu lassen. Zunachst waren sie Beide viel zu überrascht von dieser Wiederbegegnung — nach so vielen Jahren! und in so groteskem Milieu! —, um Zeit zur Gerührtheit zu finden. Als sie aber die stillere Seepromenade erreicht hatten, legten sie sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und betrachteten sich. Beide muBten denken: Mein Gott, die Armste — sie ist auch nicht jünger geworden. Und ein ÜbermaB an Verkehr scheint sie auch nicht gerade zu haben, wenn sie sich alleine zu so traurigen Belustigungen begibt. . . Marie-Luise und Tilla waren als Schulmadchen in Hannover gute Freundinnen gewesen, obwohl Tilla mehrere Jahre jünger als die kleine von Seydewitz war. Sie hieB damals nocht nicht Tibori — diesen Namen hatte sie sich erst zugelegt, als sie zur Bühne ging —, sondern Hamburger. Ihrem Vater gehorte das gröBte Warenhaus am Ort. Die Hannoveraner Gesellschaft hatte den intimen Verkehr zwischen den jungen Madchen — ein Umgang, der vom alten General Seydewitz nicht nur geduldet, sondern geradezu protegiert wurde — als etwas anstöBig empfunden. Hamburgers waren zwar respektable Leute, auch wohlhabend; aber die kleine Tilla sah eben doch unerlaubt orientalisch aus mit ihren weiten, mandelförmig geschnittenen, dunklen,verführerisch feuchten Augen. Marie-Luise ihrerseits, spröd und ziemlich ungelenk, wie sie war, adorierte die reizbegnadete Freundin. Erst als Tilla anfing, in Berlin Erfolge zu haben, und Marie-Luise den Professor von Kammer heiratete, begann die Entfremdung. Wie lang war das her ? „Long long ago", wie die Tibori nun konstatierte. Ihre Stimme hatte noch den vollen, süBen und tiefen Klang; nur schien jetzt ein Unter- und Nebenton von Klage mitzuschwingen. Wie alt mochte die Schauspielerin sein ? Marie-Luise rechnete geschwind, mit jener grausamen Genauigkeit, die Frauen stets haben, wenn sie das Alter ihrer Freundinnen kontrollieren. Sie kam zu dem Resultat: mindestens vierundvierzig. Dafür sah sie fabelhaft aus. Immer noch war sie die auffallend attraktive Erscheinung — hochelegant, in ihrem leichten, dunkelblauen, mit schwarzem Schleier etwas phantastisch drapierten Kostüm, la belle Juive, immer noch, bei deren Anblick Herren animiert mit der Zunge schnalzen. Aber gewisse Scharfen gab es nun doch in Tillas schönem Gesicht — wie die aus echter Sympathie und leichter Schadenfreude gemischte Aufmerksamkeit der alteren Freundin konstatierte —: der dunkelrot gefarbte, groBe, stark geschwungene Mund wurde an den Winkeln von zwei müden kleinen Falten gesenkt; die Haut schien ein wenig angegrifïen, matt und flaumig geworden, und die Beweglichkeit der etwas zu groBen Nüstern hatte einen nervösen Charakter — den Charakter eines unruhigen, nach erregenden Gerüchen gierigen Schnupperns bekommen. Sie gingen, Arm in Arm, die Seepromenade entlang, weg von der Stadt. Die Bogenlampen wurden seltener, streckenweis lag der Weg im Dunkel, von den Banken, die diskret zwischen den Gebüschen verborgen lagen, flüsterten die Liebespaare, ihre gedampften Gelachter vermischten sich mit dem monotonen, ganz leisen Platschern des Sees. Die Freundinnen blieben stehen und schauten über das Wasser. „Hübsch, wie drüben, auf dem anderen Ufer die Lichter allmahlich ausgehen", sagte Marie-Luise. „Und wie die letzten sich im Wasser spiegein ..." Beide muBten daran denken, wie oft sie früher — Arm in Arm, wie jetzt — durch eine milde Nacht wie diese spaziert waren — und Wasser hatte es damals wohl auch gegeben, und Lichter, die sich darin spiegelten. „Es ist wirklich beinah dreiBig Jahre her . . .", sagte eine von ihnen; vor einer halben Stunde hatten sie die erschreckende Zahl einander noch nicht eingestehen wollen. Und Tilla, nach einer groBen Pause: „Es ist, um schrecklich sentimental zu werden . . Ich fürchte, wir sind es schon. Gehen wir lieber in ein Café." — lm Garten des Café „Terrasse" war es noch ziemlich voll. Unter den Baumen hatte man bunte Lampions angebracht; es sah nach Italienischer Nacht aus, nach „garden-party", und mondaner sommerlicher Geselligkeit. — „Hier ist es ja wirklich ganz nett", bemerkte Marie-Luise, die sich neugierig und befangen umschaute. „Warum sollte es denn nicht ganz nett sein?" lachte Tilla. „Bist du denn noch nie hier gewesen ?" — Darauf Marie-Luise, etwas beschamt: „Nein — zufallig noch nicht... Ich glaube, meine Tochter kommt manchmal her", fügte sie mit einem gewissen Stolz hinzu. Tilla wurde vom Nachbartisch gegrüBt. „Es sind Kollegen von mir", erklarte sie. „Mit einigen von ihnen habe ich noch voriges Jahr in Frankfurt zusammen gespielt. Die sind jetzt hier, am Schauspielhaus, engagiert." — Da haben wir also die „Emigrantenkreise", dachte Marie-Luise. So arg sehen sie gar nicht aus. Ob Bekannte von Tilly darunter sind ? Nun erst — sie waren schon über eine Stunde zusammen — begannen die Freundinnen so recht, sich auszufragen: Was treibst du in Zürich? Wie lange bist du schon hier ? Tilla berichtete, seit einem Vierteljahr habe sie alle ihre Energien darauf konzentriert, perfekt englisch zu lernen. — In Zürich ? wunderte sich Marie-Luise. London sei ihr zu teuer gewesen, erklarte Tilla. „Hier lebe ich — bei einem Freund." Dabei lief eine leichte Röte über die flaumige, strapazierte Haut ihres schonen Gesichtes. Sie senkte die Lider mit den langen, starren, künstlichen Wimpern und betrachtete interessiert ihre langen, silbrig-rosa gefarbten Fingernagel. Zwischen den Augenbrauen trat plötzlich ein angestrengter, gequalter Zug hervor. „Es ist zu dumm", sagte sie, leise und dunkel — ihre Stimme hatte jetzt einen seltsam hohlen Ton —, „es ist zu dumm: wirklich. Man hat nichts zurückgelegt, einfach gar nichts. Man hat gut verdient", rief sie und hatte ein heiseres kleines Lachen. „Man hat noch besser gelebt — und nun sitzt man da!" Mit einer weiten, theatralisch stilisierten Armbewegung, welche durch die schwarze Schleier-Draperie auf ihrem Kostüm besonders effektvoll gemacht wurde, schien sie andeuten zu wollen, wie man nun „dasaBe". Die Kostbarkeit ihrer Toilette, die wunderbare Herrichtung ihres Gesichtes verloren im Zusammenhang mit ihren Worten und dem Klang ihrer Stimme den Charakter des Selbstverstandlichen, nachlassig Eleganten, den sie zunachst vortauschten. Alles, was an Tilla Tibori noch schön war, wirkte nun wie das Ergebnis harter, permanenter Anstrengungen; der Gewinn eines langen, wahrscheinlich oft qualvollen Kampfes. ,,Ein Agent will mich nach Hollywood bringen, sowie mein Englisch gut genug ist", sagte sie noch, etwas hastig. „Nun — man muB alles versuchen ..." „Und du?" erkundigte sie sich dann. ,,Wir reden ja nur von mir, das ist langweilig. Warum bist du denn eigentlich von Deutschland weg, du, mit deiner garantiert reinen Rasse ?" Marie-Luise schwieg ein paar Sekunden lang, als müBte sie sich erst besinnen, warum sie eigentlich von Deutschland fort war. SchlieBlich sagte sie nur: „Das war doch ganz selbstverstandlich. Ich bin die Frau eines Juden gewesen. — Und glaubst du denn, daB ich mich von meinen erwachsenen Töchtern verachten lassen wollte ?" — Sie erschrak sofort selber ein wenig darüber, daB sie diesen Satz ausgesprochen hatte. Er war aufrichtiger, als sie jemals zu reden — und als sie meistens zu denken wagte. Tilla hatte ein zweites Glas Portwein für sie bestellt. Frau von Kammer, an Alkohol nicht gewöhnt, spürte die Wirkung. ,Wie wunderbar hochmütig sie jetzt aussieht!' — fand ihre Freundin. ,Genau dieses Gesicht hat sie als junges Madchen gemacht, wenn eine Lehrerin oder Kameradin sie geargert hatte und sie mit ihrem vernichtenden Achselzucken zu sagen schien: Was könnt ihr mir anhaben ? Was soll ich mich mit euch abgeben ? Ich bin die Baroness von Seydewitz!' „Du muBt mir von deinen Töchtern erzahlen", bat die Schauspielerin. „Marion ist doch sicher schon eine groBe Dame. Und wie heiBt die Zweite ?" „Tilly", sagte Marie-Luise. „Ja, mein guter Alfred mochte den Namen, und mir machte es Freude, sie nach dir zu nennen." — „Hoffentlich bringt es ihr Glück", sagte Frau Tibori, plötzlich merkwürdig ernst, den Bliek starr geradeaus gerichtet. Nach einer Pause war es Marie-Luise, die wieder zu sprechen begann. „Haben wir uns denn gar nicht mehr gesehen und nicht einmal korrespondiert, seit Tilly geboren ist ?" Beide waren erstaunt, auch beschamt. „Jetzt wird das anders", versprachen sie sich. „Mein Gott, was muB erst alles passieren, damit zwei alte Dinger wie wir — die wir doch wahrhaftig mal zueinander gehort haben — sich wieder finden!" „Nachstens werde ich dir meine Tilly vorstellen", verhieB Marie-Luise. „Ein famoses Madel. Sie ist gerade für ein paar Tage in Arosa, mit Freunden." Tilly war keineswegs nach Arosa gefahren, vielmehr nach Berlin. Ihre Unruhe, ihre Angst um Konni waren übermaBig groB geworden; es kam keine Nachricht von ihm, sie wuBte nicht, wo er war, nicht einmal, ob er noch lebte; dies war nicht auszuhalten, keine Folter konnte arger sein. Den Warnungen ihrer neuen Züricher Freunde zum Trotz, entschloB sie sich zu der Reise. Es war merkwürdig, am Anhalter Bahnhof anzukommen; den Potsdamer Platz wieder zu sehen, die Tiergarten-StraBe, den Kurfürstendamm. Tilly ward das Gefühl nicht los, daB sie traume. Vielleicht, weil sie in so vielen Nachten wahrend der letzten Wochen von all dem getraumt hatte. Wie fremd — wie vertraut schaute die Gedachtniskirche sie an! Das Warenhaus „Kadewe" am Wittenbergplatz, die Kinos und Cafés der TauentzienstraBe, die staubigen Baume wie traum-fremd, wie traumvertraut! Sie war kaum vier Monate fort gewesen, es hatte sich nichts verandert. — Es hatte sich alles verandert. Sogar der Himmel über Berlin sah anders aus als früher; er war pflegerin . . . Wie alt mag ich gewesen sein, als ich die Nieren-Koliken hatte, die so ungeheuer schmerzhaft waren ? . . . Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. . . Sonderbar eigentlich: spater habe ich nie wieder mit den Nieren zu tun gehabt. . . Die arme Korella rang vor Entsetzen die Hande, wenn ich mich in Schmerzen wand. Vielleicht krümmte ich mich sogar mehr, als unbedingt nötig war, weil es mir Vergnügen machte, Mutter die Hande ringen zu sehen. . . AuBerdem hatte ich wohl auch noch andre Gründe, meine Qualen zu übertreiben. Denn ich mochte das Mittel sehr gern, das der Hausarzt mir verabreichte. „Da müssen wir wohl etwas Linderndes geben," sagte der Onkel Doktor und schmunzelte wie der Weihnachtsmann, ehe er die Geschenke auspackt. Dann applizierte er mir eine Spritze ins Bein. Ich hatte erst etwas Angst vor dem Stich; aber bald gewöhnte ich mich daran. So angenehme Gefühle kamen über mich, nach der Injektion . . . Stundenlang lag ich mit geschlossenen Augen auf dem Bett; aber geschlafen habe ich nicht. Obwohl ich wach war, kamen die Traume. Recht hübsche Traume, wie ich mich erinnere . . . Die Nieren-Schmerzen, so arg sie waren, nahm ich gern in Kauf, um der reizenden Traume willen ..." — An diesem Abend besuchte Martin allein eine Music-Hall im Faubourg Montmartre. Dort trat ein Clown auf, über den er sich früher einmal in Berlin amüsiert hatte. Er versprach sich eine Zerstreuung davon, ihn wieder zu sehen. Aber das Programm langweilte ihn. Der berühmte Komiker sollte erst nach der Pause erscheinen. Martin hatte sich eine billige Karte genommen, die ihn nur zum Aufenthalt im „Promenoir", dem Steh-Parterre, berechtigte. Die Luft dort war heiB und stickig. Martin fühlte sich müde und angewidert. Im Zwischenakt trank er einen doppelten Cognac am Buffet. Dann verlieB er das Theater und ging zum Boulevard Clichy hinauf. Er trank noch mehrere Cognacs in mehreren kleinen Bars, und schlieBlich blieb er in einem stillen Café, nahe der Place Blanche, sitzen. Er bestellte sich einen Pernod Fils; dann noch einen. Der Kopf wurde ihm ziemlich schwer. ,Hier ist es relativ angenehm', dachte er und legte die heiBe Stirn in die Hande. ,Hier bleibe ich eine Weile. Wenn ich sehr spat nach Hause komme und ziemlich viel Pernod getrunken habe, werde ich vielleicht schlafen können.' Es gab fast keine Gaste im Lokal. Das elektrische Klavier spielte die Ungarische Rhapsodie von Liszt. Der Barmixer — ein sehr magerer, bleicher Bursche mit tiefen Schatten um die trostlos blickenden Augen — unterhielt sich, über die Theke weg, mit einem Mann, der Martin den Rücken zudrehte. Es kam dem Einsamen vor, als ob die beiden über ihn sprachen. Der Mixer schaute mehrfach zu ihm hin, und der Mann an der Bar drehte sich einmal um, um ihn schnell und scharf zu fixieren. Aber Martin war nicht neugierig auf die Geheimnisse der Zwei. .Vielleicht überlegen sie sich, ob sie mir ein Madchen verkaufen können', dachte er verachtlich. .Wahrscheinlich die dicke Alte, die dort drüben in der Ecke schlummert.' Er schloB die Augen. ,Diese Ungarische Rhapsodie ist ein hundsordinares, aber immer wieder effektvolles Stück. Komisch, wie mich das rührt . . . Jetzt könnte ich weinen. Aber das ware ein zu idiotisches Benehmen: einsam in einer kleinen Montmartre-Bar sitzen, diesegemeineMusikhören und Tranen vergieBen . . . Wenn ich nur Kikjous Adresse wüflte, dann könnte ich ihm gleich ein paar Zeilen schreiben — das ware jetzt die beste Beschaftigung . . . Seine Geheimnistuerei mit dem katholischen Onkel ist etwas kindisch... Ob er wirklich an den lieben Gott glaubt ? . . . Alter Herr Korella wurde immer ein biBchen gereizt, wenn Mama den lieben Gott erwahnte. Liebe Hedwig, sagte er, der Junge ist wirklich schon zu groB, um ihm Ammenmarchen zu erzahlen. Du weiBt doch, ich mag das nicht. — Ein sehr aufgeklarter Mann!' Martin kicherte höhnisch in sich hinein. ,Alter Herr Korella ist Freidenker. Das hat auch etwas Drolliges. Schade, jetzt ist die Rhapsodie zu Ende. Die alte Hure dort drüben schnarcht aber wie drei besoffene Kutscher. Ich sollte mir noch einen Pernod kommen lassen. Der Mixer hat seltsame Augen. Es muB ja auch melancholisch stimmen, die ganze Nacht hier zu sitzen. Wahrscheinlich schlaft er tagsüber. Martin, es ist ungesund, tags im Bett zu liegen —, hat alte Frau Korella mir oft versichert. Wieso eigentlich ? . . . Ob meine alten Herrschaften sehr unter diesen Nazis zu leiden haben? Papa ist ein so guter Patriot. Als ich abreiste, hat Mama mir gesagt: Wir haben nichts zu fürchten, mein Sohn. Unser Gewissen ist rein. Rührende alte Frau! Vielleicht werde ich sie nie wieder sehen; das würde mir doch leid tun, ganz entschieden.' — „Ganjon, un autre Pernod, s'il vous plait!" rief Martin und schlug die Augen auf. Da bemerkte er, daB der Mann, der sich vorhin nach ihm umgedreht hatte, neben ihm am Tische saB. — „Bon soir, Monsieur", sagte der Mann. Er sah sehr ramponiert aus und war wohl noch ziemlich jung. Sein gedunsenes, schlaffes Gesicht zeigte grau-weiBe Farbung. Die Pupillen in den nah beieinander liegenden, dunklen und engen Augen waren auffallend klein: glitzernde schwarze Punkte, winziger als ein Stecknadelkopf. „Bon soir, Monsieur", sagte auch Martin, und er dachte: ,Wieso habe ich ihn nicht gehort, als er an den Tisch kam ? — Mein Gott, der Mensch will sich mit mir unterhalten! Das hat mir gerade noch gefehlt!' Wirklich begann der andere eine Konversation uber gleichgültige Gegenstande. Er sprach über das Wetter, die Fremdensaison, die Kriegsgefahr und die hohen Preise. Martin antwortete, so gut er konnte, in seinem noch recht ungewandten, stockenden Französisch. ,Worauf will er hinaus ?' überlegte er sich. 'Der führt doch irgend etwas im Schilde . . — Sein Nachbar hatte eine merkwürdig prüfende, fast lauernde Art, ihn zu beobachten. Zuweilen lachelte er, plötzhch und überraschend, als wollte er sagen: ,Wozu machen wir uns gegenseitig etwas vor, lieber Freund ? Es wird allmahlich Zeit, dafl wir zur Sache kommen!' - ,Zu welcher Sache ?' erwiderte Martin ihm stumm, nur durch Blicke. ,Ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie meinen, mein verehrter, ungesund aussehender Monsieur.' Es gab im sinnlosen Gesprach eine Pause. Nach dem kleinen Schweigen erkundigte sich der Fremde, bedeutungsvoll grinsend: „Schmecken Ihnen dié Drinks ?" >Ja warum ? machte Martin erstaunt. ,,Es ist guter Pernod." "Sie sehen nicht wie ein Alkoholiker aus", sagte der Mann. „Es kommt auch ziemlich selten vor, daB ich trinke", sagte Martin. „Ach so , nickte der Mann. Und, nach einer Pause, besonders hinterhaltig: „Wahrscheinlich haben Sie gerade nichts — anderes ?" Martin deutete durch erstauntes Achselzucken an, daB er nicht begriff. Der andere, statt sich zu erklaren,' fragte nebenbei: „Wer hat Ihnen denn diese Adresse empfohlen ?" Welche Adresse ? — wollte Martin wissen. „Ich bin zufallig hierher gekommen." „So so", sagte der Fremde. „Da haben Sie GKick gehabt. Sie sind an der richtigen Stelle." Nun begann Martin sich zu interessieren. An was für einer Stelle denn ? — fragte er gierig. „Stellen Sie sich nicht dumm!" bat ihn der Bleiche, nun seinerseits etwas enerviert und gelangweilt. ',,Ich weiB doch, worauf Sie aus sind. Ich habe Bliek für sowas." Und er flüsterte heiser, den Oberkörper vorgeneigt, das fahle dicke Gesicht mit den brennenden kleinen Augen unheimlich in Martins Nahe gerückt: „Ich bin Pépé." „Sehr erfreut", sagte Martin. „Mein Name ist Fritz Meier." „Haben Sie noch nie von mir gehort ?" Pépé schien enttauscht. „Es ist ein Vertrauensbeweis, daB ich mich vorgestellt habe. Aber mein Instinkt trügt mich nie. Sowie ich Sie gesehen habe, wuflte ich: Das wird ein Kunde für mich." „Was verkaufen Sie denn?" — Martin fing an, zu verstehen. Pépé lachte wie bei einem guten Witz. Nachdem er sich genug amüsiert hatte, erklarte er, wieder ernst: „Ich habe eine ganz neue Sendung. Prima Ware. Heute erst aus Marseille gekommen." „Was ist es denn ?" forschte Martin. Pépé rückte noch naher an ihn heran. „Sie meinen — K. oder H. ?" fragte er, anzüglich grinsend. Martin erkundigte sich naiv: „Was ist das, — K. oder H.?" Pépé lachte wieder ein biBchen, ehe er flüsterte: „Kokain oder Heroin! Sie scheinen aber wirklich noch ein rechtes Kind zu sein! Ein Anfanger, wie ich sehe! Deshalb gefallen Sie mir gerade. Sie sind sicher ein besserer Mensch — ein Intellektueller; sowas merke ich doch. — Man muB immer vorsichtiger werden! Die Polizei ist überall hinter uns her. Gestern ist wieder eine Razzia gewesen. Kommen Sie mal mit mir auf die Toilette!" Er erhob sich und schlenderte zu der Türe, wo „Messieurs" stand. Martin zögerte eine Minute, ehe er folgte. Es war eine recht primitiv eingerichtete Lokalitat. Nicht einmal eine Sitzgelegenheit gab es; sondern, neben dem Abtritt, nur zwei Stützpunkte für die FüBe. Übrigens roch es garstig. Pépé hatte schon die Brieftasche gezogen. Er entnahm ihr ein Packchen aus starkem, roten Papier. „Eine Qualitat wie für Prinzen!" verhieB er noch, ehe er das Packchen öffnete, und küBte sich, selbst entzückt von der Feinheit dessen, was er zu bieten hatte, die Fingerspitzen. „Schauen Sie mal, wie das funkelt! Wie lauter kleine Kristalle!" — Martin blickte neugierig hin; was er in der kleinen roten Hülle entdeckte, war ein grauweifles Pulver. „Es sind drei gute Gramm", erkliirte Pépé und wog seinen leichten Schatz liebevoll auf der Handflache. „Ich lasse es Ihnen für 200 Francs." Martin, seinerseits ziemlich heiser flüsternd, brachte hervor: „Ich weiB aber gar nicht — ob ich Kokain überhaupt mag ..." Und war doch schon fast entschlossen, dem verdachtigen Gesellen sein Zeug jedenfalls abzukaufen. „Dummerchen!" Pépé sagte es beinah zartlich, mit den gedunsenen, fahlen Lippen nah an Martins Ohr. „Ich sehe doch, daB du kein Typ für Koks bist. Koks ist eine Droge für kleine Huren. Du hast ein Gesicht wie ein Philosoph. — Es ist Heroin, feinste Sorte!" Martin spürte seinen Atem an der Wange; er ekelte sich, wandte sich aber nicht ab. „Wenn du mir nicht so sympathisch warst", raunte der Handier, „würdest du das gute Zeug gar nicht kriegen! Hast du denn eine Vorstellung, was ich riskiere, indem ich dir sowas an- biete ? — Aber ich kenne dich, ich kenne dich schon... Du bist ein feiner Kerl, du hastWeltschmerz, vielleicht ist eine Geliebte dir weggelaufen, da brauchst du ein biBchen Trost. Der Pemod genügt dir nicht, du muBt etwas Besseres haben. Da ist etwas Besseres . . . Da flüsterte er verlockend. „Ich lasse es dir, für nur 200 Francs, weil ich weiB: du wirst ein guter Kunde von mir. Du kommst wieder, und oft — da habe ich gar keine Zweifel..." Pépé legte ihm einen schweren, weichen Arm um die Schulter. Martin spürte, daB ihm gleich übel werden würde: vom Gestank des Aborts und von der Nahe dieses Menschen. „Gut. Ich nehme es", sagte er mühsam und langte schon nach dem Geld. Dann zögerte er noch einmal: „Wie konsumiert man solches Zeug eigentlich?" „Mach nur schnell, nimm endlich das Packchen", drangte Pépé. Er schien weniger gierig danach, das Geld zwischen seinen Fingern zu spüren, als er drauf aus war, das Pülverchen in der Hand seines Kunden zu sehen. ,Er ist wie der Satan', muBte Martin plötzlich denken. ,Wie der Teufel, der es nicht erwarten kann, die Bluts-Unterschrift seines Opfers unter dem verhangnisvollen Vertrag zu haben . . .' „Auf welche Art man es konsumiert ?" kicherte der Böse. „Ganz wies beliebt, Herzchen, ganz wie es dir SpaB macht, du wirst's schon noch lernen — wenndu es wirklich noch nicht weiBt. Du kannst es durch die Nase hochziehen: so!" Er nahm eine kleine Prise auf den Handrücken und schnupfte sie mit GenuB. „Oder du kannst es in Wasser auflösen und dir einspritzen. Darauf kommst du bald genug, mein Schatz!" Martins Hande zitterten, als er die Fünfzig-FrancsScheine hinzahlte und das Packchen zu sich steckte. Pépé lieB ihn noch wissen: „Mich findest du immer hier, das ist mein Stammlokal. Mittags zwischen elf und zwölf, und abends ab zehn Uhr kannst du mich garnicht verfehlen — solange ich die Adresse nicht aus Vorsichtsgründen andere. — Au plaisir, mon vieux, a bientöt, Ich bleibe noch einen Moment auf defn Loküs." Martin kam leicht taumelnd in die Bar zurück. „Ich zahle zwei Pernods Fils", sagte erzumMixer, und versuchte, sich ein würdig unbefangenes Aussehen zu geben. Der Bursche musterte ihn mit einem Lacheln, das höhnisch aber nicht ohne eine gewisse gutmütige Mitleidigkeit war, von oben bis unten. ,,Sonst zahlen Sie nichts ?" fragte er. Jetzt fiel es Martin auf, dafi auch der Mixer in seinen dunklen, hungrigen Augen die winzig kleinen, stechenden, Pupillen hatte. — Martin nahm sich ein Taxi an der Place Blanche und ÜeB sich zum Hotel „National", rue Jacob, fahren. In seinem Zimmer zog er das Packchen aus der Tasche, ehe er noch seinen Hut abgelegt hatte. Das dunkelrote, starke Papier war kunstvoll zusammen gelegt; kein Staubchen des Pulvers konnte verloren gehen. Martin schüttete sich ein wenig von der weifilichen Substanz auf den Handrücken, wie er es Pépé hatte machen sehen. Er trat vor den Spiegel, führte die Hand vorsichtig zur Nase und zog das Pulver hoch. Es kitzelte in der Nase, reizte die Schleimhaute und liefi die Augen feucht werden. Gleichzeitig spürte er einen bitteren Geschmack, hinten am Gaumen und in der Kehle. .Wahrscheinlich ist das Ganze ein Schwindel', dachte er argerlich. ,Ich bin irgend einem kleinen Halunken hereingefallen, und meine 200 Francs bin ich los . . .' Er setzte sich aufs Bett und wartete. Würde sein Zustand sich andern ? ,Ich verlange ja gar kein Glück', dachte er, ,ich beanspruche keine plötzlichen Wonnen. Was ich möchte, ist nur ein wenig Erleichterung. Dal3 diese Last weg war von meiner Brust! DaB diese fürchterliche Spannung sich löste! DaB ich ruhig würde! Mehr erhoffe ich nicht Und wahrend er es dachte, war er schon ruhig geworden. Das Wohlgefühl, das sich einstellte, war unbeschreiblich. Es enthielt Frieden und eine schone Erregung zugleich. Es war Entrückung und gesteigertes Leben. Übrigens brachte es auch etwas physische Übelkeit und leichten Brechreiz mit sich. Aber das störte kaum. Die Annehmlichkeit war zu groB. ,Welch magische Pulver-Substanz hat dieser Pépé mir da für 200 Francs kredenzt!' dachte Martin benommen. ,So wohlig war mir nicht mehr zu Mute — seit wann ? Seit mir der Onkel Doktor Injektionen gegen Nieren- Kolik verabreichte. Seit damals habe ich soviel Wohligkeit nicht gekannt . . . Jetzt möchte ich arbeiten . . . Ich habe unendlich zahlreiche und sehr gute Gedanken im Kopf. . . Ich werde mich nicht an den Tisch setzen, davon würde mir schlecht. Ich hole mir den Schreibblock ans Bett ..." Nicht umsonst, nicht zufalliger oder ungerechtfertigter Weise haben die Deutschen den Ruf, das gründlichste Volk der Erde zu sein. Ihre Emigration dauerte erst ein paar Monate lang, sie hatte gerade begonnen; es lieB sich noch gar nicht absehen, welchen Umfang sie annehmen, welche Kreise und Typen sie in sich einbeziehen würde —: da gingen exilierte deutsche Intellektuelle schon daran, sich über die „Soziologie der Emigration" zu unterhalten. David Deutsch — Kulturkritiker und Nationalökonom — erklarte, daB er eine gröBere Arbeit über diesen Gegenstand vorbereite. ,,Ein sehr faszinierendes Thema", behauptete er. „Faszinierend gerade deshalb, weil die Menschengruppe, um die es sich hier handelt, durchaus kein einheitliches Gebilde, keine Gruppe also im eigentlichen Sinn des Wortes darstellt; vielmehr ein höchst zufalliges Gemisch von Individuen, denen durch sehr verschiedenartige Umstande ein ahnliches Schicksal aufgezwungen wurde." Man saB in dem kleinen Lokal, das die Schwalbe in einer engen NebenstraBe des Boulevard Montparnasse, ein Schritte vom „Café du Döme" und der „Coupole", eröffnet hatte. Es gab hier recht gutes Bier; billige Mahlzeiten deutschen oder österreichischen Stils; man traf al te Freunde, machte Bekanntschaften, besprach die politischen Neuigkeiten und bekam Kredit bis zu einer gewissen Grenze, die durchaus willkürlich und je nach ihren unberechenbaren Sympathien von der Schwalben-Wirtin bestimmt wurde. Die Stammgaste waren fast samtlich Deutsche. Zuweilen brachten sie ihre französischen Freunde mit; Marion etwa erschien mit Marcel Poiret, oder Martin führte Kikjou ein. „Ich glaube kaum, daB es jemals eine so uneinheitliche Emigration gegeben hat wie unsere", sagte David und machte beim Sprechen seine schiefen, sinnlosen kleinen Verbeugungen vor Ilse Proskauer, die ihm aufmerksam lauschte. „In fast allen anderen historischen Fallen war die Zusammensetzung der Exilierten bestimmt durch soziale, nationale oder gesinnungsmaBige Charakteristika: eben jene psychologischen oder ökonomischen Eigenschaften, die ihren Tragern den Aufenthalt in der Heimat unter gewissen politischen Umstanden unmöglich machten. Was uns betrifft, so ist ein solches einigendes Moment, ein solcher Generalnenner kaum festzustellen." David Deutsch war sehr animiert. Auf seinem geisterhaft bleichen, wachsernen Gesicht wurden zarte rosa Farbtöne sichtbar; mit den dünnen, nicht eigentlich hageren, aber wie aus einer gewichtslosen, un-irdischen Materie gebildeten Fingern fuhr er sich Als die Nazis zur Herrschaft kamen, war Professor Abel einer der Ersten unter den Dozenten der Universitat Bonn, die ihrer Stellung enthoben wurden. Man ersparte ihm die Überlegung, ob er seinerseits, sofort und freiwillig, um seinen Abschied ersuchen oder ob er abwarten sollte, bis man ihn vor die Türe setzte. Wer weiB, wie Herr Abel — eine eher weiche, sensitiv-zurückhaltende, keineswegs heroische Natur — sich angesichts solcher Alternative entschieden hatte. Er muBte gehen, man lieB ihm keine Wahl; Geheimrat von Besenkolb, eifersüchtig wegen des erfolgreichen Romantiker-Kollegs und von germanischer Unversöhnlichkeit durch und durch, hatte höchstpersönlich die Entlassung des fatalen Konkurrenten beim Kultusministerium sofort beantragt. Es entsprach der ritterlichen Art des deutschen Forschers — zu dessen berühmtesten Arbeiten eine umfangliche Analyse des Nibelungen-Liedes gehorte — dem gefallenen, für den Augenblick total erledigten Feinde auch noch einen FuBtritt zu versetzen. Dieser bestand in einem langen und ungeheuer beleidigenden Feuilleton, das über den weggeschickten Professor in einem der führenden rheinischen Nazi-Blatter erschien und überschrieben war: „SchluB mit der Schandung deutschen Kulturgutes!" Der enorm gehassige Aufsatz war mit Initialen gezeichnet, und man nahm allgemein an, daB er von Geheimrat Besenkolb verfaBt, mindestens inspiriert worden war: er hatte alle Charakteristika seines zugleich markigen und tückischen Stils. Benjamin Abel war sehr ratlos und betrübt. Er wuBte gar nicht, wohin er sich nun wenden und was aus ihm werden sollte. Sowohl die Würde als der Selbsterhaltungstrieb verboten es ihm, noch langer in Deutschland zu leben, das lag auf der Hand. Andererseits war ihm eine Existenz im Ausland fast unvorstell- bar. Abgesehen von den obligaten Italienreisen der Studentenzeit, von ein paar Touren in den Schweizer Bergen und etlichen Besuchen in Wien und Paris, die vor allem den Wiener Breughels und den Schatzen des Louvre gegolten hatten, war er niemals auBerhalb der Reichsgrenzen gewesen. Für fremde Sprachen war er keineswegs besonders begabt. Er kannte sich selbst als gehemmt und belastet mit einer fatalen Neigung zu Minderwertigkeitskomplexen, die mit Erfolg zu bekampfen ihm nicht immer gelang. Es fiel ihm schwer, sich an Menschen anzuschlieBen, die meisten langweilten ihn, und wenn er seinerseits zu einer Person sich hingezogen fühlte — sei es aus welchen Gründen und unter was für Umstanden auch immer — plagte ihn der Argwohn, er könnte lastig fallen oder den Eindruck eines Aufdringlichen machen. Seine alte Mutter lebte in Worms — der Geburtsstadt Benjamins —, wo er sie jedes Vierteljahr mindestens einmal zu besuchen pflegte; übrigens verbrachte er seine Sommerferien regelmaBig mit der alten Frau in einem kleinen deutschen Kurort. Von der Mutter würde er sich trennen müssen, wenn er Deutschland verlieB; denn natürlich war nicht daran zu denken, daB die beinahe Siebzigj ahrige das Wormser Haus aufgab, in dem sie an die fünfzig Jahre verbracht hatte, und wo ihr Gatte, Benjamins Vater, gestorben war. Auch die Freundin würde Abel verlieren; nun bereute er, daB er sich, vor zehn Jahren, nicht dazu entschlossen hatte, sie zu heiraten. „Ich eigne mich ganz und gar nicht zum Ehemann", hatte er damals gesagt, und Fraulein Annette Lehmann eröffnete resigniert eine kleine Antiquitatenhandlung in Köln, die übrigens recht gut florierte. Obwohl Benjamin, aus Angstlichkeit und eigensinnigem Spleen, das liebe Fraulein Annette nicht zur Frau Professor gemacht hatte, waren die Beiden wahrend all der Jahre ein Paar und wurden von ihrem Bekanntenkreis durchaus wie Eheleute behandelt. Wie viele gute Dinge des Lebens würde man in der Fremde vermissen: die gemütlichen Kammermusik-Abende zum Beispiel, die Benjamin in seinem Hauschen zu Marienburg, zwischen Bonn und Köln, gepflegt hatte. Professor Abel leistete Achtbares auf dem Cello, und er hatte einen guten Freund von der medizinischen Fakultat, der als wackerer Pianist gelten durfte. Zu diesen Beiden fand sich dann wohl noch ein musikbeflissener Kollege oder Student, und so war denn in der Marienburger Miniatur-Villa manch Beethoven- oder Brahms-Quartett, nicht eben meisterlich, aber doch mit innigem Verstandnis und halbwegs hinreichender Technik exekutiert worden. Fraulein Annette hatte Tee und Brötchen gereicht, und in den Lehnstühlen hatten die Professorengattinen mit Handarbeiten gesessen und sich Universitatsklatsch erzahlt, wenn Schubert oder Bach verklungen waren. Wie traulich war dies gewesen! Nun, daB es so ganz vorüber sein sollte, in der Erinnerung, nahm es sich geradezu zauberhaft traulich aus. Übrigens gehorte der Klavierkünstler von der medizinischen Fakultat derselben Paria-Rasse an wie Abel. Am 30. Januar 1933 teilte er Benjamin mit, daB er nach England zu verziehen gedenke. Nein, nach England wollte Benjamin doch wohl nicht; ihm schien, in einer so ungeheuer groBen und fremden Stadt wie London würde er gar nicht atmen können. Nach langen Beratungen, die er mit sich selbst und mit Annette Lehmann anstellte, entschied er sich für die Niederlande. „Dorthin wolltest du doch ohnedies immer einmal", erinnerte ihn das intelligente Fraulein. Der Professor nickte wehmütig: „Ja, um die Rembrandts zu sehen." „Nun, und jetzt wirst du Zeit haben, dir die Rembrandts und die Frans Hals' und die Jan Steens einmal gründlich anzuschauen." Annette versuchte eine Munterkeit zu zeigen, deren Künstlichkeit der gequalte Bliek ïhrer Augen nur zu deutlich verriet. Die Sache mit den Niederlanden leuchtete dem Professor halbwegs ein. Er hatte sich viel mit hollandischer und flamischer Literatur beschaftigt und eine ausführliche Studie über den „Ulenspiegel" publiziert. „Von Holland aus wird man dann weiter sehen'', sprach die wackere Freundin ihm Mut zu. „Es ist sicher der geeignete Platz, um sich ans Ausland, an die Fremde zu gewöhnen. Die Niederlande sind nicht mehr deutsches Sprachgebiet und gehören doch noch zum kulturellen deutschen Raum. Man befindet sich dort im Bannkreis unserer groBen Überlieferungen. Ich hatte einmal drei sehr schone und anregende Wochen mit meiner armen Mama im Haag und in Amsterdam. Von Annettens schonen und anregenden Wochen mit ihrer armen Mama im Haag und in Amsterdam hatte Benjamin schon früher gehort. Aber wie geschickt sie zu reden verstand! Ganz entschieden. eine vorzügliche Frau — das bewies sich in so ernsten Situationen, wie Abels gegenwartige eine war. Freilich, die Wendung vom, ,kulturellen deutschen Raum hatte ein wenig verdachtig geklungen, etwas nach der üblen neuen Terminologie. Sollte die brave Annette schon ein klein biBchen angesteckt sein? Ach, wie würde sie sich entwickeln, wenn man sie den vehementen und unangenehmen Einflüssen überlieB, die sich nun hierzulande der Menschen wie eine Seuche bemachtigten und sie boshaft verdarben . . . „Sicher", bestatigte Benjamin, etwas müde. „Du hast sicherlich recht." „Und vielleicht", rief Fraulein Lehmann fast flehend, „vielleicht findest du gar eine Möglichkeit zur Beschaftigung in Holland selbst und kannst auf die Dauer dort bleiben — das ware doch wundervoll. Ich würde dich dann manchmal besuchen . . Es lag ihr viel daran, ihn davon zu überzeugen, daB er in Holland glanzend aufgehoben sein würde und daB dort nur das Beste ihn erwarte; denn er muBte doch weg, muBte doch Deutschland schleunigst verlassen, es war ja seiner selbst unwürdig, wenn er blieb, und auBerdem — diesen Gedanken wagte Fraulein Lehmann kaum sich selber zuzugeben — kompromittierte seine Anwesenheit auch sie, Annette. Sie wollte es ihm so gerne ersparen, daB sie sich von ihm zurückzog, sich nicht mehr öffentlich mit ihm zeigte. Aber andererseits: sie stand alleine in der Welt, sie konnte es nicht riskieren, aufzufallen, Skandal zu erregen — und skandalös war es doch nun einmal, wenn heute eine „Arierin" — Fraulein Lehmann war „Arierin" — mit einem „Nichtarier" Umgang hatte. Seitdem Geheimrat Besenkolbs graBlicher Artikel erschienen war, wurde Benjamin Abel von allen, die in Bonn auf sich hielten, peinlich gemieden. Hatte Annette denn Lust, auch über sich selber noch einen Artikel solcher Art zu lesen ? Die NaziiZeitungen waren wachsam, wenn es „Rassenschande" betraf. Und wie schnell konnten die Fensterscheiben an einem kleinen Antiquitatenladen zerschmissen werden . . . „Ich würde dich jedes Jahr ein paarmal besuchen können", versicherte Annette Lehmann noch einmal. Sie gab sich Mühe, dem alten Freund den Abschied so ertraglich wie möglich zu machen. Also die Niederlande —: Abel versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Niederlande gehören noch zum kulturellen deutschen Raum. Man will uns in Deutschland nicht mehr — grübelte Benjamin —; aber wir klammern uns an den „deutschen Kulturraum" . . . Der EntschluB ist gefaBt, er wird schnell in die Tat umgesetzt. Eilige Auflösung des Marienburger Haushaltes: es findet sich ein junges Ehepaar, welches die kleine Villa, samt der Einrichtung, sofort zu übernehmen bereit ist. Hastiger und ungünstiger Verkauf der Bibliothek; Abel entschlieBt sich, nur zwei Kisten — ein paar hundert ihm besonders lieber Bande — mit ins Exil zu nehmen. (Ja, es ist das Exil: dies wird ihmvon Tag zu Tag, von Stundezu Stunde klarer: er spürt es mit immer grausamerer Deutlichkeit, wahrend er sich losmacht von allem, was nun so lange sein Lebengewesen ist.) Annette kann ihm, bei so viel komplizierten und qualenden Erledigungen, kaum behilflich sein: Ein dummer Zufall, sie muB gerade jetzt nach Frankfurt reisen, „ein paar wichtige Auktionen, weiBt du; so viele reiche Leute ziehen doch jetzt weg von Deutschland, und da kommen Dinge auf den Markt, die sonst gar nicht zu kriegen gewesen sind . . Ja, natürlich, viele reiche Leute ziehen weg von Deutschland, auch arme übrigens — warum ziehen sie eigentlich alle weg ? Der Kunstmarkt jedenfalls profitiert davon; bald werden sich auch neue Kaufer finden für all die schonen Sachen, an die man sonst nicht herangekommen ist, eine neue Kauferschicht ist im Begriff, sich zu bilden, Annette hat wohl alle Hande voll zu tun, es ist ja schade, daB sie gerade wahrend der letzten Wochen, die Benjamin noch in Deutschland hat, auf Reisen sein muB . . . Abschiedsbesuch bei der Mutter in Worms; Tranen, Umarmungen ohne Ende, ,,Du kommst bald mal zu mir nach Holland, Mama, die Badeorte da drüben sollen ja wundervoll sein, Scheveningen zum Beispiel, und übrigens, wie lange wird diese Nazi-Herrlichkeit schon dauern, alle sagen, Hugenberg und seine Leute werden Hitier davonjagen . . „Sicher, mein Liebling, sicher, aber ob ich das noch erleben werde, ich 10 bin doch schon alt, und in Scheveningen war ich mal mit deinem Vater, ein prachtiger Ort, feine Hotels, aber ich vertrage den starken Wind an der Nordsee nicht, er macht mir Atembeschwerden, Kopfschmerzen auch, hast du denn alle deine warmen Sachen eingepackt, in Holland muBt du vorsichtig sein mit dem Essen, sie haben dort eine schwere Küche, der Aal ist delikat aber unverdaulich, du weiBt doch, dein empfindlicher Magen." Noch einmal Bonn; nun wohnt Professor Abel schon im Hotel, sein Marienburger Haus wird für das junge Ehepaar zurechtgemacht. Annette ist aus Frank furt zurückgekommen; sie erscheint spat abends, merkwürdiger Weise tragt sie einen ziemlich dichten Schleier vorm Gesicht, sie hat doch früher nie einen Schleier getragen, und nun gleich einen so fest gewebten, hinter dem man ihr Gesicht kaum erkennt. Sie berichtet: in Frankfurt hat sie einige seltene und kostbare Dinge erstanden, ein Stück gotischen Samt, wundervoll und beinahe geschenkt, ich kann tüchtig Geld dran verdienen, wenn ich den richtigen Kaufer finde, deutsche Gotik wird vermutlich sehr im Preise steigen, das hangt mit allgemeinen Zeitströmungen zusammen. Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiB das doch bitte nie! VergiB, zum Beispiel, bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusik-Abende in Marienburg! Adieu, Geliebte! Was ware denn nun, wenn ich dich geheiratet hatte, damals, als wir beide gewesen sind ? Sahe dann alles besser aus, oder noch komplizierter ? Leb wohl! „Holland ist ja so nahe! sagt Annette — wie vernünftig Annette ist. Ja, Holland ist nah, eine lacherlich geringe Entfernung. Und trotzdem, was für eine groBe, einschneidende und bedeutsame Trennung. LaB mich noch einmal dein Gesicht küssen, du bist immer noch schön, ich finde dich immer noch schön, wir sind doch ein Paar gewesen, Gott sei Dank, daB du nun endlich diesen störenden Schleier abgenommen hast... Professor Abel kannte in Amsterdam keinen Menschen. Annette Lehmann hatte ihm einen Brief an einen groBen Kunsthandier mitgegeben; aber Benjamin entschloB sich nicht dazu, von dem Empfehlungsschreiben Gebrauch zu machen. ,Die Leute werden wahrscheinlich mehr als ihnen lieb ist von deutschen Emigranten behelligt'; dieses war des Professors entmutigende Überlegung. Der gleiche Gedanke bestimmte ihn dazu, bei einem Kollegen in Leiden, den er aus Heidelberg, und bei einem anderen im Haag, den er aus Bonn kannte, sich vorlaufig nicht zu melden. Benjamin Abel war ganz allein. Er ging herum wie in einem schlimmen Traum, und was er dachte, war immer nur: Was soll ich hier ? Warum bin ich eigentlich in dieser fremden Stadt ? Leider bin ich doch gar kein Hollander — warum gehe ich also in den StraBen von Amsterdam spazieren? Freilich, freilich — erinnerte er sich, wirrund betrübt — man hat mich aus Deutschland herausgeschmissen, ich durfte dort nicht mehr bleiben, Geheimrat von Besenkolb hat mich als einen „geistigen Vaterlandsverrater", als einen „Schadling an der deutschen Kultur" gebrandmarkt. . . Er saB im Freien, vor einem Café am Leidsche Plein. Es war angenehm, drauBen zu sitzen; nach einem Junitag, der hochsommerlich heiB gewesen war, brachte die abendliche Stunde willkommene Kühle. Von seinem Platz aus konnte Abel sehen, wie vor der „Stadsschouwburg" die schweren Automobile hielten und wie die Damen in Abendmanteln, die Herren mit den gestarkten weiflen Hemdbrüsten sich am Portal drangten. Es gab eine festliche Opern- r aufführung, Mozart, Abel hatte Lust gehabt, hinzugehen. Es ware hübsch gewesen, den „Figaro" einmal wieder zu horen, warum habe ich mir eigentlich kein Billet besorgt — dachte er. Aber dann: Nein, ich mufi sparen; Gala-Abende in der Oper zu frequentieren, das entspricht keineswegs meinen Verhaltnissen. Es lag ihm daran, sich selber glauben zu machen, da!3 er nur aus Gründen der Ökonomie auf den Mozart verzichtet habe. In Wirklichkeit hinderten ihn andere Gefühle an einem Theaterbesuch, wie an jeder geselligen Veranstaltung. Er wagte sich nicht unter Menschen. Die Idee, sich unter festlich geputzten Leuten bewegen zu müssen, war ihm unertraglich. ,Ich passé nicht in diese Gesellschaft, die reich, fröhlich und sorglos ist', empfand er gramvoll. >Ich bin gezeichnet, ich trage das Mal. Man hat mich nicht haben wollen in meiner Heimat, hat mich zum Paria degradiert. Ich bin kein Vergnügungsreisender, sondern ein Flüchtling. Es ware taktlos, eine grobe Taktlosigkeit ware es, in meiner Situation an Festlichkeiten der Fremden teilzunehmen.' Vor der „Stadsschouwburg" war es still geworden: drinnen hatte wohl die Ouvertüre begonnen. Wie gerne ware Abel dabei. „Figaro" war seine Lieblingsoper. . . Der einsame Professor bestelite sich noch einen Bols — anfangs hatte er den klaren, scharfen hollandischen Schnaps nicht ausstehen können; jetzt aber fand er schon, daB er eigentlich ganz gut schmeckte, besonders, wenn man ihn mit ein paar Tropfen von brauner Essenz würzte. Einen Augenblick lang überlegte Benjamin sich sogar, ob er dem Madchen, das mit bunten Tulpen zwischen den Tischen umherging, ein paar Blumen abkaufen sollte, eine rote, eine gelbe und eine weiBe Tulpe; er könnte sie vor sich hin in seinWasserglas stellen, sie würden ein schönes Leuch- ten haben im milden Dammerlicht der frühen Abendstunde. Aber dann fand er, daB dies doch wohl zu extravagant und übermütig ware. Er beschloB, daB er, nach dem GenuB dieses zweiten Bols, bezahlen, aufstehen und den Leidsche Plein überqueren wollte. Gegenüber von dem Hotel, auf dessen Caféterrasse er saB, gab es ein Blumengeschaft, das stets bemerkenswert schone Orchideen, zart getönte, heblich und überraschend geformte Blüten, sowie die ausgewahltesten Rosen, Nelken und Tulpen in seinem Schaufenster zeigte. Abel vergnügte sich oft mehrere Minuten damit, vor dieser Etalage zu stehen und sich die bizarren, beinah unzüchtigen Bildungen der kostbaren Treibhauspflanzen zu betrachten. Er fand es merkwürdig und sehr auffallend, welchen Luxus diese ernste und gediegene Stadt Amsterdam mit Blumen sich leistete. Oft kam es vor, daB nachts, in einem Lokal, Orchideen angeboten wurden, wie in den Lokalen anderer Stadte Veilchen oder Maiglöckchen. Und die Blumengeschafte muBten das Ungewöhnlichste bieten, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen. Über den Leidsche Plein wimmelten die Radfahrer: junge Madchen, Greise, pfeifende Burschen, alles durcheinander, alles eifrig die Pedale tretend. Abel wunderte sich jeden Tag aufs Neue darüber, wieviel Fahrrader es in dieser Stadt gab; das öffentliche wie das private Leben schien sich hier zum groBen Teile auf dem Zweirad abzuspielen. Benjamin argwöhnte oft, daB auch der Austausch von Zartlichkeiten zwischen jungen Paaren auf diesen wendigen kleinen Fortbewegungsmaschinen erledigt wurde. Ubrigens fürchtete Professor Abel sich sehr vor diesen „Fietsern", wie sie hier hieBen; durch ihre massenhafte Existenz wurde jede Überquerung einer StraBe zum riskanten Abenteuer. Nun hatten sie schon ihre kleinen Laternen an den Lenkstangen angesteckt, obwohl es am glasig grünblauen Himmel noch ein wenig Helligkeit gab. Auf der Brücke, die über die Singelgracht führt, stieg eine kleine Gesellschaft junger Leute von den Radern, urn über das Brückengelander ins trage, stehende Wasser zu schauen und recht nach Herzenslust sentimental zu sein. Sie steilten ihre Rader an die steinerne Brüstung, gegen die sie sich selber lehnten; sie legten einander die Arme um die Schultern, und nun sangen sie. Es war etwas recht wehmütig Gedehntes, Zartliches und dabei Rauhes; Abel fand, dafl es hübsch und rührend klang. Wahrscheinlich waren die jungen Leute im Vondelpark spazierengefahren, und dort waren sie derartig stimmungsvoll geworden, daB sie sich nun einfach nicht mehr beherrschen konnten, sondern singen und dabei ins Wasser schauen muBten. Aus dem Wasser hoben sich Nebel. Allmahlich wurde es kühl. An einem Tisch in Benjamins Nahe sprachen zwei beleibte Herren deutsch miteinander. Abel war empfindlich gegen den Klang der deutschen Sprache geworden; er fuhr immer ein wenig zusammen, wenn er sie unvermutet neben sich gesprochen hörte. Das Madchen mit den Tulpen hatte sich zurückgezogen; sie ging wohl jetzt gegenüber, vorm Café „Trianon oder dem „Lido", mit ihrem bunten Körbchen herum. Statt ihrer hatte sich ein Drehorgelmann eingefunden; eigentlich waren es zwei: der eine bediente das groBe, weiBe, goldverzierte Instrument, das auf Radern fortbewegt wurde; der andere ging mit seiner Mütze von Tisch zu Tisch und kassierte das Kleingeld. Er machte groBe Schritte, beinah rannte er; denn es galt, einem kleinen Malayen zuvorzukommen, der Erdnüsse anbot und auch gerne kleine Mün- zen haben wollte. Der Malaya, ein altes Mannchen, wirkte so mitleiderregend, daI3 mancher ihm gab, statt dem Abgesandten der prachtigen Drehorgel. Die kleine Jammergestalt aus den warmen Zonen schien ganz erbarmlich zu frieren. Seinen viel zu groBen alten Hut hatte er sich tief in die Stirn gedrückt, und der Kragen seines haBlich braun-schwarzen Überziehers war bis über die Ohren hochgeschlagen. Sein Gesicht, mit den breiten Wangenknochen und den schmalen t ra u rgen Augen, braunlich-schwarz wie der Paletot, verschwand fast zwischen Kragen und Hut; was man jedoch von diesem armen Menschenantlitz sah, genügte, um den Eindruck unendlichen Elends, trostloser Verlassenheit stark werden zu lassen. Professor Abel reichte ihm eines der spielzeughaft kleinen io-Cent-Stücke, die er in seiner Tasche fand. ,Ein Heimatloser, auch er', dachte er, nun seinerseits sentimental. ,Anderswozu Hause als hier, durch weiB Gott welche Zufallsfügungen in diese Stadt verschlagen. Sein Gesicht scheint nur aus Runzeln zu bestehen. Er ist vertrocknet, eingeschrumpft — wie eine Pflanze, die man aus der Erde gerissen hat, in die sie gehort. Ein Heimatloser, er auch . . .' Einer der deutschen Herren am Nebentisch lieB, überlaut, seine Stimme hören, die sowohl fett als auch hart war: ,,Es gibt immer Möglichkeiten, Reichsmark zu transferieren. Setzen Sie sich doch mal mit Kohn aus Elberfeld in Verbindung." Abel hatte genug. Er stand auf. Die Zeit verging; nun war Abel schon vier Wochen in Amsterdam. ,Das hatte ich auch wieder hinter mich gebracht, auch wieder geschafft', empfander, wennein Tag oder eine Woche vorüber war. So zahlen Gefangene in ihren Kerkern die langsam dahin gehenden Stunden und Tageszeiten. Sie warten auf etwas: auf das groBe Datum, dasdieFreiheit bringt. Aufwas aber wartete Abel ? Doch nicht auf „den Sturz des Regimes" in Deutschland ? Er meinte, innerlich mit dem Lande fertig zu sein, das ihn davon gejagt hatte. Taglich mindestens einmal sagte er sich selber: Ich wiirde in dieses Land nicht zurückkehren, sogar dann nicht, wenn man mich riefe. Ich habe abgeschlossen mit Deutschland versuchte er sich zu überzeugen. Mit Deutschland bin ich fertig, ganz und gar. Nein, es war wohl wirklich nicht „der Sturz des Regimes", dem er entgegenharrte. Er zahlte die Tage, die Wochen, weil er die Lebensumstande, in denen er sich befand, als durchaus provisorisch betrachtete. So konnte es doch nicht bleiben; so, wie es nun war, konnte es doch keinesfalls ewig weiter gehen. Es ging eine ganze Zeit lang so wei ter. Für Benjamin war es fast etwas wie eine Ewigkeit. — Wahrend der ersten zehn Tage seines Amsterdamer Aufenthaltes hatte er in einem groBen Hotel am Bahnhof gewohnt. Die Nahe der „Centraal Station war ihm tröstlich; sie bedeutete ihm ein Symbol für das Unverbindliche, Vorlaufige seines Zustandes. Auf die Dauer konnte er sich einen solchen Lebensstil nicht leisten. Das Hotel war teuer: fünf Gulden am Tag, nur für Zimmer und erstes Frühstück man kam sich ja wie ein Hochstapler vor. Die Ersparnisse, die er noch besaB, waren gering; im Wesentlichen war man auf eine kleine Pension angewiesen, und leider lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dafi auch diese Unterstützung plötzlich weghel; der nationale Staat konnte es müde werden, einem „geistigen Landesverrater" auch noch Geld ins Ausland nachzuwerfen. AuBerdem fand Abel, daB zu viele Deutsche im Hotel ein- und ausgingen. Manchmal sprach ein deut- scher Herr ihn wohl sogar an, im Lift, in der Bar oder in der Halle. Sehr wohl möglich, daB er nur eine harmlose Plauderei beginnen wollte — unverbindliche Konversation zwischen Landsleute, die sich in der Fremde begegnen: „Na, auch mal auf Reisen, wie gefallt es Ihnen in Amsterdam, ich muB jedes Jahr geschaftlich ein paar Mal rüber, kann Ihnen eine kleine Kneipe empfehlen, wo famoses Bier ausgeschenkt wird, fast wie im Münchner Hofbrauhaus, hahaha . . So etwas schwatzten die Herren. Professor Abel aber zuckte zusammen, als hatte man ihn schon nach seiner Weltanschauung, seiner politischen Gesinnung und seinen Familienverhaltnissen ausgefragt. Man wuBte doch nie, mit wem man es zu tun hatte. — . , Professor Abel, der keine deutschen Zeitungen mehr las und in den hollandischen nur die unpolitischen Rubriken, studierte im „Telegraaf" und im „Handelsblad" die Annoncen, in denen möblierte Zimmer angeboten wurden. Er besichtigte mehrere Hauser; sie sahen samtlich eines wie das andere aus. Immer führte eine schmale, sehr steile und sehr sauber gehaltene Treppe hinauf zu den Stuben, die gleichfalls ordentlich gehalten und bescheiden möbliert waren. Schmuck und ÜberfluB bestand meistens nur in einer Vase mit Tulpen auf dem Tisch und in einer gerahmten Photographie der Königin an der Wand. Nachdem Benjamin fünf oder sechs Zimmer betrachtet und mit fünf oder sechs Hausbesitzerinnen verhandelt hatte, entschloB er sich für irgend einen Raum, der ihm nicht besser und nicht schlechter schien als die übrigen. Er fand es angenehm und passend, in der Mozart-Straat zu logieren, die übngens im stilisten, freundlichsten Viertel der Stadt gelegen war. Man befand sich an der südlichen Peripherie, und hatte keinen weiten Weg, wenn man ins Freie wollte. Um die Mozart- Straat herum gab es lauter hübsche, vielversprechende StraBennamen: Richard Wagner- und Beethoven- Straat, Apollo-Laan, EuterpeStraat, Clio-Straat, Brahms-, Chopin-, Schubert-, Handel-Straat, oder StraBen, die nach Rubens, Velasquez, Van Gogh, Van Eyck, Tizian, Murillo, Michelangelo, Holbein, Tintoretto hieBen. Von allen diesen schonen, ruhmreichen Namen — so meinte der Professor aus Bonn am Rhein — müflte doch ein wohltatiger EinfluB auf die Menschen ausgehen, die hier wohnten. Er versuchte, sich sein Zimmer mit Büchern und Photographien möglichst wohnlich zu machen. Aber er brachte es niemals fertig, sich in diesem Raum zu Hause zu fühlen. Jeden Abend fürchtete er sich vor dem Heimkommen, welches eigentlich gar kein „Heimkommen" war; deshalb hielt er sich regelmaBiger und langer in Lokalen auf, als dies früher seine Art gewesen. Besonders qualte es ihn, daB es in seiner Stube immer nach den Mahlzeiten roch, die er hier einsam verspeiste. Es nützte nichts, die Fenster aufzureiBen; der fatale Duft nach Saucen und Suppen schien zah in dicken Plüsch-Portièren, im abgeschabten Teppich zu nisten. Ja, er haBte diesen Geruch, und er verabscheute auch den anderen, mit dem das dammrig dunkle Treppenhaus ihn empfing und in dem die Aromas von Staub und Speisen, von alten Stoffen und schwitzenden Magden sich unerfreulich miteinander vermischten. Übrigens kam der Professor, im Lauf der Wochen und Monate, dem Haus in der Mozart-Straat allmahlich hinter allerlei unheimliche Eigenschaften. Ziemlich lange hatte er nicht gewuBt, was es mit dem Brummen für eine Bewandtnis hatte, dessen gedampfter Laut in seiner Stube fast ununterbrochen zu der Wange; das blinde, groBe, öde Antlitz des Brummers stand dicht vor seinem Gesicht, gleich würde das Schreckenstanzchen beginnen. ,Ich überlebe es nicht', dachte Abel. ,Ich falie hin und bin tot, wenn ich mit diesem da tanzen muB': da kam endlich Rettung in Gestalt der Pflegerin — eine rüstige Person mit Zwicker auf der Nase, hoch aufgerichtet, in ihrer grauen Schwesterntracht: warum fand sie sich jetzt erst ein ? — und sie lieB eine gebieterische Stimme hören:,, Kom dadelijk hier, mijnheer van Soderbloem!" Damit hatte das arge Vorkommnis im Treppenhaus des „Huize Mozart" sein Ende gefunden. Der Greis wandte sich gehorsam, hörte für ein paar Augenblicke zu brummen und zu fuchteln auf, und nun konnte er sogar die wenigen Schritte, die ihn vor seiner Beschützerin und Meisterin trennten, ohne viel Taumeln zurücklegen. Die Pflegerin schleuderte, wahrend sie ihren tief gebeugten Patienten hinweg führte, Professor Abel einen mifibilligenden Bliek über die Schulter zu, als hatte er sich unpassende Spiele und Scherze mit einem armen Kranken erlaubt. Benjamin schwor sich, von nun ab jede Begegnung mit dem Brummer peinlichst zu vermeiden und stets, ehe er die Treppe hinunter ging, sorgfaltig zu lauschen, ob auch keine tappenden Schritte auf Stufen oder Korridor zu hören seien. Je langer er über den traurigen und unheimlichen Fall nachdachte, als desto auffallender, unstatthafter und tadelnswerter erschien es ihm, daB man ein solches Menschen-Wrack in einer Pension, Tür an Tür mit Gesunden, brummen lieB, anstatt es einer geschlossenen Anstalt zu übergeben. Tagelang nahm er sich vor, mit der Dame des Hauses in diesem Sinne zu sprechen; aber am Ende kam er zu dem EntschluB: Nein, ich habe wohl kaum das Recht, über irgend etwas Klage zu führen, mich aufzuspielen als den an- Eigentlich eine etwas ungewöhnliche Manier, sich herzurichten, für so ein junges, dummes Stinchen vom Lande — muBte Benjamin denken. War es die groBe Einsamkeit seines Lebens, die ihn miBtrauisch werden und ihn allerorten sonderbare, etwas unheimliche Zusammenhange wittern lieB ? Er begann zu argwöhnen, daB es auch um das brave Stinchen weniger harmlos stünde, als er es zunachst gehofft und vorausgesetzt hatte. Wahrend der ersten Wochen seines Aufenthaltes im „Huize Mozart" hatte es ihm viel SpaB gemacht, gelegentlich eine Viertelstunde mit Stinchen zu verplaudern. Sie redete gar nicht deutsch, war auch zu ungeübten Verstandes, um die Worte einer Sprache, die doch mit ihrer eigenen so intime Verwandtschaft hatte, zu erraten. Abel sah sich gezwungen, all seine Kenntnisse des Hollandischen zusammen zu nehmen, um sich verstandlich zu machen. Das bedeutete eine gute Übung, und Benjamin konnte sie wohl gebrauchen. Stinchen war nachsichtig, munter und geduldig. Gutmütig lachte sie über die groben Schnitzer, von denen jeder seiner Satze wimmelte, und es vergnügte sie, den feinen gelehrten Herrn zu korrigieren. Es war Stinchens Mutter, eine rüstige und derbe Person, deren schwere Schritte und rauhe Stimme gewaltig durchs Haus hallten, die dem einsamen Fremden das kleine Trost-Vergnügen nicht gönnen wollte. Zu Anfang hatte sie sich um das Verweilen ihrer Tochter in der Stube des deutschen Mieters kaum gekümmert; mit der Zeit aber schien sie miBtrauisch und gereizt zu werden. Meistens brachte sie nun selbst die Mahlzeiten zu Abel hinauf, und wie böse schaute sie ihn an, wenn sie die Schüsseln so hart vor ihn hinstellte, daB es einen Knall und ein Geklapper gab. Erschien aber doch noch einmal das Stinchen, und verweilte sie auch nur ein paar Minuten lang, gleich lieB die Mutter ihre erzürnte Stimme horen. Stinchen ward bleich, traute sich kein Wort mehr zu sagen, sondern machte nur noch mit den Handen hilflose kleine Zeichen — und entschwand. Was für eine sonderbare Frau war Stinchens Mama! Professor Abel fürchtete sie fast ebenso sehr wie den garstigen Brummer im ersten Stock. Weibliche Züge schienen der kraftigen Person ganz zu fehlen. Gang und Stimme, ja, Form und Bildung ihres Gesichtes, der Hande, waren durchaus viril. Die Haare trug sie kurz geschnitten wie Stinchen; aber sie hatte sie nicht gescheitelt, sondern streng nach hinten gekammt. Über einem steif gestarkten, stets blendend weiBen Stehkragen, zeigte ihr kantiges Gesicht harte und strenge Züge; doch wirkte es nicht nur herrisch, sondern auch verstört und leidend; in den engen Augen gab es irre Flackerlichter. Haufig machte sie ihrem Stinchen maBlos heftige Szenen; wahrend das arme Ding auf dem Boden kniete, den sie mit dem Putzlappen bearbeitete, stand die unmütterliche Mama, breit- und steifbeinig wie ein Grenadier, daneben und grollte, tobte, klagte, schalt und weinte. Wenn solche Ausbrüche vorüber waren, ging sie mit einem verzweifelten Gesicht umher, schloB sich wohl auch stundenlang in ihre Kammer ein, die sie mit Stinchen teilte, in die das Kind dann aber keinen Zutritt hatte —, und wenn sie wieder zum Vorschein kam, zeigte sie blutig zerbissene Lippen und geschwollene Augen. Wunderliche Verhaltnisse — dem armen Abel gaben sie viel zu denken. ,In was für undurchsichtig trübe Dinge man verwickelt wird, wenn man sich in die Fremde wagt', war sein bestürztes Empfinden. Die Eifersucht, mit der die maskuline Al te jeden Schritt des kleinen Stinchens verfolgte, schien ihm auf eine verdachtige Art übertrieben. Das war nicht mehr die natürliche Sorge der Mutter um die Tugend der Tochter; vielmehr die gespannte, leidend wilde Wachsamkeit der Liebenden. Welche Gründe die Eifersucht der hysterischen Magd auch immer haben mochte, sie konnte für Benjamin gefahrlich werden. Er durfte sich schmeicheln, dafi er dem Stinchen nicht ganz gleichgültig war. Ihre freundlichen Blicke, ihr Erröten, wenn er in die Nahe kam, verrieten, daB der interessante einsame Mann ihr kindliches Herz beeindruckte und beschaftigte. Sehr angenehm, sehr niedlich und erfreulich! Aber doch auch wieder beangstigend, unter den Umstanden, wie sie nun einmal waren. ,Die Alte brachte es fertig, mir Gift einzugeben', fürchtete sich Benjamin Abel. Jedes Gericht, das aus der Küche kam, wo die gar zu liebevolle Mutter schaltete, konnte den Tod bringen . . . Benjamin hatte langst beschlossen, möglichst bald umzuziehen; aus einer Tragheit, die allmahlich den Charakter einer totalen psychischen Lahmung bekam, brachte er es nicht über sich, seinen vernünftigen Vorsatz auszuführen. Er blieb — obwohl alles, was ihn umgab, ihm taglich umheimlicher und gespenstischer wurde. Recht schaurig war zum Beispiel, daB vor dem Krankenhaus, das dem „Huize Mozart" gegenüberlag, taglich mindestens einmal das schwarze Leichenautomobil stationierte. Haufig hatte Benjamin, der so viel Zeit unbeschaftigt am Fenster verbrachte, schon beobachten können, wie der Sarg aus dem Portal der Klinik getragen und in das sinister-elegante, schwarz lackierte Fahrzeug verladen wurde. Wahrend der ersten Wochen seines Aufenthaltes war ihm dergleichen nie aufgefallen. War damals die Sterblichkeit im Hospital geringer gewesen? Oder hatte man die soeben Verblichenen auf dezentere Art aus dem Hause 11 geschafft ? Es war ja wohl im Allgemeinen üblich, den Abtransport derer, die da ausgelitten haben, auf eine Stunde zu legen, die von den Lebenden verschlafen wird. . . mit diesen zivilisiertenUsancen also hattedas „Ziekenhuis", auf dessen saubere Front Benjamin den Bliek hatte, rigoros gebrochen. Am hellen Tage ging hier mit zynischunbekümmerter Sachlichkeit vonstatten, was sonst, mit zarter Rücksicht auf die natürliche Aversion der Atmenden gegen die Erstarrten, im schonenden Dammerlicht und an versteckter Stelle erledigt wurde. Übrigens konnte Abel sich nicht verhehlen, dal3 er die Abreise der stummen Gaste in ihren schwarz verhangenen, motorisierten Luxuskarossen mit Neugierde, ja, nicht ohne ein gewisses schlimmes Vergnügen beobachtete. Er ertappte sich bei Gedanken, die zu miBbilligen und absurd zu finden, er denn doch die moralische Kraft noch aufbrachte. ,Wie behaglich mufi es sein', empfand er sehnsuchtsvoll, ,wie so sehr angenehm und behaglich, wenn man nicht mehr darüber nachgrübeln muB : Wo gehore ich hin ? Wo ist mein Vaterland ? Wo werden meine Dienste verlangt ? Was fange ich an mit den Gaben, die mir Gott gegeben ? Wie verwende ich sie ? . . . Die schmale, langgestreckte, schwarz lackierte Kiste wird zum Vaterland, ein anderes kommt nicht mehr in Frage. . . Von mir genommen die Qual der Zweifel, der Enttauschungen Schmerz.. . Eine dunkle Kutsche steht vor dem Tore und erwartet mich . . . Freundliche und kraftige Herren in schicklicher, schwarzer Tracht holen mich ab, und wer vorüber kommt, nimmt den Hut ab . . . Denn ich bin ein freier Herr geworden, ich bin vornehm . . Wenn der Einsiedler mit seinen abwegigen, defaitistischen und unerlaubten Gedanken bis zu diesem Punkte gekommen war, spürte er wohl einen Schrecken und gesunde, kraftige Empörung gegen sich selbst. ,Was ist das alles denn für abgeschmackter Unsinn! Ich habe doch noch manches in dieser Welt auszurichten, und es wird wohl irgendwo noch Leute geben, die mich brauchen können! Bleibt mir wirklich nur noch die fragwürdige Behaglichkeit des Leichenautos übrig, weil in meinem Vaterland zur Zeit das Pack die honetten Leute schikanieren darf ? . . . Ich komme ja innerlich ganz aus der Form, weil ich zu viel alleine bin und mich noch auf keine ernste Arbeit konzentrieren kann. Jetzt gebe ich mir aber einen Ruck, ziehe meinen guten blauen Anzug an und besuche ein paar hollandische Kollegen.' Die Visiten im Haag und in Leiden verliefen angenehm. Abel hatte menschenfreundliche, gescheite und gerechte Manner angetroffen. Was hielt ihn davon ab, diese Besuche zu wiederholen, einen regelmaBigen, intimeren Verkehr mit den niederlandischen Gelehrten herzustellen ? Sie waren ihm wohlgesinnt, schatzten seine Arbeit, nahmen Anteil an seinem Schicksal. Recht herzlich war er, sowohl in Leiden als im Haag, aufgefordert worden, sich bald einmal wieder zu melden. Der Umgang mit den angesehenen, wohlbestallten Forschern hatte von bedeutendem Nutzen sein können. Hatte der eine von ihnen nicht schon vielversprechende Andeutungen gemacht ? „Köpfe wie Sie können wir brauchen", hatte er zu Abel gesagt. „Vielleicht zunachst einmal eine GastProfessur ..." Es bestand kein AnlaB, dergleichen für leere Höflichkeitsfloskeln zu halten. Abel hatte auf dieses halbe Angebot sofort eingehen sollen, und er hatte sich nicht zu schamen brauchen, spater dringlich darauf zurück zu kommen. Er unterlieB es. Warum unterlieB er es denn ? . . . Er ging herum, lieB die Zeit verstreichen. Die hollandischen Freunde — genauer gesagt: die Bekannten, die wohl dazu bereit gewesen waren, seine Freunde zu werden — suchte er nicht mehr auf. ,So herunter gekommen, so würdelos, da!3 ich fremden Leuten lastig fallen möchte, bin ich denn doch noch nicht', dachte er, bitter und stolz. Das Argste, Qualendste war, daB er nicht arbeiten konnte. Er hatte vorgehabt, seine unfreiwillige Freiheit zur Ausführung eines literarischen Planes zu nutzen, der ihn seit langem lockte und ihm reizend erschien. Es handelte sich da um einen entzückend zarten und empfindlichen, schwierigen, geistig komplexen Gegenstand. Er hatte sich darauf vorbereitet und darauf gefreut, ein kleines — aber nicht gar zu kleines — Buch über die Wiener literarische Schule um die Jahrhundertwende zu schreiben. Die Abhandlung sollte den lyrischen Charme einer Liebesgeschichte, gleichzeitig aber das solide Gewicht einer literaturgeschichtlichen Studie haben. Im Zentrum der Betrachtung würden die Figuren Hugo von Hofmannsthals und Arthur Schnitzlers stehen: Beide waren sie Benjamins Lieblingsautoren seit seiner Gymnasiastenzeit. Was für ein hübsches, anmutiges und interessantes Buch könnte das werden! Aber damit war es nun nichts. Zu einer solchen Arbeit braucht man einen freien Kopf, ein unbeschwertes Herz, einen gescharften Verstand, eine zugleich gespannte und freudig lockere Stimmung der Seele. Trost kam von keiner Seite. Anette Lehmann, zum Beispiel, die tüchtige Freundin, die in Köln zurück geblieben war, hatte wohl die Macht und Möglichkeit gehabt, etwas Trost zu spenden; aber sie dachte gar nicht daran, augenscheinlich hatte sie ganz andere Gedanken im Kopf. Wie lange war nun schon kein Brief mehr von ihr eingetroffen ? Im letzten hatte sie mitgeteilt, daB sie zunachst nicht daran denken dürfe, nach Holland zu kommen. Ihr Geschaft nehme sie mehr in Anspruch denn je. Anette Lehmann versicherte ihrem alten Freund, er könne sich keine Vorstellung davon machen, was für ein Auftrieb und freudiger Elan im „neuen Deutschland" spürbar sei. Ja, die liebe alte Anette schrieb wirklich: „im neuen Deutschland" . . . In der Tat: dem Professor war ganz und gar nicht danach zu Mute, sich die Stimmung freudigen Elans in Köln am Rhein und im Antiquitatenladens Anettens auszumalen. Ihm schien das Wort „Deutschland vergiftet. Er dachte es nie ohne Qual, und da er es haufig dachte, hatte er ein groBes MaB an Qualen auszuhalten. Darauf war er kaum gefaBt gewesen: daB er, als nicht mehr ganz junger Mann, noch ein Gefühl, einen zehrend heftigen Affekt würde kennen lernen und gründlich erfahren müssen, der ihm seiner ursprünglichen Anlage, seiner Erziehung und seinem Temperament nach so fern gelegen hatte: den HaB. Wie lange war es her, daB er keine Zeitungen, oder nur die unpolitischen Rubriken in den Blattern gelesen hatte? Nun verfolgte er, mit gierigleidender Spannung, jede neue Schandtat oder Dummheit, Infamie oder Entgleisung, die das verhaBte Regime dort drüben -sich zu Schulden kommen lieB. Er las alles, merkte sich alles. Mit tausend Einzelheiten, immer neuen und immer krasseren Details nahrte er das qualende und berauschende Gefühl seines Hasses. Besonders qualend und erst recht berauschend wurde es dadurch, daB er es in so vollkommener Einsamkeit ertrug. Er erwog kaum die Möglichkeit, mit anderen Emigranten — die doch mindestens die Gefühle „HaB und Heimweh" mit ihm gemeinsam haben muBten — den Kontakt zu suchen. Die Idee, HaB und Schmerz fruchtbar zu machen — sich, um ihretwillen, in eine kampferische Front, in irgend eine aktivistische Gemeinsamkeit einzufügen — kam ihm noch nicht. Sein stolz und trotzig selbstgewahlter Teil war die Einsamkeit, begleitet von der monotonen Melodie des „Brummers". Sein Teil war die Einsamkeit. Sie ist die treueste Begleiterin auf den unendlichen Spaziergangen in der Stadt Amsterdam. Wie gut kannte der Professor nun schon diese Stadt: bis zum ÜberdruB genau, wollte ihm scheinen, war er vertraut mit ihren StraBen, Platzen, Brücken, Parks und Grachten. Es war sonderbar, dachte er oft, daB man in einer Stadt mit solcher Intimitat Bescheid wissen konnte, ohne sich doch in ihr ,,zu Haus" zu fühlen. Sie blieb die Fremde, — obwohl man nun schon bald jede ihrer StraBenecken ebenso genau kannte, wie die StraBenecken in den heimatlichen Stadten Köln, Worms und Bonn. Ubrigens war es eine liebenswürdige Fremde. Wenn Abel seine vergleichsweise guten Tage, seine nicht gar zu niedergeschlagenen Stunden hatte, dann fand er, und machte es sich ausdrücklich klar, daB Amsterdam eine schone Stadt war, abwechslungsreich und voll von sehenswerten, liebenswerten Platzen und Dingen. Auf seine zurückgezogene, einsiedlerische Art nahm Abel doch ein wenig Teil am Leben. Von den Lokalen, den Bierstuben, Bars und Dancings hielt er sich allerdings mehr und mehr fern. Man traf dort überall Deutsche; das störte ihn, — nicht nur, weil die Gegenwart der Landsleute ihm lastig und sogar peinigend war; sondern vor allem, weil er zu spüren meinte, daB ihre massenhafte Anwesenheit den Hollandern ein Argernis bedeutete. Kleine, an sich unbedeutende, aber doch charakteristische Erlebnisse bestatigen ihm dieses Empfinden, und waren geeignet, es noch zu verstarken. In einer Bar am Rembrandt-Plein, im Zentrum der Stadt, wo Benjamin gelegentlich spat nachts noch einen Bols getrunken hatte, saB hinter der Theke ein geschminktes, hochblondes, üppiges, dummes und freundliches deutsches Madchen.Sie war recht beliebt bei den hollandischen Stammgasten. Eines Nachts kam Benjamin dazu, als ein wohlbeleibter, rotgesichtiger, gut gelaunter, ziemlich stark alkoholisierten Amsterdamer Geschaftsmann mit der kessen und gutmütigen Berlinerin scherzte. Den Hut keek im Nacken, den Paletot aufgeknöpft, die dicke Zigarre im Mund, saB der muntere Bürger auf dem hohen Barstuhl und versuchte, einen Berliner Witz zu erzahlen. Benjamin nahm neben ihm Platz und wechselte seinerseits ein paar deutsche Worte mit dem Madchen, das er nicht zum ersten Mal sah. Daraufhin verstummte der Hollander und sah ihn miBtrauisch an. Nach einer etwas bedrohlichen Pause fragte er, die Augen böse zusammen gekniffen: „Auch Deutscher?" Benjamin muBte bejahen. Der Hollander schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln; es war eine ganze Pantomime der Ratlosigkeit und des Bedauerns, die er aufführte. Endlich schrie er, sehr laut, aber mehr verzweifelt als zornig: „Auch ein Deutscher!! Nun möchte ich aber doch wissen: Warum sind alle diese Leute hier?! . . . Warum ?!" rief er immer wieder, empört und jammernd, als ware ein Heuschreckenschwarm in sein Land eingebrochen und trafe Anstalten, es zu verwüsten. Das Barmadchen lachte herzlich. Sie fühlte sich gar nicht betroffen. Ein so erfreulich hochbusiges, schmuck hergerichtetes und verführerisches Lebewesen wie sie, war nicht zunachst Deutsche, sondern Frau. Die platinblonde Berlinerin konnte den erregten Gast nur beruhigen, indem sie ihm einen besonders groBen doppelten Bols offerierte. Eines Tages meldete Stinchen: „Herr Professor, es ist ein Mann unten, der etwas verkaufen will." Abel, der am Fenster mit Papieren saB, schaute kaum auf. „Er soll gehen, ich brauche nichts." — Stinchen lieB sich nicht wegschicken. „Es ist aber ein sehr netter Herr", sagte sie. „Ein Deutscher. Er ist auch so ein Emigrant, hat er mir erzahlt." Abel fand es brav von Stinchen, daB sie sich für Emigranten einsetzte. Er lachelte: „Lassen Sie ihn mal reinkommen." Ein paar Minuten spater rausperte sich jemand bescheiden an der Türe. Abel drehte sich um. Er erschrak und stand auf. Es war ein alter Schüler von ihm, und er war einer der begabtesten im Seminar gewesen. „Mensch, Hollmann!" „Der Herr Professor Abel! Das habe ich nicht gewuBt! — Man hat mir nur erzahlt, hier wohnt ein Deutscher, der sich mit Büchern beschaftigt. . . Ein sehr freundlicher Herr, hat mir das kleine Madchen unten gesagt. Da dachte ich mir: ich versuch es mal Hollmann setzte sich und nahm eine Zigarette. Jetzt erst fiel Abel auf, daB er sich verandert hatte. Er war magerer geworden und sein Haar sehr dünn. Diese nervöse Angewohnheit, sich mit dem Taschentuch die Stirne zu tupfen, war früher auch nicht an ihm aufgefallen. „Ja, was ist denn mit Ihnen los ? Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben ?" Hollman lachte traurig. „Ein Gewebfehler, wie man jetzt sagt. Mit meiner Mutter war nicht alles in Ordnung. Eine geborene Meyer, der Name klingt harmlos, aber ich konnte den ,Arier-Nachweis' nicht erbringen . . . Überhaupt hat es mir jiicht mehr gefallen . . . Erst habe ich in Paris als Filmstatist ge- arbeitet. Aber das war auch nicht angenehm; die Gesellschaft war namlich halb deutsch. Der Star aus Berlin war so ein süBer blonder Bursch, der mit der Direktion schön tut und die Statisten anbrüllt wie ein Unteroffizier die Soldaten. Ich habe ihm einmal eine Antwort gegeben, und dann war SchluB.. Na, und nun bin ich hier Vertreter von einem groBen Lebensmittelhaus. Den ganzen Tag fahr ich rum in einem Lieferwagen, und biete den Leute Konserven und Tee und Marmelade und Zucker an, oder W/iirQt Hahpn Sie keine Bedürfnisse ?" Abel lach¬ te: „Der Tee hier in deri Pension ist miserabel. Ich >•= / werde Ihnen was abkaufen . . Der junge Mann, der vor zwei Jahren eine vorzügliche Doktorarbeit über Goethe und Frankreich geschrieben hatte, blieb noch eine halbe Stunde bei seinem alten Lehrer. Sie hatten viel zu besprechen, sie lachten auch viel, dieser Hollmann war ein lustiger Kerl; aber als sie sich zum Abschied die Hand gaben, waren sie beide ernst. „Es war reizend bei Ihnen, Herr Professor", sagte der junge Mann. „Danke schön für die halbe Stunde. Jetzt muB ich aber schnell weiter ..." Er tupfte sich die Stirn mit dem nicht ganz sauberen Taschentuch und blatterte nervös in seinem Adressenbüchlein. „Noch zehn Hauser heute. Dann ist Feierabend." . . . Abel sah ihn von Zeit zu Zeit. Es machte ihm Freude, mit ihm von den alten Zeiten zu reden, und manchmal auch von der Zukunft. Wie lange war es her, daB er kameradschaftliche Gesprache nicht mehr gekannt hatte? Nun begriff er: es war vielleicht doch nicht gut, immer allein zu sein. Das Schwerste wurde leichter zu tragen, wenn man darüber reden durfte. Der Professor empfand für den früheren Schüler echte Sympathie, und manchmal etwas wie Dankbarkeit. Er machte sich auch vaterliche Sorgen. Einmal fragte aus der Contenance gebracht wurde und die ihn so fürchterlich argerte und erregte, daB er mit beiden FüBen aufstampfte, die Fauste ballte und schrie — sie bestand darin, daB Herr Wollfritz, der nicht nur einen Radio-Apparat, sondern auch ein Grammophon besaB, bei offener Zimmertür und unter Benutzung einer Nadel, die besonders starken Ton erzeugte, das Horst Wessel-Lied spielen lieB. Dabei richtete er es so ein, daB der Professor, als er nachmittags vom Spaziergang zurückkehrte, mit der verhaBten Melodie empfangen wurde. Ihm schmetterte es entgegen: „Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen, S.A. marschiert im gleichem Schritt und Tritt. . ." „SchluBü" schrie der Professor, dessen Gesicht erst sehr rot, dann weiB wurde, und sich mit SchweiB bedeckte. „SchluBü Genugü" Er war drauf und dran, ins Zimmer des Herrn Wollfritz zu stürzen und mit eigener Hand den Lauf der Platte zu stoppen, vielleicht gar den Apparat aus demFenster zu schleudern. Wollfritz trat ihm hoch aufgereckt, in der Tür entgegen. Die schneidende Kommandostimme schrie Abel an: „Sie sind wohl irrsinnig, Herr! Wenn Sie mein Zimmer betreten, lasse ich Sie durch die Polizei rausschmeiBen!" Diese Stimme war geeignet, dem Professor vollends die Besinnung zu rauben. Er keuchte: „Das ist eine Provokation! Stellen Sie sofort den Apparat ab! Ich brauche mir das nicht gefallen zu lassen!" Darauf Herr Wollfritz, mit kaltem Hohn: „Sowas hat mir gerade gefehlt! Der Jude will mir verbieten, die Nationalhymne meines Vaterlandes in meinem Zimmer zu spielen. Bodenlose Frechheit! Man ist bei uns immer noch zu sanft mit den Juden! Sowie sie im Ausland sind, werden sie unverschamt!" Abel hatte schon die Fauste gehoben. Aber am Grinsen des anderen erkannte er, daB dieser sich nichts anderes wünschte als ein Handgemenge. Blind, zitternd taumelte Benjamin in sein Zimmer. „Meine Rechnung!" rief er noch, ehe er die Tür hinter sich zuschmiB. „Ich ziehe aus! Sofort!" „Ist auch Ihr Glück!" erklarte Wollfritz, wobei er seinerseits sich zurückzog. „Ich ware auch nicht mit Ihnen unter einem Dach geblieben. Meine Schwester hatte zu wahlen gehabt zwischen Ihnen und mir." Fünf Minuten spater wurde dem Professor die Rechnung gebracht, als hatte man den Vorgang voraus gewuBt und alles für seinen Aufbruch vorbereitet. Stinchens Mutter, in drohend korrekter Haltung, überreichte ihm das Papier auf einem Silbertablett. „Hier, Mijnheer", sagte sie mit rauher, böser Stimme. Sie sah krankhafter und erschreckender aus denn je. Ihr groBes Mannergesicht war aschfahl und schien verwüstet von schlimmen Leidenschaften; in den Augen brannten Lichter eines irren Triumphes. Übrigens zeigte sie sich höflich und beflissen, trotz allem. Sie trug mit starkem Arm Benjamins schweren Koffer, den er eilig gepackt hatte, die steile Treppe hinunter. An der Türe des Brummers blieb Abel stehen, um noch einmal dem wohlbekannten, trostlosen Gerausch zu lauschen. Der Kranke schien gerade eine seiner munteren Stunden zu haben. In seinem Brummen und Summen lieB eine beschwingte kleine Melodie sich erkennen. ,Gleich wird er wieder heraustreten, um mich zum Tanzchen zu bitten', dachte Benjamin und ging eilig weiter. Wahrend die virile Matrone den Koffer ins Taxi verstaute, schlüpfte Stinchen aus der Haustür hervor. Sie preBte sich ein groBes, buntes Taschentuch vors Gesicht; dahinter flossen die Tranen. Abels Herz zog sich zusammen vor Rührung und einer sehr zartlichen Traurigkeit. Obwohl die Mutter, die sich umgewendet hatte, ihn mit wütenden Blieken töten zu 12 wollen schien, ging er mutig auf Stinchen zu und streckte ihr die Hand hin. „Adieu, liebes Kind", sagte er sanft. Ihm antwortete innig ihr in Tranen schwimmender Bliek. „Auf Wiedersehen", brachte sie hervor. Dann sprang sie davon — entweder aus Angst vor der Alten, oder weil sie sich der Tranen schamte. Wahrend der Wagen sich in Bewegung setzte, empfand Abel: ,Ich war sehr alleine in diesem Haus, und zum SchluB habe ich auch noch einen groBen Arger gehabt. Aber ganz einsam war ich doch nicht, und ganz schlimm ist es hier nicht gewesen. Es hat jemand um mich geweint. Vielen Dank, liebes Stinchen. Ich vergesse dich nicht.' hatte fast keiner genug Geld, um aufs Land zu fahren; hingegen langte es gerade noch zu einem Schnitzel bei der Schwalbenmutter. Wahrend Marion und ihre Begleiter, langsam und trag, durch den Luxembourg-Garten spazierten, erkundigten die Burschen sich nach den Verhaltnissen in der Emigration. Hummler berichtete über die politische Arbeit, die sich langsam organisierte. Er sprach von den humanitaren Comités — die Flüchtlinge, die immer zahlreicher eintrafen, muBten empfangen und provisorisch versorgt werden —, und von den Bemühungen, aufklarend, propagandistisch zu wirken. Die publizistische Aktivitat der Emigranten — dozierte Hummler — habe zwei Aufgaben. Sie müsse von der Welt gehort werden und den noch zivilisierten, noch demokratischen Nationen das wahre, erschreckende Bild des Dritten Reiches eindringlich zeigen; andererseits aber sei es von eminenter Wichtigkeit, daB der Kontakt zur Heimat gewahrt bleibe — erstens, um von dort die Nachrichten zu beziehen, die dann in die Welt zu lancieren sind; zweitens, um Aufklarungen, Warnungen und die Aufrufe zum permanenten Widerstand nach drinnen zu leiten, auf den geheimen, schwierigen und gefahrvollen Wegen der illegalen Agitation. „Wir fangen grade erst an", erklarte der Mann vom Volksbildungs-Wesen. „Aber manches ist im Entstehen begriffen, manches entwickelt sich schon ..." Er erzahlte von deutschen Zeitschriften und Verlagen, die „drauBen" eröffnet worden waren, oder nachstens ihre Publikationen beginnen würden. Eine deutsche Tageszeitung erschien seit neuestem in Paris. „Es ist alles nur ein Anfang!" wiederholte Hummler. „Und die Schwierigkeiten, denen wir bei all unseren Unternehmungen begegnen, sind kolossal." Am nachsten Tage verlangte Kikjou: „Zeige mir la chose infernale!" Martin steilte sich erst, als ob er nicht verstünde, was gemeint war; öffnete aber dann das Packchen und lieB das kristallisch durchsetzte, hellgraue Pulver sehen. Kikjou betrachtete es, sorgfaltig und etwas angewidert, wie man sich ein zugleich attraktives und schauerliches Lebewesen, etwa einen groBen, seltsam geformten Kafer besieht. „Formidable!" brachte er nach langer Pause hervor. „Es sieht ungeheuer giftig aus ..." Dazu schüttelte er sanft den Kopf, wie ein nachsichtiger junger Priester beim Anblick der nackten Sünde. Martin schlug vor: „Magst du es nichtversuchen ?" Kikjou verneinte nur mit einem Bliek. Martin erklarte: „Du muBt nicht denken, daB ich ein Morphinist bin, oder es jemals werden könnte. Ich nehme es nur ganz unregelmaBig, weiBt du . . ." Kikjou winkte ab. Mit einer sehr leisen, zugleich zartlichen und tückischen Stimme sagte er: „Ich bin neugierig, wie du aussiehst — wenn du es in dir hast. . ." Nachts beobachtete er den Freund, wie er sich, nach der Injektion, selig benommen aufs Bett streckte. „Dein Gesicht verandert sich," konstatierte Kikjou, halb lüstern und halb betrübt. „Wie fremd du mir wirst! Du bist schon ganz weit weg ... La chose infernale entführt dich —: wohin ? — Wohin Martin?" rief Kikjou ihm zu, mit erhobener Stimme, als galte es, sich über weite Entfernungen verstandlich zu machen. „Ist es schön, wo du bist ?" fragte Kikjou, wie über Abgründe weg. Und Martins entrückte Stimme gab Antwort: „Wunderschön." Aneinander geschmiegt sprachen sie die Nachte lang. Kikjou lieB die grausamen, unendlich neugierigen und unendlich zartlichen Augen nicht von Martins weiBer, besanftigter und streng verklarter Miene. Martin hielt die Augen geschlossen, wahrend er redete. Ihm kamen vielerlei Gedanken, die Worte strömten, das Gesprach nahm kein Ende. Alle Probleme, alle Begriffe wurden einbezogen, und alle losten sich auf in einem Nebel, der schimmernd, aber undurchdringlich war. Martin erzahlte auch manches von den Büchern, die er schreiben wollte —: groBe Bücher, wunderbare Geschichten. „Oh wie traurig — oh wie schön werden sie sein! All unsere Schmerzen sollen vorkommen, mitsamt allen Wonnen! Ich spüre, daB mir unvergleichlich Schönes glücken wird . . lallte er aus seiner Euphorie, mit zugleich beschwingter und sehr schwerer Zunge. Kikjou aber schaute ihn an . . . Da es Martins Meisterwerke bis jetzt nur in Traumen gab und sie noch nicht auf dem Papiere standen, griff er zuweilen nach einem Buch, das er liebte, um dem Freunde draus vorzulesen. Er öffnete den Band Novalis, riB seherisch die Augen auf, in denen die Pupillen sehr klein geworden waren, und verkündete: „Unerhörte, gewaltige, Keinen sterblichen Lippen entfallene Dinge will ich sagen. Wie die glühende Nachtwandlerin, Die bacchische Jungfrau Am Hebrus staunt Und im thrazischen Schnee Und in Rhodope, im Lande der Wilden, So dünkt mir seltsam und fremd Der Flüsse Gewasser, Der einsame Wald ..." . . . Tags waren die beiden Knaben still und ermattet. Seitdem die unbarmherzige Hitze über Paris gekommen war, verloren sie vollends die Lust, ihr 13 granten. Marcel bewirtete nicht nur die nahen Freunde, wie Marion, Martin und Kikjou, sondern auch beinah Fremde. „Wir wollen Grammophon spielen," schlug Marion vor; sie hatte ihre Hand immer noch auf dem Arm des Freundes. „Die schonen Negerplatten, die wir neulich gehort haben. — Es ist so reizend bei dir, Marcel. Wenn es jetzt noch Musik gibt, werden wir beinah glücklich sein." — — Marcel zu Marion: „Du bist zu geschaftig. Für mich hast du niemals Zeit. Ich bin nicht zufrieden mit dir." — Sie bat ihn: „Sage das nicht! Es tut mir weh, wenn du so etwas sagst oder glaubst. Ich denke immer an dich. Die Wahrheit ist, daB zuviel an mich heran tritt. Du kannst dir nicht vorstellen, mit was für abenteuerlichen Figuren und Problemen einen diese Emigration in Berührung bringt." „Und deine eigenen Plane ?" wollte er wissen. „Die Tournée, die du vorhast ?" Es war ihm bekannt, daB sie von ihrem Plan, eine Theater- Truppe zu organisieren, entgültig abgekommen war und nun für sich allein etwas vorbereitete. Indessen hatte er keine deutliche Vorstellung davon, um was es sich handeln mochte. Sie erklarte ihm: „Sei still! Ich bin aberglaubisch. Von Projekten sprechen, bringt Pech." „Du siehst müde aus," sagte er. Aber der Bliek, mit dem er sie umfing, enthielt mehr ;Bewunderung als Mitleid. „Du Jbist auch noch magerer geworden." Ihr kurzes, kraftig geformtes Gesicht mit dem breiten, gefahrlich lustigen Mund und den eindringlich schonen Katzenaugen, wirkte sowohl angegriffen als auch gespannt. Manchmal zeigte es den Ausdruck einer beinah wilden, aggressiven Entschlossenheit; zuweilen aber, wenn Marion sich unbeobachtet glaubte, erschlaffte es, und der Bliek wurde starr. „Du solltest für ein paar Tage mit mir ans Meer gehen," schlug Marcel ihr vor. Sie machte Einwande: „Vielleicht — nachste Woche, oder übernachste . . . Vorlaufig habe ich hier zu tun. Heute nachmittag, zum Beispiel, muB ich Ilse 111 einem französischen Revue-Direktor vorstellen, den ich noch aus guten alten Tagen kenne. Erinnerst du dich an Ilse 111? Eine unglückselige Person! Das Überraschende an ihr ist, daB sie etwas Talent hat, man sollte es nicht für möglich halten. Übrigens war sie mir immer graBlich. Es ist ja sonderbar, für was für Leute man sich jetzt einsetzen muB. Wahlerisch darf man nicht mehr sein ..." Sie bemühte sich nicht nur für die literarische Chansonette — die schon ganz herunter gekommen und verhungert war —, sondern auch für ein Dutzend anderer. Gelegentlich assistierte sie der Proskauer bei der übermaBig anwachsenden Arbeit, die der Betrieb im Comité mit sich brachte. Mit Hummler zusammen — der ihr zah und geduldig den Hof machte — kümmerte sie sich um die politische Agitation. Es machte ihr Freude, bei der Abfassungvon Manifesten und Broschüren behilflich zu sein, die dann, als Reklame-Heftchen für Zahnpasta oder Korsetts schlau zurecht gemacht, den illegalen Weg nach Deutschland fanden. Seltsame Typen meideten sich bei Marion von Kammer, deren Aktivitat und Hilfsbereitschaft man kannte. Eines Morgens klopfte es an der Türe ihres Hotelzimmers. Im Halbdunkel des Korridors stand eine groBe, hagere Frau, sie war nicht ganz jung; Marion taxierte: fünfundvierzig oder fünfzig Jahre alt. ,Mein Gott, sie will mit! etwas verkaufen,' dachte Marion; denn die Dame trug ein kleines gelbes Handköfferchen. ,Und ich habe doch gar kein Geld . . .' Sie bemühte sich, ein möglichst freundliches Gesicht zu machen, als sie sagte: „Guten Morgen. Kommen sie herein." Die hagere Dame erwiderte den GruB nicht. Wahrend sie eintrat, blickte sie sich scheu und hastig um, als fürchtete sie, es könnte ihr jemand folgen. ,,Danke schön," sagte sie, etwas sinnlos, und schauerte zusammen wie jemand, den ein kalter Luftzug berührt. „Setzen Sie sich doch!" sagte Marion, wobei sie die Besucherin einer schnellen, aber genauen Musterung unterzog. Sie hatte es sich angewöhnt, die Menschen, mit denen sie zu tun bekam, zunachst einmal gründlich anzuschauen. Die Kleidungsstücke, welche die Frau trug, — schiefes kleines Hütchen, langer Regenmantel, hangende Strümpfe, ausgetretene Halbschuhe — schienen auf eine sonderbare Art entfarbt und verblichen, von einem völlig leichenhaften Grau —: noch nie, meinte Marion, hatte sie derart fahle Kleidungsstücke gesehen. Aschgrau wie Kappe und Mantel waren auch die drei grotesken Löckchen, die unter dem Hutrand hervor auf die Stirne hingen. Diese Stirne übrigens schien edel geformt und von einer fast kindlichen Glattheit; nicht einmal die lacherlichen, runden, steif gedrehten Löckchen konnten sie entstellen. Die unruhigen, kleinen und dunklen Augen lagen in schattig vertieften Höhlen. Von einer sehr langen, scharf profilierten Nase liefen gramvolle Furchen zu einem schmalen, verzerrten Mund. „Fraulein Proskauer hat Ihnen also meine Adresse gegeben," sagte Marion, da die Fremde, in starrer Haltung, mitten im Raum stehen blieb. ,,Aber warum setzen Sie sich denn nicht ?'' Die Frau fuhr auf wie aus schweren Traumen; erschauerte wieder und lieB ein beangstigendes kleines Kichern hören. „Fraulein Proskauer, ganz recht," sagte sie geschwind und fügte ratselhaft möchte ich mir doch noch die Frage erlauben: Kennen Sie Bernard Shaw ?" „Ich hatte nie das Vergnügen." Marion war ziemlich erschrocken. „Ohne Frage, ein bedeutender Schriftsteller," fügte sie hilfios hinzu. „Der Ansicht bin ich auch einmal gewesen," bemerkte Friederike Markus spitzig. „Aber wenn er wirklich so bedeutend ist —: warum hat er mirdann auf fünfzehn Briefe" — bei Nennung dieser Zahl hob Frau Viola drohend den langen Zeigefinger —" auf fünfzehn lange, mit meinem Herzblut geschriebene Konfessionen nicht geantwortet ?!" — Marion meinte, der berühmte Ire dürfe vermutlich stark beschaftigt sein; daraufhin hatte Friederike nur ein unendlich höhnisch-hochmütiges Achselzucken. „Ich habe ihm meine Seele angeboten — mein Innerstes habe ich ihm enthüllt! Nicht nur, daB ich mich bemühte, ihm die furchtbar harten und übrigens auBerst interessanten Umstande meines Lebens ausführlich auseinander zu setzen —: ich habe ihn verschwenderisch beschenkt mit den Früchten meiner Erkenntnis; mit den durch unzahlige Schmerzen erworbenen Reichtümern meines Geistes!" Plötzlich den Ausdruck ihres Gesichtes und der Stimme verandernd, den Oberkörper wieder vertraulich vorgeneigt, fuhr sie fort: „Vorigen Monat hatte ich namlich die Möglichkeit, so viele Briefe zu schreiben, wie mein Herz begehrte. Ich habe meine Armbanduhr versetzt und mir für den Erlös eine Schreibmachine geliehen. Eine Schreibmaschine — denken Sie sich doch nur, ganz für mich alleine!" Sie kicherte wieder, diesmal klang es beinahe munter. „Etzel war um diese Zeit in relativ friedfertiger Laune. Alles traf sich sehr günstig, ich zog mich vier herrliche Wochen lang von den Geschaften zurück und widmete mich ganz meinen Briefen. — Und nun, diese Enttauschung . . ." Sie sank trostlos in sich zusammen. „Diese schmahliche Niederlage! — Wann werde ich mir jemals wieder eine Schreibmaschine leisten können ? Und Etzel — ach, wenn Sie ahnten, wie er jeden meiner Schritte belauert!" Ehe es zum Verkauf der Zahnpasta kam, muBte Marion sich noch manches über Frau Violas Vergangenheit anhören. „In Berlin hatte ich Glanz um mich!" rief sie stolz. „Ich war Kunstsammlerin, ich liebte das Schone und erwarb es in bedeutenden Mengen; ich besaB Gemalde und Tiere aus Porzellan, und bestickten Samt!" Jedes Glück aber war aus ihrem Leben gewichen, seitdem Gabriel sich zurück gezogen hatte —: „Gabriel, mein Erzengel!" In Friederikens schattigen Augenhöhlen glimmten Lichter. „Gabriel, der Einzige, der mich verstand; der all des innigen Gefühls, das ich zu bieten habe, würdig gewesen ist! Ach er ging ... er ging . . .: da bog er um die Ecke!" rief sie fassungslos, als ware der liebe Jüngling eben erst entwichen und hatte gerade dieses Zimmer verlafien. Ihre Hande krampften sich um den Koffer, der die Pasten, Crèmes und Wohlgerüche enthielt, mit denen die Unglücksfrau hausieren ging. „Warum lieB Gabriel Frau Viola?" fragte sie mit graBlicher Hartnackigkeit — wahrend Marion nicht mehr wuBte, wohin sie schauen sollte vor Scham und Schrecken. Für die Zahnpasta verlangte Frau Markus 11 Francs und 50 Centimes: ,,Es kommt Sie mindestens um 12 % billiger als in jedem Laden," erklarte sie, plötzlich geschaftsmaBig. Nachdem der Handel abgeschlossen war, bat Marion die Besucherin milde, nun zu gehen. Zum Abschied sagte Friederike — sehr leise, und wahrend eine helle, flaumige Röte über ihr hageres, zerwühltes Gesicht lief —: „Ich möchte Sie bald wieder einmal besuchen dürfen, liebes Fraulein von Kammer! Sie sind doch ein Mensch. Meistens begegnet man nur Lemuren . . Noch einmal erschauerte sie; der eisige Lufthauch hatte sie wohl wieder berührt. Schon im Korridor bat sie noch: „Und bitte, Etzel gegenüber — völlige Diskretion: über alles!" Dabei legte sie, lustspielhaft neckisch, den langen Zeigefinger an die verzerten Lippen. Friederike Markus verlieB das Hotel; steif und narrisch affektiert stolzierend, schritt sie die rue Jacob hinunter und bog in die rue St. Benoit ein, um den Boulevard St. Germain zu erreichen. Das gefüllte Köfferchen, das sie zu tragen hatte, war nicht ganz leicht. Ihre eine Schulter wurde ein wenig nach oben gezogen, wahrend die andere hinabhing. Friedrikens Haltung war sowohl steif als schief — und da die einsam Wandelnde auch noch im Selbstgesprach die Lippen bewegte und zuweilen stehen blieb, um miBtrauische Blicke hinter sich zu werfen, war der Eindruck, den sie machte, ein so überraschender, daB mancher Passant mitleidig-amüsiert auf sie schaute. Sie bemerkte es kaum; denn sie war durchaus beschaftigt mit den eigenen Gedanken, die sich teils sorgenvoll-gequalt ans Nachste, kümmerlich Alltagliche hielten, teils aber abglitten, davonhuschten, ReiBaus nahmen, um sich in jenen Gegenden niederzulassen, wo der Jüngling, Gabriel genannt, seinen strahlenden Aufenthalt hatte. — ,Heute Vormittag muB ich noch mindestens drei Visiten machen,' rechnete Frau Viola. „Zuerst gehe ich wohl zu dieser Schweizer Dame im Hotel des Saints Pères. Vorher will ich aber noch eine Tasse Kaffee trinken . . ." Sie lieB sich in einem schmutzigen kleinen Bistrot nieder, das „Au Rendezvous des Chauffeurs " hieB. — Wenn Friederike eine Tischplatte ,vor sich sah, wurde sie immer gleich von der unwiderstehlich starken Lust ergriffen, zu schreiben. Es war eine Art