GERTH SCHREINER DIE REPIBLIK DER VIERZEHN JAHRE DIE REPUBLIK DER VIERZEHN JAHRE ALLE HECHTE VOHBEHALTEN COPTB1CHT 1939 BIJ „UITGEVERIJ DE GEMEENSCHAP" BILTHOVEN (HOLLAND) — PHINTED IN HOLLAND GERTH SCHREINER DIE REPUBLIK DER VIERZEHN JAHRE 1939 DE GEMEENSCHAP - BILTHOVEN \ /■ t Augustinus: Constat ergo inter nos verba signa esse. Adoratus: Constat. Augustinus: Quid? signum, nisi aliquid significat, potest esse signum? Adoratus: Non potest. Augustinus: Wir sind uns also darüber einig, dass Worte Zeichen sind. Adoratus: Ja. Augustinus: Aber sage mir dann: kann ein Zeichen ein Zeichen sein, wenn es nicht etwas bedeutete ? Adoratus: Nein, das ist unmöglich. AURELIUS AUGUSTINUS (Zitiert aus: Dr. G. E. A. M. Wijdeveld „De Magistro") VORWORT Dieses Buch musste ein Torso bleiben. Es ist in der Emigration geschrieben, also fern von dem Lande, von dem es handelt: von Deutschland — meinem Vaterland. Erschlagen, erschossen und mit dem Beil hingerichtet sind manche alten Freunde. Hinter dem Stacheldraht der Konzentrationslager und den Gittern der Gefangnisse und Zuchthauser sitzen andere. Von den übrigen sind die einen über alle Welt zerstreut, weil sie als Juden fiir „volksfremde Elemente" erklart und aus der Volksgemeinschaft ausgestossen worden sind, oder weil sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, vor den Götzen der neuen Irrlehre das Knie zu beugen — haben sich die anderen hinter die Hakenkreuzfahne geschart, weil sie des Glaubens sind, unserem Lande damit am besten zu dienen. Verbrannt wurden andere Freunde: die Bücher. Was von meiner Bibliothek übrig geblieben war, nachdem eine Rotte SA- und SS-Leute meine Wohnung durchsucht, mein Arbeitszimmer unterst zu oben geworfen und mich verhaftet hatte, musste ich zurücklassen, als ich nach langen Monaten aus der Gefangniszelle über die Grenze floh. Bruchstücke davon kamen auf Umwegen mir nach. Aber selbst davon musste ich das Beste verkaufen, um in der Fremde über die erste Not hinwegzukommen. So blieb mir von Deutschland fast nichts anders übrig wie meine Abstammung und die Erinnerung an die Erlebnisse, die mich zum Manne machten. Als neue Freunde in den Niederlanden mich aufforderten, ein Buch darüber zu schreiben, warum die Republik der vierzehn Jahre keinen Bestand gehabt hat — ein Buch, das vorlaüfig nicht für Deutschland bestimmt sein sollte sondern für die übrige Welt — war ich also in der Hauptsache auf mein Gedachtnis angewiesen. Vernichtet und verloren war, was ich in fünfundzwanzig Jahren in Zeitschriften und Zeitungen geschrieben hatte. Nur wenige Bücher und noch weniger Zeitschriften standen mir zu Verfügung, meinem Gedachtnis Stütze zu geben. Wenn der Leser Dieses oder Jenes in dem Buche vermisst, das er für wesentlich halt, möge er deshalb der Umstande eingedenk sein, unter denen diese Arbeit verrichtet wurde. Sodann möge er auch bedenken, dass es nicht meine Absicht gewesen ist, eine Geschichte der Politik, der Kultur oder der Kunst in der Republik der vierzehn Jahre zu schreiben. Es hat mir vielmehr vorgeschwebt, denjenigen, die Deutschland vor 1933 nicht oder nur aus der Ferne und in verzerrten Spiegelungen gekannt haben, die Gründe darzulegen, warum die Republik der vierzehn Jahre ein Zwischenspiel in der Geschichte dieses Landes bleiben musste — warum die zu Mannern gewordene Jugend des Vorkriegs und des Kriegs in ihr nicht die Hoffnungen erfüllt sah, die sie auf die Zukunft gesetzt hatte — warum es also der Republik der vierzehn Jahre nicht gelang, die Jugend, die in ihr aufwuchs, fur sich zu gewinnen. Darum konnte sich die Arbeit nicht auf eine Darstellung der geistigen Strömungen in der Republik selbst beschranken. Sie musste vielmehr auf den Ur6prung dieser geistigen Strömungen, das heisst auf die Konzeption der Jugend in den Vorkriegsjahren zurückgehen. Denn die Republik der vierzehn Jahre — politisches Verlegenheitsprodukt der von Epigonen des vorigen Jahrhunderts geführten sogenannten Mittelparteien — hat nicht begriffen, dass nicht erst seit dem November 1918 in der Jugend Krafte wirksam waren, die weit über die umzugestaltende organisierte Zusam- menlebung der Menschen, also über die neue politische Staatsform hinaus, auf eine Erneuerung des ganzen Menschen und damit auch auf die der menschlichen Gemeinschaft abzielten. Die Republik der vierzehn Jahre wurde gebildet von Politikern, die im Parlamentarismus das beste Mittel sahen, um ein Volk zu regieren, die aber als Epigonen die Form überschatzten und deswegen nicht einsehen konnten, dass der Parlemen tarismus ebenso wie der Absolutismus oder die konstitutionelle Monarchie zum Sterben verurteilt ist, wenn er nicht von den ausserparlamentarischen, im Volke wirksam lebenden Kraften immer aufsneuegespeist wird. Diese ausserparlamentarischen Krafte haben die Republik der vierzehn Jahre erdrückt. Der Darstellung dieser ausserparlamentarischen Geistesströmungen hat diese Arbeit gegolten. Denn sie werden ja auch die nachsten Abschnitte der deutschen und — da Deutschland im Herzen Europas liegt — auch der europaischen Entwicklung mitbestimmen. Wenn schliesslich mancher Leser und, wie ich zu meinem Leidwesen annehme, vor allem mancher alter Freund darin die Aufzahlung der trotz alledem wahrlich nicht geringen Leistungen der Republik der vierzehn Jahre vermisst, so vergesse er nicht, dass ich kein Trostbuch schreiben wollte. Die Tatsache, dass ich vierzehn Jahre dieser Republik als Publizist und in manchen anderen Funktionen zu dienen versucht habe, konnte mich nicht abhalten, ihre Schwachen zu erkennen. Die Hoffnung, dass diese Arbeit, obwohl unvollstandig — weil unter besonders schwierigen Umstanden geschrieben — zum besseren Verstandnis der deutschen Entwicklung beitragen möge, hat es mich wagen lassen, sie der Offentlichkeit zu übergeben. Amsterdam, im Mai 1938 GERTH SCHREINER Beginn und Ende als Einleitung November 1918 .. . Nach vierundeinhalb Jahren Soldatseins bin ich heimgekommen — nicht in das kleine Gartenhaus am Schwanenmarkt, vor dessen Fenstern im Frühling 1914 die Glyzinen blühten, und in dem wir, junge Maler, Schriftsteller und Schauspieler in den heiteren Sommernachten bei Rheinweinbowlen und mit Lautenliedern fröhliche Feste feierten. Das neue Daheim ist eine kleine Wohnung in einer Mietskaserne, die im Proletarierviertel Oberbilk liegt. Von all der Herrlichkeit von Vor-dem-Kriege ist nicht einmal der Zivilanzug übrig geblieben. Ich bin aus den Kleidern von damals herausgewachsen und obendrein haben die Motten sie angefressen. Darum trage ich weiter die feldgraue Kluft, und im Brustbeutel, der darunter um den Hals hangt, sind noch ein paar Markstücke — Rest der letzten Löhnung, die irgendwo in Nordfrankreich vom Zahlmeister ausbezahlt wurde. In der Mietskaserne wohnen sechsundvierzig Familien. Die meisten Marmer haben keine Zivilanzüge mehr. Sie sind Soldat gewesen wie ich oder Arbeiter in den Munitionsfabriken. Nun sind sie Soldaten der Revolution. Sie tragen, wenn sie durch den Torbogen im Vorderhaus in die Stadt gehen, rote Armbinden, ein Gewehr über die Schulter gehangt und am Koppelzeug Handgranaten. In den Strassen sehe ich manche von ihnen auf Kreuzpunkten als Posten stehen. Dann machen sie ernste Gesichter, und die Bürger sehen sie scheu an. Oder sie marschieren in den bewaffneten Gruppen der Demonstrationen mit. Dann singen sie: Der Rosa Luxenburg, der haben's wir geschworen — Dem Karl Liebknecht reichen wir die Hand! Die Melodie kennen sie vom Felde her. Vor wenigen Wochen mussten sie darauf noch die Worte singen: Dem Kaiser Wilhelm haben wir's geschworen — Dem Kaiser Wilhelm reichen wir die Hand . . . Sie haben nur die Namen gewechselt. Sie sind Soldaten geblieben. Und sie haben auch etwas von der beinahe schauspielerischen Eitelkeit auf ihren Gesichtern, die die ins Feld ausrückenden Soldaten zur Schau trugen, wenn sie zwischen den Reihen der winkenden und weinenden Menschen hindurch zum Bahnhof zogen mit dem Lied: So lebt denn wohl, wir müssen Abschied nehmen — Die Kugel ist in's Flintenrohr gesteckt — Und unser allerschönstes junges Leben Wird einst im Krieg wohl auf das Schlachtfeld hingestreckt — Der Krieg ist für sie wirklich noch nicht zu Ende. Ihr Krieg beginnt erst: der Bürgerkrieg. Die Revolution ist so plötzlich ausgebrochen wie 19x4 der Weltkrieg. Sie ist ausgebrochen, obwohl der Generaloberst von Linsingen sie noch wenige Tage vorher in einem Erlass verboten hatte: „Arbeiter- und Soldatenrate stehen mit der bestehenden Staatsordnung in Widerspruch und gefahrden die öffentliche Sicherheit. Ich verbiete auf Grund des Paragraphen 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand jede Bildung solcher Vereinigungen und die Teilnahme daran." Wo nichts ist, hat der Kaiser das Recht verloren. Von der Faust, die die Arbeiter erhoben, erschreckt sind die alten Machthaber vom Schauplatz abgetreten, auf dem sie beinahe fünfzig Jahre lang die ersten Rollen gespielt haben. Die Macht geht nicht mehr von den Regierungszimmern sondern von der Strasse aus. Und um die Macht wird gekampft. Der Wirbel der Ereignisse reisst mich an einem Tag in einen Versammlungssaal. Sein Podium flankieren revolutionare Matrosen, die rote Fahnen tragen. Der Vorsitzende eröffnet die Versammlung „im Namen des Revolutioneren Proletariats". Ein mutiger Bürger macht den Zwischenruf: „Und was ist Ihre Legitimation?" „Hier" sagt einer der Matrosen und hebt seine schwielige geballte Faust. Dem Bürger ist der Mut vergangen. Mit so einem Trupp roter Matrosen fahre ich einige Tage spater auf einer Lokomotive nach München-Gladbach. Ich will den Dichter Hein Lersch besuchen. Nach seiner Verwundung habe ich zu verschiedenen Malen die Urlaubstage mit ihm verbracht. Der letzte Brief, der mich im Felde erreichte, war von ihm. Es war ein verzweifelter Brief. Verflogen war die Kriegsbegeisterung, die einige seiner Gedichte, vor allem jenes mit dem Refrain: Deutschland muss leben — und wenn wir sterben müssen zu willkommenen Waffen der Kriegspropaganda gemacht hatte. Hein zitierte Verse von Walt Whitman, den Marsch, den der Dichter denen sang, denen es fehlschlug, und schrieb darunter: „Das Einzige, das ich Dir nun schicken müsste, um zu vergessen, ware eine Flasche Schnaps, aber die gibt's nicht mehr!" Ich treffe Hein in seiner kleinen Kesselschmiede an. Er sitzt auf dem Amboss. Kein Feuer brennt in der Esse. Der Metallstaub riecht abgestanden. Seit Monaten schmiedete kein Hammer glühendes Eisen. Wir sprechen nicht viel. Gerrit Engelke, unser Freund, ist noch unmittelbar, bevor die Kanonen des Weltkriegs schwiegen, bei Cambrai gefallen. Wir denken an ihn und sind traurig. „Der Rhythmus des neuen Europa" hiess sein erster und letzter Band Gedichte. „Kennst Du „Le Feu" von HenriBarbusse?" fragt Hein. „Du musst es dir anschaffen!" In der Schmiede wird es kalt. Draussen hat es begonnen zu regnen. Wir gehen hinauf in Hein's Arbeitszimmer. Dort glüht der alte Kanonenofen vor Hitze. Wir trinken roten Wein, der heiss gemacht ist, und reden auch nun nicht viel. Drunten auf der Strasse ist der Larm der Truppen, die von der Front in die Heimat zurückmarschieren. Kanonen, auf deren Protzen die Kanoniere, in Zeltbahnen eingewickelt, dösen, rumpeln über das Pflaster. Manchmal galloPiert ein Meldereiter oder ein Offizier an ihnen vorbei. Auf die Artillerie folgt Infanterie. Sie marschiert ohne Tritt mit abgeschlagenem Gewehr. Das Getrappel der eisenbeschlagenen Stiefel auf das Pflaster fallt mit der Dammerung immer lauter in das kleine Zimmer. Kompagnie um Kompagnie marschiert vorbei. Ab und zu tritt eine Stockung ein. Dann wird es so still, dass wir unseren eigenen Atem hören. In so eine Stille sagt Hein plötzlich: „Und hinter ihnen kommen die Franzosen, die Englander und die Belgier..Drunten beginnt wieder das Marschieren der Soldaten. Und im Zimmer wird es wieder still. Die Soldaten marschieren, ohne zu singen. Sie kommen anders heim, wie sie sich es vorgestellt haben. Auf einmal denkt Hein wieder laut. Er spricht den Gedanken so klar und deutlich aus, als habe er ihn den ganzen Nachmittag gesucht und endlich gefunden: „Das war seit Jahrhunderten der erste grosse Krieg, in dem Deutschland nicht der Schauplatz der Verwüstung war. Das hat uns hochmütig gemacht. Und darum hat uns Gott gestraft. Die Dichter, die den Krieg begeistert besungen haben, ich an ihrer Spitze, haben eine furchtbare Sünde begangen. Wenn wir nun gedemütigt werden, wollen wir nicht murren. Und wenn sie uns alles abnehmen, müssen wir auch darin Gottes Hand sehen." Spat abends erwische ich auf dem Dach eines Eisenbahnwagens einen Platz zwischen desertierten Soldaten. Sie waren nie „rot", aber nun haben sie rote Fahnen bei sich. Aus Belgien haben sie Wein mitgebracht. Sie singen: O Tannenbaum — o Tannenbaum — Der Kaiser hat in Sack gehaun, Er kauft sich einen Henkelmann und fangt bei Krupp als Dreher an.. . Der Zug rollt durch die Nacht dem Rhein zu. Auf einer Station wird er angehalten. Ein Kommando des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrats nimmt den Deserteuren die Waffen ab. Johlend werfen sie Gewehre, Pistolen und Seitengewehre auf einen Haufen. Willig lassen sie sich durchsuchen. Dann rollt der Zug weiter. Und sie singen wieder — ein altes Lied, das die Soldaten in Friedenszeiten sangen, wenn zie nach Ablauf ihrer Dienstzeit in Reserve gingen. In der Heimat angekommen, fangt ein neues Leben an Eine Frau wird sich genommen, Kinder ziehn sektionsweis an. Sie sind keine Revolutionare. Sie wollen nur heim zu Muttern, zu ihren Frauen und ihren Madchen. Als ich wieder in Düsseldorf ankomme, schiesst es in unseremStadtviertel. Ein Leutnant der heimkehrenden Frontarmee hat die rote Fahne von einem Gebaude heruntergeholt und zerrissen. Darüber ist es zu einem Gefecht gekommen. In den folgenden Wochen schiesst es noch oft. An einem Morgen weckt mich ein Kanonenschuss, der dicht bei unserem Haus abgeschossen sein muss. Ich sehe aus dem Fenster auf dem Hof. Aus der Haustüre des Seitenflügels gegenüber kommen feldgraue Soldaten, die weisse Armbinden tragen. Sie führen die Arbeiter und Soldaten, die in den Wochen vorher rote Armbinden getragen haben, gefesselt und unter Schlagen ab. „Fenster zu! Sonst wird geschossen!" ruft eine schnarrende Kommandostimme. Und da klopft es auch schon an der Türe. Ich muss mich legitimieren. Die Zimmer werden durchsucht. Man findet nichts, was mich belasten könnte. Ich bekomme den Befehl, im Haus zu bleiben. Am Toreingang steht das Geschütz eines Freiwilligenkorps, das sich dem Kriegsminister der neuen Berliner Regierung zu Verfügung gestellt hat. Unser Stadtviertel soll „gesaubert" werden. Am Marktplatz von Oberbilk haben sich die Spartakisten verschanzt. Das Geschützan unserem Toreingang beschiesst ihre Barrikaden. Am Abend haben die Spartakisten das Gefecht verloren. Langsam aber blutig werden Ruhe und Ordnung wieder hergestellt. Die Republik stabilisiert sich auf der Sabelspitze der alten kaiserlichen Generale . . . Februar 1933 . . . Die Republik ist in Gefahr. Eigentlich ist sie schon überwunden. Der „kleine Metallarbeiter" Severing hat erklart: „Ich weiche nur der Gewalt!" Die Republikaner im Land haben gejubelt. Die Krefelder Seidenarbeiter haben in der ersten Begeisterung Ziertaschentücher mit dem Portrat Severings gemacht und die stolzen Worte darunter gewebt. Aber bevor diese „republikanischen Ziertaschentücher" in den Handel kommen, hat der „Hort Preussens" seine Amtsraume freiwillig verlassen, um in einem Restaurant essen zu gehen. Aber noch steht die „Eiserne Front" bereit, die Republik zu schützen. „Seid bereit!" haben die Führer als Parole ausgegeben. „Lasst euch nicht provozieren — wenn wie auf den Knopf drücken, geht es los!" Ich habe den Auftrag, in Erkrath, einem kleinen Stadtchen bei Düsseldorf in einer Versammlung zu sprechen. In Erkrath ist eine SA-Kaserne. Es ist dort zu kleinen Gefechten zwischen SA-Leuten und Kommunisten gekommen, in denen ein SA-Mann erschossen worden ist. Seitdem ist in Erkrath keine öffentliche Versammlung mehr möglich gewesen. Deswegen kommen schon mittags drei Hundertschaften des Reichsbanners und besetzen das Versammlung slokal. Aber mit ihnen kommen auch Autos voll Staatspolizei. Die Polizisten sperren die Strassen rund um die SA-Kaserne ab. Ein anderes Kommando, das aus Essen herbeigeeilt ist, halt den Zugangsweg, der von dieser Stadt nach Erkrath führt, unter Bewachung. Die Reichsbannerkapelle spielt, und die Grünhemden singen. Auch sie singen ein Soldatenlied aus der wilhelminischen Aera mit einem neuen Text. „Von oben herunter" wurde das ursprüngliche Lied popularisiert, als 1914 „noch Kriegserklarungen angenommen" wurden. Sein erster Vers hiess: „Mein Deutschland hoch in Ehren, du heilges Land der Treu! Heil leuchtet deines Ruhmes Glanz in Ost und West aufs Neu! Du stehst wie deine Berge fest gen Feindes Macht und Trug. Und wie des Adlers Flug vom Nest geht deines Geistes Flug! Haltet aus! Haltet aus! Lasst hoch das Banner wehn! Zeigt dem Feind! Zeigt der Welt, wie wir fest zusammen stehn! Aufdass sichunsre alte Kraft erprobt, wenn der Feinde Schar auch flucht und tobt! Haltet aus in Sturmgebraus! Haltet aus!" Nun singen die Grünhemden auf diese Melodie einen Text, der beginnt: „Entreisset meinen Handen der Tod den Fahnenschaft — werd ich von einer Kugel im Kampf dahingerafft, dann spieiet mir keinTrauerlied, dann tragt mich stolz zur Ruh — an meinem Grab weht Schwarz Rot-Gold, und ihr singt mir dazu: Strasse frei! Strasse frei! Wenn die Schufo aufmarschiert! Strasse frei! Strasse frei! Wenn sie auch zum Sterben führt! Für Freiheit, Einigkeit und Recht kampfet allezeit ein frei Geschlecht! Wenn auch Hakenkreuz und Stahlhelm grollt — Strasse frei für Schwarz-Rot-Gold!" So wie die Revolution von 1918 kein neues Lied hervorgebracht hat, hat auch die Republik der vierzehn Jahre keine neuen Symbole geschaffen und keine neuen Lieder. Schwarz-Rot-Gold — das waren nach den Freiheitskriegen von 1813 die Farben der freiheitlichen Studenten, die sich in den Burschenschaften zusammenschlossen, und 1848 die Farben der Bürgerrevolutionare. Die Revolution der Arbeiter ist seit dem Vorjahr 1919 in Blut erstickt und in Gefangnissen begraben. „Einigkeit und Recht und Freiheit" — das sind die bürgerlichen Ideale des Kaiserreichs nach 1871. In der letzten Strophe der Nationalhymne dieser Epoche, dem „Deutschland, Deutschland über alles", die bei festlichen Anlassen meist nicht gesungen wurde, hatten sie einen bescheidenen Platz gefunden. Nun verteidigen die Arbeiter und Angestellten die alten bürgerlichen Fahnen und Ideale, verteidigen sie die schwarz-rotgoldene Republik, durch die sich die blutige Spur der Morde an ihren besten Mannern zieht. Arbeitslose sind unter ihnen, die seit Wochen Abend für Abend auf Marsch sind, obwohl ihr Magen knurrt und ihre Schuhsohlen zerrissen sind. Sie marschieren, blindlings vertrauend auf Parole und Kommando der Führer wie einst die Soldaten im Weltkrieg. Nur dass ihr Feind im eigenen Lande steht. Hunderttausende zahlt das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Hunderttausende zahlt die kommunistische „Rote Front". Hunderttausende zahlt der „Stahlhelm". Hunderttausende zahlen SA en SS. Und alle diese Privatsoldaten stehen stramm, wenn das Kommando ertönt, glauben, dass der Gummiknüppel in der Hand und die Pistole in der Tasche starker sind als die schöpferische Idee, und dass sie deswegen das entscheidende Wort sprechen müssen. „Wenn marschiert werden muss — wird nicht diskuttiert!" ist die Parole des Tags, die den riesigen „aufgezogenen Apparat" immer mehr zum leblosen Mechanismus werden lasst. „Kolossal" ist dieser Mechanismus. Den Glauben an seinen Wert bezieht er allein aus der Zahl, der hohen Ziffer der „Mitgliederbestande" und damit der geklebten Beitragsmarken und nicht zuletzt der Wafifen. Abends auf dem Heimweg eröffnet ein Ueberfallwagen der Polizei, auf dem neben Scheinwerfern Maschinengewehre aufgestellt sind, den Zug der Lastwagen, auf die wir verfrachtet werden. Ueber der Hügelkette zur Rechten des Wegs ist der volle Mond aufgegangen und über den Wiesen und FeldernimTalgrund liegen dünne Nebelschleier. Es ist eine echte deutsche Mondscheinlandschaft, wie sie Philipp Otto Runge, der Romantiker, gemalt haben könnte. Wir ziehen durch sie hindurch wie Soldaten durch feindliches Land. Ein Arbeitergesangverein war abends gekommen, um die alten sozialistischen Streitlieder zu singen: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! Brüder zum Lichte empor! Heil aus dem Dunkeln Vergangnen Leuchtet die Zukunft hervor! Bei festlichen Anlassen und in Zeiten von Wahlen werden sie immer noch gesungen und verfehlen ihre romantisch-erbauliche Wirkung nicht. Die letzte Strophe Auf und verjagt die Tyrannen, Dass ihre Herrschaft zerfallt, Schmücket mit der blutig roten Fahne Unsere Arbeiterwelt muss allerdings weggelassen werden. Denn das Reichsbanner und die „Eiserne Front" sind „überparteiliche Organisationen". Auch die Frauen des Gesangvereins waren mitgekommen. Der Lastwagen, auf dem sie fahren, hat besondere Bedeckung. Davor marschiert eine Hundertschaft des Reichsbanners und dahinter auch. Den Zug beschliesst wieder ein schwer bewaffnetes Auto der Polizei. Trotzdem der Mond heil scheint, leuchten die Scheinwerfer das Gelande ab, ob keine SA-Gruppen auf der Lauer liegen. Ab und zu muss der Zug auf Befehl der Polizei halten. Dann rast ein Auto über einen Seitenweg zur nahen Hügelkette, die Scheinwerfer leuchten das Gelande ab, erst wenn alles sicher ist, geht es weiter. Die Grünhemden rühren die Trommeln und spielen auf den Querpfeifen. Der Gesangverein singt mit und die Hundertschaften fallen ein: es ist ein Lied von der Freiheit, ein Lied das Max von Schenkendorf dichtete, als er den Glauben an die Freiheit der bürgerlichen französischen Revolution verloren hatte: Freiheit, die ich meine — die meine Herz erfüllt, Komm mit deinem Scheine — süsses Engelsbild! Willst du nie dich Zeigen — der bedrangten Welt? Führest deinen Reigen — nur am Himmelszelt! Der Mond und die romantische Melodie machen die Grünhemden sentimental. Sie fühlen sich Figuren im romantischen Spiel mit dem Tode und singen deswegen das schwermütige Lied von den zwei Reichsbannermannern, die sich ewige Treue geschworen haben, die zusammen auf Posten stehen und von denen einer aus dem Hinterhalt erschossen wird. Voll Trauer schreibt der Ueberlebende an die Mutter des Gefallenen, dass ihr Sohn für die Freiheit gestorben ist: Er schrieb es mit zitternden Handen — Er schrieb es mit scheidendem Bliek: Euer Sohn ist von den Nazis erschossen, Er liegt in Oberbilk und kommt nicht zurück. Die Führer horen dieses Lied nicht gern. Es ist ein Volkslied, das entstanden ist, als die rote Armee in den Revolutionsmonaten im Rheinland stand. Seine Helden sind ursprünglich zwei rote Gardisten, von denen der eine von „Noskiden", wie die Angehörigen der Freiwilligenkorps und der Regierungstruppen im Volksmund hiessen, erschossen wurde. Aber dem Ochsen, der drischt, soll man das Maul nicht verbinden. Und die Stimmung ist durch das Mondlicht und die romantische Abenteuerlichkeit des nachtlichen Heimswegs so gefühlsbetont, dass kein Führer wagt „Aufhören" zu rufen. In Düsseldorf treffe ich mich in spater Nachtstunde mit einigen Journalisten in einem Krug. Unsere Zeitung ist schon lange verboten. Seit Tagen schlafen die meisten Redakteure aus Angst vor nachtlichem Ueberfall nicht mehr zuhause. Auch das katholische „Tageblatt" ist zeitlich der Zensur zum Opfer getallen. Einige seiner Redakteure sitzen bei uns am Tisch. Das Rheinland feiert Karneval. Das Lokal ist voll Menschen, die sich lange Nasen aufgesetzt haben und Narrenmützen tragen. Sie tanzen und kreischen zur Musik: Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt Heididel didel Heididel didel dumm dum Jedes kleine Madchen die Liebe gleich fühlt Heididel didel Heididel didel dum dum Und der lange Jochen schiebt hin durch den Saai Und die Katharina will immer noch mal! Narrentrompeten tutern, Narrenknarren schnarren. Luftschlangen fliegen durch den Saai und Konfetti wird geworfen. Mitten durch das Getümmel macht sich ein Redakteur Bahn, der in unserem Zeitungsgebaude Postendienst gehabt hat. Die rheinischen Narren gröhlen: „Wenn das so weiter geht ein halbes Jahr, haben wir kein Hemd mehr an! Hallelujah!" Der Ankömmling flüstert uns ins Ohr: „Der Reichstag brennt!" Wenige Tage spater schlafe ich zum erstenmale wieder im eigenen Bett. Plötzlich, mitten in der Nacht, stürmen SA- und SS-leute in das Schlafzimmer und wecken mich mit vorgehaltenen Pistolen und dem Ruf „Hande hoch!" Zwei Stunden spater bin ich zwischen Aerzten, Rechtsanwalten, Arbeitern und polnischen Juden in einer Zelle. Gegen morgen werde ich in das Wachtlokal gerufen. Dort erwarten mich einige SSund SA-Offiziere. Sie haben Peitschen und Pistolen in den Handen. „Kennst du mich?" fragt mich einer von ihnen. Als ich antworte: „Nein — ich kenne Sie nicht!" schreit er mich an: „Dann solist du mich kennen lernen! Du Aas." Und damit schlagt er mir mit umgedrehter Pistole zwischen die Augen, dass Blut aus Mund und Nase lauft. Das Gefühl, als erwachsener Mensch geschlagen zu werden, überdies von Menschen, die ich nie gesehen habe, ist etwas so Neues, dass ich mich nicht zur Wehr setze. Als sie dann mit den Peitschen auf mich einschlagen, wird mir bewusst, dass dieses Nichtwehren die einzige Rettungsmöglichkeit ist. Fünf Viertelstunden schlagen sie mich, treten sie mir mit ihren Schaftstiefen in den Leib, öffnen sie die Türe, die zum Hof fiihrt, entsichern sie die Pistolen und rufen „Lauf, du Hund! Lauf!!" Aber ich habe nur den Willen: nicht zurückschlagen — nicht fortlaufen — nicht „auf der Flucht" erschossen werden. Ein zufallig eintretender Beamter der alten Polizei macht der Marterung ein Ende. Am folgenden Tage werde ich zerschlagen ins Gefangnis gefahren. Beinahe fünfhundert sind vor mir eingesperrt worden: ein Pfarrer, Schauspieler, Maler, Schriftsteller, Aerzte, Rechtsanwalte, Kaufleute, Arbeiter, Handwerker und Angestellte. Viereinhalb Monate bleibe ich in Schutzhaft, so lautet die amtliche Bezeichnung dieser Gefangenschaft, weil der Haftling angeblich gegen Anfalle auf sein Leben beschirmt werden muss. Dann komme ich frei und werde von Freunden noch an demselben Abend verborgen. Waldemar Gurian, der zufallig in der Stadt ist, kommt mich besuchen. Er bringt zehn Mark für die Flucht. „Mehr habe ich selbst nicht — schreiben Sie mir spater einen Artikel dafür!" sagt er lachelnd. Ein par Tage spater bringen mich Schmuggler über die hollandische Grenze . . . Zwischen jenem November 1918 und dem Marz 1933 liegt die Republik der vierzehn Jahre. In ihr machte man sich über die Hochflut von „Kriegserinnerungen" mit den Worten lustig: „Was tat ein römischer Feldherr, wenn er eine Schlacht verloren hatte ? Nun, er stürzte sich in sein Schwert! . . . Aber was tun die deutschen Generale, die den Weltkrieg verloren haben? Sie stürzen sich aufs Tintenfass und schreiben ihre Memoiren!" Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Auch die Führer der republikanischen Parteien, die den Kampf um das zukünftige Deutschland verloren haben, fühlen,soweit sie in die Emigration gegangen sind, einer nach dem andern das Bedürfnis, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Die geschlagenen Generale des Weltkriegs beteuerten in ihren Memoiren, dass sie den Weltkrieg eigentlich nicht verloren, vielmehr gewonnen hatten. „Im Felde unbesiegt" seien die Frontarmeen von der aufrührerischen Heimat hinterrücks erdolcht worden. Auch die Führer der republikanischen Parteien der „Vierzehn Jahre" haben sich ihre Dolchstosslegende erfunden. Liest man ihre dicken Bücher, könnte man, regierte Hitier nicht seit Jahren in Deutschland, zu der Auffassung kommen, dass auch sie eigentlich gewonnen haben. Tatsachlich traumen manche von ihnen heute noch, dass eines Tages in Deutschland die Republik von Weimar wieder ausbrechen wird. Aber das Deutschland der vierzehn Jahre ist unwiderruflich dahin. Es ist nur eine Episode gewesen. Und es hat Episode bleiben mussen, weil es ein Gebilde politischer Verlegenheit war. Es ist das historische Beispiel dafür, dass man eine Staatsform mit politischen Spielregeln allein nicht bilden kann — dass sich eine Staatsform mit politischen Massnahmen allein nicht halten kann — dass die Schicksale eines Volkes durch politische Konstellationen im Parlament nicht allein bestimmt werden—dass vielmehr die in einem Volke lebendigen seelischen Energien sein Schicksal und das Schicksal seiner Staatsform ausmachen. Das Schicksal der deutschen Republik weimarer Pragung war deswegen tatsachlich schon entschieden, bevor sie sich in der Nationalversammlung von Weimar konstituierte. „Immer davon reden— nie daran denken" war schon vor dem Kriege stille Losung gewesen. So kam denn auch der Zusammenbruch des wilhelminischen Imperialismus den führenden Politikern vollkommen überraschend. Der spatere Justizminister in der Republik Bayern, Dr. Mueller-Meiningen, beschreibt diese Ahnungslosigkeit in seinem Buch „Aus Bayerns schwersten Tagen" sehr ergötzlich so: „Am 8 November früh sieben Uhr telephonierte mich eine bekannte Dame in meiner Wohnung mit folgenden Worten an: „Nun, was sagen Sie denn nun?" Ich: „Was denn?" Sie: „Ja, wissen Sie denn nicht? Heutenacht ist die Republik erklart und der König abgesetzt worden!" Ich: „Reden Sie doch nicht so wirres Zeug daher. Sie wollen sich über mich lustig machen. Es ist doch nicht der erste April." Sie: „Fragen Sie doch mal in den „Münchener Neuesten Nachrichten". Was ich Ihnen sage, ist Tatsache!" Ich: „Das alles ist ja Blödsinn. Lassen Sie sich doch solchen Quatsch nicht weissmachen — Schluss!" Eine radikale Umwandlung der Staatsform war den aus dem alten Kaiserreich stammenden Politikern wirklich ganz und gar unwillkommen. Hatte der Kaiser nicht eben erst — am 30. September — auf dringendes Anraten des Prinzen Max von Baden einen Erlass herausgegeben, „dass das deutsche Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mitarbeiten solle, und dass Manner, die vom Vertrauen des Volkes getragen sind, in weiterem Umfange teilnehmen an den Rechten und P flichten der Regierung ?'' War damit nicht das „parlamentarische System" eingeführt worden? Sogar die Mehrheitssozialdemokraten waren ausgesöhnt worden. Die Mehrheitssozialdemokratie war die Vertreterin grosser Arbeitermassen. Nach dem August 1914 hatte die Mehrheitssozialdemokratie zum zweitenmal kapituliert, diesmal um den Krieg so liquidieren zu helfen, dass am alten System möglichst wenig geandert werde. Philipp Scheidemann war kaiserlicher Staatssekretar geworden. Tatsachlich war der eherne Koloss des deutschen Imperialismus im Begriff zusammenzubrechen, als im Beginn des Oktober 1918 die letzte kaiserliche Regierung mit der durch einige Liberale und Sozialdemokraten „verbreiterten Basis" gebildet wurde. Zwei Tage spater ging das Waffenstillstandsangebot an Wilson. Als dessen Antwort eintraf, begriff der Kaiser sehr gut, in wie grosser Gefahr sein Haus war. „Lesen Sie," rief er dem Obersten Niemann zu, „das zielt gradewegs auf den Sturz meines Hauses, auf die Beseitigung der Monarchie überhaupt." Als die deutschen Arbeiter dann zum Schlage ausholten, um den morschen, wankenden Koloss zu Fall zu bringen, erwies sich das „parlamentarische System" nicht als Fehlspekulation. Die Führer der Mehrheitssozialdemokraten straubten sich am langsten gegen eine Aenderung dieses Systems mit den Hohenzollern als dekorative Spitze. Wie es dann doch zur Ausrufung der Republik gekommen ist, hat uns ihr Ausrufer, Philipp Scheidemann, einmal selbst erzahlt. Es war auf der grossen Reichsparade des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in Frankfurt am Main. In schier unübersehbaren Kolonnen standen die Grünhemden, aus allen Gauen Deutschlands aufmarschiert, um erneut den Treuschwur zu leisten: „ Deutsche Republik wir schwören: letzter Tropfen Bluts soll dir gehören!" Am Rande der Wiese war ein riesiges Rednerpult aufgeschlagen. Auch Scheidemann sollte eine Ansprache halten. In Hemdsarmeln — denn er war ein Mann mit feinem Gefühl für kleine Tricks, mit denen man Eindruck auf den einfachen Mann machen kann wartete er, auf der Treppe sitzend, auf seinen Auftritt. Um die Zeit zu verkürzen und uns Jungen ein Beispiel zu geben, wie man mit Geistesgegenwart aus verzweifelten Situationen kommen kann, erzahlte er uns seinen Meisterstreich von der Ausrufung der Republik, zu deren Verteidigung hunderttausende sozialdemokratische, freisinnige und katholische Hand- und Kopfarbeiter da vor uns aufmarschiert waren. Es ist der 9. November 1918. Durch Berlins Strassen wogen endlose Züge. Wofür demonstrieren sie? Sie wissen es selbst nicht. Sie warten auf die Parolen ihrer Führer. Sie demonstrieren gegen das alte System. Auf einem Auto, zur Rechten und zur Linken rote Fahnen, rast Karl Liebknecht, der am 21. Oktober aus den Zuchthaus entlassen worden ist, von Platz zu Platz und ruft an allen Ecken die Raterepublik aus. Im Restaurant des Reichstags sitzen Ebert und Scheidemann. Ebert ist schlechter Laune. Mürrisch trinkt er seinen Wein. Wahnschaffe hat mit dem Grossen Hauptquartier in Spa telephoniert: die Abdankungserklarung des Kaisers müsse in den nachsten Minuten in Berlin sein, solle der Thron dem Hause Hohenzollern bewahrt bleiben. Aber Spa ist mit der schriftlichen Fixierung der Abdankungserklarung beschaftigt. Spa nimmt sich Zeit. Durch die geschlossenen Gardinen des Restaurants hört man den Larm der Demonstranten, die am Reichstag vorbeimarschieren und ihre „Nieders" rufen. Vor Wut rutscht Ebert immer tiefer in die Sophaecke. Plötzlich schlagt er mit der Faust auf den Tisch: „Ich hasse die Revolution! Warum antwortet der Kaiser nicht!" Scheidemann schiebt die Gardinen ein wenig auseinander und sieht über den Platz und übersieht mit einem Bliek die Situation. Es muss gehandelt werden. Er entschuldigt sich bei Ebert, er müsse für einen Augenblick zur Toilette. Als er zurückkommt, fragt Ebert: „Was ist das für ein Larm draussen? Er wird immer toller, und Spa schweigt immer noch! Gelassen, um einem Wutausbruch zuvorzukommen, sagt Scheidemann: „Ich habe die Republik ausgerufen, Fritz!" „Bist du verrukt Philipp?" brüllt Ebert auf. „Sollte uns Liebknecht zuvorkommen? Wir müssen retten, was noch zu retten ist" . . . Damit hatte sich der Kostümwechsel vollzogen. Die Mehrheitssozialdemokraten übernahmen die Führung. Wenige Wochen spater betraute Ebert Noske mit dem Oberbefehl der zu formierenden Regierungstruppen, nahm Noske, wie er in seinem Buch: „Von Kiel bis Kapp" selbst schreibt, diesen Auftrag mit den Worten an: „Meinetwegen I Einer muss der Bluthund sein! und setzte die alten kaiserlichen Generale wieder ein. Als Ebert und Noske die zu Hilfe gerufenen und in Zossen konzentrierten Freiwilligenkorps besichtigten, die in Berlin die Ruhe und Ordnung wiederherstellen sollten, klopfte Noske — der General Maerker teilt es in seinem Buch „Vom Kaiserheer zur Reichswehr mit Ebert, dem die Freude über die „stramme Haltung der mit klingenden Spiel vorbeimarschierenden Truppen aus dem Gesicht strahlte, auf die Schulter und sagte: „Sei ruhig, nun wird alles wieder gut werden". Wie gut alles mit Hilfe der kaiserlichen Generale geworden zu sein scheint, illustriert eine kleine Geschichte, die mir Ernst Heilmann kurz vor seiner Gefangennahme erzahlte. Genossen Eberts warnten den Reichsprasidenten, er vertraue zuviel den alten Generalen. „Was wollt ihr denn wieder?" wehrte Ebert ab. „Die Herren stehen doch vor mir stramml" Dass der neue Firnis allerdings nicht nur bei den Führern auf dem alten Leib sass, zeigt die Geschichte vom Unteroffizier Müller, die mir Ernst Toller erzahlte, wobei er hinzufügte, dass er sie aus dem Munde eines Sohns des Kronprinzen gehort habe. In jenen Novembertagen, in denen die Republik aus Verlegenheit, geistesgegenwartig, wie Scheidemann sagte, ausgerufen wurde, waren die zu Berlin anwesenden Mitglieder des kaiserlichen Hauses in einem Saai des Schlosses versammelt. Mehr voll Angst als mit Spannung warteten sie, was die folgenden Stunden bringen würden. Es war ein qualvolles Warten. Am Schloss vorbei wogten die Demonstrationen und riefen ihre „Nieders". Aber auf den Fluren des Schlosses blieb es still. Endlich Schritte. „Sie kommen!" Ein Kommando ertönt: „Abteilung halt!" Die Prinzen und Prinzessinnen erwarten, dass nun die Türe wenn nicht eingestossen so doch aufgerissen wird. Statt dessen klopft es. Niemand wagt „Herein" zu rufen. Die Nerven spannen sich zum Zerreissen. Da klopft es wieder. Eine Prinzessin ruft schüchtern „Herein!" Und nun wird die Türe geöffnet. Ein Unteroffizier tritt in militarischer Haltung einige Schritte nach vorne, klappt die Hacken zusammen und meldet: „Unteroffizier Müller, vom Arbeiter- und Soldatenrat zum Schutz der kaiserlichen Familie kommandiert!" Nein — nich nur allein die Führer der Parteien, die Deutschen waren 1918 nicht auf eine wirkliche Umwalzung vorbereitet wie die Franzosen 1789. Kein Rousseau und Beaumarchais, kein Voltaire und Diderot hatten alte Begriffe und Gefühle zertrümmert. Die deutsche Literatur hatte keinen Gogol und Dostojewski, keinen Tolstoi und keinen Gorki gehabt. Geistige Dinge waren im vorkrieglichen Deutschland Angelegenheit privater Kreise gewesen. Die Jugendbewegung hatten „Pauker", die „alte Herren" der studentischen Korporationen waren, bekampft, und die Parteien hatten in ihren eigenen Jugendgruppen nur zukünftige Wahler züchten wollen. Wenn die Revolutionare ein altes Soldatenlied sangen, in dem nichts verandert war wie die Namen — namlich Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an die Stelle von Kaiser Wilhelm getreten waren, wenn spater die Grünhemden des Reichsbanners auch die Melodie eines alten Soldatenlieds übernahmen, so hatte das ebenso symptomatische Bedeutung wie die Tatsache, dass der Reichsprasident dieser Republik glaubte, die kaiserlichen Generale seien ihm ergeben, weil sie stramm vor ihm standen, und wie die Meldung des Unteroffiziers Müller, der sich mit Hackenschlagen in strammer Haltung bei der abgedankten kaiserlichen Familie auf Kommando meldete. Der Arbeiter hatte die Faust erhoben, aber er wusste nicht, wo er hinschlagen sollte. Die Politiker waren vor eine Aufgabe gestellt, aber sie wussten nicht, wie sie sie lösen sollten und halfen sich mit einem Kompromiss. Und das alte Juste Milieu hatte schnell den Braten gerochen. Es hatte sich tot gestellt, aber es wurde wieder quicklebendig als es merkte, dass nur das Firmenschild geandert war, ja dass der Arbeiter nun auf Kommando die Hand erhob, um die neue Firma zu schützen. Hier war „dick zu verdienen" und es wurde „dick verdient". Die Prokura, die den Firmanten der neuen Republik erteilt war, konnte immer wieder eingezogen werden, wenn unter einem anderen Firmenschild ,,noch dicker verdient" werden konnte. 1933 ist diese Prokura eingezogen worden. Ruhmlos wie sie errichtet ist die Republik der vierzehn Jahre untergangen. Es ist ein offenes Geheimnis, und mit der eigenartigen Begründung bisher nicht publiziert: man dürfe dem Faschismus keine Waffen liefern, mehr denn je komme es jetzt auf Disciplin an: dass der kampflose Untergang nur möglich war, weil viele die trügerische Hoffnung hegten, derselbe „Ruilhandel" wie 1919 werde auch 1933 zustande kommen, spiele man nur gut nach den politischen Spielregeln — nichts werde so heiss gegesen, wie es gekocht wird — ja weil andere — und ihre Zahl ist nicht gering — ernstlich glaubten, die neue Firma werde sie übernehmen, führten sie ihr nur Massen zu, wie die Republik einst zahllose Leute übernommen hatte, weil es ihr, mangels geistiger Vorbereitung, an Fachleuten fehlte. Dieses Buch hat nun nicht den Zweck, die Fülle der Bücher über die Republik der vierzehn Jahre, dieses kurze Intermezzo in der Geschichte des deutschen Volkes, um ein weiteres zu vermehren. Das letzte Wort über diese Republik der vierzehn Jahre, die zu erleben und zu erleiden ein Teil unseres Schicksals gewesen ist, werden sowieso Geschichtschreiber schreiben müssen, die keine al te Wunde mehr brennt, die sich keiner begangenen oder geduldeten Sünde mehr zu schamen und keine gemachten oder mitgemachten Fehler mehr gutzusprechen brauchen, die vor allem nicht unter dem frischen Eindruck der verlorenen Freiheit stehen oder im ersten Rausch freiwilliger totaler Gefolgschaft leben. Ich bin überzeugt — und zu dieser Ueberzeugung bin ich nicht erst in der Emigration gekommen, obwohl mir vieles erst ganz klar wurde, als ich aus dem verwirrenden Larm Deutschlands in die Stille des Landes kam, das mir nun Gastfreiheit gewahrt, — dass die Republik der vierzehn Jahre ein Koloss auf tönernen Füssen gewesen ist, ein Geschöpf der „Realpolitik", wie die Parteiführer sie auffassten. Diese Realpolitik berauschte sich an Parolen und Statistiken. Aber es fehlte ihr die visionare Schau. Zu schöpferischer Gestaltung war sie unfahig. Sie schmückte sich dekorativ mit den künstlerischen Ueberbleibseln des Vorkriegsdeutschlands. Es ist kein Zufall, dass Gerhart Hauptmann ihr Olympiër wurde, weil er einmal „Die Weber" geschrieben hatte. Als 1933 Gewalt die tönernen Füsse zerschlug, stürzte der Koloss zusammen und begrub die Realpolitiker, die ihn gemacht hatten, unter sich. Von den geistigen Strömungen zu sprechen, die jenseits der politischen Fassade in Deutschland wirksam waren, soll Aufgabe dieses Buches sein. Ich unterziehe mich dieser Aufgabe um so lieber, weil ich glaube, dass ich damit Deutschland, dem Land, das mich gebar und das ich heute, da viele sein von der Peitsche der Diktatur enstelltes Antlitz verspotten oder verachten, mehr denn je liebe, einen Dienst erweisen kann. I. KAPITEL Die Konzeption einer Jugend Kein Schlagwort ist in den letzten zwanzig Jahren mehr missbraucht worden als das vom Kriegserlebnis. Das Kriegserlebnis, sagte man, habe eine entscheidende Veranderung im Lebensgefühl der Menschen, vor allem aber im Schaffen der Künstler hervorgebracht. Mit dem Kriege sei das vergangene Jahrhundert erst endgültig abgelaufen, habe das neue Jahrhundert erst wirklich begonnen. Fanatiker dieses Schlagworts haben sogar die These aufgestellt, der Krieg sei notwendig gewesen, um dem Adam des neunzehnten Jahrhunderts — und darunter verstehen sie den bürgerlichen Adam — die tödliche Wunde beizubringen. Die Politiker der Republik der vierzehn Jahre, denen alle Dinge zumFortschritt dienen mussten, haben in ihren Reden gerne die Wendung gebraucht, dass die „besten Deutschen" nur deshalb in den Krieg gezogen seien und vierundeinhalb Jahre lang Hunger und Elend gelitten, Not und Tod ertragen hatten, um in ein „neues und besseres Deutschland" zurückzukehren. Damit glaubten sie sich legitimiert. Denn damit wollten sie sagen: der Lohn für die gute Tat, dass wir dem kaiserlichen Deutschland alle Kriegskredite, die geldlichen und die geistigen, bewilligt haben, darf nicht ausbleiben. Wir haben, nun die kaiserliche Regierung abgedankt hat und ihre Versprechung ,,Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss" nicht einlösen kann, das natürliche Recht, es selbst zu tun. Auf der anderen Seite aber wollten viele Deutsche nicht wissen, dass „Krieg und Reich" zu Ende seien. Sie trommelten Protest. Aus dem Blute des grossen Krieges müsse ein neues Reich erstehen, jenes deutsche Reich, von dem die Kriegsfreiwilligen getraumt hatten, die im Herbst 1914 bei dem flandrischen Flecken Langemark mit dem Liede „Deutschland, Deutschland über alles" gegen die englischen Schützengraben gestürmt waren. Diese Protestanten schnürten von neuem den Riemen des Stahlhelms unterm Kinn und sangen: „Hakenkreuz am Stahlhelm — schwarz-weiss-rot das Band! Die Brigade Ehrhardt werden wir genannt". Romantisch verglichen sie sich mit den Freiwilligen des Befreiungskriegs von 1813. So gross war ihr Hass gegen die Republik, dass sie sich von ihr unterdrückt fühlten wie ihre Urgrossvater von Napoleon. Sie erkannten nicht an, dass die Republik von Deutschen gemacht sei und sangen auf ihren Marschen — den Refrain ihres Liedes variierend — zum Spott: „Knoblauch an dem Strohhut, Lippen geil und dick — die Familie Levy schützt die Judenrepublik!" In ihrem Judenhass glichen sie tatsachlich den Teutomanen von hundert Jahren zuvor. Und dann waren da noch andere, die Alarm bliesen. Im Namen der wahrend des Krieges als Aufrührer erschossenen Matrosen Köbis und Reichpitsch wollten sie die durch den Zusammenbruch des kaiserlichen Regimes entstandene Situation benutzen, um „die Revolution vorwartszutreiben". Sie hingen den Karabiner über die Schulter und sangen: „Völker! Hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkampft das Menschenrecht!" Inzwischen sind zwei neue Generationen herangewachsen. Worin bestand ihr Kriegserlebnis? Krieg — das war für die altere dieser zwei neuen Generationen, dass ab und zu die Glocken lauteten und die Fahnen gehisst wurden, weil auf einem der Kriegsschauplatze ein Sieg errungen worden war. Der Lehrer liess dann „Deutschland, Deutschland über alles" singen und sagte: „Heute ist schulfrei, weil unsere Feldgrauen wieder den Feind geschlagen haben." Alle paar Monate kam so ein Feldgrauer für ein paar Tage zu Besuch. Das war Vater. Wenn er im Felde war, hatte Mutter viel Sorgen. Manchmal sagte sie: „Na warte mal! Wenn Vater erst wieder zu Hause ist, hat das Lotterleben aufgehört — Vater kann dir viel besser als ich die Hose strammziehen!" Aber wenn Vater auf Urlaub kam, hatte er etwas anders zu tun. Dann war er sentimental — die ersten paar Tage, weil er wieder einmal daheim war, und die letzten paar Tage, weil er wieder an die Front musste. Als der Krieg zu Ende war, liess die Lehrerin einer Berliner Gemeindeschule die neunjahrigen Jungens ihrer Klasse einen Aufsatz schreiben über das Thema: „Was ist in Deutschland geschehen?" Einer der fünfundzwanzig Schüler, Willi Sommer hiess er, schrieb: „Mein Vater ist Soldatenrat, der Soldatenrat ist dof. Die haben Rote kokaden der Gustaf hat auch Rote ich habe ihm aber abgerizen weil unser Fraulein gesagt hat, das siht nicht schön aus. Mutter hat gesart, die reichen wollen den Krieg Wilhelm und Auguste haben auch das ganze Schloss vol gehabt. Nun is leman in Holland und nu Friede aber hungern wollen wir nich mehr Liebknecht ist verükt dem haun sie die komode >> ein. Dieser Willi Sommer ist heute ein Mann von beinahe dreissig Jahren. Sein Kindertraum „aber hungern wollen wir nicht mehr" ist nicht in Erfüllung gegangen. Als Willi fünfzehn Jahre alt war, kostete in Deutschland ein Laib Brot — wenn er zu haben war und wenn man das Geld hatte, um ihn zu kaufen —: ungezahlte Milliarden Mark. Vielleicht waren Willi Sommer und sein Vater unter den Hunderttausenden, die im Inflationsjahr nachts auf die Felder zogen, um Kartoffel und Gemüsse zu stehlen, damit sie ein Mahl kochen konnten. Als Zwanzigjahriger ging er wahrscheinlich zur ,,Stempelfabrik" oder musster, wenn er selbst noch Arbeit hatte, einen Bruder unterstützen, der arbeitslos war. Heiraten konnte er nicht. Und wenn er hatte heiraten können, hatte er keine Kinder haben wollen. Denn er las in der Zeitung, dass in den Volksschulen der grossen Stadte und der Industriebezirke beinahe fünfzig Prozent aller Kinder ohne ein warmes Frühstück zum Unterricht kamen, dass ebensoviele kein Hemd und keine Strümpfe mehr am Leibe hatten und vor Elend und Wohnungsnot mit anderen Geschwistern oder gar Kostgangern in einem Bett schlafen mussten. Dagegen hat er erlebt, dass sie Liebknecht wirklich „die komode eingehauen" haben, dass sie Landauer Eisner, Erzberger, Rathenau und viele andere, weniger bekannte Manner im Namen Deutschlands „gekillt" haben. Er hat die Blutspur verfolgen können, die vom November 1918 durch die Republik der vierzehn Jahre hin zum III. Reiche führt. Und im Marz 1933 hat er erlebt, dass „vor dem Racherarm der deutschen Frontsoldaten und Offiziere die Empörer, die Revolutionare und das ganze demokratisch-sozialistische Gesindel, das uns in den Rücken gefallen ist" — wie es in einem im Februar 1919 unter den Regierungstruppen des republikanischen Oberkommandeurs Noske verbreiteten anonymen Flugblatt heisst — „verschwand". Willi Sommer hat sich entscheiden mussen, ob er diejenigen, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Eisner und Landauer, Erzberger und Rathenau töteten, für gemeine Mörder, wie die einen sie nannten, oder für heldenhafte Vollstrecker eines „wahrhaft nationalen" Femegerichts, wie die anderen sie rühmten, ansehen sollte. Und vielleicht hatte er sich für jede von diesen Auffassungen entschieden, wenn er dadurch nur seinen Arbeitsplatz behalten oder Arbeit bekommen und man ihn nicht mehr „einen nutzlosen Esser" genannt hatte. Die zweite Generation, die seit dem Kriege heranwuchs, ist heute zwanzig Jahre alt. Sie kennt den Krieg nur noch vom Hörensagen. Zu den Kindertraumen von Fritze Winter, dem kleinen rheinischen Neffen des Berliners Willi Sommer, machten die französischen Kanonen, die über die Rheinbrücken holperten, als das Ruhrgebiet von den Franzosen besetzt wurde, und die Clairons der französischen Infanterie, die auf den westdeutschen Marktplatzen paradierte, die Begleitmusik. Als Fritze seine Kinderspiele spielte, krachte in Düsseldorf zwischen einer zur Wache aufmarschierenden französischen Kompagnie die Handgranate, für deren Wurf Albert Leo Schlageter wenige Wochen spater in einer Sand- grube am Rande der Stadt erschossen wurde. Vielleicht hat Fritze Winter wie viele Düsseldorfer Jungens in dieser Sandgrube auf der Goltzheimer Heide gespielt und gar nicht gewusst, was das armselige Holzkreuz auf dem kleinen, von einem schlechten Holzgitter umgebenen Platz in der einen Ecke dahinten bedeutete. Aber als er ein paar Jahre spater aus der Schule kam und Separatistenaufruhr und Ruhrbesetzung langst wieder vergessen hatte, wurde die Sandgrube auf der Goltzheimer Heide in ein Heldenmal verwandelt. In seiner Mitte — auf dem Platz, wo früher das armselige Holzkreuz gestanden hatte — erhob sich, kilometerweit sichtbar, ein blinkendes Kreuz aus Stahl. Und Fritze Winter hörte, wie die einen Albert Leo Schlageter einen Bankrottier schalten, der sich als LandsknechtSaboteur verkauft habe, nachdem er als Waffenschmuggler von einem Kellner um sein letztes Geld betrogen worden war, — und wie ihn die anderen als einen unsterblichen Helden priesen, der sein Leben für das Deutschland des neuen, kommenden Reiches gegeben habe. Fritze Winters Vater war im Kriege gewesen. Ihn feierte man schon lange nicht mehr als Helden. Sein „Eisernes Kreuz" undseine „Tapferkeitsmedaille" lagen in irgendeiner Schublade. „Was kann ich mir dafür kaufen?" pflegte er zu sagen. Die Leute vom Stahlhelm und Hakenkreuz sahen ihn deswegen für einen schlechten Deutschen an. Seit er aus dem Betrieb hinausrationalisiert war, marschierte Fritzens Vater in der grossen Armee der Stempelbrüder. Er war erst fünfzig Jahre alt, aber zu alt, um je noch einmal auf einen Platz im Produktionsprozess rechnen zu können. „Was hat nun die ganze Gewerkschaft für einen Zweck?" fragte er — „ich hatte den Bonzen schon lange mein Mitgliedsbuch vor die Füsse geschmissen, aber man hat doch nicht zwanzig Jahre Beitragsmarken geklebt, um schliesslich seine Altersversorgung zu verlieren." Sein Gewerkschaftsssekretar hielt ihn deswegen für einen halben Kommunisten, zuckte mit den Schultern und sagte: „Soviel wie die Arbeitslosen erwarten, kann man ihnen als verantwortungsbewusster Mensch gar nicht versprechen — sie radikalisieren — daran ist nun einmal nichts zu machen — lass die Krise vorbei sein, und diese Chaosblüten Kommunismus und Faschismus faulen über Nacht an den Wurzeln ab. Als Fritze Winter fünfzehn Jahre alt war, war sein Vater „ein Indifferenter" geworden. Fritze selbst wusste nicht, ob er „Heil Hitier" und „Verrecke Moskau" oder ob er „Heil Moskau" und „Verrecke Hitier" schreien sollte. Rief er im Namen der Republik „Freiheit", belehrten ihn Jungens von links und von rechts, dass er in der schwarz-rot-goldenen Republik allein die Freiheit habe, langsam kaputt zu gehen. Und so wusste er nur, dass er keine Lehrstelle bekommen konnte wie andere hunderttausende Jungens, war sein grösster Wunsch, schnell so gross zu werden, dass er irgendwo in Uniform mitmarschieren könne und so wenigstens für Stunden und Tage „dem Elend zuhause" entfliehe. Und heute mit zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren hat er wieder richtig gelernt: die Hacken zusammenzureissen und strammzustehen, das Gewehr zu prasentieren, ein Maschinengewehr oder eine Kanone zu bedienen, einen Tank oder ein Flugzeug zu steuern. Und vielleicht, was Gott verhüten möge, bleichen seine Knochen im nachsten Weltkrieg zwischen zwei Stacheldrahtverhauen — wenn er nicht schon langst in spanischer Erde begraben ist. Inzwischen kann man die deutsche „Menschheitsdammerung" von 1918 in Deutschland überhaupt nicht mehr und in der übrigen Welt höchstens noch anti- quarisch kaufen. Die Dichter, deren Verse darin stehen — damals die Jungen — sind Manner zwischen Fünfzig und Sechzig Jahren geworden. Ihre Verse nennt man heute noch wie die Malereien und Musiken ihrer Altersgenossen die „junge Kunst". Und inzwischen geistert das Schlagwort vom Kriegserlebnis, das den deutschen, ja den europaischen Menschen „entscheidend" verandert haben soll, durch die Reden und Schriften der Generation des letzten Weltkriegs und ihrer pazifistischen Epigonen. In der Republik der vierzehn Jahre ist es vorgekommen, dass eine Partei beschloss, die „Zugehörigkeit zur Jugend" bis zum dreissigsten Jahre zu verlangern. Viele Mitglieder der Jugendorganisation waren mit dem Leben in der „Erwachsenenpartei" unzufrieden — ihnen sollte mit dem Parteibeschluss erlaubt werden, der Jugendorganisation bis zum dreissigsten Jahre anzugehören. Und heute kann man in den Zeitungen lesen, dass die jungen Manner, die in den Stadten Europas demonstrieren, weil sie mit dem Leben im Staate der Alten unzufrieden sind, „hochgeschossene Lümmels von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren" genannt werden. Was sind das für konservative Fortschrittler, die die natürlichsten Gesetze der menschlichen Entwicklung leugnen, weil sie wie in allen Uebergangszeiten das strenge Regiment der Alten ausüben wollen oder sich ihm aus Angst vor der Zukunft freiwillig unterwerfen? Ist es nicht an der Zeit, von der Biologie wieder zu lernen, dass die Jugend des Menschen mit zwanzig Jahren aufhört, und dass dann sein Mannesalter beginnt? Ist es nicht heute so, wie es immer gewesen ist, dass die entscheidende Konzeption eines Menschenlebens und einer Generation sich in den Jahren zwischen Zwanzig und Dreissig vollzieht, um sich spater endgültig zu entwickeln und zu entfalten? Betrachtet man die Republik der vierzehn Jahre, ohne sich vom Larm der Tagespolitik und der Schlagworte verwirren zu lassen, so kommt man zu der Entdeckung, dass sie Episode bleiben musste, weil die Politiker ihrer führenden Parteien — spate Nachkömmlinge der rationalistisch-impressionistischen Epoche des vorigen Jahrhunderts — dieser einfachen Tatsache keine Rechnung getragen haben. Sie starrten sich blind auf die sogenannte Revolution von 1918, die sich gegen ihre Erwartung und gegen ihren Willen vollzogen hatte, nannten sich, um sich die Gloriole einer Tradition zu geben, die Erben und Fortsetzer der 1848 missglückten bürgerlichen Revolution, obwohl ihnen jede revolutionare Energie mangelte — und sahen nicht, dass lange vor dem Weltkrieg in den Reihen der sogenannten bürgerlichen Jugend eine Umwalzung begonnen hatte, die auf der nichtpolitischen Ebene den bürgerlichen Menschen des 19. Jahrhunderts unter sich zu begraben im Begriff war. Auch sie sprachen von der Jugend und sagten: wer die Jugend hat, hat die Zukunft. Aber sie wollten nur ihre eigene Zukunft sichern, indem sie die Jugend organisierten. Darum ,,bauten sie die Jugendorganisationen ihrer Parteien aus", in der Hoffnung, diese Jugend werde ebenso verstandig, klug und nüchtern sein, wie sie nun leider schon geworden waren. Und da diese Jugendorganisationen finanziell von ihnen abhangig waren, glaubten sie, sie leiten zu können, wie sie wollten. Und wem die „demokratisch-autoritare" Leitung nicht passte, der „musste lieber gleich zu den Kommunisten oder Faschisten gehen". So verstanden sie unter der Jugend eigentlich nur die jungen Menschen, die ihren Parteiorganisationen angehörten, dort von den Jugendlagern und Ferienheimen billigen Gebrauch machten und hofften, auf der Leiter der Jugendor- ganisation zu jener Mittelmassigkeit emporzuklimmen, die in Scharen die Aemter der Parteien und des öffentlichen Lebens besetzt hielt, sich unter vollkommener Verkennung des Ausleseprinzips für eine Elite ansah, bloss weil sie ,,zur Jugend gehort hatte, und die das Breittreten parteiamtlich erlaubter Meinungen mit geistiger Leistung verwechselte, weil sie ihre Elaborate in den Zeitungen und Parteiverlagen gedruckt sah und in Parteikursussen gesprochen hörte. Jugendfürsorge statt Jugendbewegung ist kennzeichnend für die Republik der vierzehn Jahre. Es ware töricht zu leugnen, dass die Republik auf dem Gebiete der Jugendfürsorge Grossartiges geleistet hat. Aber man müsste eigentlich auch einmal prüfen, inwieweit durch diese Fürsorge, die der Jugend soviel gab, für das sie nicht selbst zu kampfen brauchte, jener Zustand befördert wurde, den man heute so oft der Jugend zum Vorwurf macht: das selbstverstandliche Geniessen von Rechten und das mangelnde Bewusstsein, dass diesem Genuss von Rechten die sittliche Pflicht zur geistigen Leistung und zur Verteidigung dieser Rechte gegenüberstehen muss. Doch solche Feststellungen setzen einem heute leicht der Gefahr aus, rückstandig genannt zu werden. Darum sei hier nur gesagt, dass die „Realpolitiker" der Republik der vierzehn Jahre den tiefen Sinn der Jugendbewegung nicht begriffen haben. Die Jugendbewegung aber ist es gewesen, die das Gesicht Deutschlands vollkommen verandert hat. In ihr vollzog sich die Konzeption des Vortrupps des neuen Jahrhunderts. In der Kunst pflegt man die Strömungen, die aus dem vorigen in unser Jahrhundert führten, unter dem Sammelnamen ,, Abkehr vom Naturalismus zusammenzufassen. Richard Dehmel, angeregt durch Joris Karl Huysmans Roman ,,La-bas" (1891), gab dafür in Deutschland das Signal, als er in der Münchener Zeit- schrift „Die Gesellschaft schrieb: „Verdichtung und Steigerung der Wirklichkeit, auch was die Form angeht: Sonst kommen wir zu nichts! Die Jugendbewegung, die ein paar junge Studenten um die gleiche Zeit entfesselten, schien zunachst ganz von der Kunst wegzuführen, obwohl auch ihr Ziel „Verdichtung und Steigerung der Wirklichkeit" war. Sie strebte aus den grossen Stadten fort in die Natur. Die grossen Stadte, die in Belgien Emile Verhaeren hymnisch besang: O, die Zukunft, wie man doch ihre Gewalt In diesen Stadten von dunklem Basalt Das Gebalk ihres Kerkers zersprengen hört In diese Stadte, die nachtiger Schauer Und die Flamme der roten Feste ummauert, Schliesse dich ein, Mein Herz, um gross und gewaltig zu sein! — (Uebersetzung von Stefan Zweig.) die Stadte waren dieser deutschen Jugend nichts anders wie die Orte, wo die Konventionen des neunzehnten Jahrhunderts zustande gekommen waren. Und gegen diese Konventionen lehnte sie sich auf. Im Aeusserlichen: sie schnitt die langen Hosen ab, sie verdammte die Manschetten, das Chemisette oder Vorhemdchen und den steifen Kragen, den steifen Filzhut und den Strohhut, den dünnen Spazierstock und die umstandlich gebundene Krawatte. Die neue Jugend ging am liebsten in kniefreien Hosen. Sie trug das ungestarkte Leinenhemd und liess sich die Haare lang wachsen, ohne sie mit Pomade und Brillantine zu scheiteln. Die Kleidung des Cafés — das Café war der meist besuchte Versammlungsort der Gesellschaft im 19. Jahrhundert — war ihr ein Greuel. Denn sie verabscheute die ganze Athmosphare, die das Caféhausleben umgab. „Café" wurde das Schimpfwort für alle bürgerliche Konventionen. Da Widerstand gegen die Bewegung schnell und meist verfehmend sich regte, grüssten diese jungen Menschen sich nicht mit den bisherigen Grussformeln sondern wünschten sie sich „Heil!" „Heil" wurde in den Hallen der Universitaten zum Streitruf der Studenten, die mit dem Komment der studentischen Verbindungen und den Trinksitten den ganzen Nepotismus der farbentragenden Korporationen verwarfen und die gute Karrière, die man durch die Gunst „Alter Herren" machen konnte, verachteten. Sie verspotteten den auf dem Paukboden der Mensuren angedrillten Mut: „Grade wie die wilden Oberbayern, die mit langen Messern blutige Festen feiern, ficht der Student nach dem Komment mit Sabel und Rapier zum Piasier!" — und das Saufen nach feierlichemZeremoniell: „Schadet 's Saufen auch dem Intellekt, wir saufen doch: es langt ja, was im Schadel steekt, für den Staatsdienst noch!" Einen „Steinklopferhut" mit einer Habichtsfeder geschmückt fanden sie schoner als das teuerste seidengestickte Cerevis und ein paar Sandalen schoner als hohe, sporenklirrende Lackstiefel, ein Lautenband schoner als das Verbindungsband. „Heil" wurde zum tröstenden Bekenntnisschrei in den Höfen der Gymnasien und Oberrealschulen für die jungen Gymnasiasten, die sich nicht für die geheime Schülerverbindung — in dem Komment und in den Trinksitten Nachahmungen der Studenten▼erbindungen — „keilen" liessen und deswegen von ihren Mitschülern an die Pumpe „gekreuzigt" wurden. Schmunzelnd sahen die Klassenlehrer — selbst „Alte Herren" ■— dieser grausamen Qualerei zu, bei der den Opfern das krumme Ausflussrohr der Pumpe in den Rücken gedrückt un die Arme nach hinten gezogen wurden. Sie fanden es ganz in der Ordnung, dass „gesunde Jungens" die „ungesunden Schwarmer" so demütigten und dabei ins Gesicht spuckten. „Heil" wurde aber auch zum begeisterten WillkommGruss, wenn sich diese Jungens: den Rucksack auf dem Rücken, den Kochtopf darauf geschnallt, die Laute und die Fiedel unter den Arm, am Rande der Stadt trafen, um „auf Fahrt" zu gehen. In die Berge und Walder der Umgebung führte die „kleine Fahrt" an den Samstagen und Sonntagen, in die weiten Gaue Deutschlands die „grosse Fahrt" in den Ferien. Nach sechs Tagen Cicero und Homer, nach sechs Tagen Parabelformel und Gleichungen mit Unbekannten, nach sechs Tagen Jahreszahlen griechischer, lateinischer und deutscher Geschichte rief der Wald mit seinem Rauschen, rief der Fluss mit seinen in der Sonne glitzernden Wellen, riefen die wogenden Felder und die alten Burgen mit ihren zerfallenen Zinnen. In die Ferne. Dahinten blieben die Stadte mit ihren engen bürgerlichen Wohnhausern, mit ihren verqualmten bürgerlichen Café's, bürgerlichen Restaurants, bürgerlichen Promenaden und bürgerlichen Konventionen. „Heil" rief der Führer und „Heil!" schallte es ihm — aus fünf oder sechs Jungenskehlen entgegen. Die Fiedel hub an, die Lauten und die Stimmen fielen ein: Nach Süden nun sich lenken Die Vöglein allzumal — Viel Wandrer lustig schwenken Die Hüt' im Morgenstrahl. Das sind die Herren Studenten — Zum Tor hinaus es geht — Auf ihren Instrumenten Sie blasen zum Valet! O, Prag, wir ziehen in die Weite Die Lange und die Breite! Et habeat bonam pacem, Qui sedet post fornacem! Die Landstrasse zu wandern, war viel zu konventionell. Man „klotzte sie ab", wenn man Gelegenheit hatte, mit Handwerksburschen zu „tippeln" und so neue Lieder zu lernen. Im allgemeinen suchte man die einsamen Waldwege, die stillen Flecken zwischen Büschen am Bach, an denen man traumen und auf den Bergeshöhen, von wo man weit ins Land sehen konnte. Dort grub man eine Feuerstelle, setzte den Kochtopf auf und bereitete aus Reis oder Gries ein einfaches Mahl, das man „Schlamm nannte wobei man das Wort von Schlemmen ableitete. Alkohol und Tabak waren „Café". Sie brauchten deswegen nicht verboten zu werden. Sie wurden gemieden. So ging mit der Revolutionierung der Kleidungsund Umgangsformen die der Lebensführung und Lebenshaltung Hand in Hand. Grübeleien lagen dieser neuen Jugend fern. Der sozial-mythische Fanatismus der vom Osten beeinflussten Nihilisten kam ihr ebenso lacherlich vor wie die weltschmerzlerische Fin-de-siècle-Stimmung der westlich orientierten Bohèmeleute. Das auf Russisch zur Krawatte geschlungene schwarze Tuch und die auf französische Manier gebundene Lavallière waren nicht minder „Café" als die lange Hose mit Bügelfalte, der hohe „Vatermörder" und der Zwicker an schwarzer Schnur. Ganz nach aussen gerichtet war der Bliek dieser neuen Jugend. Eine weisse Frühlingswolke, die am blauen Himmel über blühenden Weiden- und Haselstrauchern segelte, riss sie in Ergriffenheit. Der Sturm der Gefühle, der ihre Brust bewegte, machte sich Luft in einfachen Liedern, wie sie das Volk seit Jahrhunderten sang. Die schlichten Weisen dieser Lieder und die Akkorde der Lauten mischten sich mit dem Frühlingswind und dem Duft der erwachenden Erde und schwebten über die heimatliche Landschaft. Wenn die rote Mondscheibe über das Filigran der jungen Tannenbaume in den sternenbesaten Himmel stieg und den Bergfried einer alten Burg vergoldete, sassen sie schweigend in sich versunken und wurden sich der Schönheit Deutschlands bewusst, die sie in den Stadten nicht gefunden hatten, Und dann sangen sie wieder: die alten Balladen — von Rittern, die mit ihren Knechten über die weite Heide reiten, vom Tannhauser, der im Walde grosse Wunder schauen wollte und in Frau Vrenelis, der Teufelinne, Berg geriet, von den Königskindern, die nicht zusammenkommen konnten, weil das Wasser viel zu tief war. Diese Volkslieder hatten für sie zunachst gar keine literarische Bedeutung. Sie sammelten sie nicht aufsneue wie vor ihnen Herder, der Vorklassiker, und die Romantiker Clemens Brentano und Achim von Arnim um ïhrer dichterischen Schönheit willen, sondern um sie zu singen. Und sie sangen sie, weil sie darin die deutsche Landschaft wiederfanden, die sie voll Staunen neu entdeckt hatten. Ganz gefühlsmassig kamen sie über die Neuentdeckung des deutschen Volkslieds und der deutschen Landschaft zur Entdeckung des deutschen Volkes. Es war freilich nicht das Volk, von dem die Massen in den Stadten bei ihren Demonstrationen sangen, sondern das Volk im Sinne der Nation, das auch Herder und den Romantikern vorgeschwebt hatte. Die „Jugend", die sich so in fanatischer Auflehnung von den Konventionen des vergangenen Jahrhunderts abkchrte, bestand um die Jahrhundertwende in ganz Deutschland aus einer Handvoll Gymnasiasten und Studenten. Dieser Aufstand einer Jugend, der in den folgenden zwei Jahrzehnten eine ganze Generation ohne Unterschied des Glaubens, des Standes und der politischen Ueberzeugung ergriff, ging also nicht von der Klasse aus, die sich damals allein dazu berufen fühlte, die Revolution auf sozialem Gebiet zu machen, und die in der Bourgeoisie ihre Todfeindin sah. Die Führer der proletarischen Revolution liessen, als Söhne der Aufklarungszeit in der Vernunft das einzige Heil der Menschheit sehend, die Bezirke des Gefühls links liegen. Mit einem aus der Sphare des Parlamentarismus stammenden Worte nannten sie sich die Linken. Links von ihnen gab es einfach keinen Radikalismus mehr. Und was rechts von ihnen war — mochte es bourgeois oder feudal oder klerikal sein war herrschende Klasse, also reaktionar. Und die herrschende Klasse hatte „immer Gefühl wie Religion missbraucht, um das Volk: d.h. die zum Trager des Fortschritts gewordene und die Zukunft allein bestimmende unterdrückte Klasse: das Proletariat zu verwirren". Basta. Lehrte nicht die Erfahrung, dass zwei mal zwei gleich vier ist? Vernunftmassige Erfahrung, so glaubten diese Romantiker des Verstands, habe auch den hunderttausenden „klassenbewussten", d.h. „organisierten Hand- und Kopfarbeitern" ihre Klassenlage bewusst gemacht. Nach den Regeln des empirischen Verstands mussten also auch eines Tages ihre Berechnungen aufgehen: hatte das durch vernunftmassige Aufklarung klassenbewusst gewordene Proletariat die Mehrheit oder die Macht, sodass es die „Diktatur des Proletariats ausüben konnte, dann mussten die alten Ideologien absterben, und, da „Sein das Bewusstsein und nicht Bewusstsein das Sein bestimmt", sich zwangslaufig das neue Bewusstsein total einstellen. Der Kapitalismus hatte ja, wenn man ihn vernünftig betrachtete, die „historische Aufgabe", die produktionsmassig rückstandigen Mittelschichten langsam zu zermahlen und die industrialistische Produktionsepoche vorzubereiten, deren Vollendung der Sozialismus war. Millionen verproletarisierten. Man brauchte ihnen nur ihre „veranderte Klassenlage" an den Verstand zu bringen — und man hatte gewonnenes Spiel. Aber der Weg zur reinen Vernunft ist weit und durch viele vom Gefühl errichteten Hindernisse versperrt. Und die Seele geht merkwürdige Wege, wenn die Vernunft sie unterdrücken will. Im Naturalismus sah die sozialistische Bewegung die revolutionare Kunst. Denn der Naturalismus suchte seine Motive gerne in dem Milieu jener Schichten, die sie das Volk nannte. Dehmel hat die Helden der naturalistischen Dramen und Romane einmal „die Hamiets der Mittelsorte" genannt und damit die romantisch-opernhafte Verwandlung „von proletarischen oder verproletarisierten Menschen in Helden, die doch eigentlich der bürgerlichen Wertschatzung würdig sind", (Sternheim) charakterisiert. Die sozialistische Bewegung aber sah in der scheinpsychologischen Abwicklung seelischer Vorgange in durchschnittlichen Bürgermenschen und in sich um ein bürgerliches Seelenleben bemühender Proletarier ein Stück Hegelscher Philosophie von der „Belauschung des Objekts in seiner vernünftigen Entwicklung", wie Carl Sternheim es einmal ausgedrükt hat, und ein Stück „Erziehung zum Sozialismus". Obendrein aber waren die Pickelhauben des kaiserlichen Polizeistaats gegen diese Kunst eingeschritten. Das hatte ihr eine revolutionare Gloriole gegeben, die sie eigentlich nicht verdiente. Die Parole „Die Kunst dem Volke", die die Sozialisten vor der Jahrhundertwende ausgaben, war deswegen eine politisch-agitatorische. Gerhart Hauptmann, den die damals gegründeten „Volksbühnen" und „Freien Volksbühnen" als den neuen politischen Dichter auf den Schild erhoben, leugnete aber, als es hart auf hart ging, d. h. als sich der preussische Staatsanwalt mit seinen „Webern" bemühte, die revolutionare Tendenz seiner Dramen. Um „Die Weber" vor dem Verbot zu schützen, liess er dem Oberlandesgericht durch seinen Advokaten mitteilen, er habe den Aufstand der schlesischenWeber nicht als Sozialdemokrat gesehen sondern als Künstler — er habe „den Sieg der Ordnung durch eine Handvoll Soldaten" feiern wollen, dabei allerdings dem naturalistischen Schluss — wie die aufstandischen Weber vom Büttel ausgepeitscht und ins Zuchthaus geworfen wurden — die asthetische Schönheit vorgezogen: dass ein, seinen Kameraden abtrünniger Weber durch eine Soldatenkugel fallt, wahrend die Soldaten von den aufstandischen Webern zurückgeschlagen werden. Damit hatte der grösste deutsche Dichter des Naturalismus das scharfste Urteil über sein Stück ausgesprochen. Vergebens warnte der sozialistische Theoretiker Franz Mehring in seinen „Aesthetischen Streifzügen seine Genossen vor dem Pseudosozialismus und Pseudorealismus Hauptmanns: „In den „Webern" war Hauptmann an die Grenze dessen gestossen, was sich die hohen Behörden und das verehrliche Publikum gefallen liessen, im „Florian Geyer" aber an die Grenze seines künstlerischen Vermogen; so trat er in der „Versunkenen Glocke" einen wohlgeordneten Rückzug oder, wie man in Hinsicht auf seine eklektischen Neigungen vielleicht richtiger und zugleich milder sagen muss, einen wohlüberlegten Flankenmarsch an, der ihn nun wirklich zum Herrscher der Luxusbühne, zum Liebling der Bourgeoisie gemacht hat. Mit solchen wohlfeilen Tiraden die Bühne des Lebens überschütten, nachdem man sich selbst einen bequemen Sitz in der Loge gesichert hat, das ist's, was die naturalistischen Aesthetik „werktatiges Mitleid" nennt." Mehring war nur ein Theoretiker, und Theoretiker sind bei den Realpolitikern schlecht angeschrieben. Denn Theorien haben es in sich, dass sie sehr unbequem werden können. Die Realpolitiker sahen also nicht, dass sie mit der Realisierung der Parole „Die Kunst dem Volke", die sie sie Arm in Arm mit den Naturalisten ausgaben, die von ihnen geleiteten Arbeitermassen, was das Gefïihl betraf, nicht aus dem Jahrhundert des bürgerlichen Materialismus heraus — sondern in es zurückführten. Sie verwiesen stolz auf ihre Statistiken: der Konsum von Büchern undTheatervorstellungen durch Arbeiter stieg. War Wissen nicht Macht? Konnte man nicht am Konsum von Büchern und Theatervorstellungen ebenso wie am Verbrauch von Seife den Stand der Kultur eines Volkes und einer Klasse ablesen? Zivilisation, d. h. Verbürgerlichung mit Kultur verwechselnd trugen sie so mehr als ihr Verstand ihnen bewusst werden liess, dazu bei, dass der deutsche Arbeiter das Hinaufklimmen in Kleinbürgerlichkeit für eine revolutionare Tat, das WC und das Schlafzimmer aus gebeiztem Eichenholz, den gutbürgerlichen Konfektionsanzug und den steifen Filzhut, den regelmassigen Besuch der Singspielhallen, das Sitzen im Plüschstuhl eines Parketts statt auf dem der hölzernen Bank der Galerie für kulturellen Fortschritt hielt. Für alle diese Dinge, die Statistiken einbegriffen, hatte die zu neuen Zielen aufgebrochene Jugendbewegung wenig Bewunderung. Eines Tages luden die „Heidelberger Bachanten" — die Führer der Bewegung, zwei Heidelberger Studenten, wohnten am Klingenteich auf halber Höhe zu dem Aussichtsturm auf der Molkenkuhr bei einem Seilschmierer der Zahnradbahn — die Darmstadter Wandervögel zum Besuch einer der berühmten Schlossbeleuchtungen ein. Tausende und abertausende Fremde waren in der alten Neckarstadt zusammengeströmt, um das romantische Schauspiel zu erleben. Vom Seilschmiererhaus hatte man eine prachtvolle Aussicht über den Wald am Hang hinunter auf das Schloss, den Neckar und die Stadt. Aber als drunten die erste Rakete hochstieg und den Beginn des Festes signalisierte, schloss der Breuer-Hansl die Fensterladen. Und wahrend drunten knatternd sich das Feuerwerk entlud, sassen sie hinter dem Haus unter den Tannen und sangen: „Und stechen mich die Dornen und wird's mir draussen zu kahl, geb ich dem Ross die Spornen und reit ins Neckartal". Noch in der gleichen Nacht brachen sie auf, wanderten den Neckar hinauf, zogen durch den Odenwald nach Miltenberg am Main mit seinen alten Brunnen und steingehauenen Bildern, und wieder hinunter nach Dinkelsbühl, in dessen Weiher das alte Schloss sich spiegelt und die weissen Schwane traumend schwimmen, durch das Frankenland hinüber nach Rothenburg ob der Tauber, der mittelalterlichen Stadt mit ihren Mauern, Toren und Türmen, an der die neue Zeit vorbeigegangen zu sein scheint. Heute snd diese Platze beliebte Ausflugsorte für Touristen geworden. Damals, als es noch keine Reisebüros für Autotouristik und keine Jugendherbergen für Massenübernachtungen gab, waren sie vertraumte Dörfer und Stadtchen, in die selten ein Fremder kam. Folgte man nicht der Landstrasse, so waren sie mühevoll zu erreichen, da die Wegemarkierungen schlecht waren oder überhaupt fehlten. Das Auftauchen der Wandervögel, dieser „Naturmenschen", erregte daher Aufsehen. Aber als sie beim Hans-Röder-Müller im Taubertal neben dem Toplerschlösschen anklopften und um Nachtquartier fragten, fand der Müller Gefallen an ihnen und gab ihnen Erlaubnis, im Heu zu schlafen, auf der Wiese hinter der Mühle abzukochen und im Mühlbach zu baden. Diese Jungens waren auch Romantiker. Ware ihr Bliek nicht ganz nach aussen gerichtet gewesen, hatten sie sich Rechenschaft abgelegt über die Zielrichtung ihrer Gefühle, so hatten sie sich wahrscheinlich auf den grossen Romantiker und Dichter des deutschen Waldes, den Freiherrn Joseph von Eichendorff berufen, der hundert Jahre zuvor, sprechend von Achim von Arnims und Glemens Brentanos Sammlung deutscher Volkslieder „Des Knaben Wunderhorn", gesagt hatte: „Die gesinnungskranke Zeit konnte nur im starkenden Luftbad auf den heimatlichen Höhen genesen." Ueber die aeutsche Romantik hatte Riccarda Huch, damals noch Bibliothekarin der Stadt Gottfried Keilers, Zürich, grade ihre zwei vortrefflichen Bücher „Blütezeit der Romantik" (1899) und „Ausbreitung und Verfall der Romantik "(1902) geschrieben. Aber die zeitgenössische Literatur wurde damals auf den deutschen Schulen nicht behandelt. Der Unterricht war prinzipiell und lehrplanmassig klassisch orientiert. Mit Friedrich Hebbel hörte die deutsche Literatur auf. Auf den Gymnasien standen Griechisch und Lateinisch im Vordergrund. Als wir 1908 am Darmstadter LudwigGeorgs-Gymnasium unser Maturum machten, lautete das Thema der deutschen Prüfungsarbeit: „Vieles Gewaltige lebt und nichts ist gewaltiger als der Mensch" in der griechischen Fassung des Verses von Sophokles. Heute wundert man sich, dass die Deutschen so lange den Geist ihrer Romantik vergessen konnten, obwohl die Lieder der Romantiker fortlebten und vom Volke gesungen wurden. Lag es daran, dass die Romantik so gefühlsbetont war, und dass in einer Zeit, die geblendet von den „Wundern der Technik" den Verstand verabgottete, Romantischsein für eine Art seelischer Krankheit galt? Hatte man deswegen diesen Jungens, Söhnen von Kleinbauern, Handwerkern, Gewerbetreibenden und des daraus hervorgegangenen mittleren und kleinen Beamtentums, gesagt, dass sie Romantiker waren, so hatten sie dagegen protestiert. Sie fühlten sich Pioniere. Und waren es auch, obwohl sie romantisch waren. Die Umwalzung der alten Lehrplane, ja der gesamten Padagogik stand ihnen noch bevor. Als der erste Wandervogelstudent — Georg Werle hiess er — als Studienreferendar am Darmstadter Ludwig-Georgs-Gymnasium das Klassenzimmer der Untertertia betrat und ihn zwei Jungens, die am Sonntag zuvor mit ihm „auf Fahrt" gewesen waren, mit „Heil Georg" begrüssten statt aus der Bank zu treten und stramm zu stehen, drohten die Mauern des alten Gebaudes am Kapellplatz einzufallen. Der Geist Diltheys, des grossen Reformators der humanistischen Gymnasialbildung schwebte über dem Haus. Seinem Andenken war auf dem Schulhof eine Kastanie gepflanzt. Sie war ein ehrwürdiger Baum mit dickem Stamm und breiter Krone geworden. Als Bonifatius die Donnareiche fallte, kann nichts Fürchterlicheres passiert sein als damals, als im Schatten der DiltheyKastanie durch den „Heil"-Ruf zweier Untertertianer die alte Schulordnung zusammenbrach. Der junge Studienreferendar wurde an ein kleines Landgymnasium versetzt. Damit glaubte man die alte Schulordnung gerettet. Dass die anderen Lehrer trotz Verhangung von Strafarbeiten, Hausarrest, Karzer, concilium abeundi und Relegation bei den andern Schülern kein Ansehen genossen, ja dass diese sich über ihre Gehröcke, Zwicker, „Röllchen" und zahlreichen kleinen menschlichen Gebrechen lustig machten, war „eine normale Erscheinung". Denn „Most muss garen, wenn er guter Wein werden will". Diese Handvoll „schwarmerischer Jungen" drohte aber das Fass zu sprengen. Erziehen bedeutet, junge Menschen auf den Zustand des Erwachsenseins vorbereiten. Diese Jugend aber lehnte die im konventionellen Konzept vorgesehene Erziehung und Bildung ab. Sie konzipierte selbst, wie sie sich bilden müsse, und formulierte gegenüber den Pflichten die Rechte der Jugend. Diese Jungens wollten nicht mehr in erster Linie Gymnasiasten und Studenten sein. Sie nannten sich „Vaganten" und „vagabundierten". Sie mieden die Ausflugrestaurants im Umkreis der Stadte, wo „Familien Kaffe kochen" konnten. Sie mischten sich nicht unter die Bürger und suchten nicht Anschluss an die „höheren Stande". Ja sie beteiligten sich nicht einmal an den Fackelzügen an Bismarcks und Kaisers Geburtstag. Sie sassen mit Bauern in der Scheune, tanzten mit Bauernmadchen unter der Linde, zogen mit Handwerksburschen durchs Land, schliefen im Heu und Iieber in der „Herberge zur Heimat" als im Hotel. Kurz: sie hatten gar kein Standesbewusstsein. Nicht zuletzt lasen sie auch Bücher, die im Unterrichtsplan nicht vorgesehen waren. Die Wandervögel waren, was ihre Leistungen anging, keine „schlechten Schüler". Sie lernten wie die anderen die Verschen von den „vielen Wörtern, die auf -is sind masculini generis" und den anderen, die „machen Pein, weil sie den Genitiv regieren im Latein". Sie „paukten" die unregelmassigen Verba auf -mi und die ganze lateinische und griechische Grammatik. Aber sie fanden ein deutsches Volkslied schoner als eine Ode des Horaz oder die Verse der Ilias. Und eine menschliche Stimme in der Natur, begleitet von einer Laute, schoner als die Arie einer Sangerin im Konzertsaal. Denn mit Horaz und Homer verband sich ihrem Gefühl der mit dem Hausschlüssel das Versmass skandierende „Pauker" und mit dem Konzertsaal der anstellerische Solist oder die noch anstellerischere Solistin und das Publikum. So „gingen sie ins Volk" — aber nicht wie Tolstoi und die Tolstoianer mit sozial-ethischen Absichten. Dafür waren sie zu jung, und dafür waren sie als „höhere Schüler" viel zu sehr von den modernen Problemen ferngehalten worden „Volk" waren ihnen alle die Kreise der Bevölkerung, die die Verstadterung noch nicht ergrifien hatte. Darum waren ihnen die Bauern nicht die „tölpischen ungebildeten Kaffern" wie den Stadtern sondern die Bewahrer des besten Volksgutes: der Volksbrauche, der Volkstanze und der Volkslieden Diesem Volksgut, das die Zivilisation in die Dörfer, in die abgelegenen Taler und auf die Berge zurückgetrieben hatte, gingen sie nach und fanden eine neue Aesthetik. Sie entdeckten die Schwanke und Fastnachtsspiele des Hans Sachs wieder und spater das deutsche Mittelalter — fern aller Formalaesthetik und nah im Geiste. Sie nahten ein paar Kostüme: den „fahrenden Schüler", den „Bauern" und die „Baurin", nahmen sie mit „auf Fahrt" und führten die alten Stückeauf der Waldwiese und abends in den Bauernscheunen auf. Illusionierende Dekorationen hatten sie nicht nötig. Schilder mit den Aufschriften „Dies ist die Untergasse" — „Dies ist die Obergasse" und „Dies ist die Stube" genügten, um den Schauplatz zu markieren. Das gemeinsame Erlebnis spielte sich im Wort ab. Schön war, was mit dem deutschen Land und dem deutschen Volk zusammenhing. Darum rührte sie das Landsknechtlied: Kein schönrer Tod ist in der Welt, Als wer vorm Feind erschlagen, ' Auf grüner Heid im weiten Feld Nicht hörn darf gross Wehklagen. Im engen Bett nur einer allein kommt an des Todes Reihen Hier findet er Gesellschaft fein — sterben wie die Krauter im Maien ebenso, obwohl sie Pazi fisten waren, wie dieses fromme Lied: Uf'm Berge da geht der Wind. Da wiegt die Maria ihr Kind Mit ihrer schlohengelweissen Hand. Sie braucht dazu kein Wiegenband. Ach Joseph, lieber Joseph mein, Hilf mir doch wiegen das Kindelein. Wie kann ich dir denn das Kindlein wiegen? Kann selber vor Kalte die Finger kaum biegen. Und wenn sie im beschneiten Wald eine Tanne mit Kerzen besteckt hatten und unter dem Weihnachtsbaum sangen: Vom Himmel hoch, ihr Englein kommt! Eia, susani! so trieb ihnen das Blut ebenso zum Herzen, wie wenn sie in der Sonnwendnacht auf der Berghalde durchs Feuer sprangen und den alten Sonnwendtanz sangen: Will die Jungfer küssen? Das tat der Jungfer lüsten! Blau-Blaublümchen auf den Hut! Hatt' ich Geld — und das war gut! Blumen auf mein Hütchen! Als diese neue Jugend keine zehn Jahre nach der Jahrhundertwende aus allen Gauen Deutschlands in Thüringen auf der Sachsenburg zusammenströmte, um sich die feste Form einer Organisation zu geben, merkte sie erst, Wïeviele aus den Wenigen geworden waren. Da waren die alten und neuentdeckten Volkslieder schon im „Zupfgeigenhansl", zu dem der Maler Hermann Pfeiffer prachtige Holzschnitte gemacht hatte, versammelt. Da marschierten vor dem Zug der Tausende, der zur Burg hinauf ging, ein halbes Tausend Spielleute mit Fiedeln, Floten und Lauten und spielten zum Sang auf: Der Jager in dem grünen Wald — Da sucht er Tierleins Aufenthalt. Und sein Hündelein, das jagt, Und sein Herz, das schlagt. . . Da erwies sich abends, als die Feuer auflohten, die Schlesier ihre schlesischen, die Hessen ihre hessischen, die Bayern ihre bayrischen und jede Landsmannschaft ihre eigenen Volkslieder und Volkstanze sangen und tanzten, dass diese Bewegung, so jung sie war, ihre eigene Form hatte. Aber bei den Verhandlungen über eine Verschmelz- ung aller Jugendverbande zu einer grossen Jugendorganisation, traten auch die inneren Gegensatze in Erscheinung, die zwei Jahre spater auf dem Konvent auf dem „Hohen Meissner" die Jugend des neuen Jahrhunderts vor den Scheideweg steilten. H. KAPITEL Der Scheideweg Das II. Reich, von Bismarck geschaffen, hatte die Traume der Romantiker, dass im Zusammenklang von christlich-religiösem und nationalen Wollen eine alle Deutschen umfassende Einheit der Nation erstehen möge, nicht erfüllt. Die Nation, die Antike und das Christentum hatte Friedrich Wilhelm Schlegel als die echten Krafte dynamisch-geschichtlichen Zusammenhangs bezeichnet. Als die deutschen Bürger 1848 versuchten ihre Revolution zu machen, schrieb der alte Freiherr von Eichendorff: „Es ist töricht. . ., dass die seichten Aufklarer und ihre terroristischen Nachfolger die ganze grosse Vergangenheit ausstreichen, um ihre kleine Gegenwart an ihre Stelle zu setzen; aber es ist ebenso töricht, die Gegenwart mit ihren unabweisbaren Existenzen zu ignorieren und das Vergangene als Zukunft fixieren zu wollen, als ob nicht alle drei Zeitverwandlungen ein unzertrennlicher Strom waren". Um die gleiche Zeit schrieb Karl Marx „Das kommunistische Manifest". Neue politische und geistige Fronten hatten sich gebildet. An ihrer Geschlossenheit war der Anlauf der Romantiker zu einer politischgeistigen Einheit der deutschen Nation gescheitert. Aber die Hoffnungen der aufklarerischen Bürger waren auch nicht in Erfüllung gegangen. Bismarcks II. Reich — das kaiserliche Deutschland — war ein Polizeistaat geworden. Der Adel genoss darin besondere Vorrechte. Der Bürger aber war in erster Linie Untertan. Erst unter der Regierung Wilhelm II. schuf er sich in diesem II. Reich sein Juste Milieu. Ritt Wilhelm II. in Tropenuniform auf hohem Kamelrücken heute zum Heiligen Grab, fuhr er morgen, „Volldampf voraus", nach Nordafrika und warf, in Beduinenuniform, sich zum Protektor der Muselmanen auf, rasselte er übermorgen bei einem Besuch der Krupp'schen Kanonenfabriken mit dem Sabel — wie er sagte, um „als Instrument Gottes" Deutschland d.h. der „Deutschen Bank", „Mannesmann und Konsorten" und den Stahlmagnaten „den Platz an der Sonne" zu sichern — so passte der Bürger sich diesem Betrieb an. Er kam sich dabei sogar philisophisch fundiert vor. Denn er interpretierte Hegels Philosophie dahin, dass ,,Natur unter allen Umstanden kraft des ihr immanenten Gesetzes nur das Zweckmassige, Notwendige und Wertvolle hervorbringe" (Sternheim). Stimmte er auch nicht Darwins Lehre, der Mensch stamme vom Affen ab, zu, so glaubte er doch, selbst wenn er nicht Freidenker war, jedes Wesen, auch der Mensch, entwickle sich artgemass und am besten, je weniger individuelle Abweichungen es zeige. Passte man sich also vernünftig an, so konnte man das Bewusstsein haben, Teil eines riesigen, sich nach vernünftignatürlichen Gesetzen entwickelnden und funktionierenden Mechanismus zu sein. Und hatte man das feine Einfühlungsvermögen, immer auf der Seite der zahlenmassig starksten Partei zu sein, so konnte man sich auch „schrankenlos ausleben", ohne Gefahr zu laufen. „Spiel der freien Krafte" nannte man das mit einem Ausdruck, der aus der liberal-fortschrittlichen Geisteswelt stammte. Aber es war ein Marionettenspiel, bei dem die Puppen, auch bei den wildesten Gestikulationen, sich nur so bewegen konnten, wie es die mechanischen Scharniere zuliessen, um schliesslich doch wieder in leblose Erstarrung zu fallen. Was galt Massenstreik der Bergarbeiter im Ruhrgebiet? Reiste und redete Wilhelm II nicht auch im Lande als betriebsamer Schrittmacher der Junker und Industriellen, die sich in die Regierung und Verwaltung des Reiches geteilt hatten, und sprach seinen Soldaten zu: „Wenn ich es euch befehle, habt ihr selbst auf Vater und Mutter zu schiessen!"? Stiess er die „Roten" nicht als „vaterlandslose Gesellen" einfach aus der Volksgemeinschaft aus? Nicht einmal Nachtwachter in einem Dorf konnte ein Mann werden, der im Geruche stand, „rot" zu sein. Und die Künstler? In der Zeitschrift „Pan" veröffentlichte Heinrich Mann 1910 einen Artikel „Geist und Tat". Darin warf er den Intellektuellen vor, dass „sie das Leben des Volkes nur als Symbol genommen haben für die eigenen hohen Erlebnisse" und dass sie „der Welt eineStatistenrolle zugeteilt und ihre schone Leidenschaft nie in die Kampfe dort unten eingemischt haben". „Sie tuen, als hatten sie hinter sich, wofür nur die anderen geblutet haben und massen sich die Miene der Uebersattigung an, obwohl sie niemals kampften noch genossen." So wirkten die Intellektuellen, wie Mann schrieb, mit an der „Beschöniging des Ungeistigen" und an der „sophistischen Rechtfertigung des Ungerechten". Tatsachlich lag die Gefahr für jede geistige Bewegung im II. Reich darin, dass sie auf der einen Seite an die harte Mauer geschlossener Parteien stiess, und dass sie auf der anderen Seite im betriebsamen Larm des Juste Milieu unterging. Daraus erklart, sich dass die meisten geistigen Bewegungen der wilhelminischen Epoche die Neigung hatten, sich abzuschliessen und die „Hure Berlin" zu meiden. Einwirkung auf die Gestaltung der Nation war ihnen ja doch versagt. Spricht man deswegen z. B. vom George-Kreis, so hat das Wort „Kreis" in Deutschland eine ganz andere Bedeutung wie etwa in Holland das Wort „Kring . Denn der Zusammenschluss zum „Kreis" ist bereits Opposition gegen das Juste Milieu. Dieser George-Kreis — u.a. gehörten ïhm Hugo von Hofmannsthal und Ludwig Klages an — mied jede Oeffentlichkeit. „Bis in die einzelheiten" — auch in der Rechtschreibung und Interpunktion — „der rücksicht der lesenden menge enthoben" druckte er nur für sich selbst. Seine Zeitschrift. „Blatter für die Kunst" wurde indem Buchhandel nicht vertrieben. Programm und Theorie des Kreises werden darin umschrieben: „unser ganzes schrifttum von gestern ist sittlich (sogar das behördlich verbotene) bürgerlich-pöbelhalft- und unterhaltend belehrend-realprogrammatisch-tendenziös . . . man verwechselt heute kunst (literatur) mit berichterstatterei (reportage) zu welch letzter gattung die meisten unsrer erzahlungen (sogar romane) gehören, ein gewisser zeitgeschichtlicher wert bleibt ihnen immerhin obgleich er nicht dem der tagesblatter richtverhandlungen behördlicher zahlungen u. a. gleichkommt." Die Menschen dieses Kreises fühlten sich in der Vergangenheit mit Novalis und Hölderlin, vor allem aber mit Jean Paul, dem „Meister der zarten Abschattungen" verwandt. Von seinen menschen sagten sie, dass sie „ohne grosses theater zu sein unendlich sinnen und leiden" und „zwischen dem flötenspiele zarter jünglinge und den rosigen wolken zarter madchen hin und her ziehen vom stillen Lilar zum lauschigen Rosenbühl". Sie liebten die englischen Praerafaeliten, die „die schone göttlichkeit der formen wieder auf den thron setzten". Und an den Franzosen Baudelaire und Verlaine, Mallarmé und Villiers schatzten sie mehr Form und Wesen der Dichtung als die menschliche Persönlichkeit. Bewusst flohen diese Dichter aus der Zeit in die Landschaften ihrer Traume. Und in dieser der Zeit und ihrer Kunst, dem Naturalismus, völlig abgewandten Welt entdeckten sie aufsneue Germanien. Paul Gerhardy, ein Lyriker des Kreises, dichtete den Meister Stefan George an: Auf deiner erhobenen theorbe singen die sterne von Goethe und Platen und dem dichtergeblüt dess klare hoheit entzündete die sterne, das freudige gold das germanische himmel besprüht. Es dauerte nicht lange und der Meister selbst war von den „Pilgerfahrten" und aus den „Hangenden Garten" heimgekehrt nach Germania: Ich fahre heim auf reichem kahne, das ziel erwacht im abendrot, vom maste weht die weisse fahne wir übereilen manches boot. Die alten ufer und gebaude die alten glocken neu mir sind, mit der verheissung neuer freude bereden mich die winde lind. Da taucht aus grünen wolkenkammen ein wort, ein rosanes gedicht: du wohntest lang bei fremden stammen, doch unsre liebe starb dir nicht Du fuhrest aus im morgengrauen und als ob einen tag nur fern begrüssen dich die wellenfrauen die ufer und der erste stern. . . Erst 1899 glaubte der Kreis „den wachsenden wünschen nachgeben und auf den schutz der abgeschlossenheit verzichten zu dürfen" und liess seine Bücher im Buchhandel erscheinen. In der neuen Jugendbewegung fand er ein begeistertes Publikum. Ich erinnere mich einer Heimfahrt nach tagelanger Wanderung durch das Frankenland — in einem Boot den Neckar hinunter nach Heidelberg. Lautenspiel und Gesang waren verstummt. Von den sanften Bergrücken des Odenwalds zu den steilen Uferbergen zur Linken spannte sich der blaue Himmel über dem gleitenden Schiffchen. Aus dem Grün der Garten tauchten weisse Hausermauern auf und sanken wieder in es zurück. Auf einer hohen Bergkuppe leuchteten rote Dacher in der Sonne auf und zogen vorbei. In die belebte Stille dieser nachmittaglichen Bootfahrt sagte auf einmal die Stimme des Malers Hermann Pfeiffer die Verse von Stefan Georges Heimfahrt. Der Wind trug den Klang der Worte fort. Aber in unseren Herzen zitterten sie nach. Niemand sprach mehr, bis über dem Waldgrün das Heidelberger Schloss in Sicht kam. Da befreiten sich die Herzen von dem seligen Druck, der auf ihnen gelegen hatte, mit Böllerschüssen, deren Echo weit aus dem Tale her immer wieder zurückgeworfen wurde. „Der Maler", wie Hermann Pfeiffer in der Jugendbewegung allgemein hiess, wohnte in Darmstadt in einem Gartenhauschen im Park der „Villa Wolfskehl". Karl Wolfskehl gehorte zum George-Kreis. Er hatte Pfeiffer einen Riesenauftrag erteilt: Die ShakespeareUebersetzungen Georges und seiner Freunde in einer besonders entworfenen Schrift und in der Rechtschreibung und Interpunktion des Kreises auf Pergament zu schreiben. Seit Jahren arbeitete „der Maler" an der Ausführung. In seinem Gartenhauschen ström- ten aber auch die Volkslieder zusammen, die die Wandervögel auf ihren Fahrten oder in Bibliotheken und Archiven neuentdeckten. Denn „der Maler" illustrierte sie für die Zeitschrift und den „Zupfgeigenhansl". Gleichzeitig waren das kleine Haus und der Park Versammlungsort der Darmstadter Wandervögel, die neben den Heidelbergern den Kern der Bewegung bildeten. Und so blieb es nicht aus, dass aus dem ganzen Reich haufig Gaste kamen. Darum ist es nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, dass im kleinen Haus im Park der „Villa Wolfskehl" in Darmstadt der Weg der Jugend, die aus den Stadten mit ihren bürgerlichen Konventionen und aus dem larmenden Leerlauf des Juste Milieu in die Traume der Walder und Auen gewandert war, in die Traume der Dichtung zurückmündete. Denn auf den Bücherborden dieses kleinen Hauses fanden diese jungen Menschen Georges „Die Fibel", „Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal", „Die Bücher der Hirten und Preisgedichte der Sagen und Sange und der hangenden Garten", „Das Jahr der Seele" und den „Teppich des Lebens". Ihrem Verstand, der an den grossen Vorbildern lateinischer und griechischer Welt geschult wurde, nicht bewusst, wuchs ihr Gefühl in eine geistige Landschaft, die von dem „Land der Griechen", das die Klassiker „mit der Seele gesucht" hatten, ganzlich verschieden war. Nicht die „Sonne Homers" sondern die deutsche Sonne lachelte dieser neuen Jugend. Zugleich schlug sich von dem Gartenhauschen im Park der „Villa Wolfskehl" die Brücke hinüber nach Frankreich und England und zurück in die europaische Vergangenheit. Denn George hatte auch Verlaine und Baudelaire, die Sonette Shakespeares und die Dichtung Dantes ins Deutsche übertragen. Der Weg der Jugend zurück in die deutsche Vergangenheit konnte nicht zu den Klassikern sondern musste zu den Romantikern führen. Denn die Jugend stiess auf die alten Probleme der Romantiker, vor ailem auf das nationale und das Adels-problem. Mit dem „Heiligen römischen Reich deutscher Nation" war die al te Standeordnung zusammengebrochen. Teile des alten Adels hatten sich hinter ein ausseres Standesbewusstsein verschanzt, andere hatten die Ideen der französischen Revolution bejubelt, und der Rest hatte sich kosmopolitisch von den Vorgangen in Deutschland ganz abgewandt. Der Romantiker Achim von Arnim hatte in den „Kronwachtern" von den einen geschrieben: „Als Euer heiliges Geschlecht herrschte, gab es ein reines keusches Rittergeschlecht, aber die jetzt den Namen tragen, sind es nicht. Nicht die sind Ritter, welche mit goldenen Sporen einherstolzieren, die von dem Kaiser mit Gunst und Tor heit zu Rittern geschlagen sind. Die echten Ritter sind vom harten Geschick geschlagen und gepragt, ihr Sporn ist die Treue und ihr Schwert der Glaube an das ewige Geschehen der Geschlechter, und dass diese Herrlichkeit aus dem Stamme immerdar wiedergeboren werde". Josef Görres hatte im Schlusswort der 1807 in Heidelberg erschienenen Volksbücher die anderen beschworen: „So ist die Hoffart zu Fall gekommen, und so wird's ewig sein, blaht euch, treibt euch hohl von innen auf, ihr gewinnt an Breite wohl, aber alle Gediegenheit ist hin, und ein Spott der Winde schwankt ihr angstlich da: Reisst gewaltsam aus dem Leben euch heraus, es wird euch verlassen, wenn es am nötigsten euch tate, und wenn ihr eben gerüstet steht zum Kampfe um alles und um eure Existenz, dann wird der fatale 5 Schwindel kommen, und ihr seid impotent und lahm". Hineingeboren in eine Zeit, in der der alte Reichsgedanke zerfallen war und die Zersplitterung Deutschlands in zahllose Kleinstaaten, die obendrein noch durch den Gegensatz Nord-Süd: Preussen-Oesterreich getrennt waren, endgültig geworden zu sein schien, hatten die Romantiker von einer neuen Einheit in einem neuen Reiche getraumt. In der Abwehr gegen den Kosmopolitismus der französischen Revolution und ihres diktatorischen Vollstreckers Napoleon hatten sie den Begriff Volk neugepragt: Volk, wurzelnd „im Boden des Vaterlands, der ihnen nun plötzlich unter den Füssen hinwegphilosophiert wurde". Da der Adel seine führende Stellung verloren oder sich ihrer freiwillig begeben hatte, so konnte, nach der Auffassung der Romantiker, das Volk ohne eine leitende Aristokratie nicht leben. „Nur die völlige Barbarei kann ohne Adel bestehen. In jedem Stadium der Zivilisation wird es, gleichviel unter welchen Namen und Formen, immer wieder Aristokraten geben, d. h. eine bevorzugte Klasse, die sich über die Massen erhebt, um sie zu lenken. Denn der Adel (um ihn bei dem einmal traditionell gewordenen Namen zu nennen) ist seiner unverganglichen Natur nach das ideale Element der Gesellschaft; er hat die Aufgabe, alles Grosse, Edle und Schone, wie und wo es auch im Volke auftauchen mag, ritterlich zu wahren, das ewig wandelbare Neue mit dem ewig Bestehenden zu vermitteln, und somit erst lebensfahig zu machen". So hatte der Romantiker Freiherr Josef von Eichendorff das Problem in der Arbeit: „Deutsches Adelsleben am Schlusse des 18. Jahrhunderts" formuliert. Was die Romantiker unter Volksgeist verstanden, hatte er so prazisiert: „Eines wollen wir vorzüglich ins Auge nehmen: dass wir die Pöbelhaftigkeit, als solche rein schlecht und verwerflich, unterscheiden vom Volksgeist und Volkssinn, die in ihrer Ausartung und Verderbnis nur in jenen übergehen. Wir werden dann der alten Bemerkung uns erinnern, wie diese Pöbelhaftigkeit durch alle Stande greifend keineswegs auf die Untern sich beschrankt. Wenn wir das larmende Marktvolk in unserer feinen Literatur die Kunstwerke umsummen und dumm begaffen sehen, und dann in dem bösen Pfuhle, die sich um die hohen Bilder sammelt, die schonen Formen in missfalligen Verzerrungen wiedererscheinen, dann wittern wir Pöbelluft. . . So hat das Böse, das Schlechte, das Gemeine seine Kirche, seinen sichtbaren Statthalter auf Erden, betraute Rate, Priester, Ritter, Laien, alles Janhagel, feiner, gröber, bestialisch, geschliffen, pfiffig dumm, alles Janhagel! Von dieses Volkes Büchern reden wir nicht, es würde zu weitlaufig sein, und wir würden uns zu hoch versteigen müssen. Aber es gibt noch ein anderes Volk in diesem Volke, alle Genien in Tugend, Kunst und Wissenschaft und in jedem Tun sind dieses Volkes Blüte; jeder, der reinen Herzens ist und lauterer Gesinnung, gehort zu ihm; durch alle Stande zieht es, alles Niedere adelnd, sich hindurch, und jedes Standes innerster Kern und eigenster Charakter ist ihm gegeben ..." Das Problem prasentierte sich der neuen Jugend fast in derselben Form. Was war nach dreissig Jahren aus dem II. Reich Bismarcks geworden? Der „Alte aus dem Sachsenwalde" stand in Bronze gegossen mit dem Schurzfell um die Lenden und mit dem Hammer in der Faust das Reichsschwert auf einem Amboss schmiedend: des „Reiches Schmied" in den elterlichen Wohnungen. Darüber hing ein Oeldruck, auf dem die Matrosen des Kanonenboots „Iltis" — die grüssende Hand vor der Flagge des in den Wellen versinkenden Kriegsschiffs an der Mütze, — sangen: „Dir wollen wir treu ergeben sein, getreu bis in den Tod — dir wollen wir unser Leben weihn, dir Flagge schwarz-weissrot!". Das II. Reich Bismarcks war nach dreissig Jahren „des Deutschen Vaterland" geworden, für das zu sterben er ohne nachzudenken immer bereit sein musste. Jene Lazedamonier, die den Engpass von Thermopyla bis in den Tod mit ihren Leibern verteidigten, schienen nur gestorben zu sein und den stolzen Vers „Wanderer, kommst du nach Sparta, sage du habest uns liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl", auf ihren Grabstein bekommen zu haben, damit den deutschen Gymnasiasten ihre Pflicht, das Leben für dieses Vaterland einzusetzen, klar gemacht werden könne. Auch die lateinische Grammatik („dulce et decorum est, pro patria mori") schien Uebungsbeispiele nur für diesen Zweck zu haben. Im Gesangunterricht schliesslich verbanden sich „Vaterlandische Geschichte" und ihr dienstbar gemachter Humanismus im Lernen des Lieds: „Was ist des Deutschen Vaterland? Ist's Bayernland? Ist's Schwabenland? Ist's wo am Rhein die Rebe blüht? Ist's, wo der Marker Eisen zieht? O nein! O nein! Mein Vaterland muss grösser sein!", um die „Erziehung zum guten Deutschen" mit dem Missbrauch jener Sehnsucht zu kronen, die einst vor dem II. Reiche, in der Zeit der Zerrissenheit, die Besten der Nation nach einem geeinten Reich gehabt hatten. So erzogen, wuchs die deutsche Jugend auf den höheren Schule bis zur Jahrhundertwende in der sicheren Gewissheit auf, dass sie berufen sei, in ihrem Mannesalter ,,die Geschicke der Nation zu leiten , d. h. als Beamte, Wissenschaftier, Offiziere und Reserve-offiziere an der Regierung und Verwaltung des Landes teilzuhaben. In einer Gesellschaft, in der „der Mensch erst beim Leutnant anfing", brauchte sie deswegen keine andere Verpflichtung auf sich zu nehmen, als die Standessitten genau zu beachten. Zu diesen Standessitten gehorte in erster Linie, dass sie Umgang mit „gewöhnlichem Pack": Handwerkern, Bauern, kleinen Kaufleuten, vor allem aber mit Arbeitern auf das notwendige Geschaftliche und Behördliche beschrankte. Den Schuier „sich seiner hohen Mission bewusst zu machen" gehorte ganz selbstverstandlich zu den Erziehungsaufgaben der höheren Lehranstalten. So kam die Jugend, nahm sie nur die Regel in Acht: vor dem nachst höheren Stand um seiner selbst willen zu katzbuckeln, an einen gedeckten Tisch. Auch die neue Jugend trennte viel mehr als nur Standesdünkel von jenem Teil der Nation, der in den Ringen der Stadte, die sich seit der Industrialisierung gebildet hatten, wohnte — von den Menschen, die in den Fabriken die Maschinen bauten und das Antlitz der Welt veranderten. Die neuen Produktionsstatten, deren Feuer nachts den Himmel mit rotem Schein überzogen und tags mit Qualm und Russ verdunkelten, waren abgesondert von den Wohnstatten. Wie Festungen lagen sie hinter hohen Mauern. Ein Schild „Zugang für Unbefugte verboten!" wehrte den Zugang. Nie sah die Jugend den Arbeiter und Teohniker am glühenden Ofen, aus dem das flüssige Eisen in die Giesspfannen rinnt, um sich nach konstruktiv berechneten Gesetzen in die „Wunder der Technik" zu verwandein — nie als Hender Maschine. Immer begegnete sie nur dem Arbeiter, der, in billigem Konfektionsanzug als Bürger kostümiert, keine grössere Sehnsucht zu kennen schien, als dass sein Sohn „einmal etwas Besseres als der Vater" werde. Denn Handarbeit galt in einer Zeit, in der „Wissen Macht" war und „Bildung" Aufstieg in die „oberen Schichten" ermöglichte als eine Art Schande. Gross war daher der Zustrom zu den höheren Schulen und Universitaten. Für die Söhne des Mittelstands und der Arbeiterschaft wurden sie zu Wartesalen im Bahnhof, von dem die Züge I. und II. Klasse abfuhren. Niemand kam in den Sinn, dieser riesige Zustrom könne eines Tags zu einer Bildungsinflation führen und es könne ein akademisches Proletariat entstehen für das es weder in dem Staatsdienst noch in der Privatindustrie — nennen wir das Kind ruhig bei seinem Namen: Arbeit gab, das aber, wenn es radikalisierte, dem Staate selbst gefahrlich werden würde. Von der Bewegung der „klassenbewussten Arbeiterschaft" war noch kein Funken auf die Jugend der höheren Schulen übergesprungen. Selbst wenn diese Jungens durch die Art der Erziehung nicht gegen Infizierung mit sozialistischen Ideen immun gewesen waren, hatte die Sozialdemokratie sie wenig angezogen. In dieser Partei hatte damals der alte Bebel eine Bürokratisierung des „Apparats" durchgeführt, die dem Partei vorstand eine — heute würden wir sagen: prafaschistische Machtstellung gab und die Demokratie innerhalb der Partei zur Farce machte. Die Regie dieser Bürokratie verstand es sogar, die Strömung, die von der Gruppe Franz Mehring-Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ausging, so zu vertrubeln, dass ihr Wesen und ihre Richtung selbst den meisten Parteimitgliedern verborgen blieben. Verproletarisiertes Kind des Liberalismus und der Aufklarung hatte die sozialistische Bewegung den Begriff Volk auf ihre Art romantisiert: Volk war das Proleratiat, und jeder, der sich nicht klassenbewusst zum Proleratiat bekannte, war zum „Feind des Volkes" deklariert. Wie hatte diese immer mehr zur Partei erstarrende Bewegung eine Jugend anlocken können, die gegen das vergangene Jahrhundert in Aufstand gekommen war und dabei einen Volksbegriff entdeckt hatte, der nicht sozial-ökonomisch sondern national-ethisch bestimmt war? Diese neue Jugend fühlte sich, obwohl Bürgermannskind, als ein neuer Adel, dazu bestimmt das Volk in seiner Ganzheit von Grund aus neuzugestalten. Im Bürger sah sie nicht in erster Linie den Besitzer der Produktionsmittel und im Arbeiter nicht in erster Linie den Menschen, der, weil er nicht im Besitz von Produktionsmitteln ist, vom Verkauf seiner Arbeitskraft leben muss. Für sie vollzog sich die Scheidung zwischen Bürger und Prolet nicht auf der Klassenebene sondern in der geistigen Sphare. Auch den im Juste Milieu der wilhelminischen Aera sich geistlos „auslebenden" Bürger brandmarkte sie als Prolet so gut wie den Arbeiter, der diesen wilhelminischen Bürger imitierte. Als die Giessener Wandervogelstudenten auch frühere Volksschüler: Handwerksgesellen und Arbeiter in ihren Kreis aufnahmen und forderten, dass die alte Bildungsschranke in der ganzen Jugendbewegung aufgehoben würde, gab es nicht nur in dem „Wandervogel" grosse Debatten darüber. Der bürgerliche Deich, der die Bewegung bis dahin eingedammt hatte, war an einer Stelle durchbrochen. Ahnung und Angst befielen die Parteien, dass die einbrechende Flut ihn ganz hinwegspülen könne. Ueberall begann man, Jugend zu organisieren, um sie zu behalten. Wahrend der „Wandervogel" mit den Jungens, die ihn mit der Welt der Arbeit in Verbindung brachten, die Keime ideologischer Zersetzung in sich aufnahm, beeilten sich die Parteien und Konfessionen, die wesentlichsten Teile seines Rituells: die Tracht, die Laute, Flöte und Fiedel, das Wandern und Kampieren für ihre jugendfürsorgerische Arbeit zu übernehmen. Sie hielten sich für so verstandig und kamen doch nicht auf den Gedanken, dass sie damit auch „ihrer" Jugend eine ganz andere Richtung gaben, wie sie gedacht hatten. Die Jugend aber, die um die Jahrhundertwende zu neuen Zielen aufgebrochen war, musste allerdings noch den Umweg über die Literatur machen, um zum Kern der Zeitprobleme zu kommen. Dann aber wurde sie so davon ergriffen, dass sie sich bis in ihre Wurzeln spaltete. Man hat oft dieser Jugend, die sich den silbernen fliegenden Kranich im blauen Feld als Symbol erkoren hatte, vorgeworfen, dass sie nur aesthetisch war. Selbst der mutige deutsche Dichter Ernst Wiechert hat in einer, nun auch im Druck erschienenen Rede an die Jugend des III. Reichs von den Wandervogel gesagt, dass er „aesthetisch, aber nicht religiös, nicht sozial, nicht politisch, eine Genesung, aber keine Auferweckung von den Toten" war. Das ist nur zum Teil richtig. Die Literatur, zu der diese Jugend zurückkehrte, war ihr Brücke nicht nur zur deutschen Gegenwart — die von den Schulen des kaiserlichen Deutschlands ausgeschlossen war — und der deutschen Vergangenheit sondern auch hinüber nach Belgien und Frankreich, wo die Gestalt eines neuen Europa in den Versen der Dichter zuerst am Horizont auftauchte — hinüber nach Russland, wo das Gewissen der Menschheit mit der Stimme Tolstois und Dostojewskis gesprochen hatte, — die Literatur wurde ihr schliesslich Leiter zu Gott, der ihr wieder nahe kam, nachdem ihn die Aufklarer lange aber vergeblich in die Unendlichkeiten des Kosmos abzudrangen oder in den „Wundern des Mikrokosmos": im Wassertropfen oder Kristall unter dem Mikroskop zu entdecken versucht hatten — zu Gott, dem die Bürger eine bürgerliche Maske aufgesetzt hatten, und der in seiner unendlichen Langmut sich nicht dagegen gewehrt hatte. Wer einen unbekannten Weg einschlagt, weiss nicht, wer und was ihm begegnen wird. So entdeckte die neue Jugend eines Tags Richard Dehmel an ihrem Wege. Dehmel war damals schon ein Vierziger. Er war 1863 auf dem Lande in der Mark Brandenburg geboren. Er hatte Philosophie, Naturwissenschaft und Nationalökonomie studiert und lebte in Berlin als Dichter. Den Jahren nach war er ein „Alter". Aber das Aufstandische gegen das Alte der Zeit verband ihn mit der Jugend. Einen „Willensstarken unter Willenlosen, einen Triebsicheren unter Triebverachtern oder Triebverwirrten" hat ihn Al bert Sörgel in seinem Buch „Dichtung und Dichter der Zeit" genannt. Er forderte die Kunst als Lebensausserung des ganzen Menschen. Wie er es selbst einmal ausgedrückt hat, war fiiir ihn „das vollkommene Kunstwerk ein Sinnbild des ziellos schaffenden Lebens, ein Abbild des freiesten Willens zum Dasein, ein Vorbild der willigsten Schickung ins Ewige." Aus dem Wiegenlied fïir seinen Sohn — mit dem prachtigen Beginn: Der Sturm behorcht mein Vaterhaus — Mein Herz klopft in die Nacht hinaus Laut. . . So erwacht ich vom Gebraus Des Sturmwinds schon als Kind . . . Mein junger Sohn, hör zu! Hör zu! In deine ferne Wiegenruh Stöhnt meine Worte dir im Traum der Wind . . . und der Mahnung : Und wenn dir einst von Sohnespflicht, Mein Sohn, Dein alter Vater spricht, Gehorch ihm nicht! Gehorch ihm nicht! . . . sprach die glaubige Gewissheit, dass jedes Geschlecht aufsneue aufbrechen muss, um sich den Sinn des Lebens zu erkampfen. Sinn des Lebens ist Gemeinschaft, in der Herz und Hirn sich harmonisch vereinigen, nicht individuelier Gefühlsrausch: Empor aus deinem Rausch! Mitleid glüh ab! Lass dir die Kraft nicht von Gefühlen beugen! Hinab! lass deine Sehnsucht Taten zeugen! Empor Gehirn! Hinab, Herz! Auf! Hinab! Heute, da man Dehmel dem Larn der Tagesmeinungen entrückt betrachten kann, ist es merkwürdig zu sehen, wie in diesen damals „sozial" genannten Gedichten Dehmels ein romantischer Ton mitklingt. Wie die Romantiker drangte es Dehmel fort aus der Isolation, zu der der Dichter in der bürgerlichen Welt verurteilt war, zur Gemeinschaft mit dem Volke. Um diesen romantischen Unterton Dehmels anzudeuten, sei nur die Stelle aus Eichendorffs „Dichtern und ihre Gesellen" zitiert, wo der al te Klausner sagt: „Vor meiner eigenen Tür wollt' ich kehren und die ewige Seligkeit für mich allein zusammenknickern, wie ein filziger Schuft, als war's dem lieben Gott um mich allein zu tuen in der Welt". Wille zu neuer Gemeinschaft sprach noch deutlicher aus diesen Versen Dehmels: Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz! Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen Nach Glück und Frieden! Wurm, was will dein Schmerz. Nicht sickert einsam mehr von Brust zu Brüsten Wie einst die Sehnsucht, nur als stiller Quell, Heut stöhnt ein Volk nach Klarheit, wild und geil, Und du schweigst noch in Wehmutslüsten? Die grosse Stadt, aus der sie in die Walder geflohen war, kam auf dem Umweg über die Literatur der neuen Jugend zu Bewusstsein. Wie erweiterte sich ihr Volksbegriff mit dem „Arbeitsmann" Dehmels, der mit Frau und Kind sonntags draussen vor der Stadt mit ihren Fabriken und Kontoren durch die Felder geht und zukunftssicher singt: Wir haben ein Bett, wir haben ein Kind, Mein Weib! Wir haben auch Arbeit, und gar zu zweit, Und uns fehlt nur eine Kleinigkeit, Um so frei zu sein, wie die Vögel sind: Nur Zeit! Wenn wir Sonntags durch die Felder gehn, Mein Kind, Und über den Aehren weit und breit Das blaue Schwalbenwolk blitzen sehn, Oh, dann fehlt uns nicht das bisschen Kleid, Um so schön zu sein, wie die Vögel sind: Nur Zeit! Nur Zeit! wir wittern Gewitterwind, Wir Volk! Nur eine kleine Ewigkeit; Uns fehlt ja nichts, mein Weib, mein Kind, Als all das, was durch uns gedeiht, Um so kühn zu sein, wie die Vögel sind. Nur Zeit! Nicht ldassenkampferisch erregt, sondern erfullt von dem ethischen Gefühl, dass ohne soziale Gerechtigkeit neue Gemeinschaft nicht werden könne, naherte sich die neue Jugend des Bürgertums dem Arbeitsmann — dem Werktatigen. Schon in der Pragung dieses Worts: Werktatiger, d. h. ein durch Werk Tat Vollbringender für Arbeiter kann man eine neue Einstellung zum Arbeiter erkennen. Damit hatte die Jugendbewegung den Anschluss an die Zeit gefunden. Aber ihre Konzeption war erst vollendet, als diese Zeitnahe durch ein dynamisches Geschichtsbewusstsein gestützt wurde. Dann erst zeigten sich aber auch deutlich die Richtungen in die Zukunft. An der hessischen Landesuniversitat dozierte damals ein Enkel Gottfried Kinkels, des Dichters aus der Zeit der Biirgerrevolution von 1848. Er war Privatdozent. Er war sozialistischer Ideen verdachtig und deswegen nie Honorarprofessor geworden. Seine sprichwörtlich gewordenen fünf Hörer verkehrten auch in seinem Hause. Zu ihnen gehörten die Darmstadter Wandervögel, nachdem sie zur Universitat gegangen waren. Auf den abendlichen Zusammenkünften im Hause dieses Privatdozenten hielt Kinkel seinen jungen Freunden gerne Privatissima. Eines davon handelte von dem Dichter Georg Büchner. Kinkel hatte in seiner Bibliothek ein Exemplar der ersten Ausgabe von Büchners Werken stehen, das ihm sein Grossvater vererbt hatte. Mehr als die Werke selbst, erregte zunachst das Leben dieses Dichters die Herzen der Studenten. Büchner, Sohn eines Darmstadter Arztes und Neffe des „Kraft und StofF'-Büchner, hatte in Giessen in der ersten Halfte des vergangenen Jahrhunderts studiert. Schon als Gymnasiast hatte er zwischen Diktate über klassische Literatur „mit zollhohen Buchstaben" geschrieben: „Lebendiges! Was nützt der tote Kram!" Und als Student machte er die Notiz: „Ich fuhlte mich vernichtet unter dem grasslichen Fanatismus der Geschichte. Ich finde in der menschlichen Natur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhaltnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinen verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Grosse ein blosser Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lacherliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fallt mir nicht ein, vor den Paradegaulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken." Aber nicht nur vor den Grossen der Geschichte bückte er nicht mehr, auch nicht vor den Grossen seiner Zeit. Von der romantischen Naturschwarmerei war er zura Studium der Natur gekommen. Er studierte Anatomie und Physiologie. Und schliesslich sezierte er das Zusammenleben der Menschen im Staate wie das der animalischen Wesen in der Natur. Er fand, dass dieses Zusammenleben nicht organisch, vor allem aber ungerecht sei. Zusammen mit dem Butzbacher Pastor Weidig rief er in einer Zeitschrift die armen oberhessischen Bauern auf, sich gegen ihre Ausbeuter zu wehren. „Friede den Hütten — Krieg den Palasten!" hiess ein Aufruf. Die Gensdarmen des hessischen Grossherzorgs suchten ihn deswegen zu packen. In nachtlichen Fussmarschen floh er nach Darmstadt ins Haus seines Vaters. Und wahrend draussen die nach ihm fahndenden Hascher patrouillierten, schrieb er, das Manuscript den Augen des arglosen Vaters verbergend, seine Abrechnung mit der Revolution, die Tragikomödie „Dantons Tod". Schliesslich gelang es ihm doch noch, aus Darmstadt zu fliehen. Nach kurzem Aufenthalt in Strassburg, ging er in die Schweiz. Dort schrieb er das Drama „Wozzek" und das Lustspiel „Leonce und Lena". Er hatte sich in Zürich als Privatdozent niederlassen können, starb aber sehr jung, von einem Nervenfieber hingerafft. Jener Handvoll Hörer des Privatdozenten der Aesthetik und Philosophie Kinkel erschloss sich in den Schriften und Dramen Büchners eine neue Welt. Sein Werk lag im Druck vor. Aber es ruhte in privaten Bibliotheken. Die deutsche Bühne war ihm verschlossen geblieben. Der Dichter hatte vom Ausland her mit dem Kreis des „Jungen Deutschland" in Beziehung gestanden. Die Werke der Dichter dieses Kreises, mit Namen Heinrich Heines, Karl Gutzkows und Heinrich Laubes, waren 1835 nach einer Denunziation des „Franzosenfressers" Wolfgang Menzel auf Antrag des oesterreichischen Prasidialgesandten und auf Veranlassung der preussischen Regierung verboten worden, weil sie „in unpatriotischer, französelnder Manier Sittenlosigkeit und Anarchismus beförderten". Sie blieben auch, als spater das Verbot aufgehoben wurde, vom Lehrplan der deutschen Schulen und Hochschulen ausgeschlossen. Das liberale Bürgertum, alt geworden, verleugnete seine stürmische Jugend. In ökonomischer Hinsicht arriviert, war es zu müde geworden, die geistigen Aufgaben, die es hatte erfüllen müssen, auszuführen. Geistige Dinge waren Angelegenheit privater Kreise geworden. Und so war auch die Kenntnis Georg Büchners, des „Revolutionars", der „die Empörung der freien Seele gegen die Unterdrückung" durch die feudale Ordnung ausgerufen hatte, auf private Zirkel beschrankt. In der Republik der vierzehn Jahre hat Büchner zusammen mit seinem unglückseligen Zeitgenossen Ghristian Dietrich Grabbe eine Renaissance erlebt. Zwischen 1918 und 1933 gehörten diese Dichter, die nie eine Aufführung eines ihrer Dramen persönlich erlebt haben, und deren Werke im II. Reich aufzuführen keinem Theaterdirektor in den Sinn kam, zu den meistgespieltesten Autoren des deutschen Theaters. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass das Publikum, als „Dantons Tod" nach der Revolution von 1918 im Mannheimer National theater in Szcene ging — demselben Theater in dem des jungen Schiller „in tyrannos" gerichtetes Drama „Die Rauber" unter enthusiastischem Jubel zum erstenmal aufgeführt worden ist — ein Hausschlüsselkonzert veranstaltete und drohte, es werde „den jungen Autor", wage er vor den Vorhang zu kommen, mit faulen Eiern bewerfen. Georg Büchner ist im Ausland nur wenig bekannt. Angesichts der Bedeutung, die er für die Entwicklung des deutschen Dramas in den letzten 25 Jahren gehabt hat — angesichts auch seines grossen Einflusses auf die Jugendbewegung vor dem Kriege — denn abgeschrieben in Kolleghefte wanderten seine Dramen von Giessen aus in viele deutsche Stadte und gaben Anlass zu entscheidenden Diskussionen — muss deswegen Etwas über das Wesen seiner Kunst gesagt werden. Man hat ihn den Vorlaufer des Expressionismus, ja den ersten deutschen expressionistischen Dramatiker genannt. Doch das ist eine der üblichen journalistischen Uebertreibungen der Tageskritik. Wesentlicher als sein expressiver Realismus ist seine Abkehr von der idealistischen Philosophie und Dichtung. In dem Novellenfragment „Lenz", in dem er das Leben des unglücklichen Dichters der deutschen vorklassischen Sturmund Drangperiode Reinhold Lenz gestaltete, hat Büchner diese Abkehr so formuliert: „Lenz sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hatten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch ertraglicher, als die welche die Wirklichkeit erklaren wollten. Er sagte: „der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser eigenes Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön oder hasslich ist. Das Gefühl, dass, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen . . . Man muss die Menschen lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu hasslich sein, erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tieferen Eindruck, als die blosse Empfindung des Schonen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Aeusseren hinein zu kopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegenschwillt und pocht." Büchners Realismus liegt also nicht in der ausseren Form, sondern in der geistigen Konzeption. Das Drama lauft, den „Schnitt" des Films auf der Bühne vorwegnehmend, in vielen schnell aufeinander folgenden Kleinszenen ab. Der Einzelne ist darin nur Teil des Volkes, von dem er sich löst, aufsteigt und in das er wieder zurücksinkt. Selbst im „Wozzek", Büchners bürgerlichem Schauspiel, ist der Soldat Wozzek, der um seine Frau und sein Kind zu ernahren, sich an einen Arzt als Experimentierobjekt verkauft und, betrogen, zum Mörder wird, nichts anderes wie das Volk, das von seinen Unterdrückern ausgebeutet wird. Büchners Realismus kann man in gewissem Sinne mit dem des Jeroen Bosch oder des Pieter Breughel vergleichen. Er schreckt, um sein künstlerisches Ziel zu erreichen, nicht davor zurück, in „Dantons Tod" neben echte Dokumente, d. h. Ausdrücke von Danton und St. Just, die historisch belegt sind, und Reden Robespierres, Anachronismen zu setzen, die auf den ersten Bliek erstaunlich wirken. So: wenn er Lucille, die Braut des Camille Desmoulin, in der Nacht nach der Hinrichtung ihres Geliebten am Schaffot das deutsche Volkslied „Es ist ein Schnitter heisst der Tod" und die Henkersknechte auf dem Pariser Hinrichtungsplatz bei ihrem grausigen Handwerk hessische Gassenhauer singen lasst. Auf der Suche nach ihrer Bestatigung in der Geschichte, musste sich die neue Jugend durch diesen Dichter besonders angezogen fühlen. In seinem Lebensgefühl mischten sich romantische Elemente mit anderen, deren bewusst zu werden, sie im Begriffe war: Sehnsucht, dass die menschliche Gemeinschaft des deutschen Volkes alle Deutschen ohne Unterschied des Standes umfasse und von sozialer Gerechtigkeit getragen sei, Abkehr von der materialistisch-naturalistischen Ungeistigkeit und der Impression des Augenblicks, Hinkehr zu der Vergeistigung des Aeusserlichen und der Expression des geschichtlichen Zusammenhangs und Wille: nicht nur idealistisch zu schwarmen sondern das Ideal in die Wirklichkeit umzusetzen. Büchner war an der harten Wand feudaler Reaktion zerschellt. Nun wurde er zum Anreger einer Generation, die ausgezogen war, die bürgerlichen Schranken zu durchbrechen. Es konnte nicht ausbleiben, dass sein unglückseliger Zeitgenosse Christian Dietrich Grabbe neben ihm auftauchte — das „versoffene Genie", wie ihn die bürgerliche Literaturgeschichte mit Vorliebe bezeichnete, das in Trunksucht und Krankheit in den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgelöscht war. Noch 1906 hat Richard M. Meyer in seiner „Deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts" von ihm gesagt: „Jene wilde Literaturgeschichte, die jedesmal aus dem „Salon des refusés" den Ehrensaal macht, ruft ihn nach Günther, Bürger und Lenz als vierten Hauptzeugen für die Schlechtigkeit der Welt an, die ihre grössten Herzenkinder verkommen lasse". Meyer, der gute Bürger, ahnte nicht, dass Grabbes Werk, das 75 Jahre lang Angelegenheit kleiner „verkauzter Kreise gewesen war, im Begriffe stand, von einer neuen Generation auf die Bühne gebracht zu werden, dass darüber hinaus eine ganze Generation junger Dramatiker in ihrem Schaffen von dem „versoffenen Genie" beeinflusst werden sollte wie von keinem Dichter der lezten hundert Jahre, Die ausserdeutsche Welt kennt Grabbe fast gar nicht. Darum müssen auch sein Lebenslauf und seine künstlerische Wesensart kurz beschrieben werden. Er war der Sohn eines Zuchthauswarters in der Stadt Detmold im Lippischen. Sein ganzes Leben lang hat er gegen die Enge der kleinbürgerlichen Welt, der er entstammte, gekampft. Als ob er den Schatten der Zuchthausmauern, in dem er seine Jugend verbrachte, nie habe vergessen können und als ob er die Mauern der Kleinbürgerei wie jene immer um sich gefühlt habe. Sieht man sein Bild, so erhebt sich über einem lacherlich bizarren Untergesicht mit willenlosem fliehenden Kinn und schlappen Zügen eine machtige Denkerstirne, die zu der anderen Gesichtshalfte gar nicht passt. Es ist dieselbe hohe Stirn, die man über dem edleren Gesicht des Grüblers Friedrich Hebbel und noch spater in dem, immer etwas posierenden, „Olympierkopf" Gerhart Hauptmanns und schliesslich, harmonisch eingebaut, im Gesicht Stefan Georges wiederfindet und die so typisch für die deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts ist. Das hat auch Meijer bereits erkannt. Dieses disharmonische Gesicht Grabbes, aus dem nicht mehr die edle Harmonie Fühlens und Denkens der grossen Klassiker und Romantiker wiederstrahit, kennzeichnet seine Persönlichkeit. Als er, von Gönnern zum Studium der Jurisprudenz bestimmt, von Leipzig nach Berlin übersiedelte, zogen ihn nicht Savigny, der grosse Rechtsgelehrte und von Raumer, der grosse Historiker, an, obwohl er sich bei seinem Studium besonders auf die historischen Facher der Rechtswissenschaft verlegt hatte. Er hoffte vielmehr Zugang zu den literarischen Salons der Hauptstadt zu finden. Denn er gefiel sich sehr in der Rolle des Genies. Aber mit den Umgangsformen der feinen Welt nicht vertraut, landete er in jenem Kreis, den E. T. A. Hoffmann in der Weinstube von Lutter und Wegner begründet hatte. Hier lernte er auch Heinrich Heine, mit dem er sich spater für immer verfeindete, kennen. In seinen Memoiren erzahlt Heine ergötzlich, wie er das Manuscript von Grabbes Erstlingsdrama „Herzog von Gothland" Frau von Varnhage brachte, „um ihr die Primeur eines Dichters zu verschaffen", wie diese ihn aber gegen Mitternacht rufen liess und beschwor, das entsetzliche Manuscript wieder zurückzunehmen, da sie nicht schlafen könne, solange dieses teuflische Ungeheuer sich unter ihrem Dache befinde. Tatsachlich sind Grabbes Dramen eine Aufeinanderhaufung von Zynismen, Scheusslichkeiten und Geschmacklosigkeiten. Seine Geniesucht lasst ihn nur grosse, historische Themen wahlen. Selbst seine drei Hauptwerke, die Geschichtsdramen „Napoleon oder die hundert Tage", „Hannibal" und die „Hermannschlacht" geben an krassen Motiven seinen ersten Werken nichts nach. Aber wie bei Büchner macht die Gesamtkonzeption das Wesentliche, vor allem aber das Neue in seinen Werken aus. Alfred Richard Meyer hat es knapp und prazis so ausgedrückt: nicht das historische Faktum ist die Hauptsache, der die Schilderung des Milieus nur als Grundlage dient; sondern im Gegenteil: die Gesamtzustande sind die Hauptsache, die durch das historische Faktum nur heller beleuchtet wird. Mit Büchner hat Grabbe die Abkehr vom philosophischen Idealismus gemein. Seine Geschichtsdramen unterscheiden sich deswegen von denen früherer Epochen nicht nur durch ihre aussere Form sondern vor allem dadurch, dass der eigentliche Trager der Handlung, das dynamische Agens: nicht der Held sondern das Volk ist. Grabbe vergisst über die grossen Epochen und grossen Menschen der Geschichte nie die Dynamik des geschichtlichen Zusammenhangs, über das Mommentane nie die Kontinuitat. Er hat das geschichtliche Bewusstsein, dass die Grossen vergehen, dass aber das Volk bestehen bleibt. Dass er aber die Bedeutung der Grossen nicht unterschatzt, beweist allein schon die Tatsache, dass er immer wieder die grossen explosiven Epochen und die grossen Manner der Geschichte als Stoffe für seine Dramen wahlt. Die letzten Worte seines Napoleons auf dem Schlachtfeld von Belle-Alliance sind typisch für Grabbes Menschen- und Geschichtsauffassung. Der General bittet den Kaiser, nicht zu fliehen, sondern kampfend zu fallen. Aber dieser wendet sein Pferd und sagt stolz: „General, mein Glück fallt, ich falie nicht!" Von Grabbe wird in einem spateren Zusammenhang ebenso wie von Büchner noch die Rede sein müssen. Denn sein Werk, von dem vor dem Kriege nur,, Napoleon" einmal in einem Berliner Vorstadttheater ohne Erfolg, und „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" im Schillertheater aufgeführt wurden, beherrschte in der Zeit, in der sich der dramatische Konflikt der Republik der vierzehn Jahre auf der Bühne zuspitzte, so sehr den Spielplan der deutschen Theater, dass man schon eher von einer GrabbeManie als von einer Grabbe-Renaissance sprechen muss. Es war Hanns Johst, der auf Anregung der Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, Luise Dumont, sein dramatisches Ar beiten mit dem „Einsamen", einem Grabbe-Drama, begann — derselbe Hanns Johst, der spater in seinem „Schlageter" den in der Welt viel zitierten Satz pragte: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver". Aber über Büchner und Grabbe musste schon in diesem Zusammenhang so ausführlich gesprochen werden, weil ihr Einfluss auf die neue Generation sich in deren entscheidendstem Augenblick geltend machte. Diese neue Generation, als Jugendbewegung zu einem grossen Strome angeschwollen, sah sich kurz vor dem Kriege dem Zustand des Erwachsenseins gegenüber. Sie war ausgezogen, um die Damme der bürgerlichen Konventionen einzureissen. Sie hatte die Sehnsucht nach neuer Gemeinschaft, aber sie musste sich nun in die alte Zusammenlebung eingliedern. Die Starke dieser Jugend war gewesen, dass sie an das Recht des Jungseins geglaubt und dass sie dieses Recht . der Jugend aufsneue proklamiert hatte. Ihr Schwache aber lag darin, dass geistige Leitung ihr gefehlt hatte. Als die Realitat des Lebenmüssens im Zustand des Erwachsenseins an sie herantrat, offenbarte sich diese Schwache mit erschreckender Deutlichkeit. Die neue Jugend fühlte sich als eine Sorte Adel, als ein Vortrupp. Sollte dieser Vortrup vor der ehernen Mauer bürgerlichen Zusammenlebens kapitulieren und sich, wie der George-Kreis es getan hatte, als Geistesadel, die profane Menge verachtend, in die seligen Gefilde eines nur asthetisch gelebten Lebens zurückziehen? Oder war sie dazu bestimmt, den Kampf aus den Bezirken der Literatur hinauszutragen in das alltagliche Feld der Politik und dort als Vortrupp einer Diktatur die Masse zu leiten und jene Einheit der Nation zu schaffen, die ihr vorschwebte? Oder sollte sie den Streit in den Bezirken der Literatur ausfechten, wobei es ihr ergehen würde wie Grabbe, der „die Wahrheit, die dem Anagramm der Natur zugrunde liegt, nicht anerkannt hatte und im eigentlichsten Verstande mit dem Buchstaben bekampfte" und der, wie Friedrich Hebbel es ausgedrückt hat, „wohl den Aufriss der Schöpfung aber nicht wie Büchner die Kraft dazu hatte". War es genug, sich als Literat damit zu begnügen, dass der Verstand ein ganzes langes Leben lang mit dem Gefühl im Konflikt lag? War das die Zukunft, dass diese jungenMenschen ihr Gefühl mit dem Scheidewasser des Verstands zersetzen und ihren Verstand mit den Schleiern des Gefiihls vernebeln mussten? Flucht oder Angriff — das war die Entscheidung, vor die diese neue Jugend sich gestellt sah. Da ihr die geistige Führung fehlte, fiel sie auseinander, entschlossen sich die einen zur Flucht in den asthetischen Schein, die anderen zum Angriff auf die Misere der Wirklichkeit. Und zwischen diesen beiden Weiten des Scheins und der Wirklichkeit lag das Feld, auf dem die Literaten sich tummelten. Oskar Kanehl, der 1912, als wir in Greifswald studierten, mit uns in der Fischerhütte von Wiek die alten Marienlieder und Landsknechtsange sang, dichtete zehn Jahre spater „Sprung auf die Barrikaden! Auf in den Bürgerkrieg! Pflanzt auf die Sowjetfahnen zum blutig-roten Sieg!" und andere Lieder, die die kommunistische Jugend begeistert sang. Fritz Dunkel, Zimmergenosse in den Zeiten des Giessener Werkstudententums, trat mir in Düsseldorf 1926 als Landesadjudant des Stahlhelmführers von Hessen entgegen. Und Kasimir Edschmid, der, als wir in Darmstadt als Kinder miteinander spielten und spater, als wir in Giessen zusammen studierten, noch Eduard Schmidt hiess, war nach dem Krieg der literarische Manager des Vulgarexpressionismus. m. KAPITEL. Die grosse Verwirrung und die grosse Angst. Johann Gottfried Herder, der grosse Anreger der deutschen klassischen Dichtung, schreibt im 18. Jahrhundert in seiner Abhandlung „Von der Aehnlichkeit der englischen und deutschen Dichtkunst: „Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert; wie viel mehr Völker kennen wir als Griechen und Römer! wie kennen wie sie aber? Von aussen durch Fratzenkupferstiche und fremde Nachrichten, die den Kupferstichen gleichen? oder von innen? durch ihre eigene Seele? aus Empfindung, Rede und Tat? . . Die Deutschen hat man das Volk der Dichter und Denker genannt, weil die Literatur und die Philosophie wahrend der letzten zwei Jahrhunderte in ihrem Leben eine grosse Rolle gespielt haben. Aber der Reichtum der deutschen Literatur und Philosophie ist nur die glanzende Kehrseite dessen, was man den Deutschen auf der anderen Seite als Mangel angerechnet hat. Hat man namlich die Augen nicht auf die deutsche Klassik und Romantik: auf Schiller und Goethe, auf Novalis und Tieck und all die anderen Dichter, nicht auf die deutsche Philosophie und Wissenschaft gerichtet, so spricht man von den Deutschen meist wie von Halbbarbaren, einer nicht sehr sympathischen Mischung von blutdürstigen Kriegern und sentimentalen Pfahlbürgern, imstande: Europa und die ganze Welt in Brand zu stecken, wenn sie damit nur ihren, Minderwertigkeitskomplexen entspringenden, Geltungsdrang befriedigen. Tatsachlich sind die Deutschen nicht barbarischer oder kriegerischer als andere Völker. Sie sind nur in ihrer nationalen Entwicklung hinter anderen Vólkern zurückgeblieben, die nach glücklichen Kriegen und unter der Leitung grosser Staatsmanner sich ihre nationale Einheit schaffen konnten. Um nur ein Beispiel zu nennen: als in Frankreich aus den zerstreuten, mittelalterlichen Feudalmachten sich der zentrale Nationalstaat zu bilden begann, setzte in Deutschland der Zerfall ein. Zahllose Könige, Fürsten, Herzöge und Grossherzöge, Grafen und Freiherrn machten die zentrale Gewalt zum Gespött. Nachdem in den Bauernkriegen das Blut von abertausenden Bauern Mittelund Süddeutschlands verströmt war, schlug der dreissig- jahrige Krieg dem Land neue Wunden. Als dieser furchtbare Krieg 18 Jahre gedauert hatte, schilderte Andreas Gryphius die Verwüstung: Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr dann ganz verheeret. Der frechen Völker Schaar, die rasende Posaun, Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun Hat Aller Schweiss und Fleiss und Vorrat aufgezehret. Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret, Das Rathaus liegt in Graus, die Starken sind zerhaun, Die Jungfraun sind geschandt, und wo wir hin nur schaun, Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durch- fahret. Doch schweig ich noch von dem, was arger als der Tod, Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot: Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen. Der ausgeblutete, von Brand und Pest zerfressene Leib Deutschlands hatte über hundert Jahre nötig, um körperlich und seelisch zu regenerieren. Als sich dann endlich in den besten Köpfen und Herzen der Wille und die Sehnsucht nach der Einheit der Nation zu regen begannen, war das „Heilige römische Reich deutscher Nation" endgültig zerfallen. In Frankreich dagegen hatte sich die nationale Zentralmacht endgültig gefestigt. So konnten Racine und Corneille ihre Dramen für die Franzosen schreiben. In Deutschland dagegen, wo viele Höfe den französischen Hof nachahmten, wobei sie sich diesen Luxus nur erlauben konnten, indem sie tausende ihrer Landeskinder als Soldaten in die Fremde verkauften, blieb den Dichtern, wollten sie nicht als Hofpoeten den mit dem Blut der Bauern- und Hand- werkersöhne erkauften Glanz besingen, nichts anderes übrig wie ein kümmerliches Dasein zu fristen oder auch in fremde Dienste zu gehen. Nichts Gemeinsames gab es in Deutschland ausser der Armut und ausser der Sprache. Die deutsche Sprache für die Dichtung gerettet zu haben, als die Höfe immer mehr verwelschten, ist das Verdienst der Dichter des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, von denen die Literaturgeschichten sagen, dass sie unter auslandischem Einfluss stehen. Deutscher als die Kunstdichtung ist in diesen Zeiten wahrlich, was das Volk singt. Singt das Volk kriegerische Lieder? Es singt in der Kirche und in den hauslichen Andachten die geistlichen Lieder, die ihm Trost im Leid geben und Mut, die Not zu tragen, jene Lieder voll frommer Andacht und inniger Rührung, die, aufgenommen in die Musiken Johann Sebastian Bachs, die Welt immer wieder ergreifen. Und es singt jene traurigen Lieder von den verkauften Soldaten: von der Mutter, die zu Strassburg wohl vor des Hauptmans Haus bittet, man möge doch ihren Sohn freigeben aber zur Antwort bekommt, dass er sterben muss im weiten breiten Feld, von den armen Kerlen, die aus Sehnsucht nach der Heimat desertierten und ü'ber den Rhein nach Deutschland schwimmen wollten, die aber der Sergeant im Strome auffischte, und die zu Strassburg auf der Schanz erschossen wurden — von jenen Hessen, die das Schiff, auf dem sie nach Jütland gebracht werden sollen, auf den Wellen schaukeln sehen und von banger Wehmut überfallen werden: „Das Schifflein am Strande, schwanket hin und schwanket her — grad als ob im fremden Lande keine Hoffnung mehr war!" — und schliesslich von den verkauften Soldaten, die sich damit trosten, dass sie „auf einem schneeweissen Schimmel in den Himmel reiten werden und ihre Offiziere verwünschen, dass der Teufel sie auf einem schwarzen Fohlen soll in die Hölle holen. Legt man das Ohr an das Herz dieses Volkes, so hört man es gar nicht kriegerisch schlagen. Matthias Claudius — ein im Ausland wenig bekannter Dichter; er lebte im Ausgang des 18. Jahhunderts mit dem Volke, gab eine Dorfszeitung, den „Wandsbecker Boten", heraus und starb 1815 nach einem Leben in Armut — dichtete ein „Kriegslied", das man in vielen deutschen Hauspostillen findet: 's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre Und rede du darein! 's ist leider Krieg — und ich begehre Nicht schuld daran zu sein! Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Gramen Und blutig, bleich und blass Die Geister der Eschlagnen zu mir kamen Und vor mir weinten, was? Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre? Die könnten mich nicht freun! 's ist leider Krieg — und ich begehre Nicht schuld daran zu sein! Nein: die Deutschen sind nicht barbarischer als irgend ein anderes Volk. Sie sind nur langer als andere Völker in erniedrigender Untertanenknechtsschaft gehalten worden. Zwietracht ihrer Fürsten liess sie nicht in Eintracht leben, als andere Völker bereits glücklich in ihrem nationale Hause wohnten. Aus der gemeinsamen Sprache wuchs ihnen erst die Sehnsucht nach der nationalen Einheit. Seine Dichter wurden zu Rufern nach der Nation. Die Masse freilich, auch der gebildeten Philister, stand den spater so verhimmelten Klassikern mit hamischer Missgunst, ja mit stumpfer Teilnahmslosigkeit gegenüber. Ein weitverbreitetes Blatt für das Bildungsphilisterium schrieb über Schillers „Horen": „Sein Stil ist nichts anderes als eine ununterbrochene widerliche Mischung von abstrakten und schöngeisterischen gelehrt aussehenden Phrasen, eine lange Reihe von rhetorischen Künsteleien und ermüdenden Antithesen . Und die „Horen" gingen aus Mangel an Lesern im 3. Jahrgang wieder ein. Darum kann man nicht von einem „Deutschland Lessing und Herders, Schillers und Goethes" sprechen. Und darum ist Deutschland nicht mehr als irgend ein anderes Volk „ein Volk der Dichter und Denker". Falsch ist es aber auch, wenn man die deutschen Klassiker zu engstirnigen Patrioten im Sinne eines deutschen Chauvinismus macht. Ihr Sehnen nach einer nationalen deutschen Dichtung war nicht gegen die Kunst der französische Nation sondern nur gegen die des französischen Hofes gerichtet. Winckelmann las fast taglich in seinem Montesquieu und Bayle, Goethe und Lessing haben sogar daran gedacht, französisch zu schreiben. Und auf den Einfluss Rousseaus auf Kant, die Wechselbeziehungen zwischen Diderot und Lessing braucht nicht besonders hingewiesenzu werden. Die Klassiker bestritten allein die von den deutschen Duodezfursten und ihren Hofpoeten nachgeahmte französische höfische Poesie. Denn dort wo Sklaven knien, Despoten walten, wo sich die eitle Aftergrösse blaht, Da kann die Kunst das Edle nicht gestalten! Von keinem Ludwig wird sie ausgesat! dichtete Schiller. Der grosse Anlauf zu der geistigen Einheit der deutschen Nation auf der Bahn der Dichtung scheiterte an der unseligen Zerrissenheit Deutschlands in Lander und Landchen. Es bedurfte eines Napoleon, um mehr als hundert dieser Duodezstaaten den garaus zu machen und die Sehnsucht nach der Einheit der Nation in weiten Kreisen zu wecken. Die Geschichte geht merkwürdige Wege: nicht die Epigonen der Klassiker sondern die Romantiker nahmen das grosse Erbe der klassischen Epoche: das Ringen um die geistige Einheit der Nation auf. Warum kommt aber niemand auf den Gedanken vom „Deutschland des Novalis und Brentano" zu sprechen? Hat das seinen Grund darin, dass die Kosmopoliten und Aufklarer in der deutschen klassischen Literatur hauptsachlich die Verwandschaft mit den Ideen der französischen Revolution sehen, dass sie aber gerne die nationalen und religiösen Strömungen in der Romantik übersehen, weil bei ihnen Nationales und Religiöses nun einmal im Geruch stehen, reaktionar und unvernünftig zu sein? Oder liegt es daran, dass die anderen Völker dieses Deutschland, im Herzen Europas, das ihren nationalen Vorsprung einholen will, ein wenig fürchten? Sei es, wie es will. Nur tauscht man sich, wenn man vergisst, dass die Sehnsucht der Deutschen nach einer geistigen Einheit der Nation seit Herder und Lessing nie wieder eingeschlafen ist. Und diese Tauschung kann gefahrlich werden. Denn Europa, dessen geistiges Gesicht heute von den Flecken eines hitzigen nationalen Fiebers entstellt ist, wird nicht eher seine endgültige Form finden, als sich diese Sehnsucht erfüllt hat — mag es uns auch schmerzen, dass die Geschichte dabei wieder merkwürdige Wege geht. So kann man in diesen Tagen immer wieder die Klage lesen, dass „das Deutschland Thomas Manns, das wir so liebten", aufgehört hat zu bestehen. Dieses „Deutschland Thomas Manns" erinnert mich fatal an „das Deutschland Schillers und Goethes", das auch nie bestanden hat, oder, wenn man den kleinen Kreis um Schiller und Goethe dafür nehmen will, von der Masse nicht beachtet wurde. Und ich frage mich, warum man eigentlich hinsichtlich Deutschlands immer diese Etikettierungen macht. Fallt es jemand ein vom „Russland Tolstois und Dostojewskis", vom „Niederland Vondels" oder vom „Niederland Verweys", vom „Skandinavien Ibsens und Strindbergs", vom „England Shaws und Chestertons" vom „Belgien Maeterlincks und Verhaerens", vom „Frankreich Zolas und Flauberts" zu sprechen? Ich glaube, dass man diese Etikettierung hinsichtlich Deutschlands vornimmt, weil man dabei politische Hintergedanken hat. Denn man will damit zum Ausdruck bringen, dass das übrige Deutschland eigentlich jenes halbbarbarische Land der agressiven Expansion und des dummen Untertanentums ist, das man verachtet. Spricht man nun von Thomas Mann, so spricht man auch von seinem grossen Roman „Die Buddenbrooks". Aber mit den „Buddenbrooks" ist es wie mit Goethes „Faust", Kants „Kritik der reinen Vernunft", Dantes „Göttlicher Komödie", Karl Marxens „Das Kapital" und anderen grossen Werken: die meisten reden davon, ohne sie gelesen zu haben. Kulturkritisch und sprachkünstlerisch von Nietzsche, als Erzahler von den skandinavischenj russischen und nicht zuletzt englischen Romanciers angeregt, hat Thomas Mann in den „Buddenbrooks", der Geschichte vom Verfall einer Familie in vier Generationen, dem bürgerlichen Familienroman in Deutschland klassische Form gegeben. Das ist seine bleibende Bedeutung in der deutschen Literatur. Aber Anregungen für die neue Generationen sind nicht von ihm ausgegangen. Denn die Literatur ist für Thomas Mann das freiwillige Exil gewesen, in dem er vor dem Juste Milieu Schutz suchte, „in der Seele einsam", „durch Verstehn zersetzt", in realistischen Schilderungen die drei Machte beschreibend, die „das Schicksal des bürgerlichen Menschen ausmachen: die körperliche Anlage des Einzelnen, die Physiologie der Zusammenlebung, d. h. der Gesellschaft und der Grad des Besitzes an Geld oder Geldeswert". Thomas Mann entstammt einem alten hanseatischen Patriziergeschlecht. Diese hanseatischen Patrizierfamilien haben sich von jeher als der deutsche Bürgeradel gefühlt, als Freie, denen „Mannerstolz vor Königsthronen" nicht nur ein Lippenbekenntnis war. So hat sich Thomas Mann spater vorbehaltlos zur bürgerlichen Demokratie und der Weimarer Republik bekannt. Aber grade deswegen ist er wahrscheinlich nicht ihr dichterischer Reprasentant geworden. Gerhart Hauptmann war dafür geeigneter. Dessen Biograf Paul Schlenther sagt von ihm: volkstümliche Kraft habe sich in ihm mit höherer Gesinnung zu freierem Bürgertum verbunden, denn er stamme aus einem Geschlecht, das vaterlicherseits aus armen Webern und mütterlicherseits aus Dienern des Adels langsam von der Untertanigkeit zum freieren Bürgertum sich entwickelt habe. Es kennzeichnet den Geist des Juste Milieu, dass Paul Schlenther keinen Augenblick auf den Gedanken gekommen ist, dass er mit dieser Charakterisierung das Objekt seiner naturalistischen Aesthetik: den Gerhart Hauptmann mit der nicht hohen sondern nur höheren Gesinnung, mit dem nur freieren und nicht freien Bürgertum beleidigen könne. Thomas Mann hat das Lebenmüssen im Exil der Literatur immer als Fluch empfunden. In seiner Studie „Die Hungernden" sagt Detlef: „Ach einmal eine Nacht wie diese, kein Künstler sein, sondern ein Mensch! Einmal dem Fluche entfliehen, der da unverbrüchlich lautet: Du darfst nicht sein, du solist schauen; du darfst nicht leben, du solist schaffen; du darfst nicht lieben, du solist wissen!" Und Tonio Kroger sieht in der Literatur etwas „Infames", „Niedertrachtiges", „Empörendes" und in den Literaten „Damonen, Kobolde, tiefe Unholde und erkenntnisstumme Gespenster". Die Geschichte der „Buddenbrooks" aber ist überstrahlt von einer gewissen Wehmut und Trauer über den Verfall der alten Bürgerherrlichkeit: „Hanno, kleiner Hanno . . . Tom, Vater, Grossvater und die Anderen alle! Wo sind sie hin? Man sieht sie nicht mehr. Ach es ist so hart und traurig!" Diese, ein wenig sentimentale Trauer um den verschwundenen Glanz des neunzehnten Jahrhunderts hat „Die Buddenbrooks" in den Kreisen des Bürgertums sehr beliebt gemacht. Nichts lag der neuen Generation aber ferner als Klage um verwehte Bürgerherrlichkeit. Darum hatte ihr Thomas Mann nichts zu sagen. Er war der Artist der „kühlen Strenge" und der „spöttischen Liebe", der nicht fühlen kann wie die „Gewöhnlichen", weil er sich „gegen die holde Trivialitat der Empfindungen" „aufs höchste empfindlich in Fragen des Takts und Geschmacks" straubt und die These vertritt, dass „das, was man sagt, niemals die Hauptsache sein darf, sondern nur das an und für sich gleichgültige Material, aus dem das aesthetische Gebilde in spielender und gelassener Ueberlegenheit zusammenzusetzen ist". Er war für sie ein Literat — der Schreiber der langen, kunstvollen Satze. Erst nach dem Kriege, in der Republik der vierzehn Jahre, als die neue Generation um die Verwirklichung ihres Willens im Staate kampfte, trat Thomas M